Hinter der Aufforderung „Wir müssen weg von der Gießkanne“ entwickelt Prof. Michaela Sambanis (Professorin für die Didaktik des Englischen an der FU Berlin) in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 25. Oktober Überlegungen, wie man zu einem Englisch- bzw. Fremdsprachenunterricht gelangen kann, der festgestellte Defizite der Schüler adäquat aufarbeitet und diese nachhaltig beseitigt. Dabei beklagt die Autorin, dass viele Lehrkräfte – auch die jüngeren – noch zu sehr dem „Gießkannenprinzip“ verhaftet sind. D.h. eine bestimmte Lehreinheit wird mit einer Evaluation – Klassenarbeit, Test, Vergleichsarbeit o.ä. – abgeschlossen, die Ergebnisse sowie auch die Probleme werden allen Schülern mitgeteilt, bestenfalls auch mit ihnen ausführlich besprochen; möglicherweise wird auch eine Korrektur eingefordert. Aber dann werden sie „mit ihren Lücken alleine nach Haus geschickt“, was zu Frustration führt. Anschließend wird zur nächsten Lehreinheit übergegangen in der stillen Hoffnung, dass die vorangegangenen Defizite „irgendwie“ behoben worden sind, sich nicht wieder einstellen und das vermeintlich erweiterte Wissen in die weiteren Sprach- und Sprechleistungen aktiv eingebracht wird.
Dass eine solche Herangehensweise nicht funktionieren kann, ist durch den sog. „Pisa-Schock“ hinlänglich klar geworden. Wie setzt man nun aber diese Erkenntnis in ein erfolgversprechendes Unterrichtskonzept um? Dem „Gießkannenprinzip“ entge-gengesetzt wäre es z.B., wenn Lehrkräfte die jeweils spezifischen Sprachdefizite der einzelnen Schülerinnen und Schüler genau analysieren und ihnen dann entsprechen-de Hilfen zur Verfügung stellen, mit denen sie eigenverantwortlich ihre Probleme nach und nach beseitigen können. „Lernangebote für verschiedene kleine Gruppen zu machen“, wäre auch der Vorschlag von Prof. Sambanis. Auf die genaue Nachfrage, worauf es denn beim Unterricht ankäme und wie denn eine solche ideale Englischstunde aussähe, antwortet Prof. Sambanis nicht nur recht oberflächlich (auf Kognition und Emotion gleichzeitig käme es an), sondern macht Vorschläge, die das oben gescholtenen „Gießkannenprinzip“ voll und ganz zur Wirkung kommen lässt. Die Aufforderung, die S. 25 des Buches aufzuschlagen, sollte nicht so trocken daher kommen, sondern mit einer kleinen motivierenden „Anmoderation“ verbunden sein. Mit solch einem Auftakt befindet sich die Lehrkraft allerdings sofort im „Gießkannenprinzip“, es sei denn, sie hat ganz unterschiedliche, entsprechend den verschiedenen Problemprofilen angepasste Aufgabenstellungen parat, mit denen z.B. ein Lehrbuchtext bearbeitet werden kann. Die nach fünfzehn Minuten auftretenden Ermüdungserscheinungen sollten durch ein Bewegungsspiel, bei dem ein Schüler ein Verb benennt und entsprechend pantomimisch mit allen anderen Schülern im Kreis darstellt, bekämpft werden. Wer sich einmal 32 puber-tierende Siebtklässler in den in der Regel sehr beengten Räumen vorstellt, die eine solche „Übung“ durchführen sollen, wird schnell die Absurdität eines solchen Un-terfangens einsehen.
Auch die anschließenden Vorschläge, einen Text unterschiedlich „dramatisch“ vorzu-lesen oder die erlernten Vokabeln auf unterschiedlichen Körperteilen „abzulegen“ und sie abschließend von dort am Ende der Stunde wieder abzurufen, bietet in keiner Weise einen Hinweis, wie die Lehrkraft nun ganz konkret und praktisch dem „Gießkannenprinzip“ entkommen kann. Im Gegenteil: es sind letztlich alles Tricks, die dem Konzept des lehrerzentrierten Unterrichts (= Gießkannenprinzip) entspringen, und lediglich dazu dienen, den Unterrichtsprozess etwas aufzulockern. Dennoch bleibt die Fragestellung, wie lässt sich das Gießkannenprinzip vermeiden, bestehen. Sie zu diskutieren, auch Menschen, die weniger mit dem Lehrberuf ver-traut sind, näher zu bringen, erscheint mir als eine für die weitere Bildungsentwick-lung ganz wesentliche Aufgabenstellung. Dieser Aufgabenstellung widmet sich übrigens auch Peter Struck (eremitierter Professor für Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg) in einem Gastartikel in der Frankfurter Rundschau vom 27.10.2016. Um dies anzugehen, startet man in keiner Weise vom Nullpunkt. Im Gegenteil!
Es gibt also, neben den Schulbüchern mit ihren verschiedensten Materialien, bereits eine ganze Reihe Angebote, mit denen ein binnendifferenzierter Unterricht möglich wäre. Warum findet er – trotz der aufgezeigten Möglichkeiten – nicht statt? In den obigen Ausführungen gibt es schon einige Ansätze, wie die Frage zu beantworten ist und wie Lösungsmöglichkeiten aussehen könnten: Das Thema „Klassenräume“ Gut nachgefragte Oberschulen in Berlin haben äußerste Schwierigkeiten, 32 oder auch 34 Schüler und mehr in eine Klasse zu „stopfen“. Da bleibt kein Platz für den schnellen Umbau der Tische, um z.B. vom Unterricht für alle auf Kleingruppenarbeit umzuschalten. Um einen Kreis zu bilden, muss man schon alle Tische und Stühle beiseite räumen – mit 32 Schülern braucht das seine Zeit. Die Lehrkraft muss sich gut überlegen: Lohnt es, diese Zeit aufzuwenden? Es gibt auch kaum Platz für Schränke oder sonstige Möbelstücke für die Ablage entsprechend sortierter und geordneter Arbeitsmaterialien. Der größte „Feind“ all dieser fortschrittlichen und sinn-vollen Unterrichtsmethoden, bei denen Schüler autonom arbeiten können, ist jedoch der ständige Klassenraumwechsel. Die individuelle Ausgestaltung sowie die Aufbe-wahrung von bestimmten verschiedenen Arbeitsmaterialien, die im Laufe einer Stunde bei der Differenzierung zum Einsatz kommen könnten, ist in einem Raum, in dem mindestens alle zwei Stunden die „personelle Besetzung“ wechselt und bei dieser räumlichen Enge nicht möglich. Das, was man z.B. aus einer gut geführten Montessori Grundschule kennt, dass die verschiedenen Materialien liebevoll ange-ordnet, nach jeder Stunde aufgeräumt und für den nächsten Tag vorbereitet, vor-handen sind, ohne dass sie angetastet, durcheinander gebracht und möglicherweise unbrauchbar gemacht werden, ist in den Räumen der Oberschulen mit ständig wechselnden Lerngruppen nicht umsetzbar. Feste Klassenräume für die Klassen 7 bis 10 wäre hier die beste Lösung. Die Schülerinnen und Schüler könnten sich ganz anders mit „ihrem“ Raum identifizieren und ihn auch entsprechend mitgestalten. Sie könnten sicher sein, dass sie „ihre“ Materialien, die sie möglicherweise sogar selbst gefertigt haben, um damit zu arbeiten und zu üben, wieder finden. An diesem Punkt könnte … müsste angesetzt werden, zu überlegen, wie eine solche grundlegend andere räumliche Organisation zu konkretisieren wäre; denn Ober-stufen- sowie auch Wahlpflichtunterricht, bei dem in kleineren Gruppen und nicht im Klassenverband gelehrt und gelernt wird, muss auch weiterhin möglich sein. In Frankreich besteht das Prinzip, dass die Schüler zum Fachlehrer in den entsprechen-den Fachraum gehen. Hier könnte die sichere Aufbewahrung von spezifischen Materialien schon eher gehandhabt werden. Wichtig ist auf jeden Fall, dass den Schülern mehr (Frei)-Raum – als ihnen bis jetzt zur Verfügung steht –, zugestanden wird. Investitionen in die Schule sollten hier hinein fließen! Die Ressource „Zeit“ In den obigen Ausführungen ist schon mehr als deutlich gemacht worden, dass es überhaupt nicht an Ansätzen und Materialien für den binnendifferenzierenden Unterricht fehlt. Was jedoch fehlt, ist die Zeit, die benötigt wird, um diese Materialien auf die jeweilige spezielle Lerngruppe, das jeweilige Thema in der erforderlichen Anzahl und der notwendigen Qualität (die Materialien müssen mehrfach verwendet werden) herzustellen. Diese notwendige Zeit hat sich gewiss in den letzten Jahren aufgrund der modernen Technologien erheblich verringert. Dennoch muss, wer sich ganz individuell auf die verschiedenen Schülertypen und entsprechend einem aktuellen Thema einstellen will, Zeit und Muße haben, diese Materialien zu erstellen – selbst wenn es sogar schon Vorlagen gibt, was jedoch bei weitem nicht immer der Fall ist. Nun könnte man sagen, die Fachschaft Englisch, Französisch usw. sollte sich diese Aufgaben untereinander aufteilen. Aber auch hierzu braucht es Zeit, um sich in Konferenzen ausführlich miteinander über Inhalte, Ausrichtung und Herstellung zu verständigen. 26 Stunden Unterricht bei möglicherweise gleichzeitigen Klassen-lehreraufgaben, umfangreichen Korrekturen, nicht nur in der Mittel- sondern auch der Oberstufe, besonderem Engagement hinsichtlich Studienreisen u.ä. stehen solchen „hehren“ Vorstellungen entgegen. Diejenigen, die es nach wie vor als unerlässlich erachten, an den 26 Stunden festzuhalten, haben eben diese vielen verschiedenen Einzelschritte hin zu einer modernen Unterrichtsmethode nie selber vollzogen. Wenn universitäre wie staatliche Lehrerausbilder hervorragenden modernen Unterricht sehen, dann von Studierenden oder Referendaren, die für diese eine Vorführstunde mehrere Wochen Zeit, Nerven und Geld (für farbige Kopien und folienüberzogene Arbeitsmaterialien) aufgewendet haben. Sie sehen nie den ganz alltäglichen Unterricht. Auch nicht diejenigen Personen, die die Schulen ca. alle fünf Jahre auf ihre Qualität hin prüfen. Einer solchen Prüfung geht ebenfalls ein wochen-langer allgemeiner Stress voraus, um möglichst „blank“ geputzt gute Ergebnisse zu vorzuweisen. Alltägliche gute und moderne Unterrichtsmethoden können erst dann konkretisiert werden, wenn genau diese Zeitfrage gelöst wird. Man könnte die wöchentliche Lehrerarbeitszeit ganz anders gewichten: z.B. 38 oder 40 Wochenstunden für alle, in der jedoch nicht 26 Stunden unterrichtet und individuell vor- und nachbereitet wer-den, sondern bei der die reine Unterrichtsverpflichtung viel niedriger liegt, damit diese Zeit für Absprachen, Vorbereitungen, die ganz konkrete „Herstellung“ von Materialien vorhanden ist. Vieles andere könnte man sich dabei auch vorstellen: Unterricht im Tandem, Kollegen besuchen sich gegenseitig, um Probleme gemeinsam zu lösen etc. Sich auf die Digitalisierung zu stürzen, von der alles Heil kommen könnte, heißt die Augen zu verschließen vor den wirklich wichtigen Etappen der Veränderung. Auch wenn man Materialien nicht mehr unbedingt als realen Gegenstand produzieren muss, ist eine ausführliche und gezielte Konzeption vorab unerlässlich. Auch der Einsatz, d.h. wann machen die Schüler das Tablet an, wie bearbeiten sie die indi-viduell abgestimmten Materialien und wie erfolgt eine zusammenfassende Ergeb-nissicherung – all dies muss vor der Eingabe der Materialien überlegt sein und das kostet einfach Zeit. Die Schulbuchverlage produzieren sicher sehr viele Materialien in diesem Sinne, dennoch kann allein nur die unterrichtende Lehrkraft entscheiden, ob dieses Material für die speziellen Bedürfnisse der Lerngruppe geeignet ist oder nicht. Im negativen Fall heißt das dann doch „Eigenfabrikation“. Die Klage von der zu großen Abhängig-keit der Lehrkräfte von den Schulbuchverlagen – wie im Artikel des Tagesspiegel zu Recht geäußert – kann nur ins Positive gewendet werden, wenn den Lehrkräften mehr Zeit für die Vorbereitung von gutem Unterricht eingeräumt wird. Natürlich kostet das mehr als mal ein paar tausend Laptops oder Whiteboards für jedes Klassen-zimmer (die übrigens nur durchgängig funktionieren, wenn sie gut gewartet werden und der Klassenraum mit Jalousien gegen Sonnenlichteinstrahlung ausgestattet wird.) Abschließende „Vorausschau“ Solange wie dieses notwendigerweise „kleinschrittige“ Umdenken nicht stattfindet und die finanzielle Ausstattung von Bildung nicht unter dieser Perspektive betrachtet wird, solange wird man leeren Heilsversprechen – Mit der flächendeckenden Digita-lisierung schaffen wir alles! – hinterherlaufen und im konkreten Fall – wie bei der Befragung von Prof. Sambanis – Unterrichtskniffen aufsitzen, die aus der ganz „alten Trickkiste“, nämlich dem Gießkannenprinzip entlehnt sind. In solchen Situationen sagen dann „unbedarfte“ Entscheidungsträger „Na, wir haben doch auch mit 40 Schülern in einer Klasse etwas gelernt!“ Gibt man sich mit solchen Antworten zufrieden, wird man ganz gewiss auch in der nächsten Legislaturperiode das große Hinterherhinken von Berlin zu beklagen haben. Will man diese Klage nicht mehr hören, muss man sich auf den „steinigen Weg“ des Umdenkens begeben, der auch wirklich präzise Hinweise für die konkrete Umsetzung aufzeigt. Dieser Weg wäre jedoch nicht nur für die Heranbildung einer ganzen Generation von autonomen und kreativen jungen Leuten (nicht nur aus der Oberschicht) dringend notwendig, sondern könnte zugleich auch viel besser der großen anstehenden Herausforderung – nämlich die Integration von vielen jugendlichen Geflüchteten aus aller Herren Länder – gerecht werden. Der Forderung, diese jungen Schüler möglichst schnell aus den Vorbereitungs- in die Regelklassen zu überführen, ist ja durchaus zustimmen, jedoch nur … unter der Voraussetzung des oben dargelegten Umdenkungsprozess. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/71cefa716f1c460eae25649917be8996" width="1" height="1" alt="" />
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AutorSimone Lück-Hildebrandt ArchivWie kommen wir weg vom Gießkannenprinzip? – Eine Antwort auf das Interview von Frau Professor Michaela Sambanis
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