Antwort auf den Beitrag von Botschafter a.D. Hans-Georg Wieck „Deutschland und Russland im europäischen Gefüge“, der bei Solon-line zuerst erschienen ist.
Gleich zu Beginn seines Textes erwähnt Wieck das „gemeinsame Haus Europa“, zu dem beide Staaten gehören und das sie auf je spezifische Weise mit ihrem „politischen Gewicht“ und ihrer „zivilisatorischen Leistung“ beeinflussen. Seine starke Betonung des europäischen Dachs, unter dem beide leben, sollte man im Gedächtnis behalten, wenn man seinen weiteren Ausführungen folgt und dabei manchmal den Eindruck bekommt, Wieck siedele beide Länder auf sehr unterschiedlichen Kontinenten an. Da beide Staaten den übrigen Einflussfaktoren (Europäischer Union, Nato, Europa-Rat und OSZE, Nachbarländer) auf je besondere Weise unterliegen, unterstellt er beiden Staaten ein je spezifisches Interesse an der Ausgestaltung Europas. Er selbst will mit seinem Beitrag Grundlagen legen für eine neue europäische Strategie und scheut nicht davor zurück, Differenzen offen zu benennen und Konflikte auszutragen. Zuvor vertieft er sich jedoch in die Geschichte Russlands und Deutschlands und den Bestrebungen beider Länder, eine zentrale Rolle im „Konzert der Mächte Europas“ zu spielen. Der wilhelminischen Machtelite wirft er vor, die Abwehrreaktionen der Nachbarländer Deutschlands vor den enorm gestiegenen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und sozialen Leistungen des ab 1871 vereinten Deutschlands nicht nur unterschätzt, sondern auf törichte Weise die Situation eines Zweifrontenkrieges herbeigeführt zu haben. Statt „ehrlicher Makler“ zu bleiben sei Deutschland unter Wilhelm II. zur „Partei“ geworden. Die siegreichen europäischen Mächte hätten es nach dem I. Weltkrieg versäumt, als Abwehr gegen eine aufkeimende sowjetische Bedrohung einen Brückenschlag zum geschlagenen Deutschland anzustreben und Hitlers Gefolgsleute wären nur taktische Allianzen mit anderen Mächten eingegangen und hätten in maßloser Überschätzung des deutschen Kriegspotentials den II. Weltkrieg angezettelt, an dessen Ende die USA und die Sowjetunion zu den Europa neu ordnenden Mächten emporstiegen. Als Konsequenz aus dem Desaster der europäischen Hegemonialkriege sei die Europäischen Union entstanden. Wieck nennt drei Gründe für die Wiedervereinigung Deutschlands und betrachtet sie offenbar als gleichwertig, gleichgewichtig und der gleichen Wurzel entstammend:
Gorbatschows Überlegungen zur Kurskorrektur resultierten aus der Vorstellung, dass die USA und die Sowjetunion eine duale Hegemonie bilden. Zum Merkmal einer dualen Hegemonie zählt das auf beiden Seiten vorherrschende Bewusstsein, existentiell aufeinander angewiesen zu sein und deshalb jede Strategie vermeiden zu müssen, die zur Auflösung des hegemonialen Verhältnisses führt. Gorbatschows Berater und er selbst konnten sich offenbar weder vorstellen, dass die amerikanische Führung unter Reagan das Ziel anstrebte, unter Inkaufnahme des Risikos einer erheblichen Zerstörung des eigenen Territoriums den Untergang der anderen Seite herbeizuführen, noch durch eine die Ressourcen der anderen Seite überfordernden massiven Aufrüstung deren Abdankung als Hegemonialmacht zu erwirken. Immerhin mussten die USA in ihr strategisches Kalkül einbeziehen, dass
Der Schachspielermentalität der sowjetischen Führung war die Pokermentalität der USA fremd. Ganz im Sinne der Spieltheorie spekulierten die USA darauf, dass im Falle der Gefahr eines drohenden atomaren Entwaffnungsschlages, dem die Sowjetunion keine adäquate Abwehr entgegen zu setzen vermochte, die sowjetische Seite einem für die Sowjetunion nachteiligen Kompromiss zustimmen würde, eingeschlossen sogar das Ende der eigenen Hegemonie. Mit anderen Worten: Gorbatschow unterschätzte das vorherrschende Bewusstsein in der amerikanischen Führung, im Ost-West-Konflikt kompromisslos auf Sieg zu setzen und sich über die nachteiligen Folgen für die eigene künftige Hegemonialstellung vorerst keine Gedanken zu machen. Die „Kurskorrektur“ Gorbatschows entsprang also aus einem völlig anderen Verständnis von Entfaltungsmöglichkeiten der Politik in einer dualen hegemonialen Machtposition als die amerikanische Antwort, die auf die sowjetische Kurskorrektur folgte. Reagan sah in der Gorbatschowschen Kurskorrektur nichts anderes als die sowjetische Einsicht über eine sich abzeichnende Niederlage und interpretierte sie als grandiosen Sieg der USA im Ost-West-Konflikt bzw. als den Beginn einer globalen Hegemonie der USA. Wieck drückt dieses amerikanische Verständnis auf seine Weise aus, indem er betont, dass mit dem Vertrag über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) und der Charta von Paris vom November 1990 (Vereinbarung über die Transformation Ost- und Südosteuropas in pluralistische Demokratien) die Grundlage für das auf Übereinstimmung der Werte beruhende „Gemeinsame Haus“ Europa gelegt worden sei. Anders formuliert: Wenn ihr so werdet wie wir, sind wir bereit, mit euch ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen, andernfalls nicht (vgl. One-World-Theorien). Beim erwähnten zweiten Grund für die Vereinigung Deutschlands – die von der alten Bundesrepublik Deutschland erworbene Vertrauensstellung in Europa als Folge ihrer „Entspannungspolitik“ – hebt Wieck einseitig den menschenrechtlichen Aspekt hervor, der zum Vertragsabschluss von Helsinki führte. Der andere Teil dieser Strategie findet bei ihm keine Erwähnung. Dieser Teil entstammt der bitteren Erkenntnis über die passiven Reaktionen der USA und der west- wie östlichen Nachbarländer zum Mauerbau im Jahre 1961. Die Begründer der Entspannungsstrategie mussten erkennen, dass niemand in West und Ost den Deutschen dabei helfen würde, die Teilung zu überwinden. Niemand würde sich in der „deutschen Frage“ deutscher als die Deutschen gerieren und die Deutschen müssten selbst dafür sorgen, dass für die noch unabsehbare Dauer der Teilung der Zusammenhalt aller Deutschen bewahrt blieb. Aus dieser Einsicht erfolgte die Anerkennung der sowjetischen Einflusssphäre in Osteuropa, ohne die eine Entspannung nicht möglich schien; was nicht bedeutete, dass die Hoffnung auf Wiedervereinigung aufgegeben wurde. In Wiecks Analyse der ergriffenen und verschenkten Chancen nach 1990 spiegeln sich die Untiefen seiner Analyse wider. So heruntergekommen das System der Planwirtschaft nach siebzig Jahren inzwischen auch war, zerbrach die Sowjetunion im Dezember 1991 dennoch nicht am weit verbreiteten Unverständnis über Gorbatschows Reformvorhaben, genannt Glasnost und Perestroika. Vielmehr erzeugte die von Gorbatschow betriebene Ablösung der bis dahin tonangebenden militärischen Kaste, die mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf neue Militärtechnologie und steigende Rüstungsausgaben die sowjetischen Ressourcen überforderte, deren tiefe Abneigung und Feindschaft bis hin zur offenen Revolte gegenüber Gorbatschow. In der erbitterten Auseinandersetzung um die Erhaltung der eigenen Machtposition erhielten zuvor von Moskau unterdrückte Nationalbewegungen die Chance der eigenen Machtentfaltung. Unter Präsident Jelzin bekamen Personen das Sagen, die ohne viel Rücksicht auf Verluste und unter Missachtung der gewachsenen russischen Tradition aus der übrig gebliebenen Konkursmasse (Russland) im Eilschritt eine westliche Demokratie mit einem kapitalistischem Wirtschaftssystem formen wollten. Unterstützt wurden sie von Kräften des Westens, die ebenfalls der naiven Anschauung anhingen, aus der Konkursmasse des „realsozialistischen“ Wirtschafts- und Gesellschaftssystems könne man durch gründliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf schnellstem Wege eine parlamentarische Demokratie mit einer funktionierenden neoliberal ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaftsordnung erschaffen. Das Ergebnis ihres „Bemühens“ war alsbald in der Entstehung reicher Oligarchen bei gleichzeitiger Verarmung großer Teile der russischen Bevölkerung und – im Nebeneffekt – in einer enormen Verschuldung Russlands bei westlichen Banken und dem drohenden Ausverkauf russischer Erdöl- und Gasvorkommen an westliche Konzerne zu besichtigen. Gründlicher konnte man den Gedanken der Demokratie und die Hoffnung auf seine Verwirklichung der Bevölkerung Russlands nicht austreiben als es durch Jelzins Entourage und seine vorwiegend US-amerikanischen Berater geschehen ist. Wieck stellt diese Entwicklung bestenfalls verkürzt dar und überbetont statt dessen die Denkweise von Teilen der alten Machtelite, des Geheimdienstes und neu heranwachsender Machthaber im Staatsapparat, in deren Träumen ein imperiales Russland wiederbelebt wird. Dankenswerterweise weist er aber auch selbst auf die unter russischen Politikern erhebliche Ängste produzierende Einkreisungspolitik der Bush-Administration hin und erwähnt ebenfalls die vom US-Senat verweigerte Zustimmung des Teststoppabkommen als Auslöser russischer Alpträume. Der Konflikt mit Georgien erscheint bei ihm jedoch nur als ausgreifendes imperiales Gehabe der russischen Führung, nicht jedoch auch als deren angstbesetzte Reaktion auf stets lauernde Destabilisierungserscheinungen im nördlichen Kaukasus, die von Kräften südlich des Kaukasuskamms angezettelt werden könnten. Wieck unterschlägt die erwiesenermaßen von Georgien ausgehende Rückeroberungsinitiative in Abchasien und Süd-Ossetien, die ohne die stillschweigende Duldung der Bush-Administration nicht möglich gewesen wäre. Als ehemaliger deutscher Botschafter in Russland müsste Wieck eigentlich darüber informiert sein, dass die zahlreichen Konflikte zwischen den verschiedenen Kaukasusvölkern nur sehr schwer unter Kontrolle zu halten sind. Die Alternative, allen Klein- und Kleinstvölkern, die teilweise das gleiche Territorium bewohnen, in die Unabhängigkeit zu entlassen, würde zu chaotischen Zuständen führen, an deren Ausweitung letztlich niemand ein Interesse haben kann. In Kapitel 3.3 entfaltet Wieck seine Kernaussage. Danach hat sich das Russlands Putins und Medwedjews „in der gegenwärtigen Phase der so genannten souveränen Demokratie von der gemeinsamen Werteordnung gelöst und richtet seine Bemühungen darauf, die Bildung eines demokratischen Gegenentwurfs im Lande zu verhindern. Der Schröder’sche Entwurf einer deutschen Russlandpolitik ist mit den gemeinsamen Kerninteressen der Europäischen Union und denen des Nordatlantischen Bündnisses nicht vereinbar.“ Wieck wirft Schröder und anderen politischen Kräften sogar vor, indem sie die „russische Karte“ spielten, betrieben sie eine Politik, „die Moskau in den Stand versetzen kann, auf Augenhöhe mit Washington zu verhandeln“. Schröder habe mit seiner Politik beabsichtigt, „sich durch deutsch-russische Verabredungen dem Einfluss der USA und Großbritanniens zu entziehen und einen eurasischen Block im Gegensatz zum atlantischen Block aufzubauen“. Wiecks Credo lautet: „Die Priorität der deutschen Außenpolitik muss sich auf die Kohäsion der Europäischen Union und auf eine funktionierende Zusammenarbeit mit den USA konzentrieren.“ Erst wenn in den russisch-deutschen Beziehungen „zivilgesellschaftliche Verknüpfungen“ entstünden, könnten „eurorelevante Verbindungen und gemeinsame Wertvorstellungen wachsen“. Bis zu diesem fernen Zeitpunkt hält er es nur für möglich, mit Russland wie in den vergangenen Zeiten des Kalten Krieges bestenfalls eng begrenzte wirtschaftliche Beziehungen zu unterhalten. Angesichts der massiven Grenzziehung, die Wieck gegenüber Russland vornimmt, liegt als erstes die Frage nahe, welche nicht öffentlich zugänglichen Informationen zu der Aussage nötigen, Deutschland dürfe sich nicht dem Einfluss der USA und Großbritanniens entziehen? In diesem Zusammenhang ist ein Artikel von Egon Bahr über „Drei Briefe und ein Staatsgeheimnis“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 14. Mai 2009 von großem Interesse. Darin beschreibt Bahr das ungläubige Erstaunen des 1969 gerade sein neues Amt als Bundeskanzler antretenden Willy Brandt über die Vorlage dreier Briefe an die Botschafter der USA, Großbritanniens und Frankreichs in ihrer Eigenschaft als Hohe Kommissare für Deutschland. Mit seiner Unterschrift unter diese Briefe sollte Brandt seine Zustimmung geben zu dem, „was die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 an verbindlichen Vorbehalten gemacht hatten. Als Inhaber der unkündbaren Siegerrechte für Deutschland als Ganzes und Berlin hatten sie diejenigen Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft gesetzt, die sie als Einschränkung ihrer Verfügungshoheit verstanden“. Brandt, schreibt Bahr, „war empört, dass man von ihm verlangte, ‚einen solchen Unterwerfungsbrief’ zu unterschreiben“. Brandt unterschrieb schließlich wie alle Bundeskanzler vor und wahrscheinlich auch nach ihm, obwohl, wie Bahr sehr ironisch bemerkt, „deutsche Trompeten die gewonnene Souveränität (1955) verkündeten“. In einschlägigen Geschichtsbüchern wurde lange Zeit mit Blick auf die Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses der Beginn der wieder gewonnenen bundesdeutschen Souveränität in das Jahr 1955 verlegt und wahrscheinlich von unzähligen Geschichtslehrern nachgebetet. Diese Souveränitätseinschränkung durch die drei Westalliierten war in den Verhandlungen zum Viermächteabkommen und dem Grundlagenvertrag von 1972 zu berücksichtigen und kam erneut in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen im Jahre 1990 auf den Verhandlungstisch. In jenen Verhandlungen musste die Sowjetunion zwar auf alle ihre „Rechte für Deutschland als Ganzes“ verzichten, aber von den Westmächten entschied nur der französische Präsident Mitterand, dass Frankreich seine Truppen aus Deutschland zurückziehen werde und keine Sonderrechte mehr beanspruche. Kolportiert wird, er habe gesagt, man gehe lieber jetzt als so lange zu warten bis man von den Deutschen hinausgeworfen werde. Da Frankreich nicht der Nato angehörte, konnte die weitere Stationierung seiner Truppen nicht als Folge der Vereinbarungen der Nato plakatiert werden, was den beiden anderen Westmächten ohne weiteres möglich war. Egon Bahr bezeichnet in seinem Artikel die Lagerung von amerikanischen Atombomben auf bundesdeutschem Territorium als „Relikt der Lebenslüge“. Diese nuklearen Waffen würden im Falle eines Krieges von deutschen Flugzeugen zu ihren Zielen transportiert. Über den Einsatz dieser Nuklearwaffen entscheidet aber allein der amerikanische Präsident. Deutsche Piloten würden faktisch amerikanischem Befehl unterstellt. Stellt man die alleinige US-amerikanische Verfügung über die Atomwaffen in den Gesamtzusammenhang der Stationierung US-amerikanischen Militärs auf deutschem Territorium, einschließlich der Existenz des US-amerikanischen Hauptquartiers in Stuttgart, liegt weiterhin folgende Vermutung nahe: Im Deckmantel der Nato und unter dem Titel deutschen Rechts sind weiterhin unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit in Kraft – z.B. ein generelles Truppenstationierungsrecht einschließlich der Hoheit über Truppenbewegungen zu und zwischen den einzelnen Stationierungsorten sowie der Hoheit über elektronische Kommunikationsnetze, darüber hinaus noch weiterreichende Rechte im Falle eines drohendes Krieges bzw. für den Kriegszustand selbst. Sollte sich Wiecks Äußerung, Deutschland dürfe sich nicht dem Einfluss der USA und Großbritanniens entziehen, auf unkündbare originäre Rechte der Siegermächte von 1945 beziehen, müsste er sich vorhalten lassen, dass die deutsche Seite endlich – wie es Egon Bahr andeutet – damit beginnen muss, solche Bindungen offen zu diskutieren, damit sie später nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt ans Tageslicht kommen, großen Schaden anrichten und sogar zum Austritt aus der Nato führen könnten. Von den USA und Großbritannien kann man nicht erwarten, dass sie von sich aus über „Unkündbares“ reden. Wiecks Forderung geht jedoch sehr viel weiter. Er erklärt die „funktionierende Zusammenarbeit mit den USA“ zur Priorität jeder Bundesregierung und erwähnt dabei insbesondere die Nato. Das hochherrschaftliche Gebaren der Bush-Administration gegenüber den Verbündeten muss ihn sehr geschmerzt haben. Während dieser Jahre war der von Wieck besonders geschätzte „Nato-Konsultationsprozess“ unterbrochen, weil die US-amerikanische Seite unilateral entschied und noch nicht einmal für nötig hielt, die übrigen Nato-Mitglieder zu „konsultieren“. Im „NATO-Konsultationsprozess“ hatten alle Mitglieder die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Strategien und Taktiken zu informieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu gelangen. Das Wort Konsultation erweckt den Eindruck, dass im Ausschuss alle Nato-Mitglieder auf gleicher Ebene angesiedelt waren. Wieck weist aber selbst auf die hervorgehobene Position der USA, indem er betont, dass die Bush-Administration sich „ohne Not“ vom Konsultationsprozess verabschiedet habe. Im Notfall konnten die USA also auch schon vor Bush unilateral entscheiden. Sie hatte lediglich die übrigen Mitglieder zu konsultieren, was sie gegenüber den Europäern klugerweise als wohlmeinend auftretende Hegemonie auch taten. Wenn aus dieser amerikanischen Verhaltensweise bei den Konsultierten der Eindruck entstand, sie seien gleichwertige Partner der USA, war das ihr – und offensichtlich bis zum heutigen Tage auch Wiecks – Problem, denn Wieck bestreitet immer noch die hegemoniale Position der USA und weist statt dessen einseitig auf hegemoniale Absichten Russlands hin, vor denen man sich in Acht zu nehmen habe. Nun könnte Wieck im Einklang mit vielen Transatlantikern die Meinung vertreten, dass hegemoniales Gebaren von Demokratien grundsätzlich nichts Verabscheuungswürdiges sei, während man vor hegemonialen Tendenzen von Nichtdemokratien immer auf der Hut sein müsse. Solche Gedankengänge haben während des gesamten Ost-West-Konflikts die Köpfe des herrschaftlichen wie abhängigen Bewusstseins durchdrungen und führten beispielsweise bei Bewohnern West-Berlins zu der tiefen Überzeugung, dass sie an vorderster Front die Freiheit gegen die Unfreiheit verteidigten. Dabei kam ihnen nie in den Sinn, dass ihr Frontstadtbewusstsein von den Siegermächten des II. Weltkrieges auch dazu benutzt werden könnte, das geteilte Deutschland unter ihrer dauerhaften Kontrolle zu halten. Spätestens nach den verheerenden Ergebnissen der acht Jahre während der Bush-Administration und der bis zum heutigen Tage durch den ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney und die vorherige Außenministerin Condoleezza Rice gerechtfertigten Folter müsste doch endlich auch für Wieck erkennbar sein, dass die vereinfachenden Denkweisen des Kalten Krieges hegemonialen Zwecken dienten und in der heutigen weltpolitischen Konstellation keinen Platz mehr haben. Vehement wendet sich Wieck auch gegen den Aufbau eines eurasischen Blocks im Gegensatz zum atlantischen Block. Angesichts der Weltwirtschaftskrise und des gewaltigen Einbruchs in der einseitig auf die USA ausgerichteten exportorientierten Volkswirtschaft Japans gegenüber der zwar ebenfalls von starken Rückgängen geplagten, aber wenigstens in die Europäische Union eingebetteten exportorientierten Volkswirtschaft Deutschlands vor einem eurasischen Block zu warnen, zeugt von wenig Rücksicht auf die heutigen Welthandelsströme. Wenn man in der Vergangenheit schon nichts gegen die Globalisierungsstrategie der USA unternommen hat, unter der die Sozialstaatssysteme Kontinentaleuropas zu zerbrechen drohten, muss man jetzt wenigstens deren Ergebnis akzeptieren. Die asiatischen Volkswirtschaften sind zu unentbehrlichen Handelspartnern der Europäer geworden. Die gewachsenen eurasischen Verflechtungen sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, indem man deren Aufrechterhaltung als Blockdenken diffamiert. In einem Punkt ist Wieck völlig zuzustimmen. Er betont, wie wichtig die Einbettung Deutschlands in die Europäische Union ist. Die Kohäsion der Europäischen Union darf durch keine wie auch immer geartete Strategie in Frage gestellt werden, denn immer noch gilt die Feststellung Willy Brandts, dass Deutschland als Nation zu groß ist für seine Nachbarländer. Diese bleibende Erkenntnis haben deutsche Unternehmen schon kräftig vernachlässigt, als sie in ihrem Shareholderdenken die Lohnstückkosten durch Verlagerung der Produktion in die ost- und südosteuropäischen Länder senkten und bei den Westeuropäern den Eindruck erzeugten, Deutschland strebe nach dem Ende des Ost-West-Konflikts noch nachträglich das Ziel des I. Weltkrieges an, Osteuropa und den Balkan unter seine alles beherrschenden Fittiche zu nehmen. Wieck findet volle Übereinstimmung in seiner Ansicht, dass der russischen Seite eine Schwächung der EU durch Bevorzugung des einen oder anderen EU-Mitglieds nicht gelingen darf. Ihm ist auch in der Ausgestaltung einer genuinen europäischen Strategie zuzustimmen. Bisher ist eine solche Strategie nur in ersten Ansätzen vorhanden. Sie zu entwickeln und durch aussagekräftige Symbole wie beispielsweise die adäquate Ausgestaltung des Humboldtforums (weit über die einfallslose Rekonstruktion der Schlossfassade hinaus) zusätzlich abzufedern, ist eine Herausforderung, der man sich unbedingt auf deutscher Seite zu stellen hat. Das Humboldtforum ist mehr als das Schloss. Zu ihm gehört die gesamte Museumsinsel, die über ihre museale Prägung hinaus zu einem Ort der Begegnung der Kulturen der Welt werden muss. In den Museen und in den Räumlichkeiten des Schlosses muss Raum geschaffen werden für Theater- und Musikvorstellungen sowie Lesungen, wie es bereits ansatzweise in einigen Museen geschehen ist. Darüber hinaus ist ein Bild der Kulturen zu vermitteln, das nicht wie im 19. Jahrhundert aus eurozentristischer Sicht die Verschiedenheit der Kulturen zur Schau stellt, sondern das den Eigenwert jeder Kultur erfasst und danach fragt, welchen spezifischen Beitrag jede Kultur für alle anderen zu leisten vermag. Darin liegt die Aufgabe des „gemeinsamen Hauses Europa“ in einer zusammenwachsenden Welt. Diese Forderung tragen Vertreter anderer Kulturen auch an die Europäer heran. Greifen wir sie endlich weltoffen auf. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/6be77f445dcf4733985782be0c725495" width="1" height="1" alt="" />
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Wie schätzen die USA Indien ein: gleichbedeutend mit China als Global Player oder als hilfreicher Mitspieler in der Eindämmung Chinas? Verfolgt Indien weiterhin eine eigenständige Politik auf der Grundlage originärer indischer Interessen? Welche multipolare Konstellation wird sich in Asien durchsetzen? Die Autoren dieses Artikels, der zuerst in der in Indien viel gelesenen und sehr geschätzten Zeitung „The Hindu“ erschienen ist, versuchen auf die Fragen eine Antwort zu geben.
Seema Sirohi, Samir Saran, 1.The relationship between India and the U.S. is emerging as one of the three that will shape Asia and global politics in the decades ahead, the other two being U.S.-China and India-China It is rare for the ideas people to be behind the curve but those who say the India-US relationship has been reduced to merely “feel good” meetings and junkets are exactly that — a little behind the curve. Critics in both Washington and New Delhi complain about the preponderance of grand rhetoric which remains unmatched by delivery. Yes, India has signed some significant defence deals with the U.S. but where’s the real beef or the strategic content, they ask. This reductive description is more a function of the traits typical of people in the two countries — if some Americans are driven by “instant gratification,” their Indian counterparts see “melodrama” as a virtue. But beyond these personality quirks, clues point to a maturing partnership that no longer needs the adrenalin rush of big-ticket developments such as the Indo-U.S. civil nuclear agreement of 2008. The languageIt is apparent that India and the U.S. have made a long-term bet on each other even though the language reflects a cautious discretion bred in political realities. In India it is still not kosher for many to call America a good friend, a useful partner. It is ever so easy to point to the long history of Washington’s coddling of Pakistan and its disregard of Indian concerns as exhibit A. Their counterparts in Washington complain: what has India done for the U.S. lately? Remember the promise of commercial dividends from the nuclear deal? Fortunately, those who make decisions are largely unfettered by this narrative. They don’t want the present to be completely hostage to the past. They are already moving ahead, pushed by new geographies and challenges. The India-U.S. relationship is emerging as one of the three bilateral relationships that will shape Asia and perhaps define global politics in the decades ahead. The other two being U.S.-China and India-China. 2. Four trends The new India-U.S. partnership has four broad trends, which were apparent during recent discussions between Indian parliamentarians and scholars with senior officials in the departments of State and Defence, and at the National Security Council as part of a delegation organised by the Naval Post-graduate School, Monterey Bay and the Observer Research Foundation. The relationship has moved beyond “parallel actions” where both countries despite a congruence of interests moved separately, whether in Myanmar, the Middle East or Afghanistan. The old distrust has been replaced by a new respect for this kind of independent parallelism, which now seems to be converging. This has opened up the field to a wide variety of issues for frank discussion and an exchange of ideas between the two. From Pakistan to cyber security to space, no subject is taboo. The two main drivers for American consolidation of thought: an externality called China on the one hand, and internal doubts about the merits of unilateralism, on the other. American people have no appetite for new, expensive engagements. They imagine themselves better off “leading from behind” despite the hawkish clamour from conservative talking heads. The second noticeable trend is the understanding between the political leadership in both countries, stressed and repeated at very senior levels. In the U.S., bipartisan support for India is public and enthusiastic, putting New Delhi in the sanguine position of not having to fret about a change of administration in Washington this November. In India, the support is pledged quietly and firmly and repeated through itinerant former foreign secretaries and retired generals. The challenge here is to overcome the inertia of the mid-level bureaucracy on both sides which can puncture their political masters’ biggest dreams with pinpricks born of residual institutional memories. Also apparent is a new appreciation at high levels that the bet on India cannot and should not be purely for its large market. India’s emergence is good in itself because of strategic convergences. Short-term transactional expectations around that odd contract or defence deal gone awry will continue to disappoint, but policymakers understand the need for “patience” — a word that has become part of official U.S. speak on India. The understanding has opened the door to Washington looking at India in the medium-term instead of just for short-term gains. A growing number of thinkers in Washington believe the strengthening of India will be one of the main features of the U.S. presence in Asia this century. The last and perhaps the most interesting development is the real entry of the U.S. Defense Department to try to “own and guide” the India relationship in ways that were unimaginable a few years ago. Defense Secretary Leon Panetta and Deputy Secretary Ashton Carter have taken a decision to act on some of India’s perennial complaints about tech and weapons transfer to put real meat on the bones. Almost all key U.S. relationships are driven by the Department of Defense (DoD) because of the high element of the strategic content. The trajectory from the early 1990s when the DoD hardly had any interest in India to reach a point where it wants to be the main driver is significant. Regional issuesThis has important benefits. Plain talk is one. Senior U.S. officials have apparently conveyed to the Pakistani generals that India’s strategic interests in Afghanistan far outweigh theirs because India has greater capacity, reach and ultimately more robust goals in the region. So they had better get used to the idea. The de-hyphenation is complete. This attitudinal change is a far cry from even two years ago when the Americans were hedging their bets between the two countries. But today there is greater appreciation of India’s pain. The Americans are equally perplexed about how to deal with a country that has allowed its own slow radicalisation and despite opportunities, has failed to stem the tide. Where will the new trends lead? There could be a mismatch of expectations and capacity. For instance, the U.S. may now be willing to see India as a key balancer in the region and in Afghanistan. New Delhi, however, may be more comfortable with a far modest role. India is unlikely to agree to be a net provider of security and its strategic outlook may be limited to ensuring that anti-India forces don’t dominate Kabul. The green-on-blue attacks against U.S. troops may have already given the Indian political class jitters about training Afghan forces. Then there is the brute reality of India itself, which can alienate the strongest ally. The Democrats and the Republicans are united in their support for India but what about the political climate in a country with narrow horizons and where short-term obsessions manifest in “tactical” moves that can derail the country’s larger strategic goals? (Seema Sirohi is a columnist based in Washington DC. Samir Saran, Vice-President at the Observer Research Foundation, was a part of the recent Track-2 interactions with the U.S. establishment.) Copyright: The right to republish this article was granted by the authors to solon-line.de. For further usage contact the authors. Reinhard Hildebrandt ist Redaktionsmitglied von solon-line.de. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/ca709186b56645baac8211da4be62c94" width="1" height="1" alt="" /> Vortrag bei Spree-Athen
Die Erfahrung lehrt uns, dass Hegemonialmächte zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie stets den Versuch unternehmen, den hegemonisierten Mächten ihre spezifische Gesellschaftsform, ihr Wertgefüge, ihre Politik und ihre Strategien überzustülpen. Hegemonialmächte schwächen ihre Opfer, entziehen ihnen Ressourcen. Ob wir der Ausformung von Hegemonialmächten entfliehen können, ist ungewiss und bedarf einer umfassenden Analyse. Das Imperium versucht, die innere Autonomie und die äußere Handlungsfähigkeit der beherrschten Macht absolut zu unterbinden. Die Hegemonialmacht kann die beherrschte Macht nur in ihrem Streben nach Autonomie begrenzen, aber nicht entscheidend daran hindern. Imperium und Hegemonialmacht formen endliche Strukturen, deren Lebensdauer sie selbst nicht bestimmen können. Hegemonialmächte verlieren ihre Macht auf dreierlei Weise:
Zu 1. Überziehung des Hegemonialanspruchs Die Nato-Konferenz in Bukarest 2008Gegen den damaligen Vorschlag der USA, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die Nato zu öffnen, erwartete die Bush-Administration, dass keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, seine Stimme zu erheben. Der Hegemon unterstellte bei den Hegemonisierten ein unüberschreitbares abhängiges Bewusstsein. Die Bush-Administration ging davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und dass das von ihr ausgewählte aktuelle Arrangement als einzig möglicher Weg unhinterfragt bliebe. Die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit seiner hegemonialen Praxis verkannte jedoch die inzwischen eingetretene Veränderung des hegemonialen Verhältnisses zu Lasten der USA. Zu 2. Durch Selbstschwächung, indem sie auf obsolet gewordenen Rechten beharren Beispiel: Beharren auf Sonderrechten der USA und UKDie Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten. Auch während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern (zurückbehaltene Souveränitätsrechte). Folgende Veränderungen gibt es in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA sowie Großbritannien:
Zu 3. Fehler in der Ausgestaltung ihrer Hegemonie Beispiel: Nato-KonsultationsprozessIm Nato-Konsultationsprozess haben alle Mitglieder die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Strategien und Taktiken zu informieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu gelangen. Das Wort Konsultation erweckt den Eindruck, dass im Ausschuss alle Nato-Mitglieder auf gleicher Ebene angesiedelt sind. Im Notfall können jedoch die USA auch unilateral und ohne Konsultierung der anderen entscheiden, was zu Zeiten der Bush-Administration auch öfters geschehen ist. Ein wohlmeinender Hegemon strebt ein kostenfreies ideales Unterordnungsverhältnis an. Wenn gemäß Hegel Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn besteht, erscheint im Bewusstsein des Knechts seine real existierende Unterordnung gerade umgekehrt als absolute Freiheit. Für den Hegemon ist ein solches Verhältnis kostenfrei. Diese Deckungsgleichheit funktioniert seit dem Ende der Bush-Administration nicht mehr und führt damit zu einer Veränderung des bisher funktionierenden hegemonialen Verhältnisses. Die Folge: Verlust ihres Images als wohlmeinende hegemoniale Macht. Darin sind auch erste Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht zu erkennen. Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht Geopolitisch:
Ökonomisch:
Militärisch:
Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte
Hegemoniale Formationen und deren hegemoniale PraxisHegemoniale Formationen entstehen auf der Ebene der Diskursivität – bzw. der wissenschaftlichen Theoriebildung – als Erweiterung diskursiver Formationen. Was versteht man unter einer diskursiven Formation? Was unter der „Ebene der Diskursivität“, was unter der „Ebene des gesellschaftlichen Ensembles relativ stabiler Formen“? Die diskursive FormationEine diskursive Formation (Foucault) ist ein Ensemble differentieller Positionen, das sich durch eine „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ auszeichnet. Mit einfachen Worten: Der Wissenschaftler beschreibt mit einem allgemeinen Satz ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen oder eine neue Erkenntnis, die im Selbstgespräch oder im Dialog mit anderen entstanden ist. Beispiel: Die Erde dreht sich um die Sonne! Er formuliert also eine Hypothese, aus der er streng rational vorgehend Unterpunkte bzw. voneinander abgeleitete Unteraussagen bis hin zu Basissätzen ableitet (eine diskursive Formation). Dieses Ensemble differentieller Positionen soll, so ist die Annahme, in der empirisch erfassbaren Realität vorzufinden sein. In ihr muss es also die unterstellte „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ geben. Auf welche Weise das artikulierende Subjekt in den Humanwissenschaften zu einer Aussage über das artikulierte Objekt gelangt, hängt anders als in den Naturwissenschaften von folgenden Überlegungen ab:
<img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/d697e57b89c04cf5ad2f4bbd00055ad5" width="1" height="1" alt="" /> Eine kritische Analyse des Jahresberichts 2011: Global Shift – How the West should respond to the rise of China
Die Transatlantic Academy in Washington D.C empfindet sich als ein Kompetenzzentrum, in dem europäische und amerikanische Experten gemeinsam Zukunftsthemen bearbeiten. Sie wurde von der ZEIT-Stiftung und dem German Marshall Fund of the United States geschaffen. Die Autoren Daniel Deudney (Associate Professor at John Hopkins University USA), James Goldgeier (Professor of Political Science at George Washington University USA), Hanns W. Maull (Professor für Außenpolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Trier), Steffen Kern (Direktor für Internationale Finanzmarkt Politik bei der Deutschen Bank) Soo Yeon Kim (ab 2011 Associate Professor of Political Science at National University of Singapor), Iskander Rehman (Science Po, Institute of Political Studies, Paris) analysieren die „Weltpolitik im Umbruch“ und fragen sich, auf welche Weise der „Westen“ auf den Aufstieg Chinas antworten sollte. 1. Entwicklung einer Strategie zur Bewältigung des tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik In ihrer deutschen Zusammenfassung stellen die Autoren fest, dass der Aufstieg neuer Mächte (China, Indien, Brasilien) „nur einen Aspekt eines umfassenden und tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik darstellt“. In mindestens zweierlei Hinsicht unterscheide sich die Welt heute fundamental von früheren Epochen: „Erstens durch beispiellos dichte globale Verflechtungen und damit Verwundbarkeiten (‚Globalisierung’), und zweitens durch eine neue Qualität der Komplexität und Unberechenbarkeit der Weltpolitik, in der Veränderungen von großer Tragweite häufig, plötzlich und unerwartet eintreten (‚Turbulenz’).“ Da die „Diffusion von Macht und Einfluss“ (an neue Mächte und nichtstaatliche Akteure, d.Verf.) eine „Erosion der globalen Ordnung“ zur Folge habe und die „Interessen des Westens“ und der gesamten „Staatengemeinschaft“ bedrohten, seien, um den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen, neue „globale Lösungsansätze“ erforderlich. Mit ihrer Andeutung einer tiefgreifenden Bedrohung, der die „Interessen des Westens“ und darüber hinaus auch die gesamte „Staatengemeinschaft“ ausgeliefert sei, geraten die Autoren in die Nähe von Dominique Moïsi, der die Emotionen zum alles entscheidenden Moment des Weltgeschehens hochstilisiert hat (Moïsi, Dominique, „Kampf der Emotionen – Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, (Originaltitel: The Geopolitics of Emotion), München 2009. Moïsi gibt zu bedenken, Emotionen hätten nicht zu unterschätzende Auswirkungen für die Einstellung von Menschen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen und auf das Verhalten von Völkern untereinander. Emotionen spiegelten den Grad des Selbstvertrauens einer Gesellschaft wider. Im kollektiven Bewusstsein der Völker hänge von ihnen ab, wie gut ein Volk eine Herausforderung bewältigen und sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen könnte. Weder Politiker noch Historiker und auch nicht interessierte gewöhnliche Bürger könnten sie ignorieren (S. 53). In seinem Modell verknüpft er drei geopolitische Großräume mit jeweils einer vorherrschenden Emotion: Hoffnung bei den Asiaten, die Kultur der Demütigung in der arabischen Welt und Angst im traditionellen Westen (USA/Europa). Moïsi fasst die drei Emotionen in den folgenden griffigen Formeln zusammen: Hoffnung („Ich will es tun, ich kann es tun, und ich werde es tun.“), Demütigung („Ich werde es nie schaffen.“) und Angst („Lieber Himmel, die Welt ist zu einem gefährlichen Ort geworden; wie kann ich mich vor ihr schützen“) (S. 21). Mit seinem Experiment folgt er seiner durchaus nachvollziehbaren Einsicht, dass „im Zeitalter der Globalisierung (…) die Beziehung zum ‚Anderen’ (dem Fremden) mehr denn je von grundlegender Bedeutung“ ist (S. 40). Der in früheren Zeiten lediglich als Kuriosum bestaunte „Andere“ hätte „die westliche Welt“ zu keinem Zeitpunkt zur Hinterfragung ihrer „eigenen Identität“, ihrer „sozialen und politischen Modelle“, herausgefordert. Selbst in seiner Gestalt als „absolut Anderer“ des kommunistischen Systems sei er nur als die „andere Seite des Westens“ begriffen worden. Im Zeitalter der Globalisierung jedoch käme das „absolut Andere“ „nicht nur aus einer anderen, nicht-westlichen Kultur, sondern auch, in gewisser Weise, aus einem anderen Jahrhundert“ (S.40/41). Sowohl der Aufstieg Asiens wie der aufkeimende Fundamentalismus stellten für den Westen eine große Herausforderung dar, der er sich „mit tiefgreifenden Fragen nach seiner Identität“ zu stellen habe: „Wer sind wir? Was macht uns besonders und andersartig?“ Obwohl sich Moïsis Ansatz auf den ersten Blick ganz selbstkritisch gibt, steckt in ihm doch ein hohes Maß an Unbewusstheit: Offenbar war für Moïsi nicht klar, wie verletzend die Selbstbezogenheit des „Westens“ auf Menschen anderer Kulturen wirkte. Über die gravierenden Folgen westlicher Selbstbezogenheit in nicht-westlichen Regionen musste er sich, solange er sich vollkommen im Kokon eines anglo-amerikanisch bestimmten Weltbildes und Wissenschaftsbetriebes aufgehoben fühlte, in der Tat lange Zeit keine Rechenschaft ablegen. Dieser Kokon begrenzte seinen Blick bis über das Ende des Kalten Krieges hinaus. Die Autoren des Berichts „Global Shift“ haben sich wie Moïsi der schmerzvollen Aufgabe unterzogen, diesem Kokon zu entfliehen. Sie verfolgen jedoch andere Lösungsansätze als Moïsi, um, wie sie formulieren, die „Interessen des Westens“ in der sich wandelnden „Staatengemeinschaft“ zu wahren und den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen. Der Titel ihres Berichts – „Global Shift“ – bestätigt zwar nur, dass sich die Welt verändert. Der von ihnen vorgenommenen Lageanalyse und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen lässt sich jedoch entnehmen, dass sie sich ihrer Ansicht nach in eine ganz bestimmte Richtung ändert und sie einen Richtungswechsel bewirken möchten. Ob der Wechsel mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ihnen eine zutreffende Analyse der Probleme, die auf dem Hintergrund der vom „Westen“ geprägten Weltordnung entstanden sind, gelungen ist. Die Autoren empfehlen eine Strategie mit drei zentralen Komponenten:
In diesem Sinne formulieren die Autoren folgende Handlungsempfehlungen:
2. Zulängliche und unzulängliche Einsichten Gleich zu Beginn ihres Berichts formulieren die Autoren sehr ungenau: „At the end of the 20th century, Western dominance of the international order appeared complete“ (Global Shift, S.6). Was verstehen sie unter „Western dominance“? Wer im „Westen“ bestimmte die Weltordnung: die USA, Europa oder beide zusammen? Wenn letzteres zutraf, welchen Anteil hatte Europa daran und in welchem Ausmaß trugen die USA dazu bei? Was begreifen die Autoren als „Weltordnung“? „Ordnungen“ sind als endliche Strukturen ausgelegt, deshalb ist danach zu fragen, welche Arrangements nötig sind, um die Lebensdauer dieser Ordnung optimal auszufüllen? Welche ausgewählten Arrangements dienen zwar der Machterhaltung der dominierenden Kräfte, aber nicht der optimalen Entfaltung der Lebensdauer der Struktur? Mit ihrer Formulierung „Western dominance“ erwecken die Autoren den Eindruck, dass es eine „transatlantische Gemeinschaft“ der Machtgleichheit, Interessen- und Wertegemeinschaft zwischen den USA und Europa gegeben habe. Eine Begründung für diese Feststellung ist im Text nicht zu finden. Außerdem klammern sie die Sonderrolle Großbritanniens aus. Britische Regierungen betonten immer wieder ihr spezielles Verhältnis zu den USA. Zugleich war Großbritannien ein Mitglied der Europäischen Union und britische Regierungen unterstützten alle Bemühungen, den Standort der EU auf der Achse zwischen Staatenbund und Bundesstaat in Richtung Staatenbund zu verschieben. Den Autoren ist z.B. der Streit auf der NATO-Konferenz in Bukarest im Juli 2008 zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern der NATO keine Erwähnung wert. Gegen den damaligen Vorschlag der Bush-Administration, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die NATO zu öffnen, erwartete sie keinen Widerspruch. Ging sie doch davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, dagegen seine Stimme zu erheben? Aber selbst der britische Premierminister Brown erhob Einwände, obgleich er dann dennoch für den Vorschlag Bushs stimmte, während die französische und deutsche Regierung Bushs Ansinnen glatt ablehnten. Der Vorfall zeigte, dass die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit US-amerikanischer Arrangements zur optimalen Ausgestaltung der NATO zwar die Dominanz der USA im Bündnis im Blickfeld hatte, aber nicht die Erreichung einer optimalen Lebenserwartung der Organisation. Das Ausmaß der inzwischen eingetretenen Verschiebung der Gewichte zwischen den USA und Europa innerhalb der NATO wurde von Bush verkannt. Statt diesen gravierenden Vorfall zum Anlass für eine Hinterfragung des Begriffs „Westen“ zu nehmen, konzentrieren sich die Autoren auf ganz andere Verschiebungen innerhalb der Weltordnung. So konstatieren sie: „What is new is the quality of global interdependence and its complexity“ (S.7). Man sucht im Text vergebens nach einer Definition für die spezifische Qualität der globalen Interdependenz und der ihr inhärenten Komplexität. Vermutlich verbirgt sich dahinter die Global Governance Theorie, in der Nationalstaaten, die alleinigen Akteure der vergangenen Perioden auf dem internationalen Parkett, ergänzt und teilweise abgelöst werden durch außer- sowie überstaatliche Organisationen/Institutionen und global agierende Unternehmen und Finanzkapitale, die sich dem Postulat des Good Governance (Regierungen) bzw. Good Corporative Governance (Unternehmen) verpflichtet fühlen sollen. In der Vorstellung der Global Governance Theorie dominieren interdependente Beziehungen das Weltgeschehen. Hegemoniale Verhaltensweisen werden als irrelevant für die heutige Zeit betrachtet. In diese Richtung scheint auch der nächste Satz der Autoren zu verweisen: „As global problems grow, the diffusion of world power is undermining present arrangements of global governance, widening the gap between what is needed and what can be delivered“ (S.7/8). Offenbar sind die Autoren der Ansicht, dass sich in einer Zeit auftürmender Weltprobleme Macht heutzutage auf immer mehr Schultern verteilt und aufgrund dieser Entwicklung die bisherige vom „Westen“ bestimmte Weltordnung unterminiert wird und nicht mehr ausreichend adäquate Lösungen zur Verfügung stellen kann. Was sie jedoch wirklich darunter verstehen, offenbaren sie im folgenden Satz: “China is the only credible challenger to American hegemony, in Asia and beyond” (S.8) Im Gegensatz zu Global Governance Theoretikern existiert für sie eine US-bestimmte Hegemonie. Sie sehen die US Hegemonie nicht so sehr von der Mitwirkung von NGOs oder private public partnerships beeinträchtigt, sondern vor allem durch die zunehmende Interdependenz der Staaten untergraben und denken hierbei insbesondere an den Machtzuwachs Chinas. Wechselbeziehungen (Interdependenz) – sowohl symmetrischer wie asymmetrischer Form – bestehen zwischen Mächten, die sich bei aller Unterschiedlichkeit gegenseitig als gleichwertig und gleichrangig betrachten. Hegemoniale Verhältnisse hingegen gehen von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der beteiligten Mächte aus. Zwischen ihnen bestehen zwar auch Wechselbeziehungen, aber sie spiegeln stets den Rangunterschied zwischen Hegemon und Hegemonisierten. Indem die Autoren die Gefahr beschwören, dass in der Zukunft der “Beijing Consensus” den “Washington Consensus” der vergangenen Periode ablösen könnte (ebd.), drücken sie ihre Befürchtung aus, dass der US-Hegemonie in der wachsenden Weltgeltung Chinas ein ernst zu nehmender Widerpart erwachsen könnte. Im gleichen Atemzug unterstellen sie der chinesischen Führung hegemoniales Denken. Sie nehmen die kurze Geschichte der USA als Siedlergesellschaft zum Maßstab für das Denken und Handeln anderer, weitaus älterer Gesellschaften. So wie sich die USA zunächst von der Kolonialmacht Großbritannien befreiten, danach im Bürgerkrieg den nordamerikanischen Kontinent unter eine einheitliche Führung brachten, als nächsten Schritt ihre Herrschaft auf Mittel- und Südamerika ausdehnten, erst dann den Sprung über den Nordatlantik und den Pazifik auf die gegenüberliegenden Küstenregionen wagten und nach der Niederkämpfung der Sowjetunion schließlich den Versuch unternahmen, ihre Hegemonie weltweit auszudehnen, unterstellen sie nun der chinesischen Führung, dass sie von der Mitte Asiens aus schrittweise eine globale Hegemonie errichten wolle. Dass die geographische Lage Chinas eine ganz andere als die der USA ist, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Als Reich der Mitte war China stets von anderen Völkern umgeben und nicht, wie die USA vornehmlich von zwei Weltmeeren. Sie hatten sich der Eroberungen durch andere Völker zu erwehren und unternahmen selbst Eroberungsfeldzüge. Die Jahrtausende alte chinesische Geschichte ist voll von wechselnden Machtkonstellationen, Niedergängen und Wiedererlangung der Macht. Die chinesische Führung blickt auf eine lange Tradition von herrschaftlichem Gebaren und Verhaltensweisen beherrschter Regierungen zurück. Die chinesische Kultur kennt vielfältige Variationen der Machtausübung und Werteorientierung. Ihr ist bewusst, dass sie trotz der Dominanz des Hauptvolkes einen Vielvölkerstaat regiert und dass ein Streben nach Hegemonie mit enormen Risiken verbunden ist. Ihr ohne stichhaltige Beweise umstandslos hegemoniales Denken und Handeln zu unterstellen, nährt den Verdacht absichtlicher Unterstellung und kann als Übertragung eigenen Denkens und Handelns auf andere gedeutet werden, was im nächsten Satz der Autoren auch zum Vorschein kommt. So geben sie zu bedenken, dass Chinas Wachstum „raises the spector of a return to great power rivalry and ideological competition that appeared to end with the Soviet collapse“ (ebd.). Mit diesem Satz bezeugen die Autoren, dass sie die Anforderungen, die eine duale Hegemonie an die Kontrahenten stellt, bis heute nicht in ihr Denken aufgenommen haben. Deshalb erscheint es notwendig, die beiden bestimmenden Momente des Ost-West-Konflikts nochmals zu skizzieren. 3. Grundzüge einer dualen Hegemonie Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Diese für eine duale Hegemonie ausschlaggebende Konstellation steht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht − nur durch den eigenen Willen begrenzt. In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potenzial an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. Da beide Seiten zu keinem Zeitpunkt exakt einschätzen konnten, welcher Handlungsspielraum für einen selbst und dem Kontrahenten tatsächlich zur Verfügung stand, führte das hohe Maß an Unsicherheit und Vernichtungsrisiko durch atomare Waffen dazu, dass sie trotz härtester Konkurrenz zugleich ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der fragilen geopolitischen Stabilität und damit ihrer dualen Hegemonie entwickelten. Dieses Interesse trat insbesondere an geopolitischen Orten zutage, an denen unbedachte Schritte zu unkontrollierbaren Folgen führen konnten, wie z.B. zwischen West- und Ostberlin vor, während und nach dem Bau der Mauer im Jahre 1961, auf den Transitrouten durch die DDR, oder wenn nachgeordnete Mächte beabsichtigten, kurzzeitig in der etablierten Sicherheitsarchitektur des Ost-West-Konflikts auftretende ungeklärte Schwebezustände zum eigenen Vorteil zu nutzen (Emanzipationsbestrebungen vorwiegend der Westeuropäer im Gefolge des für die USA ungünstig ausgehenden Vietnamkrieges). Im Widerspruch zum immer vorhandenen gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der geopolitischen Stabilität (Sicherheitsarchitektur) handelten beide Mächte zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen. Die USA betrachteten ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivalen, während sie sich selbst als obersten Verteidiger der Freiheit dekorierten. Die Sowjetunion trat als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse auf und unterstellte den USA feindlichste Absichten gegen den Rest der Menschheit. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, verschoben sie gedankenlos die Grenzlinie zwischen den für beide Seiten verfügbaren Handlungsoptionen zuungunsten des jeweils anderen und handelten im Sinne eines Nullsummenspiels. So kümmerten sie sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwendige Erhaltung der geopolitischen Stabilität. Dies führte für die Sowjetunion kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts dazu, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration, während sich die USA gerade umgekehrt mit der Frage auseinandersetzen mussten, ob ihre bisherige räumlich begrenzte Hegemonie auf globale Ausmaße ausgedehnt werden konnte und auf welche Widerstände sie hierbei stoßen würden.1 4. Das Streben nach globaler Hegemonie der USA Auf dem Hintergrund der engen Verbindung ökonomischer und militärischer Überlegenheit begannen die USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit der Globalisierung ihrer Hegemonie. Sie traten nach dem Ende des Kalten Krieges gegenüber Europa nicht mehr wie zuvor als wohlmeinender Hegemon auf, sondern forderten ultimativ die Anpassung der europäischen Volkswirtschaften an den US-amerikanischen Shareholderkapitalismus und verlangten damit die Übernahme des Werte- und Gesellschaftssystems der USA. Sie propagierten ihren Unilateralismus, als die Europäer ihre Ängste vor der Sowjetunion allmählich verloren und auf mehr Eigenständigkeit pochten. Während des Ost-West-Konflikts hatten sich die Westeuropäer aus Furcht vor der Sowjetunion an den westlichen Hegemon angelehnt. Nach dem Ende der Sowjetunion betrachteten die Europäer US-Aktivitäten jedoch zunehmend kritischer. Sie erinnerten sich daran, dass die USA im Namen der Befreiung vom Kolonialismus den europäischen Kolonialstaaten das ihnen bis dahin verbliebene Hinterland entzogen hatten und die ökonomischen Aktionsmöglichkeiten der europäischen Mutterländer immer stärker auf die USA konzentrierten. Das innerwestliche Dreieck mit den USA an der Spitze und Westeuropa und Japan an der Basis unterwarfen sie den ökonomischen Vorgaben aus den USA, was solange zu wenig Unmut führte, wie der Handel florierte und der Lebensstandard der Bevölkerung stieg. Die USA mussten − wenn auch erst einige Jahre später − akzeptieren, dass auf das Ende der dualen Hegemonie mit der Sowjetunion nicht die globale Hegemonie der USA folgte, wie sie noch unter den beiden Administrationen unter Clinton auf der Grundlage der Informationstechnologie und Menschenrechtsstrategie und unter der nachfolgenden von Bush Junior unter Androhung und Anwendung militärischer Gewalt angestrebt wurde. Die Finanzkapitalkrise nahm ihren Ausgang in den USA und hat als letzten Akt eine gigantische Staatsverschuldung der USA und einiger EU-Länder zur Folge. Wer, wie die USA, den Anteil des privaten Konsums an der Erstellung und dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts auf über 50 Prozent ansteigen lässt, seine Infrastruktur jahrzehntelang vernachlässigt, seinen Militärhaushalt ins Unermessliche anhebt, die Gefahr einer plutokratischen Ausrichtung der Gesellschaft nicht energisch bekämpft und einen hohen Anteil verarmter Bevölkerung klaglos akzeptiert,2 darf sich nicht wundern, wenn andere Volkswirtschaften den schnell steigenden Handelsaustausch mit Schwellenländern wie China und Indien bevorzugen und die USA mit ihrer steigenden Arbeitslosigkeit und zunehmenden Konsumschwäche meiden. Wer trotz dieser unübersehbaren Schwächen bis in die Gegenwart auf die Sperrminorität im Internationalen Währungsfonds (IWF) beharrt, die den USA ermöglicht, trotz höchster Verschuldung dem US-Dollar die Leitwährungsfunktion auf unbegrenzte Zeit zu garantieren und zugleich den Europäern empfiehlt, ihren Stimmenanteil zugunsten der Schwellenländer zu reduzieren (S.10), muss mit massiver Gegenwehr rechnen. Wir leben in einer Welt, die nicht mehr unter der Oberaufsicht einer US Hegemonie steht. Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte ist durch folgende Kriterien bestimmt:
5. „Global Shift“ – Eine „strategy for renewel“ Die USA haben über die Jahre hinweg vergeblich versucht, China in die Rolle der ehemaligen Sowjetunion zu drängen. Die chinesische Führungen verhielten sich immer geschickt genug, diese Position zu vermeiden und nicht militärisch, sondern ökonomisch zu agieren und zu reagieren. Die Vokabel “Beijing Consensus” stellt nun einen weiteren Versuch dar, China in die Angst einflößende Position zu rücken. Sie steht im engen Zusammenhang mit der Debatte über demokratische und autoritäre Regime und der Zielbestimmung, dass ein neuer weltweiter Kampf zwischen den freiheitlichen und autoritären Regimen zu führen sei. In der schon seit einigen Jahren stattfindenden Debatte, schreiben die Autoren, vertreten die einen die Meinung, dass der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas die Demokratisierung zeitverzögert folgen werde, während die anderen Seite die Kontinuität des autoritären Regimes Chinas propagierten. Die Debatte zwischen „integrationists and balancers sets the alternatives too starkly“, meinen die Autoren und behaupten, dass „China’s course will probably fall somewhere in between these two extremes“ (S.9). Der „Westen“ handele deshalb klug, wenn er eine Mischung von Engagement and Eindämmung verfolge. Denn man müsse deutlich machen, dass der Aufstieg Chinas (und anderer Schwellenländer) zwar als Teil wachsender Interdependenz und Komplexität aufgefasst werden könne, aber darüber hinaus auch „a resulting crisis of global governance“ (ebd.) darstelle. Diese Krise erfordere eine „strategy for renewel“ der westlichen Hegemonie (S.10). Was sie darunter real verstehen, bedarf einer Ergänzung aus dem englischen Haupttext des „Global Shift“. Darin sind – im Rückgriff auf den Kalten Krieg von 1945 bis 1990 – unter „division of labor“ folgende zwei bemerkenswerte Sätze zu lesen: „During the Cold War, the United States led, and Europe assisted and followed in our efforts to defend ourselves against a common threat, avoid war, and eventually overcome and resolve our differences with our opponents. The new circumstances require a recasting of the previous division of labor, the use of the separate capabilities and means of the individual transatlantic community members on problems based on a common vision and strategy.”(S.10). Unter der Ausblendung des hegemonialen Verhältnisses zwischen den USA und Europa in der Periode des Ost-West-Konflikts und der darauf folgenden Periode unter Clinton und Bush, die US-Hegemonie global auszudehnen, versuchen die Autoren ein neues einigendes Band zwischen den USA und Europa zu knüpfen und hierbei auf die Existenz gemeinsamer Werte zu rekurrieren, die es zu erhalten gelte. Dementsprechend formulieren sie im folgenden Satz: „Second, the members of the transatlantic community need to cultivate a new mindset about ourselves appropriate for a multipolar interdependent world.”(ebd.). Unter multipolar verstehen sie vor allem das Dreieck USA-Europa-China. Auf dem von ihnen geforderten Hintergrund einer engen Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa wird daraus unmittelbar ein Gegensatz zwischen „dem Westen“ und China. Die anderen BRIC-Staaten (Brasilien, Russland und Indien) erwähnen sie nicht. Die Autoren bleiben eine Antwort darauf schuldig, auf welchen Positionen sie diese globalen Mitspieler einordnen. Die ständigen Versuche der USA, Indien in eine Containmentpolitik gegen China einzubeziehen sowie die Re-Industrialisierung Russlands mit europäischem Know-how zu behindern und Brasiliens Bestreben zu mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in den Handelsverträgen Brasiliens mit den USA zu sabotieren, veranlassen sie zu keinerlei Reaktion. Fragen sich die Autoren ernsthaft, ob die USA tatsächlich bereit sein könnten, auf ihre Hegemonie zu verzichten? Wie ist ihr beschwichtigender Satz zu verstehen: “The United States, after years of hegemony, must recognize that it can no longer lead through domination or coercion but rather must now rely on the power of its example and its contributions to global problem-solving.” (S.10). Haben sich die Autoren gefragt, ob die USA künftig Europa als gleichberechtigten Partner anerkennen werden oder zielt ihr Bericht lediglich darauf ab, die Europäer ins gemeinsame Boot zu holen? Die alte Weisheit, dass ein Kamel eher durch ein Nadelöhr geht als dass ein Hegemon auf seine Ansprüche verzichtet, gilt es erst noch zu widerlegen. ________________ 1Kernelement der unter amerikanische Vorherrschaft gestellten Küstenregionen von Atlantik und Pazifik blieb das unbeschränkte Stationierungsrecht amerikanischer Truppen in Deutschland und Japan. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Jahre 1945 mussten beide Staaten ihre staatliche Souveränität an die Siegermächte übergeben und darauf vertrauen, dass ihnen die Souveränität schrittweise wieder zurückgegeben wurde. Die verbliebene Souveränitätseinschränkung durch die drei Westalliierten war in den Verhandlungen zum Viermächteabkommen und dem Grundlagenvertrag von 1972 zu berücksichtigen und kam erneut in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen im Jahre 1990 auf den Verhandlungstisch. Während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern. Die Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten. Die gleiche Rechtslage bezüglich zurückbehaltener Souveränität existiert in Japan. Das us-amerikanische Beharren auf ihre unkündbaren Rechte in Deutschland und Japan zeigt, dass die USA stets ökonomische und militärische Dominanz eng verknüpft haben. Letztere sicherte ihnen den freien Zugang zu unentbehrlichen Rohstoffen, die Öffnung von Volkswirtschaften für den Güter- und Kapitalverkehr und die Absicherung von Handelswegen. Ganz auf dieser Linie liegt, dass die USA unter der Bush-Administration zur Wahrung ihrer Interessen für die Zeit nach ihrem Abzug der Kampfgruppen aus dem Irak wie aus Afghanistan die Einrichtung von Militärbasen auf unbestimmte Dauer forderten. Die USA bestehen auch unter dem Präsidenten Obama gegenüber der Kabuler Regierung auf einer dauerhaften Präsenz ihrer Truppen in Afghanistan. Zugleich mahnt der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass keines der NATO-Länder aus nationalen Gründen allein mit dem Abzug von Truppen beginnen dürfe (Tagespiegel, 11.6.2011). Die USA sind offenbar weiterhin überzeugt, dass sie dank militärisch überlegener Technologie die Talibankämpfer schließlich zur Aufgabe zwingen und die Warlords mit finanziellen Zuwendungen zum Einlenken bringen können. Der enge Zusammenhang zwischen der angestrebten permanenten US-Truppenpräsenz und der weiteren Unterstützung terroristischer Gruppen durch nationalistisch gesinnte Talibanfraktionen wird geleugnet und der von Soldaten der übrigen in Afghanistan engagierten NATO-Staaten daraufhin zu erbringende Blutzoll wird in Kauf genommen. 2 Die USA sind – gemessen an der Gesamtbevölkerung – das Land mit dem weltweit höchsten prozentualen Anteil von Gefängnisinsassen. Sie beharren weiterhin in mehreren Bundesstaaten auf der Todesstrafe, ganz zu schweigen von den sogar im Bericht erwähnten Foltermethoden und der Nichtanerkennung des Weltstrafgerichtshofs im Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror. Ihr positives Selbstbild entspricht nicht dem Bild, das sie für andere vorzeigen. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/8e83d534287444c19e7e0d7d65eb59f2" width="1" height="1" alt="" /> 1. Einführung In der gegenwärtig stattfindenden Neuordnung der globalen Wechselbeziehungen der Mächte, die vornehmlich zu Lasten der USA geht, sehen sich die USA außerdem der Gefahr der Isolierung durch eine Finanzkrise gegenüber, verstärkt durch eine massive, bereits seit längerem zu beklagende wachsende Haushaltsverschuldung und ein weiterhin hohes Handelsbilanzdefizit. Künftig wird die amerikanische Wirtschaft noch weniger in der Lage sein, die Exportgüter der übrigen Welt aufzunehmen. Nach Ansicht von Joseph Stiglitz ist die wirtschaftliche Abwärtsentwicklung die unmittelbare Folge des Irakkrieges. Bevor die USA den Krieg begannen, bewegte sich beispielsweise der für die amerikanische Wirtschaft ausschlaggebende Preis für Erdöl um die Marke von 25 Dollar pro Barrel. Jetzt ist der Preis auf über 100 Dollar gestiegen, und nach Stiglitz‘ Berechnung bildet der Krieg einen der wesentlichen Faktoren dieses krisenverstärkenden Preisanstiegs. Aber die Behauptung Stiglitz‘, der Irakkrieg sei seit dem Unabhängigkeitskrieg der erste Krieg, der durch das Ausland finanziert worden sei, ist falsch. Er hat den Golfkrieg vor mehr als zehn Jahren übersehen, der von Deutschland und Japan größtenteils finanziert wurde. Im Falle des gegenwärtigen Irakkrieges wollten sich die Invasionsmächte USA und Großbritannien durch Erdöllieferungen aus dem von Saddam Hussein befreiten und nun von ihren Truppen besetzten Irak schadlos halten. Aber aufgrund der länger als erwartet zerstörten und noch nicht wieder vollständig hergestellten Pipelines wurde bisher nur ein Bruchteil der gesamten Kriegskosten vom Irak selbst bezahlt. Den größeren Teil der offenen Rechnung wird China bezahlen müssen, und zwar aufgrund des Wertverlustes der von der chinesischen Zentralbank gehaltenen amerikanischen Schatzanleihen, die vom US Dollarverfall betroffen sind. Die Abwertung der amerikanischen Währung stellt mehr dar als nur einen empfindlichen Schlag für das amerikanische Selbstbild: Es untergräbt die Position des amerikanischen Dollar als führende Weltreservewährung. Schon jetzt ist ein Wechsel zum Euro als einer zweiten Weltreservewährung, die zum Dollar in Konkurrenz treten wird, absehbar. Die wachsende Haushaltsverschuldung und ein nur wenig sinkendes Handelsdefizit bezeugen die zunehmende Schwäche der amerikanischen Wirtschaft. „Die Arbeitsplätze, die durch den Welthandel zerstört werden, sind weitaus bedeutender als die, die durch ihn geschaffen werden“, bemerkte Alan S. Binder am 7. Januar 2008 in der International Herald Tribune – diese Zwickmühle lässt auch das Vertrauen der Amerikaner in die Globalisierung schwinden, die zuvor als unverzichtbare Quelle amerikanischer Stärke angesehen wurde. 2. Die Finanzkrise Wenn reale Produktion und Finanzwirtschaft weit auseinanderdriften und der Kreislauf des Finanzkapitals sogar seinen unabdingbaren Rückhalt in der Güterproduktion verloren hat, droht eine Wirtschaftskrise. Im Folgenden einige Indikatoren, die auf eine Krise hindeuten: 2.1. Höhere Gewinne bei Finanzinvestitionen als in der Güterproduktion Wenn in Finanzanlagen investiertes Kapital in einer Wirtschaft höhere Gewinne erzielt als in der Produktion von Waren, verlangsamt sich zunächst die Modernisierung der Fabriken und es droht die Gefahr, den Anschluss an die Entwicklung der im näheren und weiteren Umfeld konkurrierenden Volkswirtschaften zu verlieren. Wenn der Entwertungsprozess außerdem von einer allgemein sinkenden Nachfrage des privaten Verbrauchs begleitet wird, drohen Gewinnrückgänge der Unternehmen und hohe Arbeitslosigkeit unter den Beschäftigten. Vor dem Hintergrund der Globalisierung kann jedoch Kapital, das in der Warenproduktion investiert wurde, in einigen Volkswirtschaften hohe Gewinne erzielen, und zugleich können in anderen Volkswirtschaften Finanzanlagen ebenfalls sehr ertragreich sein. Beispielsweise kann in den aufstrebenden Industrien Chinas, Indiens, Brasiliens, Mexikos oder Vietnams investiertes Kapital extrem lukrativ sein, während in entwickelten Industrienationen wie den USA, Europa oder Japan reine Geldkapitalanlagen hohe Gewinne abwerfen. Die aus den beiden unterschiedlichen Kapitalanlagen resultierenden addierten Gewinne und Dividenden verstärken die Finanzströme, die ohnehin schon um die Welt zirkulieren und verbreitern die bereits vorhandene Kluft zwischen dem Wert der Warenproduktion und dem der gesamten Finanzanlagen. In ihrem Bemühungen, dem Ertragsstreben ihrer Klienten entgegen zu kommen, sind Investmentbanker zunehmend bereit, die Chancenvielfalt bei der Wertpapieranlage ständig auszuweiten und beispielsweise völlig neue, komplexe Derivat-Finanzinstrumente bis hin zu dubiosen „collateralised debt obligations (CDO)“ oder „credit default swaps (CDS)“ zu erschaffen. Aktienhändler behandeln alsbald diese neuen Derivate wie normale Bestandteile ihres Tagesgeschäftes, vergleichbar mit normalen Kreditswaps, um neues kreditfinanziertes Geld zu erzeugen. Schließlich zirkuliert eine ständig vergrößerte Geldmenge zwischen den verschiedenen Börsenplätzen, und weil immer noch risikobehaftete Kredite hinzukommen, ist niemand mehr in der Lage, den realen Wert des immensen kreditfinanzierten Geldvolumens abzuschätzen. Die wachsende Kluft zwischen dem Umfang der Güterproduktion und dem erheblichen Ausmaß von Finanzanlagen stellt die Glaubwürdigkeit der Finanzwirtschaft in Frage und untergräbt das gegenseitige Vertrauen. Letzten Endes können die verheerenden Konsequenzen eine Wirtschaftskrise hervorrufen. 2.2 Spekulation in sinkende oder steigende Wechselkurse Nationale und grenzüberschreitend agierende Unternehmen, die auf unterschiedlichen Märkten tätig sind, haben es mit verschiedenen Währungen und deren ständig schwankenden Wechselkursen zu tun. Um sich vor den Auswirkungen schwankender Wechselkurse zu schützen, müssen sie die erforderlichen Devisen im Voraus erwerben und zugleich einen entsprechenden Wert zu einem zukünftigen Datum verkaufen. Diese gängige Geschäftspraxis ermutigt die Devisenhändler auf sinkende oder steigende Wechselkurse zu spekulieren. Als Folge davon werden derzeit beispielsweise über drei Mrd. Dollar zwischen den verschiedenen Devisenbörsen hin und her bewegt. Des weitern kommen noch Milliarden von Euro, Pfund Sterling, Schweizer Franken und anderen mehr oder weniger frei konvertierbare Währungen hinzu. Da der Geldumlauf immer dazu neigt, sich von der zugrunde liegenden Güterproduktion zu lösen, kann diese Art der Devisenspekulation dazu beitragen, eine schädliche Kluft zwischen beiden Bereichen hervorzurufen, was inflationäre Entwicklungen fördert und – zusammen mit anderen Effekten – die beeinträchtigten Volkswirtschaften in Krisen stürzen kann. 2.3 Ausweichstrategien der Anteilseigner: Investitionen in Immobilien, Rohstoffe und in sonstige Geldanlagen Forderungen nach hohen Gewinnspannen als Folge des Shareholderprinzips zu Lasten der Lohnempfänger vertiefen den Graben zwischen den Einkommen der Anteilseigner und der Lohnempfänger. Wenn zusätzlich noch die Kaufkraft der übrigen Erwerbstätigen schrumpft, werden Anteilseigner zunehmend ihre Gelder aus der Güterproduktion abziehen und sich stärker anderen Einkommensquellen wie etwa dem Immobilienerwerb, spekulativen Anlagen in Rohstoffen wie Gold, Erdöl, landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder reinen Finanzanlagen zuwenden, um dort höhere Erträge zu erwirtschaften. Derartige Geschäfte tragen zur Entstehung spekulativer Blasen bei. Je länger die Spekulation anhält, umso stärker wachsen die Blasen und umso drastischer fällt der Absturz aus, wenn Spekulanten nach den ersten Anzeichen eines Preisverfalls ihre Gelder aus jenen Bereichen panikartig abziehen. 3. Einige Ursachen der amerikanischen Finanzkrise 3.1 Versagen auf vielen Ebenen Hypotheken an Kreditnehmer zweifelhafter Bonität („subprime borrowers“) brachten als erstes die amerikanische Wirtschaft ins Schlingern, aber die Krise hat auch verschiedene andere Ursachen. Ein Vertreter des Finanzhauses Goldman erklärte: „Im Zentrum des Booms bei Hypotheken für Kreditnehmer zweifelhafter Bonität stand die früher gewinnträchtige Partnerschaft der Wall Street mit den ,subprime‘-Kreditgebern. Diese Beziehung bildete die treibende Kraft hinter den schnell steigenden Hauspreisen und der Verbreitung exotischer Kredite, die jetzt in immer größere Zahl nicht bedient werden.“ (Jeny Anderson/Vikas Bajaj, Subprime Scrunity focuses on Wall Street, in International Herald Tribune, 7. 12. 2007) So geschehen etwa im Falle von Lakeiha Williams, die ein Hypothekenvermittler der First Metro dazu überredete, acht Häuser auf Kredit zu erwerben. Obwohl ihm bekannt war, dass sie als Pflegehilfe in einem öffentlichen Pflegeheim nur über ein geringes Einkommen verfügte, überredete er sie dazu, die Hypothekensumme zu erhöhen und ließ skrupellos zu, dass sie Schulden von fast 1 Mio. Dollar aufhäufte. Zu ihren Gläubigern gehörten drei der neun größten Kreditbanken, die sich auf Kredite für Kreditnehmer zweifelhafter Bonität spezialisiert hatten (Kohlenberg, Kerstin, Acht Häuser für Lakeisha, Die Zeit, 14.2.2008). Alan Binder, der frühere stellvertretende Vorstandschef der amerikanischen Notenbank Federal Reserve und derzeit Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Princeton, sagte: „Es gab ein Versagen auf vielen Ebenen. Es ist schwierig, einen Teil des Systems zu finden, der tatsächlich im Vorfeld der Pleite funktionierte.“ (Nelson D.Schwart/Julie Creswell, Desperate for solution, but who understands the problem?, International Herald Tribune, 25.3.2008) Die Deregulierungspolitik des amerikanischen Repräsentantenhauses und der demokratischen wie republikanischen Präsidenten in den vergangenen Jahrzehnten, die unter der Bezeichnung „Neoliberalismus“ bekannt ist und als eines der wichtigsten Instrumente für den Aufbau einer weltweiten amerikanischen Vorherrschaft gilt, hat maßgeblich zu diesem Versagen beigetragen. 3.2 Das vorrangige Ziel: Globalisierung der amerikanischen Vorherrschaft Am 17. März dieses Jahres räumte der Vorstandschef von JP Morgan Chase, James Dimon, ein: „Wir haben es mit einer schrecklichen globalen Welt zu tun, und die Finanzregulierung hat damit nicht Schritt gehalten.“ (ibid.) Aber die Formulierung „Schritt gehalten“ stellte schon eine Untertreibung dar. Die Finanzregulierung schloss die Wall Street überhaupt nicht ein. Barney Frank, Vorsitzender des Ausschusses für Finanzdienstleistungen im US-Repräsentantenhaus, beklagte, „die Wall Street genoss nicht nur enorme Freiheiten, sondern schuf für die Handelsbanken den Anreiz, sich ebenfalls ihren Bestimmungen zu entziehen.“ (ibid.) Unter Bezug auf die Wall Street räumte er ein, im Repräsentantenhaus habe man „gedacht, es seien keine Vorschriften erforderlich“. (ibid.) Die Wall Street widersetzte sich vehement allen Versuchen, Bestimmungen für den sich entwickelnden Derivatmarkt durchzusetzen, erinnerte sich Michael Greenberger, ein früherer hochrangiger Beamter und Mitglied der Commodity Futures Trading Commission. (ibid.) Er erwähnte auch, der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan habe die Ansicht vertreten, „Derivate könnten das Risiko in der Wirtschaft verteilen“. (ibid.) Tatsächlich aber, fuhr Greenberger fort, „verbreiteten sie sich wie ein Virus in der Wirtschaft, weil die Produkte so undurchsichtig und schwer zu bewerten sind.“ (ibid.) Es habe sich ein „verdeckter Handelsmarkt“ herausgebildet, „der über die Telefone der Wall-Street-Händler abgewickelt wurde und so außerhalb der Wertpapierbörse ablief“. (ibid.) Jeder Versuch, diesen Markt zu regulieren, wurde von den Politikern mit dem Argument bekämpft, „dies würde diese lukrativen Märkte zur Abwanderung nach Übersee zwingen“. (ibid.) Mit anderen Worten, man betrachtete die unregulierten amerikanischen Märkte offensichtlich als ein wesentliches Werkzeug, um das vorrangige Ziel einer Globalisierung der amerikanischen Hegemonie auf folgende Weise zu verwirklichen:
Einige Anzeichen wiesen darauf hin, dass die amerikanische Strategie genau diese Absicht verfolgte. So bat in der Frühphase der Finanzkrise die deutsche Industrie-Kreditbank AG um Finanzhilfe, um ihre Schuldenlast, entstanden aus amerikanischen „faulen Krediten“, abtragen zu können. Amerikanische Banken taten die Notlage der Bank achselzuckend als ein ausschließlich deutsches Problem ab und weigerten sich einzuräumen, dass die Probleme ihren Ursprung im deregulierten amerikanischen Finanzmarkt hatten. Ein weiteres Beispiel aus der Zeit der fortgeschrittenen Finanzkrise bildet die Notlage von Bradford&Bingle (B&B). Der Tagesspiegel vom 3. Juni 2008 berichtete: „Die weltweite Finanzkrise hat den britischen Hypothekenfinanzierer Bradford&Bingle ins Schlingern gebracht. Das Institut rutschte angesichts der Marktturbulenzen in den ersten vier Monaten in die roten Zahlen und musste sich von der US-Beteiligungsgesellschaft TPG rund 230 Millionen Euro frisches Kapital besorgen. Dafür erhält TPG einen Anteil von 23 Prozent an der Immobilienbank. Zudem holte sich B&B von den Anteilseignern über eine Kapitalerhöhung weitere 330 Millionen Euro.“ 3.3 Die fragile Struktur der „globalen Finanzarchitektur“ ( Underhill) Einige Monate vor den ersten Anzeichen einer Kreditverknappung zeigten sich Geoffrey Underhill und andere Fachleute bereits über die wenig belastbare Struktur der „globalen Finanzarchitektur“ (GFA), ihre fehlende Leistungsfähigkeit und mangelnde politische Legitimität in zahlreichen Ländern“ besorgt. (Underhill, Geoffrey R.D., Policy Recommendations, Section 1: Concerning the shareholder principle specifically, in: Global Financial Architecture, Legitimacy, and Representation: Voice for Emerging Markets, Garnet Policy Brief No.3, January 2007).Underhill bezeichnete mit Finanzarchitektur „die Summe der internationalen Institutionen und zusammenwirkenden Prozesse, die globale Ungleichgewichte, Wechselkurse, länderübergreifende Kapitalströme und die Finanzmarktstabilität regeln sollen, von der Krisenvermeidung bis zum Umgang mit Schuldenumwandlungen“ (ibid.). Nach Underhill wurden herkömmlich finanzpolitische Entscheidungen in einem relativ engen Personenkreis getroffen, in dem sich Zentralbanken, Finanzministerien, Regulierungsbehörden und deren privatwirtschaftliche Gesprächspartner gegenseitig beeinflussten. Nach Underhills Auffassung brachte die grenzüberscheitende Integration der Märkte zusätzliche einflussreiche private Akteure – „besonders große international agierende Finanzinstitutionen“ – auf den Plan, die dazu neigten, die demokratisch getroffenen Entscheidungen staatlicher Institutionen zu unterlaufen. (ibid.) Als Folge davon gründe sich die Politik heutzutage „mehr auf wirtschaftliche Theorien als auf Tatsachen. Die Politik sollte sich besser auf die reale Welt gründen“ (ibid.) Die Politiker sollten sich verstärkt um Reformen bemühen, die „sich der politischen Grundlage und den Verteilungswirkungen auf die Finanzarchitektur vor allem hinsichtlich der Fragen a) wer entscheidet in wessen Interesse und b) der Legitimität beider Entscheidungsprozesse und der daraus folgenden Politik und c) der Verbindungen zwischen den Entscheidungsprozessen und dem Ergebnis“ stellen müssen (ibid.). Underhills Kritik war harsch: Grenzüberscheitende Finanzverflechtungen haben beträchtliche Spannungen zwischen dem, was politische Entscheidungsträger auf nationaler Ebene in einer Demokratie eigentlich leisten sollten, und dem, was sie vor dem Hintergrund weltweiter Finanzzwänge tatsächlich tun können, hervorgerufen. Er forderte daher: Wir müssen „darüber nachdenken, wer an diesem Prozess beteiligt ist, wie ein breiter zugrundeliegender Konsens erreicht werden kann, der die Legitimität des Ergebnisses auf diese Weise durch eine vernünftige Politik erhöht, die einem breiteren Interessenspektrum genügt und schließlich langfristig eine breitere Unterstützung für eine weltweite Finanzsteuerung aufbaut.“ (ibid.) Als die Finanzkrise immer offensichtlicher wurde, brach das wechselseitige Vertrauen der Banken untereinander, das Vertrauen der Politik gegenüber den Banken und der Öffentlichkeit gegenüber dem Finanzsystem brach drastisch ein. Beklagt wurden in der öffentlichen Meinung vor allem die zunehmend illegitimen und undemokratischen Methoden, die in der Vergangenheit immer mehr zu Einsatz gelangt waren.Lange Zeit akzeptierten amerikanische Regierungen keinerlei Gründe, die sie gedrängt hätten, Underhills Vorschlägen zu folgen. So reagierten die USA mit Unverständnis, als die Europäer eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorschlugen. Hier hatte Geoffrey Underhill gefordert, „die USA sollten ernsthaft darüber nachdenken, ihre faktische Vetoposition hinsichtlich von Zusätzen zu den Artikeln aufzugeben; dies sollte gegen eine zusammengefasste, wenn auch ausreichend reduzierte EU-Stimme getauscht werden, wobei niemand ein Veto beanspruchen könnte“ (ibid.).2 Selbst als die Krise eine dramatische Wendung nahm und tatsächlich einige Länder erfolgreich versuchten , das „Hotel Capital Mobility“ des IWF zu verlassen, hielten die USA an ihrem Vetorecht fest. Die USA halten jetzt immer noch 16,77 Prozent der Stimmrechte. Nur ein Bündnis des asiatischen Dreiecks (China-Indien-Russland) mit der Europäischen Union, den Arabischen Emiraten sowie Japan und Brasilien könnte aller Wahrscheinlichkeit nach die USA zwingen, ihre inakzeptable Haltung aufzugeben. Bisher blieb der privilegierte Status der USA, der es ihnen erlaubt, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung anzuhäufen, unangetastet. Kein anderes Mitgliedsland der Bretton-Woods-Institutionen genießt den gleichen Vorteil, was bisher zwar durchaus heftig kritisiert, aber niemals grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Selbst China als der größte Kreditgeber und die Europäische Union als der wichtigste Wettbewerber der USA auf den Weltmärkten haben in diesem Zusammenhang keine entscheidenden Schritte unternommen. China versuchte im Gegenteil die negativen Auswirkungen der Dollarschwäche zu umgehen, indem es teilweise seine Währungsreserven von US-Dollar zu Euro umschichtete und seine Zinskonten durch Investitionen in US-Banken und Investmenthäuser wie Blackstone verbesserte. Blackstone ist einer der wichtigsten amerikanischen Investoren und bezeichnet sich selbst als „weltweit führenden alternativen Vermögens- und Anlagenverwalter sowie Anlage- und Finanzberater“ (Internetseite der Blackstone-Gruppe). Die Europäische Union hat zwar den Euro als ernsthafte Herausforderung gegenüber dem US-Dollar geschaffen, aber bisher keinen dauerhaften Erfolg erzielt, den US-Dollar als Abrechnungswährung für Rohstoffe wie Erdöl und -gas sowie hochwertige Güter wie Flugzeuge abzulösen. Erst als amerikanische Investment- und Handelsbanken gezwungen waren, immense Verluste anzukündigen und erst nachdem Bürgermeister mehrerer amerikanischer Städte einem drastischen Einbruch ihres Vermögenssteueraufkommens ins Auge blicken mussten, wodurch sie zu Ausgabenkürzungen gezwungen wurden, sah sich die amerikanische Regierung bemüßigt, der wachsenden Finanzkrise mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Als eine der wichtigsten Investmentbanken – Bear Stearns – zahlungsunfähig wurde und kurz vor dem Bankrott stand und nur durch eine von der Regierung vermittelte Aktion durch JP Morgan gerettet werden konnte, setzte das amerikanische Finanzministerium durch, dass sich die Wall Street einem neuen Regulationsmechanismus des amerikanischen Finanzsystems zu unterwerfen habe. Der Notverkauf von Bear Stearns zeigte, dass die amerikanischen Regierung unter erheblichem Zeitdruck stand, endlich einen neuen Regulierungsschirm für den amerikanischen Finanzmarkt aufzuspannen. Der Schweizer Bankier Oswald Grüber erklärte, diese Intervention habe das internationale Finanzsystem vor dem Zusammenbruch gerettet (Frankfurter Rundschau, 21. April 2008). Unterdessen gerieten vor allem Wall-Street-Manager wegen ihrer rasch ansteigenden Verluste im Zusammenhang mit den subprime-Krediten unter starken Druck der Anteilseigner. Der Unterstaatssekretär im Finanzminister Robert Steel, ein früheres Vorstandsmitglied von Goldman Sachs, setzte sich im April 2008 für einen weitreichenden Plan des Finanzministeriums zur Regulierung der Wall-Street-Geschäfte ein (Landon Thomas Jr., Learning to embrace regulation, International Herald Tribune, 16. April 2008). Steel ließ verlauten, nach den Planungen sollte das Ministerium die Möglichkeit haben, „überall aufzutauchen: Private Beteiligungsfonds, Investmentbanken, Hedgefonds“ (ibid.). Bereits einen Monat zuvor hatte die Federal Reserve hoch bewertete Hypothekenschuldverschreibungen im Tausch gegen Kredite akzeptiert. Damit sollten Fannie Mae und Freddie Mac, die beiden wichtigsten (staatlich geförderten) Hypothekenbanken, gerettet werden, die darauf spezialisiert sind, Hypotheken von kleineren Banken aufzukaufen, um sie dann auf den Finanzmärkten anzubieten. Obwohl verschiedene in Staatsbesitz befindliche Fonds aus China, den Arabischen Emiraten und Singapur bereits auf den amerikanischen Finanzmarkt eingriffen und in einige amerikanische Banken, die in Schwierigkeiten geraten waren3, investiert haben (Citigroup, Merill Lynch, Morgan Stanley) kündigten die folgenden Banken massive Abschreibungen und Verluste in Milliardenhöhe im Zusammenhang mit Krediten an, die sich aufgrund des nicht bezifferbaren Wertes der „strukturierten Produkte“ in ihrem Portfolio seit April 2008 nur noch schwierig oder gar nicht mehr verkaufen ließen (Frankfurter Rundschau, 15. Januar 2008): Citigroup, die größte Geschäftsbank der USA bezifferte die Verluste auf mehr als 5 Mrd. Dollar in drei Monaten und insgesamt bis heute auf 14. Mrd. Dollar; die zweitgrößte amerikanische Geschäftsbank Bank of America Corp.; JP Morgan Chase, die drittgrößte Geschäftsbank; sowie die zweitgrößte US-Investmentbank Morgan Stanley und Weels Fargo, die zweitgrößte Hypothekengläubigerin. Ohne Zweifel wurden auch führende europäische Großbanken wie etwa die beiden führenden Schweizer Banken UBS und Credit Suisse sowie die Deutsche Bank und einige staatliche deutsche Banken von der Kreditkrise schwer getroffen, standen aber nicht in der Gefahr, ihre Banklizenz zu verlieren. Dagegen blühte dieses Schicksal einer britischen Bank. Als erstes rettete die britische Regierung die Bank Northern Rock mit Beistandskrediten, um sie dann später doch verstaatlichen zu müssen. Die City of London litt erheblich unter der Kreditverknappung , viele Bankmitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz. „Eine beispiellose Geldspritze in Höhe von 50 Mrd. Pfund zu Rettung des maroden britischen Bankensystems könnte sogar noch verdoppelt werden müssen, wenn es nicht gelingt, einen Zusammenbruch des Wohnungsmarktes abzufangen“, berichtete die Times (Thomson Financial News, Forbes, 21. April 2008). Die amerikanische Finanzkrise hat die Wall Street, immer noch der weltweit wichtigste Finanzplatz, schwer mitgenommen. Die Gesamthöhe der Abschreibungen aufgrund der Krise beläuft sich nach Berechnungen auf mindestens 945 Mrd. Dollar (Frankfurter Rundschau, 9. April 2008). Damit stellt sich die Frage, ob die Vereinigten Staaten nicht jegliche Glaubwürdigkeit verloren und die letzte Säule gestürzt haben, die ihren Status als Hegemonialmacht absicherte. 3.4 Einfach nur „neue Gewohnheiten“ oder tatsächlich ein erneuter „New Deal“ Um die USA vor einem tiefen Fall zu bewahren, diskutieren führende amerikanische Wirtschaftsexperten und die führenden Köpfe der Deregulierungspolitik Bushs – wie etwa Matthew Slaughter – seit Jahren über einen „New Deal“, der auf eine „aggressive Einkommensumverteilung“ hinauslaufen soll (Harald Schumann, Wer rettet die Globalisierung?, Tagesspiegel, 20. April 2008). Wieder einmal wird der Staat dazu aufgerufen, die Marktwirtschaft zu retten. Man erwartet, das Federal Reserve System werde eigentlich nicht mehr an den Mann zu bringende „strukturierte Produkte“ akzeptieren und später eine keynesianische Wirtschaftspolitik einleiten (Mark Schieritz, Genug diskutiert!, Die Zeit, 13.März 2008). In der Zwischenzeit hat der Euro gegenüber dem Dollar weiter an Wert gewonnen und erreichte teilweise sogar einen Wechselkurs von 1: 1,6. Der Euro könnte sich, so einige Erwartungen, zur zweitwichtigsten Reservewährung nach dem Dollar entwickeln. Das Vereinigte Königreich zeigt in letzter Zeit eine überraschende Bereitschaft, über Steueroasen zu diskutieren und unternimmt damit einen ersten vorsichtigen Schritt, aus der früheren anglo-amerikanischen Allianz auszuscheren. Martin Wolf hielt fest: „Die Öffentlichkeit, spüren die Regierungen, müssen vor den Banken und die Banken vor sich selbst geschützt werden. Das Finanzwesen wird als zu wichtig angesehen, als es dem Markt zu überlassen“. Er gelangte abschließend zu dem Schluss: „Regulierung wird immer in hohem Maße unvollkommen sein. Es müssen aber Anstrengungen unternommen werden, sie zu verbessern.“ (Martin Wolf, Sieben Gewohnheiten, die Aufsichtsbehörden für den Wertpapierhandel annehmen müssen, Financial Times, 7. Mai 2008) Unter Bezug auf Nouriel Roubine von der Stern Business School an der Universität New York schlug Martin Wolf sieben Prinzipien der Regulierung vor, die er als die „sieben Cs“ bezeichnete:
Am Ende zitiert Wolf John Maynard Keynes: „Wenn die Kapitalentwicklung eines Landes zum Nebenprodukt der Aktivitäten eines Kasinos wird, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern.“ Über die von Wolf genannten Prinzipien hinaus sollte die Finanzpolitik noch einige andere Vorschläge von Keynes beherzigen, wenn die Kreditkrise nicht in einer schweren Wirtschaftskrise enden soll. Die Verteilung des Einkommens und des Reichtums im Rahmen eines wieder in Gang gesetzten „New Deals“ könnte zu den dringend erforderlichen Maßnahmen gehören. Anmerkungen: 1. Zu den einfachsten Finanzinstrumenten gehören die CDOs. Verschiedene CDOs werden gebündelt und dann als Super-CDOs oder CDO2 bezeichnet. Nimmt man sie aus den Banken heraus und verlagert sie in spezielle Unternehmen, wechseln sie ihren Namen und heißen nun „special investment vehicle“ (SIV). (Buchter, Heike, Kippen jetzt die Kreditversicherer?, Die Zeit, 7. Februar 2008) 2. Dank der in Bretton Woods getroffenen Vereinbarungen haben die USA das Recht, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung aufzunehmen. Kein anderes Bretton-Woods-Mitgliedsland erfreut sich der gleichen Möglichkeit. Nachdem einige Länder aus dem „Hotel Capital Mobility“ ausgetreten sind, das von der weltweiten Finanzarchitektur zur Verfügung gestellt wird , verringert sich zwar der Einfluss des IWF, schmälert aber keineswegs den privilegierten Status der USA. 3. Zu den größten in Staatsbesitz befindlichen Fonds (Anlagekapital in Mrd. US-Dollar) gehören:Abu Dhabi Investment Authority, United Arab Emirates, 875; Rentenfonds der Regierung, Norwegen, 380; Government Investment Corp., Singapore, 330; Zentralbank Saudi-Arabiens, 289; Fonds für zukünftige Generationen, Kuwait, 213; China Investment Corporation, 200; Temasek, Singapore, 108 (Tagesspiegel, 13. April 2008). – Zu den größten Investoren zählen: Rentenfonds, 21,6; Anlagefonds, 19,3; Versicherungen, 18,5; Investoren von Erdöl-Dollar, 3,8; Asiatische Zentralbanken, 3,1; Hedgefonds, 1,5; Beteiligungsgesellschaften, 0,7 (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Oktober 2007). <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/d4c3e548bf9643a6b708e746b7ea1867" width="1" height="1" alt="" /> So notwendig es war, die amerikanischen Banken auf dem Höhepunkt der Finanzkrise mit frischem Kapital zu versorgen, stellen sich gleichzeitig viele drängende Fragen: wie kann eine galoppierende Inflation vemieden werden? Kommt es zu einer neuen spekulativen Blasenbildung? Werden die Europäer größere wirtschaftspolitische Unabhängigkeit entwickeln? Und vor allem: haben Regierungen den Mut, das globale Finanzcasino zu schließen? Fragen über Fragen, deren Beantwortung auch darüber entscheiden wird, ob diese Krise mit friedlichen Mitteln beigelegt werden kann oder nicht.
1. Aktuelle Ausgangslange – Drohende Inflation als Grundproblem Als „Weg in die Hölle“ bezeichnete der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek die Krisenbewältigungspolitik des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama (t-online.de, 25.3.2009). Die Konjunkturhilfen seien sogar geeignet, die Stabilität der globalen Finanzmärkte zu untergraben. Zur Finanzierung ihrer Konjunkturstützungsmaßnahmen müssten die USA Staatsanleihen auf den Markt bringen, für die es zur Zeit keine Käufer gäbe. [1] Zwei Fragen sind zu beantworten: Wann droht eine Inflation und wie können inflationäre Entwicklungen rechtzeitig gestoppt werden? Tatsächlich hat sich die Notenbank der USA (FED) gezwungen gesehen, die Staatsanleihen aufzukaufen. Denn liegen keine oder nicht genügend Kauforder privater Käufer vor, erhält der Staat zwar „frisches Geld“ im Umfang der von der Notenbank aufgekauften Anleihen, aber diesem Betrag steht keine gleichgroße Reduzierung der Geldmenge im außerstaatlichen Sektor gegenüber. Für die Zeit der Geltungsdauer der Schuldverschreibungen erhöht sich die gesamte im Umlauf befindliche Menge an US-Dollar, d.h. das Inflationspotential wächst. Erst wenn der Staat zu einem späteren Zeitpunkt seine Schuldverschreibungen von der Zentralbank zurückfordert und den Gegenwert in Geld einzahlt, reduziert er das entstandene Inflationspotential wieder. Topolaneks Kritik ist jedoch für Krisenzeiten ungerechtfertigt, in denen das Interbankengeschäft zum Erliegen gekommen ist. Gewähren sich Banken aufgrund fehlenden Vertrauens gegenseitig keine Kredite mehr, sinkt die auf dem Finanzmarkt zirkulierende Geldmenge drastisch. Der Staat hilft aus, indem er „frisches Geld“ in den Markt pumpt. Steigt jedoch das Vertrauen der Banken untereinander und der Interbankenhandel erreicht wieder einen der Realwirtschaft angemessenen Umfang, kann die von Regierung und Notenbank vergrößerte Geldmenge durchaus die Grundlage für eine inflationäre Entwicklung legen, denn sofern der Staat bei der Notenbank seine Schuldverschreibungen nicht einlöst, sondern sogar sein Haushaltsdefizit noch erhöht und die Zentralbank weiterhin keine privaten Käufer für die in ihrem Depot befindlichen Staatsschulden findet, steigt das Inflationspotential erheblich. Zur Vermeidung einer solchen Entwicklung sollten die in der Bewältigung der jetzigen Finanzkrise engagierten Staaten bis dahin erreicht haben, dass die globalen Finanzoperationen der Banken, Hedgefonds, Private Equity Unternehmen und Pensionsfonds stärker reguliert werden. Andernfalls steht die nächste Blasenbildung mit noch verheerenderen Folgen ins Haus. 2.US-amerikanische Globalisierungsstrategie als Ursache der gegenwärtigen Finanzkrise Die europäischen Staaten, Japan und einige Schwellenländer müssen ihre kritiklose Übernahme amerikanischer Globalisierungsstrategien endlich beenden. Dieser Strategie, die bereits in der ersten Amtsperiode Bill Clintons konzipiert und in ersten Maßnahmen umgesetzt wurde, hatte man diesseits des Atlantiks und jenseits des Pazifiks nicht nur wenig entgegen zu setzen, sondern teilweise unterwarf man sich ihr im vollen Bewusstsein über die Folgen für andere Gesellschaftsmodelle. Das Bekenntnis des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vom Herbst 1998, wonach mit ihm „keine Politik gegen die Wirtschaft zu machen“ sei, zeugte zwar von einer gewissen Distanz zu den Vorgaben aus den USA, aber eine Gegenstrategie war aus seinen Worten nicht ablesbar. Dem Diktum des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Josef Breuer, „die Struktur der internationalen Finanzmärkte spiegelt die Wertegemeinschaft der westlichen Welt wider“, und der Behauptung des damaligen Bundesbankpräsidenten Tietmeyer, „Meine Herren, Sie sind jetzt der Herrschaft der Finanzmärkte unterworfen“, hatte Schröder außer Beschwichtigungsworten nichts entgegen zu setzen (einführende Worte Oskar Lafontaines zum Buch Heiner Flassbecks mit dem Titel „Gescheitert“, in: „ Das Casino schließen – der Ökonom Heiner Flassbeck zur globalen Finanzkrise“ von Frank Hahn, Solon-line, 25. März 2009). Auch der von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück geäußerten Meinung, die deutsche Bundesregierung sei über die Jahrhundertwende aus Sorge um die Erhaltung des Finanzplatzes Frankfurt am Main für die Marktliberalisierung und die Innovation von Finanzprodukten „offen“ gewesen, ist zwar die Strategie der Anpassung zu entnehmen, aber nicht die Entfaltung einer Gegenstrategie (Peer Steinbrück, „Warum die Krise eine Zäsur ist“, Die Zeit, 26. 4. 2009). Britische Regierungen hatten ausschließlich die Stärkung des Finanzplatzes London vor Augen. So lange die City von London der Labourregierung genügend Steuereinnahmen einbrachte, um ihre Sozialprogramme zu finanzieren, beharrte sie auf ihrer Sonderstellung zu den USA und übernahm jede Maßnahme – sinnvoll oder nicht – , die über den Atlantik herüberschwappte. In Japan, China und Indien zeigte man sich dankbar für die Aufblähung der Finanzmärkte und die Verschuldungspolitik der USA. Die Exportchancen für ihre Industrie- und Dienstleistungsprodukte wären ohne eine solche US-amerikanische Politik viel geringer gestiegen. Mit den weitreichenden Folgen ihrer Unterwerfung unter die US-amerikanische Globalisierungsstrategie haben gegenwärtig alle etablierten Industrieländer, sämtliche industriell aufschließenden Schwellenländer und ganz besonders die in ihrer industriellen Entwicklung noch zurückliegenden Dritteweltländer zu kämpfen. Bisher ist noch nicht einmal sicher, ob die Stabilisierung der Finanzmärkte gelingt. 3. Schließung des globalen Finanzcasinos als Krisenbewältigungsstrategie für die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise 3.1 Maßnahmen zur kurzfristigen Stabilisierung der Finanzmärkte Eine Hiobsbotschaft nach der anderen zwang die Staaten zum Eingreifen. So stellte sich die Übernahme von Merrill-Lynch durch die Bank of America als Schuldenfass ohne Boden heraus und kostete den Chef der Übernahmebank letztlich seinen Posten. Die den amerikanischen Hypothekenmarkt beherrschenden großen amerikanischen Hypothekenbanken Freddy Mac und Fanny Mae benötigten zum Überleben dringend weitere Staatshilfen in Milliardenhöhe. Der weltweit engagierte Versicherungsriese American International Group (AIG) musste vom Staat vor dem Kollaps gerettet werden, weil im Falle eines Zusammenbruchs dem globalen Finanzmarkt unabsehbarer Schaden drohte. Immer mehr Private Equitiy Funds zeigten sich nicht mehr in der Lage, den für sie lebenswichtigen Zirkel von „raise money, invest it, add lashing of debt, dress up the portfolio of companies and sell them at a profit“ zu schließen. „The number of private equity firms that completed fund-raising efforts in the first quarter fell by more than 70 percent from the first quarter of last year“ (Lauren Silva Laughlin, „Buyout fund investors now in the driver’s seat“, International Herald Tribune, April 15, 2009). Weitere britische Banken gingen in staatliche Hände über. Sämtliche isländischen Banken wurden verstaatlicht. Kunden der schweizerischen UBS-Bank entzogen der Bank Einlagen in Milliardenhöhe, und nach ihrem Milliardenverlust kündigte die Bank einen Stellenabbau in Höhe von 8700 Stellen an (Frankfurter Rundschau, 16.4.2009). Die belgische Fortis-Bank hatte im Jahre 2008 einen Verlust von 20,6 Milliarden Euro hinzunehmen (Tagesspiegel, 15.4.2009). Amerikanische Lebensversicherer hatten nicht nur einschneidende Wertverluste der in ihrem Besitz befindlichen Hypothekenpapiere zu verkraften, sondern mussten außerdem mit zunehmenden Zahlungsausfällen vom Konkurs bedrohter Unternehmen rechnen. Am Horizont tauchte im April 2009 als nächstes Debakel der drohende Zusammenbruch der wichtigsten amerikanischen Kreditkartenfirmen – Mastercard, Visa American Express, Capital One, HSBC, Citigroup, Wells Fargo und Bank of America – auf. Obwohl sich laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die Verluste der weltweiten Finanzwirtschaft inzwischen auf vier Billionen US-Dollar addierten und in den Bankbilanzen massenhaft weitere faule Papiere lagern sollen, über deren Entsorgung noch gestritten wird (Tagesspiegel, 20./22.4.2009), verzichteten Bankmanager oftmals nicht auf die ihnen in besseren Zeit zugesicherten Bonuszahlungen und riefen mit ihrer Verhaltensweise den Zorn der Weltöffentlichkeit hervor. Noch mehr Ärger entstand, als US-Banken den durchsichtigen Versuch unternahmen, aufgrund geänderter Bilanzregeln wieder Gewinne auszuweisen, und den scheinbaren Erfolg als Anlass nahmen, sich den Stresstests der amerikanischen Regierung zur Ermittlung der den Banken verbliebenen Eigenkapitalbasis zu entziehen und insgesamt der staatlichen Aufsicht zu entfliehen. Immerhin müssen sich nach ersten Berichten rund die Hälfte der US-Großbanken zur Überwindung der Finanzkrise offensichtlich erneut frisches Kapital beschaffen (Frankfurter Rundschau, 6.5. 2009). Allein die Bank of America hat laut „Wall Street Journal“ offenbar einen zusätzlichen Finanzbedarf von 35 Milliarden US-Dollar und nach einem Bericht der „New York Times“ benötigt die Citigroup fünf bis zehn Milliarden und Wells Fargo 15 Milliarden (Tagesspiegel, 7.5.2009). Trotz der verheerenden Ergebnisse der neoliberalen Deregulierungspolitik zweifeln Banker weiterhin an der Weisheit neuer Regulierungen. „The biggest issue for banks – and indeed insurance companies – is whether the accounting rules are sensible“, stellte Charlie McCreevy fest, European commissionar for the internal market and services, in einem Interview mit Karina Robinson (International Herald Tribune, April, 11-12, 2009). Aber bei aller verständlichen Abneigung vieler Bankmanager gegen die Entmachtung durch den Staat sei jedoch unabweisbar, meinte Martin Hellwig, das System der Bankenregulierung langfristig „völlig neu“ zu konzipieren (Interview mit Robert Heusinger „Dieses System ist katastrophal“, Frankfurter Rundschau, 7. 4. 2009). Welche Gestalt es annehmen könnte, war bereits Gegenstand der Erörterungen auf dem Gipfel der G-20 in London Anfang April 2009. 3.2 Langfristige Reform des Finanz- und Wirtschaftssystems Die Befürchtung der Kontinentaleuropäer, dass die USA und Großbritannien auf der Londoner Konferenz der G-20 ausschließlich für massive Konjunkturbeihilfen plädieren und die anstehende Regulierung der Finanzmärkte vernachlässigen würden, erwies sich als unbegründet. Da den angloamerikanischen Repräsentanten schon vor Konferenzbeginn deutlich vor Augen stand, dass die im Euroraum zusammengeschlossenen Länder auch ohne die Zustimmung des Vereinigten Königreichs und die Vereinigten Staaten einschneidende Regelungen treffen können, verzichteten sie auf eine Konfrontation. Insbesondere die Vertreter der USA mussten eingestehen, dass das enorme Ungleichgewicht zwischen dem einem Fünftel des US-amerikanischen am Weltbruttosozialprodukt und dem Anteil des US-Dollars an den von allen Zentralbanken gehaltenen Währungsreserven von ungefähr 75 Prozent dringend einer Korrektur bedurfte. Unüberhörbar war der Ruf chinesischer Repräsentanten geworden, den US-Dollar als vom Internationalen Währungsfonds allein anerkannte Weltreservewährung durch ein Bündel von Währungen oder eine gemeinschaftlich getragene und verantwortete Weltreservewährung abzulösen. Schon bevor in den darauf folgenden Monaten entsprechende Beschlüsse des IWF gefasst werden konnten, entkleideten die in London versammelten Repräsentanten der G-20 den IWF seiner bisherigen Funktion, lediglich wie bisher als verlängerter Arm globaler Politikstrategie der USA zu dienen. Statt dessen sollte er wieder vor allem zur Risikotragfähigkeit des gesamten globalen Finanzsystems auf entscheidende Weise beitragen. Am 23. April 2009 sprach sich erstmals sogar der IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn für eine Aufhebung des Vetorechts der USA aus (Focus Magazin Finanzen, 24.4.2009). Der Druck auf Steueroasen wurde ebenfalls verstärkt. Kooperationswillige Steueroasen sahen sich in einer grauen Liste aufgereiht (Caymaninseln, Liechtenstein, Österreich, Belgien, Chile, Monaco, Niederlande, Luxemburg, Singapur, Schweiz) und vorrübergehend unwillige in einer schwarzen (Costa Rica, Malaysia, Philippinen, Uruguay). Obwohl die USA auf der weißen Liste der „Gutwilligen“ standen, blieb die künftige steuerverschleiernde Funktion einzelner Unionsstaaten der USA (z.B. Delaware) unerwähnt. Die Konferenz endete mit einer vagen Absage an den Protektionismus (dem krisenverschärfenden Resultat der Weltwirtschaftskrise 1929/34) und dem Versprechen, Abwertungswettläufe zu verhindern. Alle Regulierungslücken auf dem Finanzmarkt sollten geschlossen werden. Das internationale Aufsichtsgremium Financial Stability Board (FSB) sollte zwar gestärkt, aber lediglich die bedeutenden Hedgefonds kontrolliert werden. Außerdem ist noch völlig unklar, ob dieses oder ein anderes Gremium in die Lage versetzt würde, eine antizyklische Regulierungspolitik durchsetzen zu können. Welche Staaten wären bereit, für dieses Gremium einen Teil ihrer bisher scheinbar souveränen Geld- und Finanzpolitik abzutreten? Die Weltbank schnürte nach der G-20-Konferenz für noch wenig industrialisierte Länder, die selbst noch nicht in der Lage seien, eigene Hilfsprogramme zu finanzieren, ein milliardenschweres Investitionspaket. Diskutiert wurden außerdem bereits unterschiedliche Modelle über die Errichtung sogenannter Bad Banks, mittels derer Banken ihre problematischen Wertpapiere entsorgen können (Stephan Kaiser, „Regierung einigt sich auf Bad Banks“, Tagesspiegel, 22.4.2009). Nach dem schwedischen Beispiel, ausführlich zitiert im Interview mit Martin Hellwig, würden alle Banken zunächst verstaatlicht bzw. unter staatliche Obhut gestellt und danach in eine „schlechte“ und eine „gute“ Bank aufgeteilt. Die „schlechte“ Bank verbliebe beim Staat und die „gute“ Bank würde privatisiert. Die „schlechte“ Bank behielte die zweifelhaften Wertpapiere und würde mit der Zeit abgewickelt. Die „gute“ Bank erhielte die guten Wertpapiere sowie die Einlagen der Kunden und außerdem genügend Eigenkapital vom Steuerzahler. Gewinne der „guten“ Bank kämen auch dem Eigenkapital der „guten“ Bank zugute, das sich im Besitz der „schlechten“ Bank befände. Im Falle einer letztendlich unvermeidlichen Insolvenz der „schlechten“ Bank würde der Steuerzahler von den Gewinnen der „guten“ Bank profitieren und die enteigneten Altaktionäre gingen leer aus. Gelänge es, am Ende die „schlechte“ Bank solvent zu stellen, würden auch die Altaktionäre profitieren (ebd.). Für die globale Bereinigung der Finanzkrise schlug Heiner Flassbeck folgende Regelung vor: „Den finanziellen Giftmüll aus den Bilanzen der Banken zu entfernen, ist technisch einfach. Wir müssen am besten eine internationale Clearing-Stelle einrichten, über die der Giftmüll abgewickelt wird, damit die Banken sich wieder dem Kerngeschäft der Kreditvergabe widmen können.“ (ebd.). Wieviel Zeit noch verstreichen wird, bis die Kreditmärkte wieder funktionieren, ist noch nicht abzusehen. Sehr viel dringlicher erscheint inzwischen die Ankurbelung der Realwirtschaft, die unter der Finanzkrise leidet und mancherorts bereits kurz vor dem Kollaps steht. In den führenden Industrienationen ist das Bruttoinlandsprodukt im letzten Quartal 2008 und im ersten Quartal 2009 bereits um sechs Prozent zurückgegangen. In der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise geht es mit der Entwicklung rasanter bergab als in der Weltwirtschaftskrise 1929 (Thomas Fischermann, „Schneller – aber auch tiefer?“, Die Zeit, 16. 4. 2009). Konjunkturforscher streiten darüber, ob die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Zeit als horizontal langgestreckte U-Form oder als ausgestreckte L-Form mit geringer Aussicht auf Wiederbelebung zu bezeichnen ist. Von einer Spitzkehre nach steilem Abstieg und einem erhofften ebenso steilen Aufstieg träumt niemand mehr. Unternehmensanleihen sind an den Börsen jetzt immer günstiger zu haben. Insolvenzverwalter bei Unternehmen und Staaten haben Hochkonjunktur. Die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China versagen zunehmend als Puffer für die alten Industrieländer. Zurückbeorderte Kredite, die an weniger entwickelte Dritteweltländer und osteuropäische Länder in der Vergangenheit ausgegeben wurden, lassen deren Volkswirtschaften ins Bodenlose sinken und zugleich legen Überschussländer bei Landkäufen ihre Devisen zunehmend in einigen Dritteweltländern inflationssicher an (Marie-Béatrice Baudet et Laetitia Clavreul, „Les terres agricoles, de plus en plus convoitées“, Le Monde, 15 April 2009). Massenarbeitslosigkeit breitet sich aus. Die Kosten für die Rettung des Bankensektors in den USA und andernorts und für die Ankurbelung der Wirtschaft (z.B. die Autoindustrie) steigen in astronomische Höhen, obgleich nicht sicher ist, ob die angestrebten Ziele wirklich erreicht werden. Die USA werden zum Vorreiter in der Austrocknung von Steueroasen (Reuters, SNAP ANALYSIS – „Obama takes first step in tax overhaul“ May 4, 2009). Das neue europäische Finanzaufsichtssystem soll nach dem Willen der Europäischen Kommission bereits 2010 fertig gestellt sein, und nach vorsichtigen Prognosen kann erst im Jahre 2011 mit einem Ende der Krise in der Realwirtschaft gerechnet werden. Was jedoch unbeeindruckt von den wirtschaftlichen Abwärtsbewegungen boomt, ist die Waffenproduktion und der Handel mit Waffen. Laut Sipri stehen die USA (34,9 Mrd. Dollar) und Russland (28,5 Mrd. Dollar von 2004 bis 2008) an erster und zweiter Stelle der größten Waffenexporteure. Dahinter folgen Deutschland (11,5 Mrd.) und weitere europäische Länder (Frankfurter Rundschau, 28. 4. 2009). Die größten Waffenimporteure im Zeitraum von 2004 bis 2008 sind China (13. Mrd.), Indien (8,2 Mrd.), Ver. Arab. Emirate (7,1 Mrd.), Südkorea (6,9 Mrd.), Griechenland (4,8 Mrd.) und Israel (4,6 Mrd.). Entlang der Konfliktlinien einiger dieser Länder mit anderen könnten künftig Kriege entstehen, für deren erfolgreiche Austragung schon jetzt in vorwiegend der Aufrüstung dienenden Arbeitsbeschaffungsprogrammen Vorsorge getroffen wird. 4. Ein historischer Rückblick – Alternativstrategien zur Überwindung von Weltwirtschaftskrisen Erfolgreiche und misslungene Beispiele aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigen auf, zu welchen alternativen Maßnahmen Staaten gegriffen haben, um die schädlichen Wirkungen von Finanzkrisen, die durch das Platzen von Kreditblasen hervorgerufen wurden, einzudämmen. Zu solchen Krisenbewältigungslösungen zählen unter anderem die Ankurbelung der Rüstungsindustrie in Kriegsvorbereitungsstrategien, ebenso die kreditfinanzierte Erneuerung der Infrastruktur und/oder die staatlich geförderte Entwicklung neuer Technologien, aber auch die umfassende Restrukturierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Auf die 1929 ausgebrochene Weltwirtschafskrise antworteten die USA und Deutschland z.B. auf sehr unterschiedliche Weise. 4.1 New Deal in den USA Ab dem 14. Oktober 1929 war die Stimmung an der New Yorker Börse gekippt. Die Verkäufe von Wertpapieren schnellten in die Höhe. Der Ausverkauf erreichte bis zum 29. Oktober 1929 Panikdimensionen. Die von Roosevelts republikanischen Vorgänger Hoover verfolgte Politik der Senkung von Steuern und Zinsen als Mittel gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die Wiederankoppelung der Währungen an das Gold (nicht nur in den USA) scheiterte. Dem von Roosevelt propagierten New Deal lag kein inhaltlich ausgefeiltes Programm zugrunde. Unter dem Zwang, kurzfristig Ergebnisse zu erzielen, verabschiedete der dann demokratisch zusammengesetzte Kongress kurz nach dem Amtsantritt Roosevelts am 4. März 1933 in einer „100-Tage“-Notsitzungsperiode eine Serie von Gesetzen über Staatseingriffe in Finanzsektor und Wirtschaft, wie beispielsweise die Regulierung des Finanzwesens, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Sozialhilfemaßnahmen, Wirtschaftsförderung, Marktregulierung der Landwirtschaft, Regionalentwicklung, staatliche Unterstützung für Wohneigentümer bei drohender Zwangsversteigerung und die Aufhebung des Goldstan-dards.[2] Zu den Erfolgen des New Deal zählten erstens die Verhinderung einer Bankenpanik und eines darauf folgenden Zusammenbruchs des gesamten Finanzsystems im Frühjahr 1933 und zweitens eine geringere Zunahme der bis zum Winter 1933-34 massiv gestiegenen Massenarbeitslosigkeit. 1934 lag das amerikanische Bruttoinlandsprodukt zwar 15 Prozent über dem von 1933, aber noch 15 Prozent unter dem von 1932 (Michael Liebig, „War on the Depression“ – Der Erste New Deal (1933-34) und sein Vorläufer: die War Mobilization (1917-18). „The New Deal mobilization of 1933-34, from which so much had been expected, brought disappointing economic returns“, urteilten Braeman / Leuchtenburg (Braeman, John (Hrsg.): Change and Continuity in 20th Century America, New York, 1964; darin: Leuchtenburg, William: The New Deal and the Analogy of War, S. 127). Da die Maßnahmen zur Kriegsmobilisierung 1917-18 als Vorbild für den ersten New Deal gedient hatten, konnte in seiner Neuauflage auch umgekehrt wieder auf diese Ursprünge zurückgegriffen werden. Der zweite New Deal diente der Vorbereitung des Kriegseintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg. Damit rückten US-amerikanische Maßnahmen in die Nähe von Krisenbewältigungsstrategien, die andernorts sehr viel früher mit Priorität verfolgt wurden. 4.2 Krisenbewältigung durch Aufrüstung in Deutschland Die Industrieproduktion sank in Deutschland um 50 Prozent. Um das Handelsbilanzdefizit auszugleichen und die Exportwirtschaft zu stärken, reagierte die Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning mit Notverordnungen zur Reduzierung der Staatsausgaben, der Kürzung der Beamtengehälter, der Erhöhung der Steuern, Sozialausgaben und Zölle, der Senkung der Löhne der Beschäftigten um bis zu 50 Prozent. Jeder dritte verlor seinen Arbeitsplatz. 1933 waren sechs Millionen arbeitslos und 23,3 Millionen Deutsche lebten von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Angesichts der mit diesen Maßnahmen verknüpften drastischen Umverteilung von Einkommen aus Lohn auf Einkünfte aus Unternehmertätigkeit nahm die Demokratieverdrossenheit in der Bevölkerung kräftig zu, radikale Parteien fanden lebhaften Zuspruch und soziale Unruhen breiteten sich aus. Die nach den Reichstagswahlen erstarkte Nationalsozialistische Partei Deutschlands (NSDAP) unter Adolf Hitler profitierte nicht nur von den harten Maßnahmen der Regierung Brüning, sondern setzte gleich nach ihrer Machtergreifung ein beschäftigungswirksames Aufrüstungsprogramm in Gang, das zwar die Massenarbeitslosigkeit reduzierte, aber zugleich der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs diente. Der „New Deal“ der Nationalsozialisten zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise war von Anfang an rüstungsorientiert, wurde von der deutschen Schwerindustrie mit Beifall quittiert und fand auch den Zuspruch der führenden Banken. 5.Schlussfolgerungen Protektionismus, eine prozyklische Finanz- und Haushaltspolitik, engstirniger Nationalismus, nicht aufgegebene Hegemonieansprüche, Revanchismus und Angst vor sozialen Unruhen bestimmten die vorherrschenden Handlungsweisen vor und nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Geschichte wiederholt sich zwar nicht in den gleichen Formen, aber gleiche Konstellationen können durchaus gleiche Antworten herbeiführen. Die bisherigen Bewältigungsstrategien der Finanz- und Wirtschaftskrise weisen noch in eine andere Richtung. Sobald jedoch zwischen den USA und Europa die Frage zur Beantwortung anstehen wird, ob der angloamerikanischen oder der kontinentaleuropäischen Form von Kapitalismus oder – global betrachtet – der chinesischen mehr Bewältigungskraft zuzutrauen ist, taucht die Gefahr auf, dass Frontlinien gezogen werden und militärischen Aspekten wieder mehr Bedeutung zugemessen wird. Die weltweite Aufrüstung würde dann die gestiegenen Ängste auf bequeme Weise bedienen und – zugleich als noch verbliebenes und bisher nicht ausreichend genutztes Mittel – zur Überwindung der Krise angepriesen werden. Anmerkungen [1] Jörg Assmussen, Staatssekretär im Finanzministerium, Jens Weidmann wirtschaftspolitischer Berater der Bundeskanzlerin Merkel, beide starke Befürworter und Beförderer der Deregulierung der vergangenen Jahre und ausgebildet von Professor Axel Weber, heute Bundesbankpräsident und ebenfalls Anhänger der neoklassischen Theorie, sind Beispiele einer einseitigen Auswahl von Führungspersönlichkeiten, die jetzt eine Finanzkrise bewältigen sollen, die sie selbst mit herbeigeführt haben. Sie haben den Staat ausschließlich als Diener des Marktes begriffen und das komplexe Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich weder vor noch in oder nach ihrem Studium der Volkswirtschaft in ihr Blickfeld genommen. [2] Der Boom der US-Wirtschaft zwischen 1925 und 1929, angetrieben von der beginnenden Innovationswelle um das Auto sowie elektrische Haushaltsgeräte herum (Autoindustrie plus Straßenbau, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Teilzahlungskredite, Versicherungen, LKW-Logistik usw.), wurde ab 1927 von einer Politik des „billigen Geldes“ der Federal Reserve begleitet. Diese expansive Geldpolitik war ein wichtiger Faktor für die Zunahme der Börsenspekulation, insbesondere des kreditfinanzierten Kaufs von Wertpapieren. Als die Federal Reserve Ende 1928 gegenzusteuern begann, hatte die Börsenspekulation bereits eine solche Eigendynamik entwickelt, dass die Kreditverknappung an der Börse keine Wirkung mehr zeigte. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/0dae5ae3582248a1bea93695d41bd185" width="1" height="1" alt="" /> Ausgangspunkt und Zentrum der Finanzkrise sind die USA. Amerika wird mit allen Mitteln versuchen, in dieser Krise ihre Vormachtstellung in der Welt zu verteidigen. Inwieweit dies gelingt, hängt massgeblich von den europäischen Antworten ab. Der folgende Artikel debattiert die Unterschiede zwischen Europa und den USA hinsichtlich des aktuellen Krisenmanagements sowie der vorgesehenen Regulierungsmassnahmen der Finanzmärkte vor dem Hintergrund der verschiedenen Staatsauffassungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Floyd Norris enthüllte in der „International Herald Tribune“ vom 15. Oktober 2008 unter dem Titel „U.S. follows lead of Europeans in supporting banks“, wie das amerikanische Finanzkapital trotz der Infizierung des Finanzmarktes mit faulen Krediten und windigen Derivaten und der dadurch verursachten globalen Krise seine Jahrzehnte lange zentrale Position erhalten möchte. Die 15 europäischen Staaten mit dem Euro sowie die derzeit größten Gläubigerstaaten der USA – China, Japan, die Arabischen Ölproduzenten, Russland und Brasilien – stehen den USA als Konkurrenten gegenüber. Hauptverbündete der USA dagegen sind die global agierenden transnationalen Unternehmen und Finanzorganisationen, für die das Streben nach Rendite aus Finanzkapitalanlagen einen nicht unerheblichen Teil ihres Alltagsgeschäfts ausmacht. Angesichts dieser Konstellation befinden sich das Vereinigte Königreich mit dem Finanzplatz London, dessen Stellenwert in den zurückliegenden Jahrzehnten vom Wohlergehen der Wall Street abhing, und die Staatsfonds, die auf zwei Schultern tragen, in einer Zwitterposition. Die von Norris skizzierte Vorgehensweise könnte man als „Plan B“ bezeichnen, nachdem „Plan A“ gescheitert ist. I. „Plan A“ – der historische Vorlauf der aktuellen Finanzkrise„ Plan A“ funktionierte nach der folgenden Devise: der größte Schuldner der Welt bestimmt das Geschehen auf den Finanzmärkten und diktiert außeramerikanischen Zentralbanken und Regierungen den Gang der Dinge. Aufgrund der den USA 1944 im Bretton Woods Abkommen gewährten Verschuldungsmöglichkeit häuften die USA über die Jahrzehnte hinweg eine gigantische Schuldenlast auf. Dabei stand für sie selbst stets die ausreichende Versorgung des Weltfinanzsystems mit Liquidität im Vordergrund, während alle anderen Länder die Führungsrolle der USA mit zunehmend gemischten Gefühlen betrachteten.
Sobald Hauskäufer ihre mit progressiv steigenden Zinsen belasteten Hypotheken nicht mehr mit dem gestiegenen Wert ihrer Häuser abtragen konnten, waren die ausstehenden Kredite nicht mehr einzutreiben und die faul gewordenen Darlehensforderungen mussten anderen Kreditpapieren beigemischt werden, um sie trotz minderen Wertes noch auf dem global ausgelegten Finanzmarkt veräußern zu können. Zusammen mit der ausufernden Derivateproduktion (Collateralised Debt Obligations [CDOs], Asset backed Securities [ABS], Credit Default Swaps [CDS]) in allen übrigen Geschäftsbereichen der Investmentbanken) legte man nicht nur die Grundlagen für unbegrenzte Kapitalanlagemöglichkeiten, sondern erhöhte zugleich die Gefahr, die institutionellen wie privaten Kapitalanleger des gesamten Globus mit dubiosen Papieren zu infizieren. Oberstes Ziel der US-Regierungen und US-Notenbank im letzten Jahrzehnt war es, kreditwürdig zu bleiben und zugleich die globale Finanzpolitik fest in der Hand zu behalten, obwohl man bereits weit über seine finanziellen Verhältnisse lebte und für die Gläubiger kaum noch Hoffnung auf Rückzahlung der gewährten Kredite bestand. Es existierte sogar folgender paradoxer Zusammenhang: Je größere Ausmaße die Verschuldung annahm, desto unangreifbarer wurden die USA für ihre zahlreichen Gläubiger; denn wechselten z.B. Gläubiger in größeren Tauschaktionen ihre niedrig verzinslichen US-Schuldverschreibungen wieder in US-Dollar um, riskierten sie einen massiven Absturz des US-Dollars und wurden somit zu Verursachern einer Weltwirtschaftskrise. Um das Vertrauen der Gläubiger in den US-Dollar trotz fortgesetzter Verschuldung aufrecht zu erhalten, war die kontinuierliche Ankurbelung der amerikanischen Wirtschaft und darin insbesondere der vorwiegend kreditfundierte Konsum der amerikanischen Verbraucher sowie der ebenfalls kreditfinanzierte steigende Staatsbedarf an militärischer Rüstung ein absolutes Muss. Von den USA abhängige Gläubiger würden schließlich sogar – so die Spekulation – bereit sein, selbst Darlehensforderungen in ihr Portfolio aufzunehmen, deren Herkunft dubios und deren realer Wert sehr zweifelhaft war. Angesichts der dramatischen Situation der letzten Wochen stellen sich nun folgende Fragen: Hoffte man eventuell, dass nichtamerikanische Banken als erste betroffen wären, wenn die infektiöse Blase schließlich platzen würde? Spekulierten finanzstarke US-amerikanische Investment- und Geschäftsbanken darauf, den kollabierenden Banken gönnerhaft ihre Hilfe in der Überwindung von Liquiditätsproblemen anzubieten und auf diese Weise ihren Einfluss global weiter ausdehnen zu können? Mahnende Einwände europäischer Regierungen auf den Gipfeltreffen der G-7/8 Staaten schlug die Bush-Administration jedenfalls im Einklang mit der britischen Regierung so lange in den Wind, wie offenbar die Hoffnung bestand, dass sich die Masse der faulen Kredite tatsächlich bei den Banken außerhalb der beiden Finanzplätze Wall Street und Londoner City aufhäufen würden. Erst als die Einsicht wuchs, dass die Hauptmasse der infizierten Kredite wieder in die USA zurückflossen und vor allem zwischen den 10 größten US-amerikanischen Banken zirkulierten, wurde denjenigen, die für diese Krise verantwortlich waren, klar, dass sie letztendlich auf ihren faulen Krediten und windigen Derivaten als Hauptleidtragende sitzen bleiben würden. In diesem Zusammenhang können auch bestimmte politische Ereignisse als außenpolitische wie militärische Ablenkungsmanöver betrachtet werden:
II. „Plan B“ – Nutzbare Resultate eines kontrollierten Zusammenbruchs 1. Krisenbewältigungsmaßnahmen zur Vermeidung einer unkontrolliert verlaufenden Finanzkrise Ein unkontrollierter globaler Finanzkrach würde nicht nur die beiden wichtigsten Finanzplätze Wall Street und London in dauerhaften Verruf bringen, sondern hätte auch ruinöse Folgen für die Realwirtschaft. Das mahnende Beispiel der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 und die damalige kontraproduktive Geldpolitik der Zentralbanken trieben die US-amerikanische und britische Regierung zur Eile in der Bewältigung der Krise an. Schließlich stand die bisherige angloamerikanische Dominanz in der Abwicklung globaler Finanzgeschäfte über die beiden Finanzplätze New York und London sowie über die meist unter britischer Hoheit stehenden Steueroasen auf dem Spiel. Die bange Frage für alle Banken, ob in ihren täglich notwendigen Interbankgeschäften die traditionellen Handelspartner noch solvent waren oder vielleicht sogar schon kurz vor der Insolvenz standen, verstärkte das Misstrauen der Banken untereinander. In kurzer Zeit kam der gesamte Interbankhandel zum Stillstand, der in „normalen Zeiten“ dazu dient, längerfristig eingegangene Engagements kurzfristig zu refinanzieren. Zentralbanken sprangen ein und versorgten den Geldmarkt mit „frischem Geld“, indem sie den notleidenden Banken den Ankauf von unverkäuflich gewordenen faulen Krediten anboten und auch dadurch, dass sie ihre traditionellen Geldmarktinstrumente verlockend günstig für Kreditnehmer gestalteten. In Fällen, in denen alle anderen Rettungsaktionen zu scheitern drohten, sprang selbst der Staat mit Verstaatlichungsangeboten ein, um ganz im Gegensatz zur bisherigen neoliberal ausgerichteten Staatsverneinung entweder sofort die gesamte aufgelaufene Schuldenlast dem Steuerzahler aufzubürden oder lediglich für den Ernstfall mit Ausfallbürgschaften zu helfen. 2. Die Forderung nach Regulierung der Finanzmärkte Schon zu einem frühen Zeitpunkt schlugen weit- und umsichtig denkende Finanztheoretiker Regulierungsmaßnahmen insbesondere für den bis dahin völlig unregulierten Geschäftsverkehr der Investmentbanken vor. So schrieb beispielsweise Martin Wolf bereits im Frühjahr 2008 die folgende Erkenntnis nieder: „Die Öffentlichkeit, spüren die Regierungen, müssen vor den Banken und die Banken vor sich selbst geschützt werden. Das Finanzwesen wird als zu wichtig angesehen, als es dem Markt zu überlassen“. Er gelangte abschließend zu dem Schluss: „Regulierung wird immer in hohem Maße unvollkommen sein. Es müssen aber Anstrengungen unternommen werden, sie zu verbessern.“ (Martin Wolf, Sieben Gewohnheiten, die Aufsichtsbehörden für den Wertpapierhandel annehmen müssen, Financial Times, 7. Mai 2008 – vom Autor bereits im Solon-Beitrag zur Finanzkrise vom 3. Juni 2008 zitiert). In der darauf anhebenden Diskussion über Regulierungsvorschläge wurde unter anderem die Auskunftspflicht der Kreditgeber durch die Anordnung ergänzt, dass sie zu einem bestimmten Prozentsatz für die vergebenen Kredite verantwortlich bleiben müssen. Einige Staaten verboten im Handel mit Derivaten sogar bereits sogenannte Leerverkäufe, in denen auf die Zahlungsunfähigkeit des ursprünglichen Kreditnehmers spekuliert wird. Eifrig diskutierte man auch die drastische Reduzierung von Managergehältern und die Abkehr vom Bonussystem. Im Kontext der Forderung nach geeigneten Institutionen zur Regulierung der Finanzmärkte und zweckmäßigen Regulierungsmaßnahmen beklagten die einen vor allem die erwiesene Unzulänglichkeit von marktinternen Steuerungsmechanismen und stritten für den Eingriff des regulierenden Staates, während die anderen dem Staat schlichtweg jede Steuerungskompetenz absprachen und statt dessen auf vom Staat lediglich unterstützte Selbstregulierungsmaßnahmen der Finanzakteure setzten. Ausgetragen wurden die Konflikte auf dem Hintergrund unterschiedlicher Staatsvorstellungen. Bekanntermaßen unterscheiden sich die USA in ihrer Betrachtungsweise des Staates von derjenigen der Kontinentaleuropäer auf gravierende Weise.2 3. Regulierung auf dem Hintergrund unterschiedlicher Staatsauffassungen Der Staat hat bereits lange vor der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in verschiedenen Formen bestanden, existierte danach neben ihr als selbständiger Pol mit Eigengewicht weiter und verstand sich zu keinem Zeitpunkt als bloßes Ableitungsprodukt der bürgerlichen Gesellschaft. Speziell in den kontinentaleuropäischen Nationalgesellschaften, die nach der Abschaffung des Absolutismus entstanden, hat der Staat niemals seine Exklusivität verloren. Am Beispiel der Herleitung der Staatsgewalt im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Interpretation dieses Artikels im Bonner Grundgesetzkommentar lässt sich sehr gut nachweisen, welcher geringe Stellenwert der Volkssouveränität bzw. der Gesellschaft in der Herkunft der Staatsgewalt tatsächlich zugemessen wird. Zwar leitet der Staat seine Gewalt im Grundgesetz nicht mehr von Gott, sondern vom Volke ab (Art. 20, Absatz II, Satz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland [„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“]), aber „ein Rechtsverhältnis der Repräsentation zwischen dem Volk und dem Parlament besteht nicht, weil das Volk nur imStaat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichten zukommen könnten;…“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 6, S.26). “Diese Auffassung”, so postulieren die Kommentatoren des Grundgesetzes, „… ist nicht eine Missachtung der politischen Tatsachen (…), sondern eine Folge der Unterscheidung zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.S.26). Aus den „ideologischen Vorstellungen über den eigentlichen ‚Träger’ der Staatsgewalt ein Rechtsverhältnis zwischen Volk und Parlament zu konstruieren“, ist ihrer Ansicht nach „abzulehnen“. Mit anderen Worten: Der eigentliche „Träger“ der Staatsgewalt war zu keinem Zeitpunkt das Volk. Der Satz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wird faktisch in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Staatsgewalt als höchste Gewalt statt vom realen Volk von einer „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ „ausgeht“, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll. Eingebettet in eine Ideengeschichte und abgelöst vom jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehung von Ideen, werden Grundannahmen wie die der Rousseauschen Generalversammlung des Volkes zu nicht mehr hinterfragten Axiomen und dienen nur noch der Legitimation etablierter Machtverteilung. Jedoch: Trotz aller Zurückdrängung der Souveränität des Volkes entfaltet die ideologisch bedingte Rückkoppelung der Staatsgewalt an eine Generalversammlung des Volkes dennoch in einer bestimmten Hinsicht weiterhin erhebliche Wirkungsmacht. Der Staatsgewalt tut gut daran, die angenommene ursprüngliche Gleichheit aller Teilnehmer der Generalversammlung stets zu beachten und in ihren Entscheidungen adäquat zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt insbesondere in Krisenzeiten, wenn der soziale Friede gefährdet ist und die Selektion der Maßnahmen zu seiner Wiederherstellung im Kampf zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausgefochten wird. So stößt es beispielsweise bei Niedriglohnempfängern und Langzeitarbeitslosen auf erhebliches Unverständnis, wenn von Illiquidität bedrohte Banken vom Staat großzügige Hilfe ohne ausreichende Gegenleistung der Banken erwarten dürfen, während Niedriglöhne nach unten generell nicht durch einen Mindestlohn begrenzt werden und Hartz-IV-Empfänger scharfen und entwürdigenden Kontrollen unterliegen. Eine derartige eklatante Ungleichbehandlung ruft Unmut hervor, verletzt das Gleichheitsgebot und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt bzw. den sozialen Frieden. In einer aus Siedlergemeinschaften entstandenen Gesellschaft hingegen – wie beispielsweise in den USA – wird das „Volk als Ganzes“ nicht als Quelle staatlicher Macht angesehen. Das Axiom der Volkssouveränität hat keinerlei Bedeutung. Das einzelne aus freiem Willen handelnde Individuum übergibt seine Ur-Freiheit nicht an den Staat, denn Siedlergemeinschaften bestehen darauf, dass jedes Mitglied seine in ihm schlummernden Talente voll ausschöpfen kann und dabei möglichst geringen Begrenzungen unterliegt. Siedlergemeinschaften schützen sich selbst und ihr Eigentum durch die Entfaltung und Beachtung gemeinsamer Werte in ungeschriebenen sowie schriftlich fixierten Vertragsbeziehungen. Lediglich für Angelegenheiten, die über die Realisierungsmöglichkeiten der einzelnen Siedlergemeinschaft hinausreichen oder beim Schutz vor äußeren Feinden fühlen sie sich gezwungen, als gemeinschaftsübergreifende Institution den Staat zu errichten und finanziell mit ausreichenden Mitteln auszustatten. Dieser staatlichen Administration werden von den Siedlergemeinschaften um der Bewahrung der individuellen Ur-Freiheit willen enge Handlungsgrenzen gesetzt. Je älter jedoch Siedlungsgesellschaften werden, desto stärker können im Laufe der Zeit entstandene Einkommens- und Vermögensunterschiede aufgrund ungleich gewordener Lebensverhältnisse dazu führen, dass Repräsentationsorgane und staatliche Administration nicht mehr nur mit sehr unterschiedlichen Interessen konfrontiert, sondern dass sie sogar vom privilegierten Teil der Bevölkerung einseitig zur Verfolgung ihrer Interessen in Anspruch genommen werden. Als Konsequenz der zurückbehaltenen Ur-Freiheit werden die erworbenen Privilegien jedoch grundsätzlich von allen Individuen akzeptiert. Sie verstoßen nicht gegen ein Gleichheitsgebot, sondern werden als Folge der von jedem Individuum mit mehr oder weniger Erfolg praktizierten Ur-Freiheit betrachtet. Selbst wenn ein solcher Privilegien befördernder Staat massiv gegen die weniger erfolgreichen und nunmehr unterprivilegierten Teile der Bevölkerung aktiv wird, kann seine einseitig orientierte Tätigkeit lange Zeit mit einer großen Duldsamkeit selbst unter den Benachteiligten rechnen, ehe er Gefahr läuft, den sozialen Frieden zu gefährden. Die Maßnahmen der Bush-Administration und des Kongresses, den Banken die nicht mehr eintreibbaren Darlehensforderungen auf Kosten des Steuerzahlers zum Nulltarif abzukaufen und Liquidität für notleidende Banken ohne Gegenleistung der Banken bereitzustellen, stützen einseitig den privilegierten Teil der amerikanischen Bevölkerung, gehen aber zu Lasten aller Steuerzahler und erhöhen den Anteil der Staatsschulden, der unterschiedslos auf jeden Bürger entfällt.3 Der Handlungsspielraum amerikanischer Administrationen ist also erheblich größer als der kontinentaleuropäischer Regierungen; was nicht weiter von Bedeutung wäre, wenn nicht im Zeichen der Globalisierung zum Nachteil der Kontinentaleuropäer neue Kräftekonstellationen entstanden wären. 4. Der Staat im hegemonialen Kräftefeld Ohne die institutionalisierte Kraft eines Staates jedoch kann keine Gesellschaft existieren, in welchen nationalen, regionalen oder globalen Grenzen sie auch immer agiert! Die hegemonialen Formationen – die global agierenden transnationalen Unternehmen und Finanzorganisationen – würden auf sich gestellt ihren formlosen Gegenhalt auf die Dauer selbst zerstören, totalitär deformieren, die für eine lebendige Demokratie lebensnotwendige Diskursvielfalt beseitigen und keine Verständigung mehr über den Maßstab und die Regeln des Zusammenlebens erzielen. Der Zerfall wäre unausweichlich und auch die schönste volkswirtschaftliche Markttheorie könnte daran nichts ändern. Die jetzige Finanzkrise ist ein überdeutliches Beispiel.4 Anpassungsstrategien des Staates an den nationale Grenzen übergreifenden formlosen Gegenhalt hegemonialer Formationen greifen schon jetzt, indem Rechtsetzungsbefugnisse an internationale und regionale Instanzen übergehen und die Souveränität des Nationalstaats im zunehmenden Maße internationalem Recht unterliegt. Die Globalisierung wird von der Erzeugung neuer Rechtssysteme und Rechtsprechung begleitet. Teilweise haben Nationalstaaten diese Entwicklung direkt unterstützt oder sie mussten hinnehmen, dass sie in der Gestaltung dieser neuen Formen schlichtweg umgangen wurden. Außerdem treten nationale Kulturen, Rechtssysteme und -ansätze in Wettbewerb um ihre globale Durchsetzung, was sich insbesondere schon im Handelsrecht und in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zeigt. Zwischen den USA und Kontinentaleuropa wird es auf diesem Gebiet nicht nur beim moderat ausgetragenen Wettbewerb bleiben. Die augenblickliche Finanzkrise birgt eine Menge Konfliktstoff in sich, in dessen Abarbeitung es noch zu großen Verwerfungen kommen kann. Die Herausbildung von Elementen transnationaler Rechtskulturen bedarf aber unabänderlich der Verständigung über Grundsätze transnationaler Gerechtigkeit. So stellt beispielsweise das Recht auf gleiche Berücksichtigung die substanzielle Ausformung des Gleichheitsgrundsatzes dar und äußert sich im Recht auf politische Teilhabe. Eine konsequente Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes der Völker schreibt diesem politischen Mitspracherecht Gültigkeit auf jeder institutionellen Ebene zu, auf der politische oder ökonomische Entscheidungen mit tendenziell übernationaler Wirkung getroffen werden. Gemäß der Idee der Mitsprache müssen gemeinsam die Grundregeln des Zusammenlebens, die die wechselseitigen moralischen Verpflichtungen festlegen, vereinbart werden, bevor aus deren Positivierung korrespondierende wechselseitige Rechtsansprüche hervorgehen können. Der Hegemonieanspruch einer Macht behindert einen solchen Prozess. 5. Konfliktlinien zwischen den USA und hegemonialen Formationen einerseits und kontinentaleuropäischen Staaten andererseits Am Beispiel der von der SPD verfassten 14 Maßnahmen für mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten lässt sich gut erkennen, welche Konflikte in den Verhandlungen auftauchen werden. Die einzelnen Punkte stellen zwar Maximalforderungen dar, von denen man in konkreten Verhandlungen Abstriche akzeptieren würde, aber dennoch greifen einige Maßnahmen so tief in die bisher gewachsenen Finanzstrukturen ein, dass die Gegenseite sie rundweg ablehnen wird. Die SPD fordert 1. eine höhere Liquiditäts- und Eigenkapitalvorsorge der Finanzinstitute. Die aufsichtsrechtlichen Liquiditätsvorschriften müssen ausgebaut, Liquiditätsrisiken stärker berücksichtigt, Liquiditätspuffer geschaffen, Stresstests optimiert und die Aufsicht besser einbezogen werden. Ebenso müssen die Eigenkapitalanforderungen deutlich steigen: Wir fordern Mindesteigenkapitalquoten. Das gilt nicht zuletzt für Kredite an Hedge-Fonds, für die zukünftig mindestens 40 Prozent Eigenkapital hinterlegt werden sollte. Bereits diese auf dem ersten Blick plausible Forderung reduziert die Kreditvergabemöglichkeiten der Banken erheblich und holt die staatliche Aufsicht in die Banken, was auf nationaler Ebene die Banken und auf globaler Ebene die USA strikt ablehnen werden. Gerade Hedge-Fonds wurden bisher von den Banken als willkommenes Renditeinstrument angesehen. Für profitable Geschäfte, die den Banken selbst nicht erlaubt waren, konnte bei Hegde-Fonds angeheuert werden. Die USA haben bisher jeden Eingriff in ihre Souveränität abgelehnt und nichtsdestoweniger ihren hegemonialen Einfluss auf andere Volkswirtschaften ausgedehnt. 2. Strengere Bilanzierungspflichten der Finanzinstitute! Risiken müssen in Zukunft eindeutig in den Bilanzen der Finanzinstitute ausgewiesen sein und dürfen nicht etwa – wie bisher üblich – in Zweckgesellschaften ausgelagert werden. Die EU-Bankenrichtlinie ist in diesem Punkt noch nicht präzise genug. Wir halten es für dringend notwendig, Risiken zwingend nach einem standardisierten Schema darzulegen. Die gegenwärtige „Fair-Value-Bewertung“ muss krisenoptimiert werden. Die „Fair-Value-Bewertung“5 entstammt dem US-amerikanischen Bilanzrecht und fördert die Entobjektivierung der Unternehmensbilanzen. In diesem Punkt stimmen die USA mit den national wie global operierenden Unternehmen überein. Bilanzverschleierung war und ist für alle Finanzinstitute ein Instrument des Managements, auf das es nur nach äußerster Druckausübung verzichtet. Die EU wird allein diesen Maximaldruck nicht ausüben können. Sogenannte Zweckgesellschaften sind aber auch die von transnationalen Unternehmen und Finanzinstituten unterhaltenen Holdings in Steueroasen, um den nationalen Steuerregimes zu entgehen. 3. Mindestens 20 Prozent Selbstbehalt bei Verbriefungen! Wir brauchen ein stärkeres Risikobewusstsein im gesamten Finanzsystem. Die Trennung zwischen der Entscheidung, einen Kredit zu vergeben, und der Verantwortung für das damit einhergehende Risiko muss aufgehoben werden. Deshalb dürfen Finanzinstitute ihre Kreditrisiken nicht mehr zu 100 Prozent verbriefen und weiterreichen können. Sie müssen auf Grundlage einer internationalen Regelung nach unserer Auffassung künftig mindestens 20 Prozent des Risikos selber tragen. Diese SPD-Forderung steht diametral der bisherigen Praxis US-amerikanischer Investment- und Geschäftsbanken entgegen. Wie bereits dargelegt, basierte die US-amerikanische Globalisierungspolitik auf der Verbreitung infizierter Darlehensforderungen über den gesamten Globus. Eine Abkehr von dieser Praxis hätte gravierende Folgen für die bisher US-dominierte Liquiditätsversorgung der Finanzmärkte und wird deshalb auf massiven Widerstand der USA und teilweise des Vereinigten Königreichs stoßen. 4. Verbot schädlicher Leerverkäufe! Schädliche ‚Leerverkäufe’, also die ungedeckte Spekulation auf fallende Aktienkurse, haben die Finanzmarktkrise noch verschärft. Krisenverschärfende, schädliche Leerverkäufe müssen auf internationaler Ebene verboten werden. Der Text bezieht sich nur auf „krisenverschärfende“ Leerverkäufe. Leerverkäufe sind ein gebräuchliches Börseninstrument. Sie dienen der Auslotung von Trends bei Kursentwicklungen in die eine oder andere Richtung. Ihnen haftet deshalb unvermeidlich immer ein Moment der Spekulation an. Wie jedoch auf Dauer die „krisenverschärfenden“ von den stabilisierenden Leerverkäufen unterschieden werden sollen, wird vom Text nicht problematisiert. Insofern verbleibt die Forderung nach Verbot von Leerverkäufen im plakativen Bereich und wird sich deshalb dauerhaft nicht durchsetzen lassen. 5. Anpassung der Anreiz- und Vergütungssysteme! Wer von Gewinnen profitiert, muss auch Verluste tragen. Über veränderte Anreiz- und Vergütungssysteme im Finanzsektor auf Grundlage eines internationalen ’Verhaltenskodex’ wollen wir dafür sorgen, dass individuelles Fehlverhalten in Zukunft individuelle Sanktionen nach sich zieht. Die Beteiligung der Manager am Gewinn ihres Unternehmens bzw. seiner Bewertung an der Börse ist eine der Folgen des Shareholderprinzips. Mit der Zeit war es für Spitzenmanager nicht mehr von Bedeutung, ob sie ausreichend für ihre Tätigkeit entgolten wurden, sondern auf welcher Rangstufe sie sich im Wettbewerb mit ihren inländischen und ausländischen Kollegen befanden. Ein solches Bonussystem ist grundsätzlich nach oben offen. Je stärker es die Alltagsarbeit der Manager beherrscht, desto schädlicher wirkt es sich für die langfristige Perspektive des gesamten Unternehmenssektors aus. Renditeforderungen von 20 und mehr Prozent bei einem durchschnittlichen Produktivitätszuwachs von 2-3 Prozent können in der Realwirtschaft nur auf Kosten der Lohnempfänger und der Zurückdrängung des Sozialstaats erzielt werden. Wenn außerdem die persönliche Haftung für Verluste für die verantwortlichen Manager ohne Sanktionen bleibt, wird die persönliche Bereicherung prestigesüchtiger Manager zu ihrem eigentlichen Antriebsmotor. Der von der SPD angestrebte neue „Verhaltenskodex“ setzt voraus, dass Managergehälter überall nach den gleichen Kriterien ermittelt werden und den gleichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen unterliegen. Dies ist jedoch nicht der Fall, so dass eine Verständigung zwischen den USA und den Kontinentaleuropäern kaum möglich erscheint. 6. Persönliche Haftung der Verantwortlichen! Das Prinzip „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“ ist für uns inakzeptabel. Wir brauchen internationale Standards für eine stärkere persönliche Haftung der Finanzmarktakteure. Ihre Verantwortung muss sich auch in der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen und individuellen Haftung widerspiegeln. Für diese Forderung der SPD trifft in ganz besonderem Maße die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftsordnungen der USA und Kontinentaleuropas zu. Richard von Weizsäcker hat einmal die USA als Plutokratie bezeichnet, in der ungefähr 200 wohlsituierte und etablierte Familien darüber befinden, ob in den nächsten Wahlperiode der demokratischen oder der republikanischen Partei der Vorzug gegeben werden soll. Entsprechend fällt ihre finanzielle und immaterielle Unterstützung der zur Auswahl stehenden zwei Parteien bzw. des Präsidentschaftskandidaten aus. In der Frage der Sozialisierung der Verluste und der Privatisierung der Gewinne entscheiden sich diese tonangebenden Gruppierungen in einer plutokratischen Gesellschaft ganz klar für die Sozialisierung der Verluste. Das jetzige Verhalten des Kongresses und der Bush-Administration zeigt in aller Klarheit eine solche Präferenz. In der Erarbeitung internationaler Standards werden sich die Kontinentaleuropäer nur dann mit ihren Forderungen durchsetzen können, wenn in der Zwischenzeit die USA am wirtschaftlichen Abgrund angelangt sind und die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung den Plutokraten das Vertrauen entzieht. 7. Europäische Aufsicht stärken! Das europäische Aufsichtsystem muss weiter entwickelt werden. Zwar sind erste Schritte gemacht worden, aber sie reichen bei weitem nicht aus. So muss vor allem die nationale und supranationale Zusammenarbeit aller Aufsichtsbehörden endlich in der EU-Bankenrichtlinie verankert werden. Im nächsten Schritt muss das Kollegium der an einer internationalen Bank beteiligten Aufsichten zu verbindlichen Entscheidungen befugt werden. Dieser Punkt betrifft zwar vordergründig nicht die europäisch-amerikanischen Beziehungen. Gelingt hier jedoch keine Einigung ist auf jeden Fall die Verhandlungsposition der Europäer gegenüber den USA nachhaltig beeinträchtigt. 8. Verbesserte Ratings! Die Errichtung einer europäischen Rating-Agentur als Gegengewicht zu den bislang allein in den USA existierenden Agenturen sollte geprüft werden. Die Beratungstätigkeit der Ratingagenturen muss eingeschränkt werden. Ratingagenturen müssen sich verpflichten, den – weiter zu entwickelnden – IOSCO (Code of Conduct) anzuwenden. Eine europäische Agentur – ggf. das Committee of European Security Regulators – sollte Ratingagenturen registrieren und kontrollieren. Die Bedeutung von Ratings für die Beurteilung von Risiken sollte verringert werden. Für die drei existierenden US-amerikanischen Ratingagenturen werden die USA wohl kaum eine europäische Mitkontrolle zugestehen. Sie werden deren Bewertungen von Unternehmen weiter veröffentlichen und auf Verbindlichkeit der Einschätzungen bestehen. An den Europäern liegt es, sie zu übernehmen oder zu ignorieren. 9. Zentrale und neue Rolle für den IWF! Wir brauchen verstärkte Frühwarnkapazitäten und eine bessere Zusammenarbeit von IWF und FSF. Dazu müssen die Kernkompetenzen der beiden Institutionen zusammengeführt und ausgebaut werden. Ein gemeinsamer jährlicher Bericht von IWF und FSF könnte insbesondere die Effektivität bei der Krisenprävention erhöhen. Die FSF (Financial Stability Forum) wurde 1999 mit dem Ziel gegründet, die internationale finanzielle Stabilität durch Informationsaustausch und Kooperation bei der finanziellen Inspektion zu erreichen. Die jetzige Finanzkrise wäre gar nicht eingetreten, wenn der Informationsfluss ausreichend und die Kooperation in der Inspektion erfolgreich gewesen wäre. Wie will man eine engere Zusammenarbeit von IWF und FSF in Verhandlungen mit den USA erreichen, wenn die Gegenseite noch nicht einmal zur Aufgabe ihrer Sperrminorität im IWF bereit ist? Solange die USA nicht von der ihr durch Bretton Woods eingeräumten Verschuldungsmöglichkeit Abstand nehmen, sind von einer Kooperation von IWF und FSF nur geringe Erfolge zu erwarten. 10. Hedge-Fonds und Private Equity-Fonds straff regulieren; Hedge-Fonds und Private Equity-Fonds müssen effektiver kontrolliert und reguliert werden. Wichtige Stichworte sind für uns Pflichten zur Offenlegung der Vermögens- und Eigentümerstruktur, verstärkte Aufklärungspflichten hinsichtlich der Risiken für Anleger, Einschränkung übermäßiger Fremdkapitalfinanzierung und Anlagebeschränkungen. In diesem Punkt ist mit dem gemeinsamen Widerstand der USA, den transnationalen und weltweit agierenden Finanzinstitutionen zu rechnen. Wenn zwei US-amerikanische Hegde-Fonds seit längerem die „Deutsche Börse“ in Frankfurt am Main zerschlagen wollen, um einen lästigen Konkurrenten für die Wall Street und die City von London entscheidend zu schwächen und zugleich mit Verkauf der Aktien der „Deutschen Börse“ ein gutes Geschäft machen wollen, ist die Interessenlage eindeutig. 11. Mehr Transparenz bei Staatsfonds einfordern! Wir begrüßen die jüngsten vom IWF moderierten Fortschritte in der Selbstverpflichtung von Staatsfonds zu stärkerer Transparenz und unterstützen weitere internationale, europäische und bilaterale Schritte zu einer konstruktiven Einbindung von Staatsfonds in das Weltfinanzsystem. Staatsfonds waren früher wohl gelitten und stellten offensichtlich keine Gefahr dar, zumal sie sich inzwischen als willkommene Investoren an notleidenden US-amerikanischen Banken beteiligt haben. Mit ihnen verbanden sich Namen wie Abu Dhabi Investment Authority, United Arab Emirates; Rentenfonds der Regierung Norwegen; Government Investment Corp., Singapore; Zentralbank Saudi-Arabiens; Fonds für zukünftige Generationen, Kuwait; Temasek, Singapore ( die Reihenfolge ergibt sich aus der Höhe des Anlagekapitals in Mrd. US-Dollar). Als neue Namen hinzutraten wie China Investment Corporation und der Russische Staatsfond witterte man Gefahr, obwohl sie international bisher nicht zu den größten Investoren zählen. Zu einer völlig neuen Einschätzung wird man greifen müssen, wenn künftig der französische Staat ebenfalls einen Staatsfond gegründet haben wird. 12. Beteiligungsrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärken! Die Mitbestimmung im Unternehmen ist ein wichtiges Instrument zum langfristigen Erhalt des Unternehmens und muss daher gestärkt werden. Die Sanktionen für die Verletzung der mit dem Risikobegrenzungsgesetz ausgeweiteten Informationspflichten der Unternehmen gegenüber den Betriebsräten sind deutlich zu erhöhen. Die Mitbestimmung ist ein besonders gutes Beispiel für die grundlegenden Unterschiede in der Auffassung über die Rolle des Staates. Gemäß den obigen Ausführungen ist nicht zu erwarten, dass der langfristige Erhalt von Unternehmen in den USA von der Existenz von Betriebsräten abhängig gemacht wird. Auf diesem Gebiet wird es keinerlei Vereinbarungen mit den USA geben. 13. Steueroasen austrocknen! Die international existierenden Steueroasen und weitgehend regulierungs- und rechtsfreie Offshore-Finanzzentren müssen trocken gelegt werden. Vor allem Steuerhinterziehung ist entschlossen zu bekämpfen. Dazu sind auch neue Wege erforderlich. Bedauerlicherweise finden sich Steueroasen und „Parkplätze für schwarze Kassen“ auch immer noch in Europa. Daher muss Europa bei deren Bekämpfung auch vorangehen. Wir fordern eine Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie mit diesem Ziel. So lange Mitgliedsländer der EU wie das Vereinigte Königreich (Kanalinseln, Gibraltar), Luxemburg, Österreich, Frankreich (Monaco, Andorra), Spanien (Andorra) und Italien (San Marino) in Europa an Steueroasen profitieren, ist jeder Versuch, die außereuropäischen Steueroasen auszutrocknen, ein vergeblicher Versuch. Insbesondere das Vereinigte Königreich, aber auch Frankreich und die Niederlande unterhalten Steueroasen in anderen Teilen der Erde und die USA stützen einige von ihnen im erheblichen Ausmaß. 14. Deutschlands Drei-Säulen-Modell bewahren – Landesbanken konsolidieren! Die Projektgruppe steht zum dreigliedrigen, ausgeprägt dezentral strukturierten deutschen Bankensystem aus Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Geschäftsbanken. Die Verbundstrukturen der Sparkassen und der Genossenschaftsbanken haben gerade in der aktuellen Krise ihre stabilisierende Wirkung unter Beweis gestellt. Auch aus diesem Grund lehnen wir die Umwandlung der Sparkassen in Aktiengesellschaften und andere privatrechtliche Organisationsformen ab. Der Landesbankensektor muss horizontal konsolidiert werden. Da eine in dieser Weise geartete Bankenstruktur in den USA völlig unbekannt ist, sind auch auf diesem Gebiet Vereinbarungen mit den USA ausgeschlossen. Unter den 14 Punkten zählt die SPD noch weitere Detailforderungen auf, die hier nicht mehr ausgeführt werden. 6. Intendierter Wettbewerbsvorteil des US-amerikanisches „bailout“6„In a number of ways, the American bailout is being given fewer strings than are bailouts in European countries. While that would seem to place the American government at a disadvantage, it could rebound to its benefit if that relative leniency helps the banks to recover quickly and provides the government with a big profit on the equity stake it is receiving. Whereas some of the European plans barred banks from paying dividends on common stock until the government got its money back, and demanded promises that the banks would keep loans flowing to businesses and individuals, the U.S. government said that the banks it invested in could continue to pay dividends on existing common and preferred shares. In addition, while European banks are being required in some cases to put government representatives on their boards of directors, the American government will not receive board representation or have voting power.” (Floyd Norris, ibd.). Zusammengefasst vertritt Norris die Auffassung, dass die USA Zeit gewinnen sollten, um zum nächst günstigen Augenblick wieder zu ihrer hegemonialen Position zurückkehren zu können. Die von der Bush-Administration und der Notenbank getroffenen Maßnahmen würden der Finanzindustrie nur sehr milde Regularien auferlegen, so dass sie die Chance erhielte, sich sehr viel schneller von der Krise zu erholen als ihr europäisches Pendant. Setzt sich in den USA dieser Plan B durch, stehen die europäischen Regierungen an einem entscheidenden Wendepunkt: Ist man bereit, im Verhältnis zu den USA eine Position von gleich zu gleich durchzusetzen oder lässt man sich ein weiteres Mal spalten, indem jede Regierung ihr Verhandlungsglück auf eigene Faust sucht? Die USA wären letztlich die Gewinner und würden den Europäern nach gelungener Zeitverzögerung erneut das Schild „Follow me!“ zeigen. James K. Galbraith drückt es in seinem Artikel „Die Weltfinanzkrise – und was der neue US-Präsident tun sollte“, Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11’08, S.57, etwas freundlicher aus: „Der neue Präsident sollte sich darauf einstellen zu erklären, dass die Führungsrolle in einer Weltgemeinschaft – die Aufgabe, kollektives Handeln im großen Maßstab anzuführen – die wahre Bestimmung der Vereinigten Staaten ist.“ Auch er träumt noch von der Rückgewinnung der „technischen Führungsrolle“ der USA, nachdem sie die „finanzielle Hegemonierolle“ verloren hätten. Aber nach der Ära Bush wird es wohl kein Zurück zum Status der „wohlwollenden Hegemonie“ früherer Jahrzehnte geben. ________________________ 1 Alan Greenspan am 23. 10. 2008 bei einer Anhörung vor einem Ausschluss des US Kongresses: „Ich habe falsch gelegen mit der Annahme, dass Organisationen – speziell Banken – aufgrund von Eigeninteresse ihre Aktionäre und ihr Firmenkapital am besten schützen können“ (Andreas Oswald in Tagesspiegel, 25.10.2008). Die US-amerikanische Globalisierungsstrategie erwähnte er jedoch nicht. 2 Methodologisch betrachtet kann der Staat über, unter, neben oder im Zentrum der Gesellschaft platziert werden. Würde streng hierarchisch vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen, nähmen entweder die Gesellschaft oder der Staat die Spitzenposition ein und bestimmten die jeweils nachgeordnete Kategorie vollständig. Für den Staat blieben dann für die einen beispielsweise lediglich Nachhutgefechte einer dynamisch voranschreitenden Gesellschaft übrig, während ihn die anderen gerade umgekehrt sogar zum Motor der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung erklärten. Stünde der Staat sogar im Zentrum der Gesellschaft, um das sich alles dreht, wäre er die allein bewegende Kraft des aus ihm selbst und seinen gesellschaftlichen Ausstülpungen bestehenden Ganzen. Die um ihn kreisenden gesellschaftlichen Bereiche wären bestenfalls mit einem Mindestmaß an Autonomie ausgestattet. Würden Gesellschaft und Staat jedoch als zwei nebeneinander existierende und sich teilweise überlappende unterschiedliche gleichwertige Pole herausgearbeitet, stünde ihre gegenseitige Angewiesenheit und Beeinflussung im Zentrum der Analyse. Letztere Sichtweise findet ihre Entsprechung in der historischen Entwicklung von Staat und Gesellschaft. 3 Am 30. Oktober 2008 übernimmt „T-online“ einen Artikel der „Washington Post“ und titelt: „US-Banken zahlen üppige Dividenden dank Staatshilfen“. Danach planen die 33 Banken, die das Rettungspaket der Regierung abrufen, allein im laufenden Quartal Dividendenzahlungen in Höhe von rund sieben Milliarden Dollar. In den nächsten Jahren könnten sich die Dividenden bei den Banken auf 3,3 Milliarden Dollar summieren. Von den Zahlungen profitieren jetzt auch vermögende institutionelle Aktionäre. 4 In der Selbsterhaltung von Gesellschaften steht dem instabilen formlosen Gegenhalt, den die hegemonialen Formationen aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehens-und Vergehenszeiten sowie ihres regelmäßig gewordenen Gegensatzes bilden, der Staat als institutionalisierte Kraft gegenüber. Zwar fehlt auch ihm – wie allen anderen Akteuren – der sichere Blick in die Zukunft, aber bereits gut erkennbaren Fehlentwicklungen kann er durchaus rechtzeitig entgegensteuern. Aus der umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zum Zwecke der Selbsterhaltung von Gesellschaften ragen folgende hervor, die auch unabhängig von der Entgrenzung der bisherigen Zirkulationssphären bestehen bleiben:
5 Die Bestimmung des Fair Value durch die International Financial Reporting Standards (IFRS) ist keinesfalls eindeutig. Die IFRS kommen ohne Hilfslösungen nicht aus und räumen den Unternehmen Wahlrechte und Ermessensspielräume ein. „Je weiter die gewählte Ausprägungsform des Fair Value vom Marktpreis entfernt ist, desto geringer ist die Nachvollziehbarkeit des gewählten Ansatzes und desto stärker wird der Weg zu einer entobjektivierten Bilanz beschritten.“ Professor Karlheinz Küting, Direktor des Saarbrückener Instituts für Wirtschaftsprüfung, plädiert deshalb in seinem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) dafür, dass weniger die Theorie bei der Bilanzierung an erster Stelle stehen sollte, sondern „was in der Praxis umsetzbar oder überhaupt von Bedeutung ist“. (kib in LexisNexis – Deutschland, Beitrag Nr. 113890 vom 21.03.2007). 6 aus der Patsche helfen <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/97a4796e3a0e4b89b20d0526c9a8cc2b" width="1" height="1" alt="" /> Der neue amerikanische Präsident Barack Obama erfuhr anfangs eine Welle des „Mitleids“ angesichts der Diskrepanz zwischen den überhöhten Erwartungen der Welt und der tiefen ökonomischen, moralischen und strategischen Krise, in denen sich die USA befand. Neben praktischen Lösungen für die Krisen im In- und Ausland hing viel davon ab, ob und wieweit es Obama gelang, dass die USA imperiale und hegemoniale Ansprüche aufgaben und eine neue Rolle innerhalb einer multilateralen internationalen Struktur fanden. Mit den historischen und politischen Hintergründen dieser Fragestellung beschäftigt sich der folgende Artikel. 1. Vergänglichkeit von Imperien und Hegemonien Machtkonstellationen entstanden in allen Zeiten menschlichen Zusammenlebens, jedoch erst auf höherem Entwicklungsniveau bildeten sich so vielschichtige Formen wie Hegemonien oder Imperien aus. Begründet wurde Herrschaft vorwiegend als Herrschaft der Besten, von Gott selbst dem/den Würdigsten zugeteilt oder als Repräsentanz des Volkes. Obgleich alle Herrschaftsformen von endlicher Natur waren, umhüllte sie oftmals die Aura der Unsterblichkeit. Das Attribut „heilig“ (nichts anderes bedeutet der Begriff Hierarchie = heilige Ordnung) sollte z.B. ihren höchst irdischen Ordnungen höhere Weihen verleihen. Die Entwicklungsgeschichte der Herrschaftsformen und der dazugehörigen spezifischen Akkumulation von Macht verlief keineswegs gradlinig. Auf Zeitabschnitte, in denen Herrschaftsformen mit beschleunigter Machtzusammenballung dominierten, folgten Perioden, in denen Herrschaft eher mit Machtentsagung und Machtverfall assoziiert wurde. Gleichzeitig stattfindende parallele und gegenläufige Entwicklungen in der Entfaltung von Herrschaftsformen ließen die Herausarbeitung einer generellen Entwicklungslinie nicht zu, obwohl die fortschreitende Technologie als durchgängige Konstante nicht ohne Einfluss auf Machterwerb und -erhalt und die Ausformung neuere Herrschaftsformen geblieben ist. In vergangenen Zeiten erstreckten sich Imperien und Hegemonien zwar manchmal auch über den gesamten Globus, aber obwohl in ihnen die Sonne niemals unterging, gab es in und neben ihnen herrschaftsfreie oder umkämpfte Räume, die von Konkurrenten zur eigenen Machtentfaltung genutzt werden konnten. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts im Jahre 1990 schien in der Menschheitsgeschichte erstmals eine völlig neue Konstellation entstanden zu sein, die von der Machtelite der USA als eine nützliche Herausforderung angesehen wurde, um ihrer bis dahin räumlich beschränkten Hegemonie ein globales Ausmaß zu geben. Gründe für den Auf- und Untergang der Pax AmericanaDer phänomenale Aufstieg der USADie auf dem nordamerikanischen Kontinent siedelnde multikulturell zusammengesetzte Gemeinschaft verließ die hinter sich gelassene „alte Welt“ mit dem festen Willen, in der „neuen Welt“ nicht nur den europäischen Kolonialregimes den Kampf anzusagen, sondern gesellschaftlich etwas grundlegend Neues zu schaffen. Sie fand fruchtbares Land auf ausgedehntem besiedeltem Territorium vor. Die nun beginnende Fremdherrschaft über die angestammte indianische Bevölkerung und die Ausbeutung afrikanischer Sklaven setzte der Schaffenskraft und dem Schaffensvermögen des „weißen Mannes“ keine Grenzen und bereitete ihm wenig Skrupel, sondern wurde vielmehr von ihm als Zeichen Gottes gedeutet, dem „Guten“ und „Fortschrittlichen“ gegenüber dem Zurückgebliebenen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zum Durchbruch zu verhelfen. Begünstigt durch die Selbstschwächung der europäischen Herkunftsländer der Siedler und den frühzeitigen Übergang zur industriellen Massenproduktion von Gütern gelang bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Aufbau einer wirkungsvollen Konkurrenzposition gegenüber den alten europäischen Industrienationen, so dass schon nach dem 1. Weltkrieg die USA zum geschickt kalkulierenden Kapitalgeber der untereinander zerstrittenen, finanziell ausgebluteten sowie hinter den USA wirtschaftlich zurückbleibenden europäischen Staaten werden konnten. Nach dem 2. Weltkrieg rückte sogar das Ziel in greifbare Nähe, die bis dahin hinderliche Isolation des amerikanischen Kontinents durch zwei Weltmeere von den europäischen und asiatischen Absatzmärkten zu überwinden und sich in Westeuropa und den Küstenregionen des Pazifik als Vormacht zu etablieren. Der heraufziehende Konflikt mit der ökonomisch schwächeren Sowjetunion wurde zur Bündelung der eigenen wirtschaftlichen und militärischen Stärke und ihrer ständigen Steigerung benutzt, so dass im Dreiklang mit der eigenen kulturellen Ausstrahlungskraft nicht nur die us-amerikanische Vormacht in den Küstenregionen von Atlantik und Pazifik gefestigt, sondern schließlich sogar der Sieg im Ost-West-Konflikt errungen werden konnte.[1] 2. Hypertrophes hegemoniales Bewusstsein Die Sowjetunion hatte nach vierzigjähriger dualer Hegemonie mit den USA den Status einer Hegemonialmacht verloren. Die übrig gebliebenen USA nahmen die Herausforderung an, die Alleinherrschaft anzutreten und dehnten ihre Herrschaft auf das bis dahin von ihrem Partner/Gegner beherrschte Territorium sowie über den bis dahin block-freien Zwischenbereich aus. Das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) kündigte aus der Sicht us-amerikanischer Eliten das Zeitalter unbefristeter amerikanischer Obhut über die übrige Welt an, in dem es keine Freiräume für potentielle Konkurrenten mehr geben sollte. So hatte beispielsweise die Diskussion über den Unterschied zwischen Imperium und Hegemonie für die amerikanische Führung jeglichen Sinn verloren. Das Wohlergehen der USA war für sie deckungsgleich geworden mit dem Wohl der gesamten Staatengemeinschaft. Unilaterale Verhaltensweisen der us-amerikanischen Führung (leadership) entsprachen dieser Geisteshaltung. Die Differenzierung zwischen willigen und unwilligen „Partnern“, die Disqualifizierung der Ausgestoßenen als Schurken und die Reduzierung von Aufständen mit unterschiedlichsten Hintergründen auf verdammenswerte Untaten des „internationa-len Terrorismus“ war gleichfalls Resultat dieser Gesinnung. In ihrem Allmachtsdenken begriffen us-amerikanische Administrationen sogar die von ihnen propagierte und voran getriebene Globalisierung der Märkte zur Unterstützung der weltweiten Aktivität transnationaler Unternehmen und des Finanzkapitals als Beweis ihrer zunehmenden Stärke. Ihre bereits seit langer Zeit vernachlässigte Infrastruktur und die nicht mehr konkurrenzfähigen veralteten Industrien der USA entschwanden hinge-gen aus ihrer vornehmlich nach außen und auf den Ausbau ihrer Hegemonie gerichteten Aufmerksamkeit. Überbetonung der eigenen Weltgeltung bei gleichzeitigem inneren Verfall zeugten von einer zunehmenden Desorientierung der tonangebenden Eliten. Sie übersahen oder ignorierten die auf sie zukommenden realen Herausforderungen. Zunehmende innergesellschaftliche SpannungenIn der zweiten Amtsperiode der Bush-Administration erlebten die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte gleichzeitig das Erstarken ökonomischer Konkurrenten und die Anzeichen gesellschaftlicher sowie ökonomischer Schwächeerscheinungen in den USA. Etliche Mitglieder der reich gewordenen Oberschicht hatten damit begonnen bzw. zugelassen, dass große Teile der in ihrem Besitz befindlichen Industrie- und Dienstleistungsbereiche ins kostengünstigere Ausland (sogenannte Schwellenländer) verlagert wurden, die aus der Verlagerung der Produktion entstandenen Einkünfte in lukrativen Finanzanlagen zu investieren und durch drastische Steuersenkungen, die man während der Administrationen unter den Präsidenten Clinton und Bush Junior im Kongress durchsetzte, mehr Netto- vom ohnehin stark gestiegenen Bruttoeinkommen zurück zu behalten. Die Mittelschicht hatte sich unter dem Druck der Abwanderung mit geringen oder sogar stagnierenden Lohn- und Gehaltszuwächsen abzufinden, wurde aber zunächst durch preisgünstige Einfuhren von Waren aus Schwellenländern zufriedengestellt, mit der Illusion höherer Wiederverkaufswerte ihrer kreditfinanzierten Häuser geködert und durch groß-zügige Konsumentenkredite über ihren schleichend vonstatten gehenden Abstieg getäuscht. Der bereits verarmten und wenig gebildeten Unterschicht hingegen entzog der Staat sukzessive weitere staatliche Sozialleistungen und trieb die auf Gelegenheitsarbeiten mit geringer Entlohnung Angewiesenen sowie ohne Versicherungsschutz hilflos ihren Krankheiten Ausgelieferten immer tiefer in das Elend. Die Folgen der sich verschärfenden Ungleichheit zwischen dem „Geldadel“ an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide, der zwischen ihm und der Unterschicht eingeklemmten und um ihren Status besorgten Mittelschichtenangehörigen und der immer mehr verarmten Unterschicht untergruben den sozialen Frieden der us-amerikanischen Gesellschaft. Sie hatte bei ihrer Gründung dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zwar nicht das Gleichheitsgebot, sondern das Glück und das Erfolgsstreben jedes Einzelnen als Basiswert unterlegt, aber die ungezügelte Bereicherung der Vermögenden und Spitzenverdiener verletzte immer stärker den lange Zeit existierenden Grundkonsens der us-amerikanischen Siedlergesellschaft und erzeugte in ihr beträchtliche Spannungen, die erstmals begleitet wurden von hegemonialen Überdehnungssymptomen. 3. Hinweise der Überdehnung us-amerikanischer Hegemonie So lange wie sich die USA darauf beschränkten, unter Einbeziehung der flankierenden Hilfe des Ost-West-Konflikts das innerwestliche Dreieck USA-Japan-Westeuropa zu dominieren, blieb ihre hegemoniale Position unangefochten. Gegenüber Westeuropa und Japan bevorzugten sie im allgemeinen das Erscheinungsbild einer wohlwollenden Hegemonie, während sie im Verhältnis zu Lateinamerika und nahöstlichen Rohölproduzenten ihre rein machtorientierte und interventionistische Negativseite hervorkehrten. Erst nach dem Zerfall ihres Ko-Hegemons UdSSR zu Anfang der neunziger Jahre, den sie ohne zu ahnen vorangetrieben hatten, dass auch ihre hegemonialen Ambitionen darunter zerbrechen könnten, verfingen sie sich auf dem unsicheren Terrain der Globalisierung. Von den vormals im innerwestlichen Dreieck hegemonisierten Randstaaten des Pazifik und Westeuropa sowie den als Hintersassen behandelten Lateinamerikanern fiel der Druck des Ost-West-Konflikts ab. Sie drangen auf Gleichbehandlung und lehnten die Fortsetzung amerikanischer Hegemonie ab, die ihnen jetzt als us-amerikanische Forderung angetragen wurde, das angeblich sehr erfolgreiche us-amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu übernehmen. In der Sichtweise des künftig global agierenden Hegemons mussten alle hegemonisierten Volkswirtschaften nach dem amerikanischen Modell funktionieren und auf die zentralen Handels- und Finanzplätze New York und London orientiert werden. Der Widerstand der Kontinentaleuropäer gegenüber dem anglo-amerikanischen Muster entzündete sich insbesondere an der amerikanischen Forderung, im Zeichen des Neoliberalismus ihre Sozialstaatssysteme aufgeben zu sollen, auf denen bisher die Erhaltung des sozialen Friedens ihrer Gesellschaften beruhte. Nur wenn die us-amerikanische Globalisierungsstrategie auch auf die sogenannten Schwellenländer (China, Indien, Mexiko u.a.) ausgedehnt wurde und dort engagierte transnational agierende Unternehmen deren niedrige Produktionskosten als Druckmittel gegenüber den etablierten hochindustrialisierten Ländern ausspielten, schien deren Widerstand gebrochen werden zu können. Hatten anfangs amerikanische Unternehmen und Finanzorganisationen leichtfertig die Meinung vertreten, den chinesischen Markt mit us-amerikanischen Waren überschwemmen zu können, um im gegenseitigen Handelsaustausch zugleich auch kostengünstig produzierte chinesische Waren auf dem amerikanischen Markt zu verkaufen, wurden sie nach kurzer Zeit eines besseren belehrt. Nicht die USA drückten China ihren Stempel auf, sondern umgekehrt ergoss sich ein immer umfangreicherer Strom in chinesischen Fabriken produzierter Waren auf den amerikanischen Markt. Denn die Chefs amerikanischer Unternehmen hatte nicht nur Gefallen an der Verlagerung von Produktionsstätten aus den USA nach China und den daraus entstehenden zusätzlichen Gewinneinnahmen gefunden, sondern – wie bereits erwähnt – konnten amerikanische Konsumenten mit preisgünstigen Verbrauchsgütern aus chinesischer Produktion für längere Zeit über die langfristigen negativen Folgen der Produktionsverlagerungen im Unklaren gelassen werden. Zielstrebig an der grenzenlosen Vermehrung ihres Reichtums interes-sierte Mitglieder der us-amerikanischen Gesellschaft unterminierten die hervorgehobene Position der USA in einer globalisierten Welt, indem sie ihren privaten Gewinninteressen Vorrang einräumten gegenüber dem bis dahin für alle US-Bürger geltenden gesellschaftlichen Konsens am vorrangigen Wohlergehen der amerikanischen Nation. Sie untergruben in der gleichen Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt der USA wie es in feudalistischen Staaten des alten Europas geschehen war, als Feudalherren dem aufstrebenden Bürgertum nacheiferten und als Unternehmer zu Reichtum und Einfluss gelangen wollten. Jene zu kapitalistischen Unternehmern gemauserten Feudalherren zerstörten den bis dahin für den gesamten Adel geltenden Konsens an der Erhaltung der gesellschaftlichen Grundlagen des Feudalismus, schwächten die Privilegien des Adels und stärkten das auf gleiche Rechte für alle Gesellschaftsmitglieder pochende Bürgertum. Die Globalisierungshoffnungen der USA scheiterten jedoch letztendlich an der Weigerung Chinas, künftig zum Annex des erweiterten innerwestlichen Dreieck USA-Westeuropa-Japan zu werden. China öffnete sich zwar dem einfließenden Anlagekapital transnationaler Unternehmen, aber die chinesischen Führer gaben die Staatszügel zu keinem Zeitpunkt aus der Hand und verhielten sich insofern völlig anders als die russische Führung unter Präsident Jelzin. Es gelang den USA auch nicht, China die Ko-Hegemonie anzudienen. Sie verloren sogar ihren maßgeblichen Einfluss auf das Russland Putins und mussten schließlich akzeptieren, dass das von ihnen umworbene Indien zwar das Nuklear-abkommen mit ihnen abschloss, sich aber nicht als Gegenleistung an der Eindämmung Chinas beteiligte. Ganz im Gegenteil knüpften die führenden asiatischen Länder China, Russland und Indien engere Kontakte untereinander und selbst Japan und Südkorea näherten sich dieser übergreifenden asiatischen politischen und ökonomischen Zusammenarbeit. Abgesehen von Großbritannien zeigten sich auch die übrigen Westeuropäer gegenüber der Schaffung eines gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraums aufgeschlossen. Sie mussten aber noch die ost-europäischen Mitgliedsländer der Europäischen Union vom Nutzen dieser Verbindung überzeugen. Jene Länder, darunter insbesondere Polen und Tschechien, betrachten immer noch die USA als ihren Beschützer. Erst das militärische Nichteingreifen der USA im georgisch-russischen Konflikt scheint sie davon überzeugt zu haben, dass sie sich nicht auf die USA verlassen können. 4. Die Finanzkrise als Menetekel für die unabwendbare Anpassung der USA an eine multilaterale Struktur Bereits die Misserfolge der USA in den beiden von ihnen geführten Kriegen – im Irak und Afghanistan – hatten ihre Glaubwürdigkeit stark beschädigt. Noch stärker sank ihre Wertschätzung in der Meinung der Weltöffentlichkeit durch die Zulassung von Folter im sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Aber erst die von den USA ausgehende Finanzkrise zerstörte das bis dahin noch vorhandene Grundvertrauen in die USA als federführende Finanzmacht. Den letzten Rest besorgte der ehemalige Chef der Technologiebörse Nasdaq, Bernard L. Madoff, der in der bisher größten Betrugsaffäre der Wall Street seine Gläubiger um mehr als 50 Mrd. US-Dollar brachte. Die USA werden in der Zukunft nicht mehr der Hort für sichere Geldanlagen sein, die Leitwährungsfunktion ihres Dollars verlieren und ihre Handelsdefizite wie alle anderen auch durch Sparmaßnahmen abtragen müssen. Damit hätten die USA ihre hegemoniale Stellung als Finanzmacht verloren. Sie würden sich in das Konzert der führenden Großmächte einordnen und als unaufschiebbare Forderung ihre eigene Volkswirtschaft sanieren müssen. Ein Wiederauflage des „New Deal“ ist bereits unter dem amerikanischen Präsidenten Obama in Planung. Die Ausrichtung auf eine Erneuerung der maroden Infrastruktur, die Modernisierung der heimischen Industrie und Dienstleistungsbereiche wird aller Wahrscheinlichkeit nach nur durch eine drastische Reduzierung der Militärausgaben zu finanzieren sein. Damit würden die USA auch ihre Fähigkeit verlieren, in allen Gebieten der Erde militärisch präsent zu sein und in Konflikten auf die eine oder andere Weise eingreifen zu können. Ihre bereits stark reduzierte militärische hegemoniale Position hätten sie damit ebenfalls vollkommen verloren. Die USA würden den Gang vieler vor ihnen gescheiterter Hegemonien gehen. In den meisten Fällen hatten deren machtpolitische Eliten den Niedergang eingeleitet, indem sie ihre eigenen Interessen über diejenigen der Gesamtgesellschaft stellten. Im Verein mit anderen innergesellschaftlichen Kräften nahmen sie entweder die damit oftmals verknüpfte Überdehnung ihrer Hegemonie hin oder erkannten diese Gefahr nicht rechtzeitig. Bereits vor dem Amtsantritt des gewählten US-Präsidenten Obama im Januar 2009 stießen seine vorgeschlagenen Maßnahmen zur inneren Erneuerung der USA im Kongress auf erhebliche Widerstände. Der Konflikt zwischen einem Arbeitsplätze schaffenden Beschäftigungsprogramm auf der einen Seite und einer konsumentenfreundlichen generellen Senkung von Steuern auf der anderen Seite trennt in den beiden Häusern des Kongresses Demokraten und Republikaner. Ob nach den vergeblichen Versuchen der Vergangenheit die dringend erforderliche Reform des Gesundheitswesens dieses Mal die Mehrheit von Repräsentantenhaus und Senat erhält, ist höchst zweifelhaft. Auf welche Widerstände die Reduzierung der Militärausgaben stoßen wird, ist angesichts der prestigeträchtigen Vergabe von Rüstungsaufträgen an die untereinander um Aufträge konkurrierenden Unionsstaaten ebenfalls noch nicht kalkulierbar. Der zur Überwindung der wirtschaftlichen Rezession gegen null tendierende Zinssatz der US-Zentralbank und die fast grenzenlose Vermehrung des US-Dollars werden zu einer drastischen Abwertung der us-amerikanischen Währung führen. Wie darauf die Halter von US-Schatzanweisungen reagieren werden, ist noch unklar. Die Flucht in den Euro könnte eine der Reaktionen sein. Hegemoniales Bewusstsein ist langlebig, wie man am Beispiel des immer noch lebendigen Denkens der russischen Machtelite erkennen kann. Erst recht käme es für die tonangebende Elite der USA einer fast übermenschlichen Anstrengung gleich, ihr „leadership“-Denken und -Verhalten nicht nur zu mäßigen, sondern ganz aufzugeben und sich als gleicher unter gleichen in das Konzert der globalen Mächte einzureihen. Bemühungen der Europäer, und darunter insbesondere die Anstrengungen der sogenannten Transatlantiker, zwischen Europa und den USA ein Verhältnis von gleich zu gleich zu etablieren, könnten an den verfestigten Denkstrukturen in den USA und dem eigenen, nur teilweise bewussten Unterwürfigkeitsverhalten scheitern. Anmerkungen 1 Sich am eigenen Schopf aus krisenhaften Entwicklungen zu ziehen ist geradezu zum Markenzeichen us-amerikanischer gesellschaftlicher Entwicklung geworden, wie beispielsweise die Überwindung der Lethargie am Ende der fünfziger Jahre durch die Orientierung auf die Eroberung des erdnahen Weltraums in der Administration unter John F. Kennedy, die Aufarbeitung des Vietnamtraumas in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, der Abschied vom „Star Wars“ unter Reagan am Ende der ersten Hälfte der achtziger Jahre und die technologische Erneuerung unter Clinton zur Jahrhundertwende. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/fddcb093a20c4b7c9341746428cc7249" width="1" height="1" alt="" /> |
AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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