Politik
0. Herausforderungen und Gefahren - Die Situation Deutschlands von 1989 bis 2019
Vortrag an der Universität Sorbonne, Paris am 20.2.2019 von Reinhard Hildebrandt
1. Staat
1.1 Der zerfallende Staat, hegemoniale Formationen und die„Global Governance“-Theorie
1.2 Das drohende Ende der repräsentativen Demokratie
1.3 Der gemeinwohlorientierte Staat
2. Recht
2.1 Welche Grenzen hat das Recht auf Asyl? - Auf der Suche nach einer Zahl
2.2 Keine Völkerrechtsverstösse im Ukraine-Konflikt
3. Zivilgesellschaft
3.1 Zivilgesellschaft im Spannungsverhältnis von Staat und Ökonomie
3.2 Staat, Markt, Individuum: Zivilgesellschaftliches Engagement und seine Grenzen
3.3 Wie souverän ist das Volk? Betrachtungen zum VerhältnisStaat und Zivilgesellschaft
Welche Grenzen hat das Recht auf Asyl? -
Auf der Suche nach einer Zahl
Michael Seibel
Es wird gesagt, die Möglichkeiten Deutschlands, Flüchtlinge aufzunehmen, seien begrenzt. Selbstverständlich sind alle Ressourcen begrenzt. Selbst Wasser und Luft. Die Aussage wird erst dann zu einem Argument, wenn man begründete Angaben darüber macht, wo die Grenzen liegen und warum sie dort liegen.
Wie viele Asylanten kann Deutschland also aufnehmen?
Offensichtlich hängt eine mögliche Antwort darauf nicht allein von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ab, sondern stellt zugleich die Frage nach der Verteilung der Wirtschaftsleistung.
einerseits ...
Ein Standpunkt kann sein – und viele Menschen nehmen ihn ein – dass Fremde generell das Zusammenleben einer bestehenden Nachbarschaft stören. Wird dieser Standpunkt zur Grundlage gemacht, kann die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit so erheblich sein, wie sie will, bereits der erste Asylant wäre ein Asylant zu viel.
andererseits ...
Das gegenteilige Extrem wäre ein gelebtes striktes Gleichheitsideal. Es könnte der Maxime folgen, dass es letztlich keinen Grund gibt, der rechtfertigen kann, dass jemand unter schlechteren Bedingungen zu leben gezwungen ist als ein anderer. Dieser extrem egalitäre Standpunkt würde nicht nur politisches Asyl anbieten, sondern auch wirtschaftliches, weil es keine guten Gründe gibt, von einem Menschen zu verlangen, er dürfe nicht anstreben, seine Lebensverhältnisse zu verbessern, solange andere wesentlich auskömmlicher leben.
Leistungsfähigkeit am Bruttosozialprodukt gemessen
Unser Bruttosozialprodukt liegt bei mehr als 3,7 Billionen USD und verteilt sich auf ca. 80 Mio. Einwohner, also fast 50.000 USD/Einwohner/Jahr. Die Türkei etwa kommt kaum auf 12.000 USD/Einwohner/Jahr. Das deutsche Bruttosozialprodukt würde also für gut 300 Mio. Menschen reichen, ginge es einzig um ein striktes Menschenrecht auf Gleichheit. Diesen radikalen Standpunkt nimmt niemand ein. Er reicht allerdings, um zumindest gedanklich einen gewissen Abstand zu der These einzunehmen, wir könnten nicht alle 60 Millionen Menschen aufnehmen, die gegenwärtig auf der Welt auf der Flucht sind. Wir können sehr wohl.
Ein Asylrecht für alle ist rein unter dem Aspekt unserer ökonomischen Leistungsfähigkeit durchhaltbar.
Aber wir wollen nicht. Da wir es nicht wollen, sollten wir uns Rechenschaft über die Gründe ablegen, aus denen wir es nicht wollen. Einige mögen schlecht sein, andere mögen uns und anderen akzeptabel erscheinen.
Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge liegt gegenwärtig rein theoretisch irgendwo zwischen Null und mehr als 200 Millionen Menschen. Und offenbar hängt das von einer Reihe ganz unterschiedlichen Dimensionen ab, von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, den Wertmaßstäben, die wir ansetzen und – dem nachgeordnet – sicher auch von unseren praktischen Versorgungskapazitäten vor Ort.
Einige Bewertungsmaßstäbe sind:
Ein generelle Fremdenfeindlichkeit, konkrete Nächstenliebe, der Anspruch auf den Erhalt der öffentlichen Ordnung, der Anspruch auf Besitzwahrung, politisches Mehrheitsmanagement, der Einwanderungsbedarf der Wirtschaft, ein stabiles Sozialrechtssystem, das Festhalten am unbedingten Menschenrecht auf Leben oder radikaler, das Festhalten am unbedingten Gleichheitsgrundsatz
Mir ist persönlich nicht plausibel, warum das Leben durch Verhungern weniger gefährdet sein soll als durch politische Verfolgung. Die Liste ist ergänzungsbedürftig. Aber da sie einige zentrale Begründungstypen benennt, mag sie zunächst hinreichen.
Gegen generelle Fremdenfeindlichkeit sprechen praktisch alle anderen Positionen. Selbst jemand, dem es vor allem um die Wahrung seines Besitzes geht, wird seinen Besitz im Austausch mit anderen weit effektiver wahren als durch Abschottung. Fremdenfeindlichkeit zielt nicht wirklich auf Besitzerhalt, sondern nimmt eine aggressive Position ein, in der sich der Fremdenfeind persönlich wohl und von anderen bestätigt fühlt.
Nächstenliebe, Empathie von Fall zu Fall, im Nahbereich bedingungslos, wird in der Ferne unbestimmt. Der seinen Nächsten liebt wird sagen, dass er ihm gibt, solange er es nötig findet und solange er kann. Und er wird ihm in die Augen schauen können, wenn er nicht mehr kann. Er beansprucht nicht, angeben zu können, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen kann. Fern ab jedes moralischen Rigorismus ist das offenbar Antrieb vieler Helfer, die konkret eingeschritten sind, als Flüchtlinge in Massen ankamen.
Irritierte Sozialstaatserwartungen deutscher Bürger
Irritierend wirkt dann, Flüchtlinge in menschenunwürdigen Verhältnissen zu sehen. Es ist einerseits eine Sache des Mitleids. Es ist andererseits schwer erträglich, sich selbst in einer Ordnung lebend wahrzunehmen, in der Menschen massenweise gezwungen sind, in Regen und Kälte auf der Straße zu übernachten. Diese Ordnung, auf die wir uns als Deutsche verlassen möchten, hält ihr Schutzversprechen nicht. Und diese Ordnung scheint gefährdet. Hier mag von manchen eine Grenze der Aufnahmefähigkeit gesehen werden, um den Gefährdungseindruck loszuwerden. Adäquat allerdings und bei weitem überzeugender (sowohl zur Angstbewältigung wie im Sinne realer Hilfe) wäre, zusätzliche Betreuungs-möglichkeiten zu schaffen und durchzuhalten. Viele Grenznennungen, wenn nicht die meisten, sind jedoch Sache ambivalenter Geschmacksurteile, die um Argumente verlegen sind. Viele solcher Grenznennungen rekurrieren auf keinerlei eigenen Erfahrungen mit Flüchtlingen und bieten sich als Ziel medialer Kampagnen geradezu an. Kampagnen des Typs: Lasst uns dem Flüchtling ein Gesicht geben, um die allgemeine Akzeptanz zu erhöhen oder in gegenteiliger Stoßrichtung: Hunderte moslemischer Flüchtlinge liefern sich stundenlange Schlägereien mit Christen.
Anspruch auf Besitzwahrung
Ein mächtiges Argument ist der Anspruch auf Besitzwahrung. Es ist wahr: die Betreuung von Flüchtlingen verschlingt in jedem Fall Ressourcen, schmälert also zunächst den zu verteilenden Reichtum. Das Thema ist deshalb sensibel, weil niemand Wert darauf legt, durch Flüchtlingsbetreuung Verteilungskonflikte zu bekommen, die den Rahmen wesentlich ausweiten, in dem Steuergesetzgebung, Arbeitgeber und Gewerkschaften die sich alljährlich neu stellende Verteilungsfrage lösen und die sich im Lauf der Jahre in Gesetzesform verfestigt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass die Frage, wer die Lasten tragen soll, sensibler ist als die Frage, wie hoch die Lasten in absoluten Zahlen sein dürfen. Die Aufgabe der Flüchtlings-betreuung aktualisiert ältere Verteilungskonflikte, die innergesellschaftlich und auf europäischer Ebene seit langem bestehen rund um die Frage offener Grenzen für Güter, Kapital und Menschen.
Eingespielte Routinen der Eigentumsumverteilung
Politik geht mit Verteilungskonflikten und nicht nur mit absoluten Kosten- und Leistungsgrößen um und ist dabei auf Wählerstimmungen, Kompromisse und Koalitionsbildung angewiesen, die es einer medialen Dauerbearbeitung unterzieht. Der Handlungsrahmen von Politik ist zugleich durch die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und durch bestehende Rechtsrahmen beschränkt. Politisch hängt die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge, da sie eine Sache von weit mehr als einer Legislaturperiode ist, stark von erreichbarer Zustimmung ab. Um sie wird täglich gestritten und sie ist wohl kaum längerfristig prognostizierbar. Ich vermag nicht sicher zu unterscheiden, ob hier überhaupt Raum für so etwas wie Grundwerte bleibt oder ob die Rede davon letztlich nur Teil der medialen Bearbeitung von Wählerstimmungen ist.
Systemträgheit im Umgang mit Asylanten
Die Aufnahmefähigkeit wird weiter begrenzt durch das Maß an bürokratischen, organisatorischen und rechtlichen Widerständen und dem sich daraus ergebenden Zeitbedarf, die der Flüchtlingsaufnahme konkret entgegenstehen, durch die Systemträgheit des Rechtsstaats. Hier auch nur näherungsweise zu sagen, welche Wirkungen etwa allfällige Genehmigungsverfahren auf die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge haben, fehlt mir die Fachkenntnis.
Ökonomische Gründe für ein Einwanderungsgesetz
Der Ruf nach einem neuen Einwanderungsgesetz versucht, so ökonomisch richtig er in der Sache wohl ist, die Flüchtlingsaufnahme in eine ökonomische Chance umzumünzen. Weil diese Begründung rein ökonomisch ist, hat sie mit Fragen der Menschlichkeit und im Grunde mit der Flüchtlingsfrage selbst nichts zu tun. Ein Flüchtling und ein Green-Card-Einwanderer haben nichts miteinander gemein, außer dass beide Ausländer sind. Die verbindende Assoziation ist ein Ressentiment. Hier Ausländer, die Geld kosten, dort solche, die Geld bringen. Hier wird von der Politik eine Größenordnung möglicher Einwanderer um 100.000 pro Jahr angegeben und es scheint bei einer kleiner werdenden deutschen Bevölkerung nachprüfbare, diskussionsfähige Argumente für solche Zahlen zu geben.
Verfasstes Asylrecht
Für das Festhalten am unbedingten Menschenrecht auf Leben in Form des Asylrechts gibt es nur eine wirklich relevante Zahl, nämlich die Zahl der Kriegs- und politischen Flüchtlinge weltweit, bzw. derer von ihnen, die bei uns ankommen. Deutsche Politiker unterschiedlicher Lager versuchen gegenwärtig, diese Zahl so klein zu machen wie möglich, etwa in der Debatte über sichere Herkunftsländer. Das Argument, wir könnten nicht alle aufnehmen, ist nicht per se richtig. Wir könnten es durchaus bezahlen, aber wir scheuen die damit aufkommenden Verteilungskonflikte der Deutschen untereinander. Künftig vorstellbare Verteilungskonflikte zwischen jetzt schon sozial schlechter gestellten Menschen und Zuwanderern verschieben nur den Austragungsort des eigentlich brisanten Konflikts nach unten.
Ich sehe keine ernstzunehmenden Gründe in einer zu begrenzten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands, aus denen wir uns der Integrationsaufgabe nicht stellen könnten.
Erreichbarer Konsens
Die unbekannte kritische Größe ist der erreichbare Konsens in Verteilungskonflikten, die aufkommen, sobald die notwendigen Integrationsleistungen nicht mehr aus dem Steueraufkommen eines wirtschaftlich besonders erfolgreichen Jahres bezahlt werden können. Einsparungsopfer aus vorhersehbarer Konfliktscheu werden vermutlich die Flüchtlinge selbst und andere sozialschwache Gruppen sein, also Sozialleistungsempfänger. Man wird erneut vor wachsender Kriminalität, sozialer Kälte, ungestrichenen Schulklassen und Löchern im Asphalt warnen.
Selbst die Befürchtung, die Deutschen würden als Wertegemeinschaft durch den Islam in Frage gestellt, reflektiert noch die Ahnung, dass wir Deutschen keine so einige Wertegemeinschaft sind, wie wir es uns in Erinnerung an unser kulturelles Erbe ständig bestätigen. Unsere Einigkeit kann an genau den Stellen von außen in Frage gestellt werden, wo sie keine ist, wo wir dünnhäutig sind, das ist eher nicht in den Kirchen, sondern im Wirtschaftsleben, in Fragen des fair trade, an den Arbeitsplätzen und bei der Vermögensverteilung. All das sind Themen, bei denen wir nicht immer gute Gründe haben und für das wir ständig eine möglichst reibungslose Konjunktur brauchen, um auch mit weniger guten Gründen sozialen Frieden zu wahren.
Die Angst, dass befremdliches Verhalten von einer Kultur getragen sein könnte, ist begründet. Nur muss es keine uns fremde Kultur sein. Saufende deutsche Jugendliche sind Kollateralschäden des deutschen Kulturerbes, dass seit Jahrhunderten locker mit Alkohol umgeht. (Goethe trank bekanntlich zwei Flaschen guten Rheinweins täglich). Indem wir in den letzten Jahrzehnten die Rechte von Frauen gestärkt haben und unsere Homophobie ein Stück weit abgebaut haben, haben wir unter uns selbst bemerkt, dass Kulturkämpfe einer nicht nachlassenden Anstrengung bedürfen. Sicher kommt einiges auf uns zu, wenn wir uns jetzt auch noch dafür interessieren sollen, was unter Muslimen z.B. den Chauvinismus gegenüber Frauen verfestigt. Und unter uns: fremde Kulturen sind keineswegs immer und für jeden eine Bereicherung.
Und selbstverständlich ist die Rolle der Frau im Islam für uns weder maßgeblich, noch letztlich tolerierbar. Toleranz, dem anderen gegenüber gibt ihm nicht die Erlaubnis zum Übergriff. Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, kommen aus einer Position der Schwäche, der Verfolgung. Deutschland als aufnehmendes Land ist in der Position der Stärke. Und nichts zwingt dazu, diese Position aufzugeben, es sei denn Selbstaufgabe.
Integration ist nicht Selbstaufgabe. Ganz im Gegenteil.
Es hat mit Selbstaufgabe nichts zu tun, eine Burkaträgerin oder den Klang der arabischen Sprache neben sich zu ertragen, selbst dann nicht, wenn er wesentlich häufiger zu hören ist als bisher. Hier können wir von den New Yorkern lernen, einer Stadt, in der auf vielen Strassen fast nur noch spanisch gesprochen wird, ohne dass jemand schockiert wäre. Selbstaufgabe wäre es, wenn die sich in der Tat ungebeten stellenden Integrationsaufgaben nicht konsequent gelöst würden. Spracherwerb, Jobs, bezahlbarer Wohnraum, Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben sind die Felder, die über Gettoisierung oder Integration entscheiden. Und in der Tat konsequente Strafverfolgung nicht nur von Armutskriminalität, sondern vor allem auch von rechter Gewalt.
Es gibt, wie aus Duisburg zu hören, durchaus wieder Orte, an die sich nach Einbruch der Dunkelheit selbst mancher Polizist nicht traut. Aber selbst das ist kein genuines Ausländerproblem, sondern ein Ausgrenzungsproblem, selbst wenn es in Duisburg tatsächlich Ausländer sind, die Probleme machen. Der Ruf nach mehr Polizei an diesem Ort ist diskutierbar und vermutlich richtig, aber damit allein kommt Integration nicht voran (Ohne sie allerdings wahrscheinlich auch nicht). Es verwundert, wie viel Sinn für komplexe Zusammenhänge die meisten Menschen haben, wenn es um Technik geht. Jedem ist klar, das Hunderte von Zulieferern am Bau eines Fahrzeugs beteiligt sind und dass tausende von Fragen geklärt werden müssen. Doch kaum geht es um soziale Konflikte, schnurrt der Sinn fürs Komplexe zusammen auf den Ruf nach mehr Polizei oder schärfere Richter und aufs Monitum, man müsse doch einmal auf die Probleme mit Ausländern hinweisen können, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden. Man müsse, so heißt es unter Politikern, für die „Sorgen der Menschen“, gemeint sind deutsche Wähler, Verständnis haben.
Daran ist etwas wahr. Verantwortung wahrzunehmen beginnt damit, dass man hinschaut und klar ausdrückt und bespricht, wo Handeln nötig ist, dass man Sorge trägt.
Zu bemerken und es öffentlich auszusprechen, wenn etwas im Zusammenleben mit Ausländern schief läuft, gehört in der Tat nicht in die rechte Ecke. Oft allerdings nennt sich Sorge, was aus der Nähe besehen ein Gefühl der Überforderung ist oder fremdenfeindliches Ressentiment.
Woran kann man das unterscheiden? Sorgen, die nach Lösungen suchen, haben es an sich, dass sie fähig sind, richtig zu gewichten. Überforderte Besorgnis kann das nicht und sieht sich selbst übergroß, Fremdenfeindlichkeit will das nicht. Was z.B. ist die Sorge einer Deutschen, vermehrt dem Chauvinismus arbeitsloser islamischer Jugendlicher ausgesetzt zu sein im Vergleich mit der Sorge einer Syrerin um ihre Familie im Krieg? Jemanden, dem es schwer fällt, in dieser Frage richtig zu priorisieren, würde ich als überfordert betrachten. Wenn ich dann noch bemerken müsste, dass sich diese Verletztheit und Schwäche in Gesellschaft anderer in aggressiver Pose gefällt, müsste ich von einem Ausländerfeind sprechen. War die Deutsche, die sich sorgt, je selbst von den in Rede stehenden Chauvinismen betroffen? Sie war es zumeist nicht. Und fragt man weiter, von welcher Seite im Laufe ihres Lebens ihre Rechte als Frau in Frage gestellt wurden oder von wem sie Übergriffe zu erleiden hatte, wird sie ehrlicherweise antworten, dass es deutsche Männer waren.
Aufnahmebereitschaft und Verteilungskonflikte
Wo die zahlenmäßige Grenze liegt, an der man massenhaft auf kaum zu lösende Situationen treffen würde, hängt durchaus nicht von bestehenden hohen deutschen »Aufnahmebereitschaft« und auch nicht primär von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ab, sondern von unserer Fähigkeit, zu neuen Lösungen unserer internen Verteilungskonflikte zu kommen. Denn das – und nicht Goethe unterm Kopfkissen oder das Kreuz an der Wand – ist das, was in Deutschland kultiviert oder eben nicht kultiviert ablaufen kann, ist die deutsche Leitkultur.
Wenn die Wirtschaftsleistung im guten Jahr vielleicht um 3% zunimmt und im besonders schlechten um 1 % zurückgeht, dann sind das die Größenordnungen, an deren Verteilung wir gewohnt sind. Von den anderen 98% lassen wir die Finger. Sie unterliegen außer im Katastrophenfall einem strikten Eigentumsschutz, den viele im Zweifelsfall wahrscheinlich höher bewerten als den Schutz von Asylanten.
Wenn wir die Integrationsleistungen, die zu erbringen sind, um einem Flüchtling mittelfristig in die Lage zu versetzen, selbstständig in für ihn und seine Familie befriedigenden Verhältnissen zu leben, aus dieser alljährlichen Marge finanzieren wollen, ist die Aufnahmefähigkeit für Asylanten allerdings beschränkt. Fachleute mögen genauer rechnen, ich schätze man kommt auf etwas unter eine Million Menschen jährlich.
Wir gehen Verteilungskonflikte nicht an und werden möglicherweise mehrheitlich bereit sein, grundgesetzlich garantierte Menschenrechte dafür zu beschneiden, selbst wenn wir uns in der folgenden Runde von Verteilungskonflikten nicht einmal mehr auf unsere eigenen elementaren Rechte berufen können.
Wir hätten das Recht auf Eigentum über das Recht auf Leben erhoben und über den Gedanken, dass Eigentum verpflichtet.
Aber glauben wir wirklich, die Flüchtlingsbewegung würde aufhören, wenn wir das Recht auf Asyl aus dem Grundgesetz streichen würden? An den Fluchtgründen würde das nichts ändern.
Ich habe also drei Zahlen zu bieten, die eine gewisse Plausibilität haben:
Wir können uns Null Flüchtlinge leisten oder ca. 1 Million oder sämtliche 60 Millionen Kriegsflüchtlinge der Welt. Die Wirtschaftsleistung reicht für alle drei Zahlen. Möglicherweise sind wir viel freier, als uns lieb ist, eine dieser drei Zahlen zu wählen. Wir bestimmen dadurch, was wir sein wollen und nicht nur, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen wollen. Die delphische Forderung: Erkenne dich selbst, ist auf diese Wahl anwendbar.
Abschreckung
Noch ein Wort zum Versuch, als Aufnahmeland ein möglichst abschreckendes Bild nach außen abzugeben: Dabei denke ich an die Fabel von den beiden Männern, die ein bissiger Hund verfolgt.
'Warum', fragt der eine, 'läufst du weg? Der Hund ist eh schneller als du.' - 'Aber ich muss doch gar nicht schneller sein als der Hund, ich muss nur schneller sein als du!'
Was will man, einfach nur nicht das freundlichste Aufnahmeland sein? Wirklich unattraktiv für Flüchtlinge ist das Land, aus dem sie geflohen sind. Will man das noch unterbieten, um sicher zu sein, dass niemand mehr kommt?
Eine Frage, die bleibt
Reinhard Hildebrandt
Beurteilungsprobleme des Ukraine-Konflikts
1. Die Forderung nach mehr Neutralität
Das autoritäre Handeln der Administration Präsident Putins in Russland erzeugt Kritik, verstärkt durch Putins Annäherung an rechtskonservative und nationalistische Kräfte Westeuropas. Jedoch, so berechtigt die kritische Beurteilung von Putins Innenpolitik auch ist, sie zum Anlass für eine einseitige Beurteilung des Ukraine-Konflikts zu nehmen und Putin zum Alleinschuldigen an der Auseinandersetzung um die Ostukraine und der Abtrennung der Krim von der Ukraine zu erklären, entschuldet leichtfertig die USA und die EU, die beide gleichfalls beträchtlichen Anteil an der Entstehung und Dauer der Auseinandersetzungen haben. Im Ukraine-Konflikt sind die Schuldanteile der beteiligten Mächte nur sehr schwer zu ermitteln. Wenn jedoch die Zeitung „Frankfurter Allgemeine“ im März 2015 mit Hinweis auf letzte Meinungsumfragen triumphierend feststellte, dass man inzwischen einen Meinungsumschwung in der deutschen Bevölkerung feststellen könne und jetzt Putin als der Alleinschuldige am Ukraine-Konflikt betrachtet werde, offenbart sie mit dieser Meldung ihre völlig einseitige und vorurteilsbeladene Sichtweise des Konflikts (Frankfurter Allgemeine, Mehrheit der Deutschen gibt Putin Alleinschuld am Ukraine-Konflikt, 18.3.2015).Obwohl der historische Verlauf des Ukraine-Konflikts diese Einseitigkeit keineswegs rechtfertigt, verweist diese "Erfolgsmeldung" der Frankfurter Allgemeine auf einen gefährlich wirkenden Mechanismus: Jegliche differenziertere Betrachtung des Konflikts, die eine solche eindeutige Schuldzuweisung in Frage stellt, gerät in den Verdacht, die Politik Putins gutzuheißen. Wie schleichendes Gift bringt dieser Mechanismus die Medien dazu, vorschnell den Standpunkt der EU und der USA zu übernehmen und sich auf diese Weise der vollständigen Einseitigkeit in der russischen Berichterstattung anzunähern. Auf der Strecke bleibt dabei der unvoreingenommene Blick, mit dem die Strategien der verschiedenen Seiten des Konflikts ausgeleuchtet und dann zur Grundlage von Lösungswegen gemacht werden können.Besondere Gefahr droht, wenn zu anderen Antworten gelangende Analysen als vorurteilsbeladen bezeichnet werden, ihnen das Etikett "Putinversteher" aufgeklebt und den Autoren mehr Neutralität in der Beurteilung des Konflikts abverlangt wird. Gesetzt den Fall, die Schuldzuweisung verteilte sich im Verhältnis 40 Prozent für die USA/ EU und 60 Prozent für Putins Russland, dann könnte eine empirische Untersuchung des Ukraine-Konflikts, die zum gleichen Ergebnis führt, für sich nicht nur größte "Neutralität" beanspruchen, sondern wäre vollkommen korrekt. Wenn jedoch angesichts eines derart komplexen Vorgangs - wie dem des Ukraine-Konflikts - eine Schuldverteilung auf wissenschaftlich korrekte Weise nicht erstellt werden kann, unterliegt jede empirische Untersuchung vorgefassten Urteilen. Fiele das Vorurteil z.B. im Verhältnis 60 zu 40 zugunsten Putins aus, würde eine empirische Untersuchung, die zu einem umgekehrten Resultat führt, als wenig neutral angesehen. Dies zeigt deutlich, dass die Forderung nach Neutralität bereits selbst ideologisch aufgeladen ist und es letztlich immer um die Frage geht, wer die Deutungshoheit über die Interpretation des Ukraine-Konflikts gewinnt. Ein umfassender Blick auf die Strategien aller beteiligter Mächte verdeutlicht deren unterschiedliche Interessen und Handlungsweisen in der Ukraine-Frage.
2. Strategien und Verhaltensweisen der beteiligten Mächte
Die USA agieren auf dem Hintergrund der von ihnen propagierten Weltordnung ("postmoderne Welt"), in der die bisher durch Machterwerb und Machterhalt geprägte Menschheitsgeschichte (Einflusssphärenpolitik) endgültig vom Reich der Freiheit und des Rechts abgelöst sei und sie sich als oberster Wahrer von Freiheit, Recht und Ordnung bezeichnen. Welche Ausprägung die "postmoderne Welt" erhalten soll und welche Instrumente zu ihrer Stabilisierung legitimer Weise eingesetzt werden, wird von den verfügbaren machtpolitischen Eingreifmöglichkeiten der USA abhängig gemacht und orientiert sich am US-amerikanischem Recht. Das ohne die bindende Entscheidungskraft einer Zentralinstanz existierende Völkerrecht bietet ihnen Gelegenheit, es im Blickwinkel US-amerikanischer Interessen zu interpretieren. So wurde zwar die Abkehr der Krim von der Ukraine als völkerrechtsverletzende "Annexion" verurteilt, Russland als "Aggressor" bezeichnet und mit Sanktionen bestraft, aber die US-amerikanische Invasion des Irak nicht als Völkerrechtsverletzung interpretiert.
Die EU hatte bereits in ihrer Lissabon-Strategie die Türkei und die Ukraine zu eng an die EU heranzuführende Partner bezeichnet, um mit ihnen ihre eigene globale Machtposition auszubauen. Der Ukraine würde zwar der Beitritt zur Nato verwehrt bleiben, aber mit einem Assoziierungsvertrag sollte sie eng an die EU gebunden werden. Die überraschende Unterschriftsverweigerung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch unter den Vertrag, der für die Ukraine eine drastische Reduzierung der Handelsbeziehungen mit Russland heraufbeschworen hätte, wurde nicht etwa als Folge der für die Ukraine schädlichen EU-Assoziierungspolitik empfunden, sondern als maßgeblich durch Putin bewirkter Affront. Als dann auch noch die russische Bevölkerung der Krim für eine Abkehr von der in die Nato strebenden Ukraine votierte und von Russland willkommen geheißen wurde, bestrafte sie Russland mit Sanktionen; hierbei getrieben vor allem von der Angst einiger osteuropäischer Mitgliedsstaaten der EU vor einer von ihnen als expansionistisch befürchteten Politik Russlands. Die EU erhoffte sich mit dem Nachvollzug der US-amerikanischen Sanktionspolitik offenbar ein baldiges Einknicken Russlands. Putin antwortete jedoch mit Gegensanktionen, von denen insbesondere der Handelsaustausch Deutschlands, der baltischen Länder und Polens mit Russland betroffen war. Den baltischen Ländern kompensierte die EU die von den Gegensanktionen Russlands entstandenen Verluste vollständig. Nicht bekannt geworden ist, ob auch die drastischen und immer noch zunehmenden Verluste Deutschlands und Polens kompensiert werden.
Russland akzeptierte die Unabhängigkeit der Ukraine, wandte sich aber mit Vehemenz gegen den Beitritt der Ukraine zur Nato und zur EU. Einverstanden erklärte sich die russische Politik mit einer auch für Russland vorteilhaften Brückenfunktion der Ukraine zwischen der EU und Russland. Jeder Schritt darüber hinaus in Richtung auf eine EU-Assoziierung oder gar eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato beantwortete sie mit Gegenmaßnahmen. So schätzte sie den strategischen Stellenwert der Krim für ihre Hegemonie im Schwarzen Meer so hoch ein, dass sie die Abkehr der Krim-Bevölkerung von der Ukraine nicht nur gut hieß, sondern mit allen verfügbaren Mitteln unterstützte. Separationsbestrebungen Transnistriens, Südosse-tiens und Abchasiens sowie der Kampf der Ostukraine um Autonomierechte in der von Kiew zentralistisch regierten Ukraine betrachtete sie als Interessenwahrung im unmittelbaren Vorfeld Russlands.
Die Ukraine zählt zu den Ländern, in denen die Bevölkerung aufgrund der komplexen Geschichte des Landes kein gemeinsames kollektives Bewusstsein ausbilden konnte. Die West- und Zentrumsukrainer blicken vorwiegend nach Westen in Richtung EU und die Ost- sowie viele Südukrainer stärker nach Russland. In landesweiten Wahlen verteilen sie ihre Sympathien abwechselnd auf gegensätzlich orientierte Präsidentschaftskandidaten und verhelfen Parteien zur Mehrheit, die mal prowestlich oder ein anderes Mal prorussisch ausgerichtet sind. Unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Ausrufung der Ukraine als souveräner Staat war die aufbegehrende Mittelschicht noch an der Entfaltung der neuen Machtstrukturen in der Gesellschaft der Ukraine beteiligt. Sie sah sich aber sehr bald vom "Oligarchiat" verdrängt. Das gesamtgesellschaftliche Gemeinwohl wurde ausschließlich auf die Oligarchen ausgerichtet, die Entwicklung demokratischer Strukturen blieb aus und die Masse der Bevölkerung verharrte in Armut. Nachdem der prorussische Präsident Janukowitsch unter Anwendung militärischer Gewalt von Andreij Parubi (Mitbegründer der rechtsextremen Sozial-Nationalen Partei der Ukraine) und Dmitri Jarosch ("Rechter Sektor") aus dem Amt gejagt worden war, und zuvor an dem nach wie vor nicht vollständig aufgeklärten Blutbad auf dem Maidan auch von oppositionellen Kräften angeheuerte Scharfschützen beteiligt waren, übernahmen engste Vertraute der Oligarchin Timoschenko die Macht und hievten ihre Gefolgsleute an die Schaltstellen des Staates. Mitglieder des "Rechten Sektors" unter Dmitri Jarosch wurden ebenfalls an der Regierungsbildung beteiligt. Der Maidan-Aktivist Schabunin fasste seine Kritik in dem folgenden Fazit zusammen: "Wir haben nicht das Gefühl, dass man noch länger an dem Input von Bürgergruppen interessiert ist. Seit den Parlamentswahlen ist die ukrainische Politik wieder das, was sie in den vergangenen 20 Jahren war: ein geschlossener Verein, in dem Oligarchen und Abgeordnete das Land unter sich aufteilen. Die Bevölkerung hat nicht mitzureden." (Jeglinski, Nina, Reformstau auf dem Weg in den Westen, Tagesspiegel, 24.2.2015). Wie alarmierend die Situation bereits ist, zeigt sich daran, dass im Jahresvergleich 2014/2015 die ukrainische Wirtschaft um 17,6 Prozent einzubrechen droht und die Inflationsrate mehr als 60 Prozent beträgt. (brk/dpa/Reuters, Andauernder Konflikt - Ukrainische Wirtschaft bricht um knapp 18 Prozent ein, Spiegel Online, 15.5. 2015). Die Gaspreise stiegen um 40 Prozent, die Wasserpreise um 55 Prozent, die Elektrizität um 67 Prozent (Jeglinskli, Nina, Galgenhumor, Tagesspiegel, 16.5.2015). Im Prozess von Bewegung und Gegenbewegung deutet sich in der Ukraine erneut eine Wende an; diesmal in Richtung der Partei der Regionen. Zwar versuchen Poroschenko und Jazenjuk ihrer absehbaren Niederlage zu entgehen, aber ihre Geldgeber verweisen immer deutlicher auf die ausbleibenden Reformen und lassen sich immer weniger hinhalten.
3. Massive Gegensätze zwischen den USA und der EU
Im Verhältnis zu den USA entstanden folgende Konfliktlinien, nachdem sich Teile der US-Machtelite offenbar aus zwei Gründen für die Neuauflage des Ost-West-Konflikts ausgesprochen hatten:
1. Die weiter schwelende Finanzkrise mit ihren negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung erforderte zu ihrer endgültigen Überwindung Impulse aus der mit massiven staatlichen Aufträgen ausgestatteten Rüstungsindustrie, wovon vor allem die USA als weltgrößter Waffenproduzent Nutzen ziehen würden.
2. Eine enge Kooperation zwischen der Europäischen Union, Russland und China würde die USA aus dem Zentrum der Weltwirtschaft katapultieren und zu Anpassungsleistungen an das neue eurasische Kraftzentrum zwingen.
Alarmiert zeigten sich Teile der US-amerikanischen Machtelite von Verlautbarungen der deutschen Regierung über eine europäisch-eurasische Wirtschaftsunion. Am 18. 12. 2014 hatte Kanzlerin Merkel gesagt: "Wir haben ja nichts dagegen, auch mit Russland, mit Kasachstan, mit Weißrussland durchaus darauf hinzuarbeiten, dass wir einen großen gemeinsamen Wirtschaftsraum haben. Deshalb glaube ich: Bei entsprechenden Fortschritten in Bezug auf das Minsker Abkommen können wir so etwas ins Auge fassen. Ich halte das für richtig." (Rinke, Andreas, Vom Partner zum Gegner?, Internationale Politik (IP), März/April 2015: Nr. 2, S. 38). Mit dem Vorwurf von Senator John McCain, Merkel betreibe eine Appeasement-Politik gegenüber Russland - vergleichbar mit der Beschwichtigungspolitik vor dem Zweiten Weltkrieg gegenüber Hitlerdeutschland - und der Bemerkung Senator Lindsey Grahams, Merkel und Hollande würden die Bringschuld der Europäer für die großzügige US-Wiederaufbauhilfe nach dem Zweiten Weltkrieg relativieren, versuchten beide US-amerikanische Senatoren, ein Schuldbewusstsein sowie ein Unterlegenheitsgefühl bei den Europäern zu erzeugen. Mit ihrem zusätzlichen Hinweis an die Deutschen, die USA hätten ihnen während des Kalten Krieges Schutz vor der Sowjetunion geboten, bezweckten sie die erneute Entfaltung des innerwestlichen Dreiecks - mit den dominierenden USA an der Spitze und Europa sowie Japan an der Basis. Ihnen war sehr wohl bewusst, dass im Rahmen des Marshallplans gelieferte Waren nicht in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands und in den sowjetischen Einflussbereich Osteuropas exportiert werden durften (Cocom), und dass damit die Teilung Deutschlands, aber auch die des übrigen Europas maßgeblich befördert wurde. McCains Bemerkung zu Frau Merkel, man hätte "nichts anderes erwartet", zeugte von unverhohlener Arroganz und Missachtung der unterschiedlichen Interessenlage Europas und der USA in diesem Konflikt, noch verstärkt durch die Ankündigung, es sei nur eine Frage der Zeit, wann sich auch der US-amerikanische Präsident für Waffenlieferungen an die ukrainische Armee aussprechen würde. (are/t-online.de/rtr, US-Kritik an Merkels Ukrainepolitik, T- Online, 7.2.2015 / Nowak, Peter, Waffen für die Ukraine, Telepolis, 7.2.2015). Verschwiegen wurde lange, dass das Nato-Mitglied Litauen nach eigenem Eingeständnis bereits seit längerem Waffen aller Art in die Ukraine liefert (Die litauische Präsidentin Grybauskaiten: "Wir unterstützen die Ukraine mit allen Mitteln und wir werden das auch weiterhin tun."). Dagegen wurden russische Waffenlieferungen an die Rebellen stets aufs schärfste verurteilt (Mayntz, Gregor, Merkels bittere Wahrheiten, RP Online, 7.2.2015). Doppelte Standards, in denen das eigene Handeln kleingeredet und das Handeln anderer zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit hochstilisiert wird, bestimmen oftmals in der Politik und in der Medienlandschaft das Geschehen. So forderte der Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove, sehr wohl von den litauischen Waffenlieferungen informiert, "der Westen" solle Waffenlieferungen an die Ukraine nicht ausschließen (Reuters.com, Merkel pocht auf Einheit des Westens im Ukraine-Konflikt, 7.2.2015). Kanzlerin Merkel hingegen betonte in Kenntnis der litauischen Waffenlieferungen und voraussichtlicher der USA, dass der Ukraine-Konflikt militärisch nicht zu lösen sei (Herwartz, Christoph, Merkel erklärt ihre Ukraine-Strategie - Donbass soll fallen wie die DDR, tv.de, 7.2.2015). Ein offener Krieg würde ganz Europa in Mitleidenschaft ziehen und wie im Falle von Napoleons Feldzug nach Russland und dem Einmarsch Hitlerdeutschlands werde die Frage aufgeworfen, wie weit man denn in die russischen Ebenen vordringen wolle und wie hoch man das Risiko eines Atomkrieges einschätze. Viktor Funk zog am Schluss seines Artikel "Macht und Verantwortung" eine erste Konsequenz aus dem bisherigen Geschehen: "Wären die europäischen Staaten künftig bereit, andere als gleichberechtigt zu akzeptieren - dann wären die Opfer dieses europäischen Dramas vielleicht nicht ganz umsonst gewesen." (Frankfurter Rundschau, 7./8.2.2015).
4. Konsequenzen
Was ist zu tun, um sowohl der einseitigen Verurteilung Putinscher Politik gegenüber der Ukraine als auch der vollen Schuldzuweisung für den Ausbruch und die Fortdauer der Ukraine-Krise an die USA und die EU zu entgehen? Wie kann man den Vorwurf vermeiden, keine bzw. eine nicht ausreichende neutrale Position in der Beurteilung des Ukraine-Konflikts einzunehmen?
Wie bereits oben erwähnt, ist der Ukraine-Konflikt so komplex, dass eine exakte Schuldverteilung auf wissenschaftlich korrekte Weise nicht erstellt werden kann. Die Schuld ist auf beide Seiten verteilt, aber in welchem prozentualen Verhältnis, das ist nicht zu ermitteln. Eine einseitige Verurteilung ist bereits vermeidbar, wenn in öffentlich zugänglichen Berichten der Versuch unternommen wird, eine alle wesentlichen Aspekte des Prozessverlaufs einbeziehende ausgewogene Darstellung abzufassen. Sehr hilfreich ist hierbei die Einbeziehung von Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen in die Analyse, einschließlich des damit korrespondierenden Über- und Unterordnungsbewusstseins der involvierten Politiker und Analytiker; denn im politischen Handeln ist nicht immer sofort ersichtlich, aus welchen oftmals versteckten und sogar unbewussten Motiven heraus eine Entscheidung erfolgt.
Wie ebenfalls schon anfangs erwähnt, ist jede Forderung nach Neutralität bereits vorurteilsbesetzt und ideologisch aufgeladen und je kürzer die Darstellung des Konfliktes ausfällt, desto größer ist die Gefahr der Einseitigkeit. Was wird noch erwähnt, welchen Stellenwert erhält die einzelne Information im Gesamtzusammenhang, welche Informationen werden von den Akteuren gar nicht veröffentlicht und können nur auf indirekte Weise erschlossen werden?
Reinhard Hildebrandt 4.12.2013
Verhinderte Anbindung der Ukraine an die EU - Die angebliche Suche nach Schuldigen
In der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) trafen sich einen Tag nach der ukrainischen Absage des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU zwei ehemalige Außenminister Polens (Andrzej Olechowski und Adam Rotfeld) mit Rainder Steenblock (Umweltminister in Schleswig-Holstein a.D.), Rita Süssmuth (Bundestagspräsidentin a.D.) und Karsten Voigt (ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen) zum Diskussionsthema "Über Vilnius hinausdenken". Ganz anders als vor der ukrainischen Absage von den Rednern vorbereitet, rückten jetzt Fragen und Antworten in den Vordergrund wie die, ob der Eklat vermeidbar gewesen sei und wie der entstandene "Scherbenhaufen" wieder beseitigt werden könne. Zur Enttäuschung vieler Teilnehmer an der Diskussion wurden die Interessenlagen der beteiligten Mächte jedoch nur sehr unzulänglich analysiert. Statt dessen lastete man einseitig sowohl dem ukrainischem Präsidenten Janukowitsch wie dem russischen Präsidenten Putin die Schuld an der negativen Entwicklung an. Janukowitsch habe falsch gespielt und Putin hätte die Ukraine mit der Androhung höherer Zölle für den Im- und Export erpresst. Nicht danach gefragt wurde, ob man angesichts der desaströsen ökonomischen Situation der Ukraine und der durch die Schuldenkrise eingeschränkten Kreditvergabemöglichkeiten der EU überhaupt ein Interesse an der Anbindung der Ukraine haben könnte. Aus dem Publikum kamen Fragen nach nachteiligen Effekten für die Beziehungen der EU mit Russland, wenn die Anbindung der Ukraine an die EU von der russischen Führung als unfreundlicher Akt bewertet würde. Auf dem Podium fanden diese Fragen jedoch keinen großen Widerhall.
Den Vorschlag der Ukraine, die EU solle in einem Dreiergespräch mit Russland und der Ukraine über ein neues Assoziierungsabkommen verhandeln, lehnte insbesondere Karsten Voigt ab. Verhandeln könne man das Assoziierungsabkommen doch nur zwischen den beiden Vertragsparteien Ukraine und EU. Von ukrainischer Seite war demgegenüber zu hören, dass in einem solchen Dreiergespräch untersucht werden müsste, ob jenseits der sich ausschließenden Alternativen - Anbindung der Ukraine an die EU oder Beitritt der Ukraine zur Zollunion Russlands mit Kasachstan und Weißrussland - Möglichkeiten bestehen, das Verhältnis der EU mit dem gesamten osteuropäischen und asiatischen Raum neu zu durchdenken und zu gestalten.
In diese Richtung schien auch der Wunsch von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu zielen, ein klärendes Gespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin zu suchen. Merkel widersprach Befürchtungen Putins, die "Östliche Partnerschaft" der EU sei gegen Russland gerichtet. Die Verhandlungen mit Russland müssten das Ziel haben, "dass nicht ein Gegensatz entsteht zwischen guten Beziehungen dieser Länder mit Russland und guten Beziehungen mit der Europäischen Union" (derstandard.at › International › Europa › Ukraine, 23. 11. 2013). In der Tat kann keiner deutschen Regierung an einer Verschlechterung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen als Folge eines Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine gelegen sein. Russland ist nicht nur ein Lieferant von Energie und Rohstoffen, sondern ebenso ein großer Absatzmarkt für deutsche Exporte. Gerade erst hat der VW-Konzern Russland als "strategischen Wachstumsmarkt Nummer eins in Europa" bezeichnet und angekündigt, "bis Ende 2018 ... weitere 1,2 Milliarden Euro in Russland" zu investieren (Tagesspiegel, 27.11.2013). Im Handel der EU mit China erhält Russland außerdem eine immer wichtiger werdende Scharnierfunktion für Land- und Schiffstransporte von und nach China. Wenn künftig russische Fabriken auch noch die Aufbereitung von Rohstoffen und die Weiterverarbeitung von Produkten übernehmen, die in den eurasischen Handelsbeziehungen ausgetauscht werden, ist über eine gute Gesprächsatmosphäre zwischen den Handelspartnern hinaus auch die Errichtung ein dichtes Netzes von rechtlich fundierten Geschäftsbeziehungen unabdingbar.
Jenseits allen Wehklagens über verpasste Gelegenheiten und Schuldzuweisungen ist also zuerst danach zu fragen, ob bei den relevanten Vertragspartnern überhaupt ein Interesse an dem Abschluss eines Assoziierungsabkommens bestand, welche Staaten in ihren Handelsbeziehungen direkt oder indirekt von einem solchen Abkommen positiv oder negativ betroffen sind und wie falsch oder ehrlich Regierungen gespielt haben, um sich selbst zu entlasten und andere zu belasten.
1. Höhere Zölle nach der Unterschrift zu einem Assoziierungsabkommen mit der EU versus niedrigere Energiepreise nach Beitritt zur Zollunion
Die mit dem Assoziierungsabkommen beabsichtigte Anbindung der ukrainischen Wirtschaft an die EU zerschneidet das bisher bestehende ökonomische Band zwischen Russland und der Ukraine. Die Ukraine exportiert mehr als 50 Prozent ihrer Waren nach Russland. Von beiden Seiten gewährte Vorzugszölle für Waren und Energie müssten durch Zölle ersetzt werden, die zwischen unterschiedlichen Handelsblöcken üblich sind. Alexej Puschkow, Chef des außenpolitischen Komitees im russischen Parlament sagte dazu: "Russland hat die Ukraine ... wissen lassen, dass es seinen Markt mit Zöllen vor billigeren Produkten verteidigen wird, falls sich die Ukraine der Freihandelszone der EU anschließen sollte. Das geschah in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der WTO." (Christian Ultsch (Die Presse), Interview am 22. 11. 2013 mit Alexej Puschkow) (Die Presse.com >Politik>Außenpolitik, RIA Novosti, 22. 11. 2013). Auch die ukrainische Zulieferung für die Produktion von Antonowflugzeugen und alle Stahlexporte würden mit Zöllen belegt werden müssen, wohingegen laut Puschkow die Ukraine im Falle eines Beitritts zur Zollunion für Öl und Gas weniger zahlen müsste (bei Gas jetzt 420 Dollar für 1000 Kubikmeter Gas, dann 169; eine Ersparnis von 10 Milliarden Dollar pro Jahr). Ob sich die EU bereit erklären würde, der Ukraine einen Ausgleichsbetrag von 10 Milliarden Dollar für die Mehrbelastung zu gewähren und zusätzlich in der Lage wäre, in den nächsten zehn Jahren für die Modernisierung mit Krediten in Höhe von mindestens 160 Milliarden Euro auszuhelfen, ist eine unbeantwortete Frage. Das bisherige Angebot von einer Milliarde Euro für die kommenden Jahre sei zu gering, äußerte der ukrainische Ministerpräsident Asarow (Paul Flückiger/Elke Windisch, Zwischen Brüssel und Moskau, Tagesspiegel, 26.11.2013). Außerdem habe der Internationale Währungsfonds signalisiert hat, dass er der Ukraine keine finanziellen Erleichterungen versprechen könne.
Die Bilanz ist eindeutig. Die Ukraine hätte die anfallenden Modernisierungskosten weitgehend allein zu übernehmen und müsste außerdem mit erheblichen Exporteinbußen und weiterhin hohen Energiepreisen rechnen. Außerdem hätte sie die Ansprüche der EU, das Rechtssystem der Ukraine an das der Mitgliedsstaaten der EU anzugleichen, zu erfüllen und müsste im Falle der Nichtbeachtung oder verzögerten Anpassung mit Sanktionen rechnen. Der Verzicht der Ukraine auf eine EU-Assoziierung ist nach Einschätzung des Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz, auch auf mangelnde Hilfsbereitschaft der Europäischen Union zurückzuführen. "Ich glaube, wir haben auch die Dramatik der innenpolitischen Situation in der Ukraine unterschätzt", sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Laut Schulz ist die Ukraine "wirtschaftlich und vor allen Dingen finanziell in der tiefsten Krise" seit der Einführung der Demokratie. "Die brauchen dringend Geld, die brauchen dringend sichere Gasversorgung." "Staaten, die in der Krise sind, zu helfen, das ist in Europa nicht besonders populär', bedauerte Schulz. "Und die Ukraine bekommt, wenn Sie mal die Angebote aus Moskau ansehen, kurzfristige Hilfe, die wir als Europäer in dieser Form nicht leisten können oder leisten wollen, und das ist meiner Meinung nach einer der Gründe, warum die Regierung unter diesem enormen Druck sich dann am Ende für eine Kooperation mit Russland entschieden hat." (Christoph B. Schiltz: EU-Parlamentschef Schulz: "Haben die Situation in der Ukraine unterschätzt", 28.11.2013, 15:55 Uhr | rtr, dpa).
Gregor Peter Schmitz konstatierte: "Der mit großem Aufwand geplante EU-Ost-Gipfel ist zum großen Reinfall geworden, bescheidene Abkommen mit Moldau und Georgien müssen jetzt als Feigenblatt herhalten ... Kremlchef Wladimir Putin hat dies geschickter getan als die Brüsseler Bürokraten. Für ihn stand in Vilnius Russlands geopolitisches Gewicht auf dem Spiel." Schmitz zitiert außerdem Polens Ex-Präsident Aleksander Kwasniewski: "Um vor allem die Ukraine an seiner Seite zu halten, hat Putin alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Erst drückte er durch Sanktionen die Exporte des Nachbarn um 25 Prozent. Dann drohte Moskau, künftig müssten Ukrainer Visa beantragen, wollten sie nach Russland reisen. Schließlich soll Putin seinem Amtskollegen Janukowitsch etwa 20 Milliarden Euro zugesagt haben, um die fast leere ukrainische Staatskasse aufzufüllen. Dagegen stand ein magerer Kredit der EU über 610 Millionen Euro, den man im letzten Moment noch erhöht hatte; dazu die vage Aussicht auf einen Milliardenkredit des Währungsfonds. Kein Wunder, dass Janukowitsch schwach wurde: Er will schließlich bald wiedergewählt werden. Die diplomatische Pleite trifft die Brüsseler Außenpolitik schwer. Denn lange waren die Erweiterungs- und Nachbarschaftspläne Europas Vorzeigeprojekt." (Gregor Peter Schmitz: EU-Ostgipfel in Vilnius: Europas Scheckbuch-Diplomatie ist am Ende, Spiegel Online - Politik, 28.11.2013).
2. Gefährdung des Zusammenhalts der Bevölkerung in der Ukraine
Die Demonstrationen in Kiew gegen die Ablehnung des Assoziierungskommens durch die ukrainische Regierung zeigen, wie gespalten die ukrainische Bevölkerung ist. Während dieser Teil der Bevölkerung jetzt protestiert, befürchtet der andere Nachteile des Abkommens für seinen Lebensstandard. Die rund 18 Millionen russischsprachigen Ukrainer im Osten und Süden der Ukraine sind erst durch die Entscheidung Chrustschows in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu "Ukrainern" geworden. Ihr Zugehörigkeitsgefühl zu Russland ist noch sehr stark. Dies trifft auch auf die jüngere Bevölkerung zu. Die russischen Ukrainer würden von einer Assoziierung der Ukraine an die EU weniger profitieren als die Westukrainer. Sie müssen jetzt bereits mit einer steigenden Arbeitslosigkeit in der Eisen- und Stahlindustrie der Ostukraine fertig werden. Die Auslastung der ukrainischen Schwarzmeerhäfen würde weiter sinken und die Anzahl der russischen Touristen auf der Krim und im Raum Odessa könnte drastisch abnehmen. Russischen Touristen stünde nach dem Ausbau Sotschis als Austragungsort für die olympischen Winterspiele und ausladendes Erholungsgebiet entlang der Schwarzmeerküste ein adäquater Ersatz für die Krim zur Verfügung und ein drastischer Zuwachs an Touristen aus der EU für die Ukraine ist nicht zu erwarten. Die wachsende Unzufriedenheit der russischsprachigen Bevölkerung könnte zu Unruhen führen und von der russischen Regierung gegen die ukrainische Regierung ausgespielt werden. Zwar würde die ukrainisch sprechende Bevölkerung in der Westukraine und dem Zentrum langfristig von der Anbindung an die EU profitieren, aber zunächst hätte auch sie - entgegen der bisher gepflegten Illusionen - die steigende Außenschuld der Ukraine mitzutragen und müsste zusätzlich den wachsenden Unmut der russischsprachigen Bevölkerung erdulden. Die einen protestieren jetzt lautstark, die anderen streben später aus dem ukrainischen Staatsverband. Beiden Bevölkerungsteilen ginge die Erinnerung an gemeinsam erlittenes Leid in der Zeit der Besatzung durch deutsche Truppen während des II. Weltkrieges zwar nicht verloren, aber es wäre künftig Bestandteil eines geteilten "kollektiven Gedächtnisses". Kein Land kann auf die Dauer mit einem geteilten "kollektiven Gedächtnis" seiner Bevölkerung leben.
3. Vergebliche Demütigung Russlands
Seit einiger Zeit verhandeln die USA mit der EU ein umfangreiches Freihandelsabkommen. Mit den Anrainerstaaten des Westpazifik - außer China und Russland - stehen die USA über ein solches Abkommen ebenfalls in Verhandlungen. In der gleichen Weise wie während des Ost-West-Konflikts das innerwestliche Dreieck USA-EU-Japan eine antirussische und antichinesische Komponente hatte, richten sich auch atlantisches und pazifisches Freihandelsabkommen gegen beide Staaten und möchten vor allem die Entfaltung eines eurasischen Wirtschaftsraums (EU-Russland-China) verhindern.
Dass eine solche Strategie gegen Russland gerichtet ist, hat jetzt auch die ukrainische Führung verstanden. Premierminister Mykola Azarov betonte:4:17am EST "We absolutely do not want to be a battleground between the EU and Russia, a field of confrontation," Prime Minister Mykola Azarov said. "We want to have good relations with both the EU and Russia." (Natalia Zinets/Richard Balmforth, Ukraine leader to go to EU summit, pro-EU protests continue, www.reuters. com/.../2013/11/26/ukraine-eu-idUSL5...). Durch die EU von Russland getrennt zu werden, deren Führung die Ukraine als ihre Einflusssphäre betrachtet, bedeutet für die ukrainische Führung, mit größter Sorgfalt die Konsequenzen eines solchen Schritts zu analysieren. Azarov beschreibt das Dilemma der Ukraine im folgenden Satz: "Some EU members, regretfully, have been led by the principle of tearing Ukraine away from Russia, drawing us to themselves ... From the other side, we were also offended by the position of Russia which was directed at not allowing Ukraine to grow closer to the EU." (ebd.). Nach Abwägung der Vor- und Nachteile hat die ukrainische Führung entschieden, das bereits seit mehreren Jahren verhandelte und unterschriftsreif vorliegende Assoziierungsabkommen mit der EU am 29. 11. 2013 in Vilnius nicht zu unterzeichnen.
Damit scheiterte der US-amerikanisch-europäische Versuch, Russland weiter zu isolieren. Zwar unterschrieben Moldawien und Georgien das Abkommen, aber beide Staaten könnten ihren späteren Rückzug vom Abkommen auch als Tausch für russische Gegenleistungen anbieten. Moldawien ist an einer Lösung der Transnistrienfrage sehr interessiert. Ohne den Abzug der russischen Truppen aus Transnistrien ist der Anschluss dieses Gebietes an Moldawien nicht realisierbar. Georgien plagt die selbstverschuldete Abtrennung Abchasien und Süd-Ossetins. Am Ende einer langsamen Annäherung zwischen Georgien und Russland könnte der Abschluss eines dem Beispiel Südtirols folgenden Autonomieabkommens für beide Gebiete und die Rückkehr der vertriebenen Georgier in ihre Heimat ein erstrebenswertes Ziel sein.
Wie eng die EU und die USA in den Verhandlungen mit der Ukraine kooperieren, zeigte sich unmittelbar vor dem Verhandlungsbeginn in Vilnius, als der in der EU-Kommission für Erweiterungspolitik zuständige Kommissar Stefan Füle über den letzten Stand der Dinge von den USA telefonisch um Auskunft gebeten wurde (Füle: "Washington war am Apparat"). Beide sehen einen engen Zusammenhang zwischen dem künftigen transatlantischen Freihandelsabkommen und der Anbindung der Ukraine an die EU. Schon Dan Hamilton (Leiter des ‚Centers for Transatlantic Relations’ an der John Hopkins University der USA) hatte vor einigen Monaten die US-amerikanische Zielsetzung für ein Freihandelsabkommen mit der EU nicht auf die Reduzierung von Handelshemmnissen beschränkt wissen wollen (Tagesspiegel, 13.6.2013). Hamilton sagte damals wörtlich: „Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit sind eine Mahnung, dass sich die transatlantische Führung in der Welt nur dann fortsetzen lässt, wenn wachsame Demokratien auch wirtschaftlich stark sind. Damit unser westliches Modell attraktiv für andere bleibt, muss es zu Hause funktionieren.“ (Tagesspiegel, 13.6.2013). Der Chef der EU-Kommission, Manuel Barroso, brachte es auf den Punkt: „Unsere Partnerschaft wird die Karten in der Weltwirtschaft neu mischen“ (Tagespiegel, 18.6.2013). Vorerst ist die Strategie der Einschnürung Russlands durch das transatlantische und der Isolierung Chinas durch das pazifische Freihandelsabkommen jedoch nicht erfolgreich. Insbesondere die deutsche Industrie ist sehr besorgt und ermahnt die deutsche Regierung, mehr Zurückhaltung an den Tag zu legen. Auch im pazifischen Raum regen sich erhebliche Widerstände. Außerdem unternehmen die ukrainische und russische Führung alle erdenklichen Anstrengungen, eine gemeinsamen Lösung der offenen Handelsfragen zu finden.
4. Welche Rolle spielt das von der Ukraine vorgeschlagene Dreiergespräch zwischen Russland, der Ukraine und der EU?
Es soll die Furcht bei Teilen der Führungsetage der EU vor einem Erstarken Russlands, das als Eurasische Union wieder zu einer global agierenden Macht heranwachsen könnte, als unbegründet zurückweisen. Wie im vergangenen Ost-West-Konflikt möchte dieser Teil der Machtelite nie wieder zwischen den USA und einen mächtigen Russland zerrieben werden und sucht deshalb an der Seite der USA Schutz vor einer solchen Entwicklung. Gegenüber den ökonomisch schwächer gewordenen USA spekuliert dieser Teil der Machtelite auf die Position eines von den USA geachteten Juniorpartners. Nach der Aufdeckung der umfangreichen Spionage durch den Computerspezialisten und vormaligen Beschäftigten der National Secuity Agency (NSA), Edward Joseph Snowden, ist jedoch Ernüchterung eingetreten. Hat sich doch gezeigt, dass die USA keineswegs daran denken, ihre hegemoniale Position aufzugeben, sondern Kontinentaleuropa weiterhin dominieren wollen.
An diese enttäuschende Erfahrung knüpft der ukrainisch-russische Vorschlag eines Dreiergesprächs an. Er strebt eine Konterkarierung der US-amerikanischen und britischen Strategie an, in die auch Teile der EU-Kommission eingebunden sind. In einem solchen Gespräch sollen die gemeinsamen Interessen der EU, Russlands und der Ukraine an der Entfaltung eines eurasischen Wirtschaftsraums diskutiert werden, denn insbesondere Deutschland hat an guten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Russland und China ein großes Interesse. Dort liegen die Zukunftsmärkte.
Zweitens soll das vorgeschlagene Dreiergespräch dem Teil der EU-Machtelite Grenzen aufzeigen, der die Attraktivität der EU überschätzt und glaubt, jeden Assoziierungspartner die Forderung völliger Anpassung an die EU-Regeln diktieren zu können. Im Dreiergespräch soll diese überzogene Forderung als Hybris erkannt und verworfen werden und einer realistischen Analyse der Interessen weichen. Die Ukraine hat nun einmal eine eng mit Russland verbundene Geschichte und teilt mit ihrem Nachbarn gesellschaftliche Strukturen, die nicht so leicht verändert oder gar aufgelöst werden können.
Drittens soll im Dialog der drei Staaten der inner-ukrainischen Opposition verdeutlicht werden, dass ein Weg zwischen den beiden Alternativen gefunden werden muss, um sowohl der Bevölkerung in der westlichen wie der östlichen Ukraine die Zustimmung zu einem noch auszuhandelnden Abkommen zu erleichtern. Proteste, Demonstrationen und gewaltsame Auseinandersetzungen zuerst in einem und später im anderen Teil der Bevölkerung schaden der Ukraine sehr und könnten zur Spaltung bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Konflikten führen. Angesagt ist also mehr Ehrlichkeit in der Propagierung von Interessen bei allen Beteiligten und eine Zurückweisung US-amerikanischer Bestrebungen, den Kontinentaleuropäern direkt vor der Haustür große Probleme zu bereiten und sie auf diese Weise zu schwächen. Der Konflikt auf dem Balkan und im arabischen Raum sollte den Europäern zu denken geben.
Reinhard Hildebrandt 10.7.2015
Der erstaunte Hegemon
Sollte der deutsche Nachrichtendienst (BND) jemals versuchen, einen US-Präsidenten auszuspionieren, wie es im umgekehrten Fall der Bundeskanzlerin Angela Merkel durch die NSA geschehen ist, oder gar große Teile der US-Administration ins Visier nehmen, wie es umgekehrt die NSA im Falle dreier deutscher Regierungen praktiziert hat, würden die USA "mit harten nachrichtlichen Sanktionen gegen Deutschland vorgehen" (Vermerk des BND vom 26.11.2013, nachdem bekannt geworden war, dass die NSA das Handy der Kanzlerin abgehört hatte, in: http://www.spiegel.de/politik/ausland/nsa-affaere-usa-erstaunt-ueber-zoegerliche-deutsche--reaktion-a-1043035.html). Die USA hätten damals "harte Reaktionen" erwartet und mit einer "kurzzeitigen temporären Einschränkung der Kooperation" oder der "Ausweisung von US-Personal" gerechnet. Nachdem jetzt auch noch bekannt geworden ist, dass sämtliche deutsche Regierungen bis zur deutschen Wiedervereinigung und während der gesamten Zeit danach ausspioniert wurden - zuvor aufgrund des existierenden Besatzungs-rechts seit 1945 und danach trotz Souveränitätszuerkennung im Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 - müssten sie noch erstaunter über eine weiterhin zurückhaltende Reaktion der deutschen Regierung sein und misstrauisch nach Gründen für diese ungewöhnliche Verhaltensweise suchen.
Horst Teltschick, stellvertretender Chef des Bundeskanzleramtes und langjähriger außenpolitischer Berater Helmut Kohls, zeigte sich über die Abhörpraktiken der USA nicht erstaunt. Er meinte, sich unter befreundeten Staaten gegenseitig abzuhören, sei überflüssig. Ihnen sei zu seiner Zeit auch nichts aufgefallen. "Wir hatten ja sowieso engste Verbindungen und haben uns grundsätzlich über alle wichtigen Dinge ausgetauscht" (Horst Teltschick im Interview mit Markus Decker, "Der Anti-Amerikanismus nimmt in Deutschland zu", Frankfurter Rundschau, 10.7.2015). Wenn die USA dennoch spionierten, muss es jenseits von "kindischem" Verhalten und "Verschwendung von Ressourcen", was Teltschick ihnen unterstellte, noch weitere Gründe für die Spionage gegeben haben. Offenbar vermutete die NSA, entsprechend der gleichen Vorgehensweise von US-Administrationen, dass von der deutschen Regierung alle "maßgeblichen Dinge" in abhörsicheren Räumen besprochen würden, aber zugleich schien sie in der Lage zu sein, aus der Zusammenführung aller verfügbaren Informationen die von der deutschen Seite als geheim klassifizierten "maßgeblichen Dinge" dennoch herausfiltern zu können. Wenn US-Administrationen also nach der Vereinigung nicht von ihren seit 1945 praktizierten Abhörmethoden lassen wollten, die sie in Berlin(West) bis zur Vereinigung Deutschlands zusammen mit Großbritannien und Frankreich in den Charlottenburger Gebäuden der Post in der Goethestraße ausübten, dann muss es dafür mindestens zwei Gründe gegeben haben: "Kontrollitis" und Misstrauen.
Ganz im Gegensatz zur Annahme Teltschicks kennen und haben die USA keine Freunde in der Welt, denen sie voll vertrauen. Wer den Anspruch erhebt, die Weltordnung maßgeblich bestimmen zu wollen, kann sich keine Freunde leisten, wenn er mit allen verfügbaren Mitteln die "Verbündeten" den Interessen der Weltmacht und ihren globalen Strategien unterordnen möchte. Jede Eigenständigkeit "Verbündeter" stellt eine potentielle Gefahr dar und muss, wenn aus ihr eine Gefährdung US-amerikanischer Interessen entsteht, frühzeitig erkannt und unterbunden werden. Dies nicht zu erkennen, ist dem Unterordnungsbewusstsein des "Partners" geschuldet, dass jener entweder dem Übergeordneten nur vorspielt oder ihm gegenüber in naiver Weise tatsächlich praktiziert.
Teltschick ist in einem Punkt voll zuzustimmen. Das aus Misstrauen gegenüber "Verbündeten" in eine krankhafte "Kontrollitis" ausartende Verhalten schädigt die USA selbst. Zusammen mit dem in der amerikanischen Gesellschaft virulenten Rassismus, der in der übrigen Welt immer deutlicher wahrgenommen wird, untergraben die USA die von ihnen beanspruchte Führungsposition. Vor einer solchen Entwicklung können sich die USA jedoch nur selber schützen.
Reinhard Hildebrandt
"Gute und schlechte Machtexpansion" - Eine kritische Analyse des Artikels von Vittorio Hösle, " Macht und Expansion -
Warum das heutige Russland gefährlicher ist als die Sowjetunion der 70er Jahre
(in Blätter für deutsche und internationale Politik, 6`15, S.101-110)
1. Demokratien machen Fehler, Putins Autokratie gefährdet die Menschheit
Vittorio Hösle unterlegt seinem Artikel ein einfaches Schema, in dem der einen Seite zwar (un)verzeihliche Fehler vorgehalten werden, der anderen Seite aber aggressives Verhalten mit hohem Gefahrenpotential für die Erhaltung des Weltfriedens. Die (un)verzeihlichen Fehler rechnet er "dem Westen" an, das gefährliche Ausmaß an Aggressivität Putins Russland. Selbst die Sowjetunion der 70iger und 80iger Jahre sei weniger aggressiv gewesen. Dabei vergisst er, dass in der Entspannungsperiode zu Beginn der siebziger Jahre die damalige deutsche Bundesregierung auf die Sowjetunion zugegangen ist, um im Gespräch mit der sowjetischen Führung einen Wandel der Beziehungen herbeizuführen.
1.1 (Un)verzeihliche Fehler des demokratischen "Westens"
Hösle konstatiert: "Der Westen hat im neuen Jahrhundert viele Fehler gemacht. Ich nenne nur: Die Kündigung des ABM-Vertrags 2001 durch die USA war unklug, die Verletzung des Völkerrechts im Irakkrieg 2003 skandalös, der Sturz Gaddafis 2011 ohne Klärung seiner Nachfolge unverantwortlich, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo schuf einen gefährlichen Präzedenzfall, und man hätte in Kiew auf die legale Abwahl Janukowitschs im Herbst 2014 warten sollen. All dies sollte man zugeben. Angesichts der horrenden Folgen eines Krieges mit Russland ist es ferner völlig vernünftig, dass man wegen der Ukraine nicht einen solchen Krieg riskieren will und kann." (ebd. S.110).
1.2 Aggressivität russischer Oligarchen
Er unterscheidet zwischen „guten“ Oligarchen, die sich Putin nicht beugen, und den „bösen“, die Putin zu Diensten seien. Putin „benutze“ die Oligarchen, so wie er sie brauche. Für die Aggressivität des heutigen Russlands führt Hösle fünf Gründe an (ebd.S.105):
1. der aggressive Nationalismus (Ersatz für die marxistisch-leninistische Ideologie),
2. Russlands imperiale Ambitionen zur Wiederherstellung des sowjetischen Imperiums,
3. Putins Kunst der Verstellung und der offenen Lüge zur Einschläferung "des Westens",
4. Putins Kampf um Anerkennung durch "den Westen",
5. Putins fehlendes Interesse an der Erhaltung des Friedens.
Der fehlgeschlagene Übergang Russlands in einen effizienten und fairen Kapitalismus zwinge Putin dazu, den Kampf auf der Ebene zu suchen, auf der er sich "überlegen fühlen kann, der physischen". Er handele hier "nicht viel anders als arbeitslose trunkene Teenager, die diejenigen zusammenschlagen, deren Blick ihnen zu suggerieren scheint, sie hielten sich für überlegen." (ebd.S.108).
Den russischen Oligarchen droht Hösle für ihr aggressives Verhalten Strafe an: "Aber der Aggressor muss dafür einen Preis zahlen, und zwar einen wirtschaftlichen wie einen diplomatischen; denn moralische Argumente fruchten nicht mehr. Nachgeben würde nur zu noch mehr Forderungen führen. Empfindliche wirtschaftliche Sanktionen sollten folgen, wenn das Abkommen von Minsk verletzt wird - allerdings so, dass weitere wirtschaftliche Druckmittel übrig bleiben. Denn dieses Mittel muss möglichst lange zur Verfügung stehen - in der Hoffnung, dass die Oligarchen aus Angst vor weiteren Verlusten protestieren, statt auf die 'patriotische Linie' einzuschwenken. Auch am Konflikt nicht beteiligten Staaten, zumal China, muss die Gefährlichkeit der russischen Politik klargemacht werden." (ebd.S.110).
2. Hösles Abwehrstrategien des "Guten" gegen das "Böse"
Hösle empfiehlt: "Alle Versuche, die USA und die EU zu entfremden, müssen abgewehrt werden", zumal die USA dahin tendierten, "sich stärker dem pazifischen Raum zuzuwenden, in dem ganz andere Wachstumsmöglichkeiten existieren" (ebd.S.110). Er schlussfolgert: "Der politische Einigungsprozess in der EU muss vertieft werden - dass der Kreml sich durch ihn bedroht fühlt, belegt ja seine Unterstützung der antieuropäischen extremen Rechten." (ebd.). Insbesondere aber müsse "die wahre Natur des Putinschen Regimes deutlich gemacht werden", denn "die Ablenkung der westlichen öffentlichen Meinung durch geringere Probleme, wie die Abhöraffäre, aber selbst ernsthafte wie den islamischen Terror, hat es erst ermöglicht, dass Russland durch einen Coup überraschen konnte, der in Wahrheit vorhersehbar hätte sein müssen." (ebd.). Zudem lasse Putin die zunehmende Schwäche Russlands gegenüber dem mächtiger werdenden China nicht mehr viel Zeit, als "Sammler russischer Erde" in die Geschichtsbücher einzugehen (ebd.S.109). Putin verfolge eine langfristige Strategie, die Ukraine zu destabilisieren. Dass die USA und die EU seit langem versuchen, die Ukraine in das westliche Lager einzubinden, ist Hösle jedoch keine Erwähnung wert.
Hösle zielt letztlich darauf ab, dass anders als im vergangenen Ost-West-Konflikt der Unterschied zwischen "Gut" und "Böse" nicht mehr an der unüberbrückbaren Kluft zwischen freiheitlichem Denken und Handeln des "Westens" auf der einen Seite und dem als aggressiv definierten Marxismus-Leninismus sowjetischer Führer auf der anderen Seite zu erkennen sei, sondern jetzt an Putins aggressivem Nationalismus, der für die "freie Welt" sehr gefährlich werden könne. In der Erklärung seines Konzeptes greift Hösle zur Verharmlosung, Fehlinterpretation und Falschinformation. Die begangenen Fehler, schlägt er vor, sollte "der Westen" zugeben. Unterschwellig legt er nahe, dass es danach umso gerechtfertigter ist, dem „Bösen“ den Kampf anzusagen. Im Einzelnen ist folgendes zur Benennung der Fehler zu sagen:
3. Hösle verharmlost die Kündigung des ABM-Vertrags 2001 durch die USA. Sie sei "unklug" gewesen. Zu erklären wäre jedoch, dass die globale Sicherheitsarchitektur der USA die Kündigung des Vertrages notwendig machte.
Die USA hatten 2001 den ABM-Vertrag von 1972 formell gekündigt, um das Raketenabwehrsystem NMD installieren zu können (www.spiegel.de › Politik › Ausland 13.12.2001). Laut Spiegel-Kommentator "Pst" aus dem Jahre 2001 war die Kündigung des ABM-Vertrags "ein weiteres Indiz für eine grundlegende Neuorientierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik. Sie kann nicht erst mit dem 11. September datiert werden, sondern geht zurück auf Weichenstellungen, die bereits George Bush der Ältere 1990/91 vorzunehmen versucht hatte, indem er vor dem Hintergrund des Kollapses der Sowjetunion und des Warschauer Pakts auf eine US-hegemoniale neue Weltordnung setzte. Zu diesem Zweck wurde die NATO auf neue Ziele verpflichtet wie etwa auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, den Kampf gegen die Proliferation von Nukleartechnologie, die Sicherung von Rohstoffquellen und des freien Welthandels sowie auf die Verwirklichung von Menschenrechten weltweit. So jedenfalls wurde es bereits in der Römischen Erklärung der NATO von 1991 formuliert. Die USA waren es auch, die sich über zahlreiche internationale Abmachungen hinweg setzten, etwa gegen die weltweite Ächtung von Antipersonen-Minen oder gegen die in Rom 1998 beschlossene Einrichtung eines Internationalen Straf-gerichtshofes (ICC) ...". Der Spiegel sagte voraus: "Die Welt wird sich auf eine Entwicklung einstellen müssen, die geprägt sein wird von der Durchsetzung nationaler Interessen der einzigen Weltmacht USA - notfalls mit brachialer militärischer Gewalt. Seit dem Jahr 2000 stehen die Zeichen weltweit wieder auf mehr Rüstung und auf mehr regionale Kriege und Bürgerkriege. Der avisierte langjährige 'Krieg gegen den Terror' wird eher noch mehr solcher Konflikte hervorbringen als zu einer Eindämmung des Terrorismus beitragen. All das muss im Auge behalten werden, wenn man über die Folgen der Aufkündigung des ABM-Vertrags nachdenkt. Die USA haben - schon vor dem 11. September - zahlreiche ähnliche einseitige Schritte unternommen, die in ihrer Gesamtheit der globalen Sicherheitsarchitektur schweren Schaden zufügen." Hösle verharmlost diese gravierenden Veränderungen als Folge der globalen Sicherheitsarchitektur der USA und bezeichnet die Kündigung des ABM-Vertrags lediglich als "unklug".
4. Für Hösle ist die Verletzung des Völkerrechts im Irakkrieg 2003 "skandalös"!
Laut Duden wird skandalös mit ärgerlich, anstößig, unerhört übersetzt. Insbesondere die Bedeutung des Wortes ärgerlich trifft auf die völkerrechtswidrige Invasion in den Irak durch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten nicht zu. Die Invasion war weit mehr als nur ein Ärgernis. Sie beruhte offiziell auf der ungeprüften und willkommenen Falschinformation eines irakischen Chemikers, der den USA den Vorwand für die längst beschlossene Invasion lieferte.
Der Einmarsch war auch nicht anstößig bzw. unerhört, was üblicherweise mit unanständig, gemein, empörend usw. übersetzt wird und zur Beschreibung von unmoralischen Verhaltensweisen herangezogen wird. In der internationalen Politik geht es laut Egon Bahr niemals um moralische Werte, sondern um die Durchsetzung von Interessen. Im Interesse der USA an der Vertreibung des Diktators Saddam Hussain lag der Zugriff auf die Erdölressourcen des Irak. Die Frankfurter Allgemeine schrieb am 16. 9. 2002 unter dem Titel „Vereinigte Staaten: Kampf um Öl statt Krieg gegen Terror“: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass Washington seine Abhängigkeit von Saudi-Arabien verringern möchte. Der Anteil an saudischem Öl bei den amerikanischen Importen wurde in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgeschraubt. Stattdessen setzte Amerika auf alternative Lieferanten. Auf Dauer sind die Saudis aber nicht zu umgehen: Das Land am Golf ist nicht nur der wichtigste Erdölproduzent der Welt, es verfügt auch über die größten Vorkommen. Doch das Regime in Saudi-Arabien ist instabil, Experten befürchten über kurz oder lang seinen Zusammenbruch. Im schlimmsten Fall könnten dann Islamisten die Macht ergreifen und die würden das verhasste Amerika sicher nicht mehr so bereitwillig mit Erdöl beliefern. ...". Unter dem Begriff "Irak als Zukunftsinvestition" erklärte die Zeitung: "Beim diskutierten Angriff auf den Irak geht es nicht nur um den Sturz eines Unrechtsregimes, sondern auch um die Zukunft der amerikanischen Energieversorgung, munkeln Amerika-kritische Stimmen. Der Irak exportiert derzeit auf Grund internationaler Sanktionen seit dem Golfkrieg weniger als zwei Millionen Barrel pro Tag. Bagdad würde gerne sechs Millionen fördern. Nach einem Machtwechsel könnte der Irak wieder ungebremst Öl produzieren, das, so wird gemutmaßt, seinem „Befreier“ Amerika zu Gute käme. Eine Investition in die Zukunft, schließlich verfügt das Land über die zweitgrößten Reserven der Welt. Dem halten Experten entgegen, dass der Irak bereits jetzt an seiner Kapazitätsgrenze fördere. Seine Anlagen seien veraltet und es bedürfe hoher Investitionen, um sie wieder in Schuss zu bringen. Doch davor müsste Saddam Hussein erst einmal gestürzt und durch ein stabiles pro-amerikanisches Regime ersetzt werden.“ (FAZ, 16.9.02). Spiegel Online deckte "die Verquickung von wirtschaftlichen Zielen und militärischem Vorgehen durch Dick Cheney, früherer Chef des Petrologistik-Konzerns Halliburton und heutiger Vize-Präsident der USA und George W. Bush" auf, die in den USA offen diskutiert wurde. Jimmy Carter, US-Präsident von 1976 bis 1980 und Träger des Friedensnobelpreises 2002, rechnete am 5.9.2002 in der "Washington Post" in ungewöhnlich scharfer Form mit der Bush-Politik ab und verglich die Politik seines Nachfolgers mit "Unrechtsregimen". "Wir haben unsere Missachtung der restlichen Welt auch gezeigt, indem wir aus mühsam vereinbarten internationalen Abkommen ausgestiegen sind. Verträge über Rüstungskontrolle, Konventionen über biologische Waffen, Umweltabkommen und Vereinbarungen, mit denen die Folterung und Bestrafung von Kriegsgefangenen verhindert werden soll - all das haben wir nicht nur abgelehnt, sondern auch all jene bedroht, die an diesen Abkommen festhalten. Diese ganze einseitige Politik isoliert die Vereinigten Staaten immer mehr von den Nationen, die wir brauchen, um den Terrorismus zu bekämpfen."
Mit dem Irak-Krieg haben die USA die gesamte arabische Region bis zum heutigen Tag in Brand gesetzt. Es besteht keinerlei Hoffnung auf Frieden. Das von Hösle benutzte Wort "skandalös" wird diesem Vorgang keinesfalls gerecht.
5. Der für Hösle "unverantwortliche" Sturz Gaddafis, ohne seine Nachfolge vorher zu klären
Um Missverständnisse zu vermeiden eines vorab: Gaddafi war ein Diktator und in zunehmendem Maße in seinen Handlungen unberechenbar. Die von ihm und seinen Schergen Unterdrückten hatten allen Anlass, gegen ihn aufzubegehren. Jedoch nur sie waren berechtigt, einen Regimewechsel herbeizuführen und nur ihnen kam die Klärung der Nachfolge zu, nicht den Interventionsmächten USA, Großbritannien und Frankreich, die ihre eigenen Interessen verfolgten. Wenn es keine Vorabklärung unter den Rebellen gab, war dies vor allem eine Folge der traditionellen Gegensätze zwischen der Bevölkerung im Westen und im Osten des Landes.
Einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken, ging in einem Vortrag am 8. Juni 2011 in Düsseldorf näher auf diese Gegensätze ein. Während es am „Tag des Zorns“ (17.2. 2011), in mehreren Städten Ost-Libyens zu Demonstrationen kam und die größte davon in al-Beidha, mit 1500 Teilnehmern stattfand, demonstrierten Tausende Gaddafi-Anhänger in mehreren Städten des Westens für Gaddafi. Henken verweist in seinem Vortrag auf die Neue Züricher Zeitung (NZZ): „Der Nordosten des Landes [...]steht traditionell dem Regime eher kritisch gegenüber. Al-Beidha hat den Ruf, noch den 1969 abgesetzten König Idriss as-Senussi zu verehren, und in Benghasi und an den Hügeln des Jebel Akhbar hielt sich lange eine islamistische Opposition. Der relative Aufruhr im Osten kann deshalb nicht einfach als Anzeichen für eine Oppositionswelle im ganzen Land gedeutet werden.“ (NZZ 18.2.11). Aus dem selben Artikel der NZZ gibt Henken die Einschätzung des langjährigen Nahost-Korrespondenten der Zeitung, Victor Kocher, wieder. Kocher schreibt: „Hier zeichnet sich das historische Selbstbewusstsein der Cyrenaika wieder ab, jenes Ostteils des Landes, der ursprünglich das wahre Macht- und Wirtschaftszentrum darstellte. Von dort stammte der Nationalheld und Unabhängigkeitskämpfer Omar al-Mukhtar, der im Kampf gegen die italienischen Kolonisten gefallen ist. Und dort sind die Wurzeln der Senussi-Dynastie, aus welcher der letzte König Idriss stammte, den Gaddafi 1969 stürzte. In den Augen der Libyer aus der Cyrenaika ist das Ghadhafi-Regime eine illegitime und zur effizienten Regierung unfähige Konstruktion aus verspäteten Versatzstücken des Nasserismus.“ Einen Monat nach Beginn der Rebellion in der Cyrenaika standen Gaddafis Truppen vor den Toren Bengasis. Gaddafi versprach allen Aufständischen, die ihre Waffen niederlegten, eine Amnestie und bot den Rebellen sogar einen Fluchtweg und offene Grenzübergänge in Richtung Ägypten an. (Henken zitiert hier A.J Kuperman, „False pretense for war in Libya? The Boston Globe, 14.4.2011).
Am 19. März begannen die USA, Großbritannien und Frankreich den Beschuss libyscher Truppen von ihren vor der Küste Libyens zusammen gezogenen Kriegsschiffen aus. Der UN-Sicherheitsrat hatte zuvor aus der Befürchtung, ein Völkermord stünde bevor ("Responsibility to Protect"), die UN-Resolution 1973 beschlossen. "Die Option, Krieg gegen Gaddafi zu führen, wurde" laut Lühr Henken "in Washington, London und Paris bereits vor dem 17.3., dem Tag der UN-Resolution, konkret in Angriff genommen. Obama hatte bereits in der Woche vor dem 17. März 'eine Genehmigung zur Unterstützung der Rebellen' durch den CIA unterzeichnet."(focus.de, 31.3.11). Diese Autorisierung umfasste 'auch die Lieferung von Waffen an die libyschen Rebellen' (FAZ 1.4.11). Das konservative Wall Street Journal berichtete am 17. März: "Laut offiziellen Vertretern der USA und der libyschen Rebellen hat das ägyptische Militär damit begonnen, mit Wissen Washingtons Waffen für die Rebellen über die Grenze nach Libyen zu senden. Die Lieferung umfasst meist Kleinfeuerwaffen wie Sturmgewehre und Munition." (hintergrund.de, Libysche Notizen von Peter Dale Scott, 31.3.11). Im UN-Sicherheitsrat hatten sich Brasilien, Indien, China und Russland neutral verhalten. Sie und Südafrika, das ursprünglich zugestimmt hatte, warfen der NATO und den Interventionsmächten nunmehr vor, die zum Schutz von Zivilisten ausgesprochene Interventionsbefugnis in der Praxis für einen Regimewandel genutzt zu haben, die so nicht vom Mandat gedeckt gewesen sei. Die Resolution des Sicherheitsrats bot in der Tat keine völkerrechtliche Handhabe, einen unmittelbaren Sturz des Regimes durch außerlibysche Interventionsmächte zu rechtfertigen. Das Gaddafi-Regime bekämpfte eine bewaffnete Rebellion im Osten des Landes und nicht das unbewaffnete libysche Volk in allen Teilen des Landes.(1) Der Streit über die Frage, ob das Mandat einen Regimewechsel deckte, führte schließlich dazu, dass die Durchführbarkeit von Responsibility to Protect-Interventionen gänzlich in Frage gestellt wurde.
Hösle kritisiert nicht die Absicht der USA, Großbritanniens und Frankreichs, in Libyen einen Regimewechsel herbeizuführen, sondern bezeichnet es als unverantwortlich, dass die Interventionsmächte keinerlei Vorkehrungen für die Nach-Gaddafi-Zeit getroffen hätten. Aber der Sturz Gaddafis konnte nicht die Spannungen zwischen dem Ost- und Westteil des Landes beenden, sondern hatte zur Folge, dass nunmehr in ganz Libyen sektiererische Gewalt herrschte und Schleuser zunehmend die chaotische Situation Libyens ausnutzten, um von Flüchtlingen Geld für die Schiffspassage nach Europa zu erpressen. Die mit dem Regimewechsel verbundene Hoffnung der Interventionsmächte, künftig den alleinigen Zugriff auf die reichen libyschen Erdöl- und Erdgasquellen und weitere wertvolle Rohstoffe Libyens zu erhalten, ist in der Tat erst recht nicht in Erfüllung gegangen.
6. Hösle konstatiert: "Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo schuf einen gefährlichen Präzedenzfall."
Die Ursachen für den Zerfall Jugoslawiens reichen weit in die Geschichte zurück. Bereits der Zusammenschluss zu Jugoslawien am Ende des Ersten Weltkriegs zwang Völker und Gebiete zusammen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Herauslösung des Kosovo aus Serbi- en gingen Konflikte zwischen der serbischen und albanischen Bevölkerung voraus. Die mehrheitlich moslemischen Kosovo-Albaner strebten nach Unabhängigkeit von Serbien. Aber warum drängten insbesondere die USA auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien und unternehmen alle erdenklichen Anstrengungen zur Verselbständigung des Kosovo? Die USA unterhielten im Kosovo die Militärbasis „Camp Bondsteel“, die sie auf einem Gelände von 386 Hektar mit Platz für 5000 Soldaten und 52 Hubschrauberlandeplätze ohne die Einwilligung Serbiens zwei Monate nach dem Einmarsch US-amerikanischer Truppen in Serbien ab August 1999 errichtet hatten und bei einem weiteren Verbleib des Kosovo bei Serbien für unsicher hielten. Mit der Unterstützung der USA und den wichtigsten europäischen Staaten erklärte das Parlament in Priština am 17. Februar 2008 den Kosovo für unabhängig, nachdem zuvor die mehrheitlich albanische Bevölkerung in einem Referendum dafür gestimmt hatte.
Am 22. 7. 2010 entschied der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, dass die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien nicht gegen das Völkerrecht verstößt. Zwar war die Entscheidung für keine Seite bindend, aber für die internationale Anerkennung des Kosovo als souveräner Staat von großer Bedeutung. "Die Entscheidung darüber, ob die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht steht, galt als heikel", erklärte die Völkerrechtsexpertin Bibi van Ginkel. Die Richter hätten abwägen müssen, "wie das Recht der Staaten auf territoriale Integrität und das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung zu-einander stünden." (Süddeutsche.de, Politik, Unabhängigkeit des Kosovo ist rechtens, 22.7. 2010). Für ihre Entscheidung war ausschlaggebend, dass nach Auffassung der Richter die Verfolgungen der Albaner durch die Serben eine Autonomie des Kosovo innerhalb Serbiens unmöglich gemacht hätten. Die Gegner der Gerichtsentscheidung hielten eine Zustimmung beider Konfliktparteien und der UN für zwingend notwendig. Der serbische Präsident Boris Tadic warnte nach der Entscheidung vor den Folgen des Urteils: "Sollte durch die Haltung des Gerichts ein neues Prinzip gelten, würde in der Welt ein ganzer Prozess losgetreten, neue Staaten zu schaffen. Dies würde viele Regionen in der Welt destabilisieren." (Handelsblatt, Unabhängigkeit des Kosovo ist rechtens, 22.7.2010).
Dies ist in den folgenden Jahren auch in Abchasien, Südossetien und auf der Krim Realität geworden und droht erneut in der Ostukraine. Russland hatte sich damals vehement gegen das Haager Gerichtsurteil ausgesprochen, musste aber erkennen, dass die USA und die EU dem Urteil uneingeschränkt zustimmten. Als später die russische Führung diesen Präzedenzfall zu ihren Gunsten nutzte, rief sie nicht nur vehementen US-amerikan-ischen und europäischen Protest hervor, sondern wurde darüber hinaus mit Sanktionen belegt.
7. Hösle meint, "man hätte in Kiew auf die legale Abwahl Janukowitschs im Herbst 2014 warten sollen". Er erwähnt jedoch nicht die gravierenden Begleitumstände seines Sturzes.
Nach einer gefährlichen Zuspitzung der Lage in den ersten Tagen des Februars 2014 zwischen der Bereitschaftspolizei und Oppositionskräften auf dem Maidan reisten am 20./21. 2. 2014 die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands nach Kiew und vereinbarten mit Janukowitsch sowie den drei Oppositionsparteien einen Vertrag über vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen sowie die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" innerhalb von zehn Tagen (Nina Jeglinski, Lage in Kiew außer Kontrolle, Tagesspiegel, 21.2.2014). Die noch in Haft befindliche Julia Timoschenko forderte die Opposition auf, nicht mehr mit Janukowitsch zu reden. Er verantworte den Einsatz von Scharfschützen gegen die Demonstranten auf dem Maidan am 20. 2. 2014. Wer jedoch die Scharfschützen befehligte, blieb zunächst unklar. Es konnten sowohl unter Janukowitschs Befehl stehende Scharfschützen gewesen sein wie auch angeworbene Söldner, die entweder auf eigene Rechnung oder im Auftrag der Opposition handelten. Zu erkunden, aus welcher Richtung die Schüsse abgefeuert wurden, gab mehr Aufschluss.
Wurden die Getöteten vom Eingang des Regierungsclubs, also von vorn erschossen, waren es Scharfschützen der Sondereinheit Berkut unter dem Oberbefehl Janukowitschs, der jedoch mehrmals betonte, niemals einen Schießbefehl erteilt zu haben. Wurden die Opfer jedoch im Rücken getroffen, waren die Täter angeworbene Söldner, die aus dem Musik-Konservatorium im Zentrum des Maidan schossen, das von Demonstranten besetzt war. Berkut-Polizisten, die versuchten, Demonstranten an der Erstürmung des Regierungsclubs zu hindern, wurden - wie sich später herausstellte - tatsächlich von vorn getroffen und die von ihnen zurückgedrängten Demonstranten von hinten. Videomitschnitte vom Platz zwischen dem Musik-Konservato-rium und dem Regierungsclub und ein abgehörtes Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet "nähren schon frühzeitig den Verdacht, dass mehrere Berkut-Polizisten und Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, also nicht auf Befehl von Janukowitsch" (Andreas Heinemann-Grüder, Ukraine: Revolution und Revanche, Blätter für deutsche und internationale Politik, 2014: 40). "Der neue Innenminister, Arsen Awakow, räumt[e] vieldeutig ein, dass eine 'dritte Macht' (jenseits der staatlichen Berkut-Kräfte und der Demonstranten) eine 'Schlüsselrolle' auf dem Maidan gespielt habe. Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ermittelte gegen die Scharfschützen, gab aber nur bekannt, dass es sich um ukrainische Staatsbürger handele." (ebd.).
Im Internet fand inzwischen eine ausgedehnte Kontroverse über den Schusswechsel auf dem Maidan statt. "Die detaillierte Analyse der Bilder vom Verlauf der Handlungen durch den kanadisch-ukrainischen Politikwissen-schaftlicher Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa hat ergeben, dass auch die Oppositionskräfte Scharfschützen einsetzten und dabei nicht nur Polizisten, sondern auch die eigenen Leute unter Feuer nahmen. Nach seinen Aussagen führt die Spur zum Rechten Sektor." (http://www.heise.de/tp/artikel/ 43/43590/1.html). Recherchen der BBC ergaben, dass unter den Maidan-Demonstranten bereits am 19. 2. 2014 Scharfschützen angeworben wurden. Einer von ihnen schilderte sein Eintreffen im Musik-Konservatorium am Morgen des 20. 2. 2014. Ab 7 Uhr habe er wie ein anderer Schütze neben ihm auf Polizisten und auf das Dach eines gegenüberliegenden Einkaufszentrums geschossen. "Ich schoss auf ihre Beine und tiefer", beteuerte der Schütze Sergei. "Ich schoss nicht, um zu töten." (Neue Hinweise: Schossen auch prowestliche Demonstranten in die Maidan-Menge? http://www.focus.de/politik//ausland/ukraine-krise/maidan.-blutbad-in ..., 16.2.2015). Nach einer Weile seien Männer gekommen und einer habe seinen Fuß auf ihn gestellt und gesagt: "Alles ist in Ordnung, aber hör mit dem auf, was du machst." (ebd.). Diese Vorgänge bestätigend berichtete der Journalist und Bürgerrechtler Andriy Shevchenko von einem Anruf des Berkut-Einsatzleiters: "Andriy, jemand schießt auf meine Jungs", hätte er gesagt. Nach seiner Aussage kamen die Schüsse vom Musik-Konservatorium (ebd.). Die Tatsache, dass sich auch unter die Oppositionskräfte Scharfschützen gemischt hatten, beleuchtete die Vorgänge auf dem Maidan in völlig anderer Weise und zeigte, wie fatal sich die unwahre Behauptung – nur Berkut-Polizisten hätten auf Befehl Janukowitschs geschossen – auf die weitere Entwicklung des Konflikts auswirkte.
Kaum hatten die drei Außenminister Kiew wieder verlassen, übernahmen Regierungsgegner in der Nacht vom 20. zum 21. 2. 2014 unter Anwendung militärischer Gewalt die Macht. Der Befehlshaber der bis zu 60 000 Kämpfer umfassenden Nationalgarde Samoobrona, Juri Parubi, torpedierte zusammen mit dem Chef des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, den Vertrag der drei Außenminister mit Janukowitsch und erzwang den sofortigen Machtwechsel (Ulrich Krökel, "Bis zum Sieg", Frankfurter Rundschau, 15./16.3.2014). Janukowitsch sprach von einem Staatsstreich, flüchtete unmittelbar vor seiner bevorstehenden Gefangennahme und der von ihm befürchteten Ermordung aus seiner Residenz ins ostukrainische Donezk und verließ mit Hilfe russischer Einheiten das Land in Richtung Russland (F.A.S.-E-Paper, Sikorski: Putin verlangte Einsatz von Gewalt, 24.1.2015, dpa, T Online, 9.3.2015).
Ihm wurde später von Adam Daniel Rotfeld, ehemaliger Außenminister Polens, vorgeworfen, dass er sich nicht den anrückenden Putschisten entgegen gestellt hätte. Als aufrechter Präsident hätte er weder die Gefan-gennahme noch den Tod fürchten dürfen. Aus der Flucht Janukowitschs leitete Rotfeld absichtlich irreführend ab, dass den Putschisten die Macht in die Hände gefallen sei. Man könne deshalb gar nicht von einen Putsch sprechen (Adam Daniel Rotfeld, Podiumsmitglied auf der Tiergarten Konferenz der Friedrich Ebert Stiftung, Berlin, 11. 9. 2014).
8. Hösle schlägt vor, alle obigen 8 Punkte "sollte man zugeben." Jedoch "angesichts der horrenden Folgen eines Krieges mit Russland ist es ferner völlig vernünftig, dass man wegen der Ukraine nicht einen solchen Krieg riskieren will und kann."
Kehrt man zurück zu Hösles einfachem Schema des Unterschieds zwischen "Gut" und "Böse", der nicht mehr an der unüberbrückbaren Kluft zwischen freiheitlichem Denken und Handeln des "Westens" auf der einen Seite und dem als aggressiv definierten Marxismus-Leninis-mus sowjetischer Führer auf der anderen Seite zu erkennen sei, sondern jetzt an Putins aggressivem Nationalismus, der für die "freie Welt" sehr gefährlich werden könne, wird erkennbar, was Hösle mit seinem Artikel bezweckt. Er propagiert alle Maßnahmen unterhalb eines heißen Krieges und rechtfertigt die von den USA ausgehende und von der EU mitgetragene Sanktionsspirale gegen Russland. Habe man sich "im "Westen" zu seinen eigenen Fehlern bekannt, wasche man sich rein und könne umso härter gegen Putin zuschlagen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass er die Neuauflage eines Ost-West-Konflikts willkommen heißt, in dem sich die altbekannten Mechanismen der wechselseitigen Schuldzuweisungen, der Hochrüstung, der gegenseitigen Bedrohung und der Handelseinschränkungen wiederholen. Dass von einer solchen negativen Entwicklung die USA profitieren und insbesondere Deutschland Einbußen erleidet, kalkuliert Hösle offenbar ein.(2)
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1 Die Resolution „verlangt eine sofortige Waffenruhe, und ein vollständiges Ende der Gewalt und aller Angriffe und Missbrauchshandlungen gegen Zivilpersonen“; sie ermächtigt „die Mitgliedsstaaten, [...], alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen , [...] um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete in Libyen, einschließlich Bengasis, zu schützen, unter Ausschluss ausländischer Besatzungstruppen jeder Art in irgendeinem Teil libyschen Hoheitsgebiets.“ Sie „beschließt, ein Verbot aller Flüge im Luftraum Libyens zu verhängen, um zum Schutz der Zivilpersonen beizutragen.“ (Lühr Henken). Sie bekräftigte das Waffenembargo, erließ Reiseverbote und fror Vermögenswerte von libyschen Banken im Ausland und der großen Nationalen Ölgesellschaft NOC ein.
2 Rätselhaft ist, was die Redaktion der "Blätter für deutsche und internationale Politik" bewegt hat, den Artikel von Vittorio Hösle in ihr Journal aufzunehmen, widerspricht er doch der Ausrichtung des Journals ganz erheblich. Eine Punkt für Punkt Auseinandersetzung mit einem im Journal erschienenen Artikel lehnt die Redaktion bedauerlicherweise ab.
Reinhard Hildebrandt
Keine Völkerrechtsverstöße im Ukraine-Konflikt
Je länger sich der Ukraine-Konflikt hinzieht und die Spirale von Aktion und Reaktion weiter vorangetrieben wird, desto schwieriger gelingt es, einen klaren Blick auf die Anfänge des Konfliktes zu bewahren. Dies ist jedoch unerlässlich, wenn es darum geht, einen wirklichen Ausweg aus der Neuauflage des Kalten Krieges zu suchen.
1. Schüsse auf dem Maidan
Nachdem im November 2013 der ukrainische Präsident Janukowitsch wegen ungeklärter finanzieller Implikationen den Assoziierungsvertrag mit der EU abgelehnt hatte, protestierten demokratisch gesinnte Ukrainer voller Euphorie auf dem Maidan in Kiew mit dem Ziel, einen gesellschaftlichen Neuanfang ohne Korruption in Gang zu setzen. Ab Januar 2014 zeichnete sich jedoch eine in der Ukraine seit der gescheiterten "orangen Revolution" wohlbekannte Verschiebung der Kräfteverhältnisse ab. Zivilgesellschaftlich engagierte Menschen (Künstler, Studenten, Priester oder Menschenrechtsaktivisten) wurden vom Maidan verdrängt und an ihre Stelle trat das zunächst verdeckt agierende Klientel der Oligarchen („Der Maidan wirkt nach“ – Text auf: https:// www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/ frontnews/2014/07/14). Sie warben für einen Generalstreik (Vitali Klitschko), verlangten Neuwahlen (Arsenji Jazenjuk, ein enger Vertrauter von Julia Timoschenko) und plädierten für eine Annäherung der Ukraine an "den Westen". Juri Lutsenko, der einst führende Organisator der "orangen Revolution", warf dem Präsidenten Janukowitsch vor, "nur die Sprache der Gewalt" zu kennen. Die Freiheit der Ukraine stehe auf dem Spiel (Tagesspiegel, Die Sprache der Gewalt, 21.1.2014).
Das Klientel der Oligarchen zeigte wenig Scheu, zusammen mit rechtsradikalen und nationalistischen Kräften ("Rechter Sektor", "Patrioten der Ukraine", "Ukrainische Nationalversammlung - Verteidiger der nationalen Unabhängigkeit", "Dreizack", "Sozial-Nationale Partei der Ukraine" später "Swoboda-Partei") gegen die amtierende Regierung unter Ministerpräsident Nikolai Asarow und Präsident Janukowitsch zu agieren. Auf dem Maidan und in den angrenzenden Straßen sahen sich die demokratisch gesinnten Kräfte zunehmend durch bewaffnete Schlägertrupps der Swobodapartei an den Rand gedrängt. Die von Janukowitsch erlassenen Antiterror-Gesetze verschärften die Situation. Pflastersteine und Molotow-Cock-tails flogen auf Polizisten und Polizeibusse. Sie wurden mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen beantwortet. In außer Kontrolle geratenen Straßenkämpfen waren erste Tote zu beklagen. Bürgerkrieg lag in der Luft.
Verhandlungen zwischen Abgesandten der "Protestler" auf dem Maidan und der Regierung blieben ergebnislos. Vitali Klitschko drohte der Regierung mit einer "Offensive". Arsenji Jazenjuk sagte, die Opposition sei bereit, die Regierung zu übernehmen, aber nur, um das Land in die Europäische Union zu führen. Der Staatsmacht glaube man kein einziges Wort. Der bis 1970 maßgeblich vom US-amerikanischen Geheimdienst finanzierte und weiterhin im Einflussbereich von Nachrichtendiensten vermutete Sender "Free Europe-Radio Liberty" berichtete direkt vom Platz und heizte die Stimmung weiter an. Abgesandte der USA und der EU reisten an und unterstützten auf dem Maidan den Aufruhr gegen den Präsidenten Janu-kowitsch; unter anderem der deutsche und der US-Außenminister (Eugen Ruge, Verständnis für Russland, bitte!, Die Zeit, 6.3. 2014).
Nach einer gefährlichen Zuspitzung der Lage in den ersten Tagen des Februars 2014 zwischen der Bereitschaftspolizei und Oppositionskräften auf dem Maidan reisten am 20./21. 2. 2014 die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands nach Kiew und vereinbarten mit Präsident Janukowitsch einen Vertrag über vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen sowie die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" innerhalb von zehn Tagen (Nina Jeglinski, Lage in Kiew außer Kontrolle, Tagesspiegel, 21.2.2014). Zugleich einigte sich die EU auf Sanktionen gegen Gewaltverantwortliche (Einreiseverbote und Einfrieren von Konten). Die noch in Haft befindliche Julia Timoschenko forderte die Opposition auf, nicht mehr mit Janukowitsch zu reden. Er verantworte den Einsatz von Scharfschützen gegen die Demonstranten auf dem Maidan am 20. 2. 2014. Wer jedoch die Scharfschützen befehligte, blieb zunächst unklar. Es konnten sowohl unter Janukowitschs Befehl stehende Scharfschützen gewesen sein wie auch angeworbene Söldner, die entweder auf eigene Rechnung oder im Auftrag der Opposition handelten. Zu erkunden, aus welcher Richtung die Schüsse abgefeuert wurden, gab mehr Aufschluss.
Wurden die Getöteten vom Eingang des Regierungsclubs, also von vorn erschossen, konnten es Scharfschützen der Sondereinheit Berkut unter dem Oberbefehl Janukowitschs gewesen sein. Wurden die Opfer jedoch im Rücken getroffen, waren die Täter offenbar angeworbene Söldner, die aus dem Musik-Konservatorium schossen und hinter den Demonstranten postiert waren. Die Ärztin Olga Bogomolez, von der die Verletzen und Getöteten behandelt wurden, berichtete von Einschüssen mit unterschiedlichen Kalibern und unterschiedlichen Ausschusslöchern (Christian Esch, Leichen in der Hotellobby, Frankfurter Rundschau, 21.2.2014). Videomitschnitte vom Platz vor dem Konservatorium und ein abgehörtes Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet "nähren den Verdacht, dass mehrere Berkut-Polizisten und Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, also nicht auf Befehl von Janukowitsch" (Andreas Heinemann-Grüder, Ukraine: Revolution und Revange , Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6, 2014, S.40). Entweder wurden Berkut-Polizisten, die versuchten, Demonstranten am weiteren Vormarsch zu hindern, von vorn getroffen und die von ihnen zurückgedrängten Demonstranten von hinten, oder unter die Soldaten der Berkut-Sondereinheit hatten sich Scharfschützen gemischt. Nina Jeglinski gab die Aussage eines bekannten ukrainischen Politologen wieder: "Dass sich Männer der Selbstverteidigung oder gar des rechten Sektors unter die Soldaten von Janukowitsch gemischt haben sollen, ist abenteuerlich. Vieles deutet daraufhin, dass die Männer aus dem Ausland geschickt wurden." (Nina Jeglinski, Abgehörtes Unerhörtes, Tagesspiegel, 7.3.2014). "Der neue Innenminister, Arsen Awakow, räumt[e] vieldeutig ein, dass eine 'dritte Macht' (jenseits der staatlichen Berkut-Kräfte und der Demonstranten) eine 'Schlüsselrolle' auf dem Maidan gespielt habe. Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ermittelte gegen die Scharfschützen, gab aber nur bekannt, dass es sich um ukrainische Staatsbürger handele." (ebd.).1
Im Internet findet inzwischen eine ausgedehnte Kontroverse über den Schusswechsel auf dem Maidan statt. "Die detaillierte Analyse der Bilder vom Verlauf der Handlungen durch den kanadisch-ukrainischen Politikwissenschaftlicher Ivan Katchanovski von der Universität Ottowa hat ergeben, dass auch die Oppositionskräfte Scharfschützen einsetzten und dabei nicht nur Polizisten, sondern auch die eigenen Leute vom Konservatorium aus unter Feuer nahmen. Nach seinen Aussagen führt die Spur zum Rechten Sektor." (http://www.heise.de/tp/artikel/43/43590/1.html).
2. Der Putsch gegen den Präsidenten Janukowitsch -
Elitenwechsel oder Völkerrechtsverletzung
Kaum hatten die drei Außenminister Kiew wieder verlassen, übernahmen Regierungsgegner in der Nacht vom 20. zum 21. 2. 2014 unter Anwendung militärischer Gewalt die Macht. Der Befehlshaber der bis zu 60 000 Kämpfer umfassenden Nationalgarde Samoobrona, Juri Parubi, torpedierte zusammen mit dem Chef des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, den Vertrag der drei Außenminister mit Janukowitsch und erzwang den sofortigen Machtwechsel (Ulrich Krökel, "Bis zum Sieg", Frankfurter Rundschau, 15./16.3.2014). Janukowitsch sprach von einem Staatsstreich, flüchtete unmittelbar vor seiner bevorstehenden Gefangennahme aus seiner Residenz und verließ das Land in Richtung Russland.
Ihm wurde später von Adam Daniel Rotfeld, ehemaliger Außenminister Polens, vorgeworfen, dass er sich nicht den anrückenden Putschisten entgegen gestellt hätte. Als aufrechter Präsident hätte er weder die Gefangennahme noch den Tod fürchten dürfen. Aus der Flucht Janu-kowitschs leitete Rotfeld absichtlich irreführend ab, dass den Putschisten die Macht in die Hände gefallen sei. Man könne deshalb gar nicht von einen Putsch sprechen (Adam Daniel Rotfeld, Podiumsmitglied auf der Tiergarten Konferenz der Friedrich Ebert Stiftung, Berlin, 11. 9. 2014). Ähnlich argumentierte Jochen Bittner von der Wochenzeitung "Die Zeit", der die "These vom 'Putsch' gegen Viktor Janukowitsch" aus der New York Times in seinem Zeit-Artikel "Absurdes Kino" übernahm und nicht nur zitierte. Laut "eindrucksvoller Recherche" der New York Times hätte sich Folgendes ereignet: "Nach dem Massaker vom 20. Februar 2014 an rund hundert Demonstranten auf dem Maidan, so das Ergebnis, seien Polizisten und Elitesoldaten zu Hunderten von Janukowitsch abgefallen. Das Übergangsabkommen mit der EU sei daraufhin nichts mehr wert gewesen, weil der Präsident seine Macht bereits verloren habe." (Die Zeit, 8.Januar 2015). Bittner hätte sich in der Zwischenzeit über die Herkunft der Scharfschützen kundig machen können, aber daran hat er offenbar kein journalistisches Interesse. Gleiches gilt für die Recherche der New York Times. Wichtiger für ihn ist offensichtlich, wenn er schon den Putsch nicht leugnen kann, die Übereinkunft der drei Außenminister mit Janukowitsch als wertlos zu bezeichnen.
Stephan Meuser, Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, meinte, der Putsch sei nur ein Elitenwechsel gewesen ("Was wir in der Ukraine aktuell erleben, ist bisher sicherlich keine Revolution, sondern ein Elitenwechsel." Stephan Meuser, Ukraine: "Das ist keine Revolution", veröffentlicht am 24.02.2014 in "Internationale Politik und Gesellschaft").
Die Putschisten hingegen betrachteten ihre Aktion durchaus als revolutionären Akt. Sie seien berechtigt, neues Recht zu schaffen. Andreas Heinemann-Grüder äußerte sich zu den Folgen des Putsches: "Jede Revolution untergräbt die Legitimität staatlicher Herrschaft. Der Sturz Janukowitschs machte das staatliche Gewaltmonopol und die ukrainische Verfassung obsolet." (Andreas Heinemann-Grüder, Ukraine: Revolution und Revange ... a.a.O. S.38). Was von den Revolutionären in Anspruch genommen wurde, hatte jetzt aber auch Gültigkeit für alle Teile des Volkes der Ukraine. Wenn die russischsprachige und sich mit Russland eng verbunden fühlende Krim-Bevölkerung die neue Regierung in Kiew als Bedrohung empfand und beanspruchte, sich aus dem Staatsverband der Ukraine zu lösen, war dies ebenfalls mit einem revolutionären Akt gleichzusetzen.
Klaus Kreß und Christian J. Tams bezeichneten in ihrem Artikel "Dichtung und Wahrheit" Putins spätere Bekräftigung, dass die Russische Föderation bei der Abtrennung der Krim das Völkerrecht respektiert hätte, jedoch als "rechtsirrig" (IP - Internationale Politik, Mai/Juni 2014, Nr. 3, s.16). Zum Putsch gegen Janukowitsch stellten die beiden Autoren (Kreß als Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht an der Universität Köln und Tams Professor für Internationales Recht an der Universität Glasgow) zunächst fest: "Zum Zeitpunkt des angeblichen Ersuchens [um Hilfe, d.Verf.] war Janukowitsch nach Russland geflüchtet und in Kiew eine neue Regierung gebildet worden. Nach Ansicht der Russischen Föderation war dieser Regierungswechsel verfassungswidrig und deshalb völkerrechtlich unbeachtlich. Es spricht tatsächlich viel dafür, dass der Machtwechsel in der Ukraine die Bahn der ukrainischen Verfassung verließ. Doch wäre er deswegen völkerrechtlich nicht irrelevant. Die Regierung eines Staates im Sinn des Völkerrechts bildet, wer tatsächlich die Herrschaft ausübt" (ebd.S.17). In der Interpretation der beiden Autoren überführte also der Machtwechsel lediglich die Macht auf die neuen Machthaber. Er stellte keine Verletzung des Völkerrechts dar, sondern war lediglich ein Elitenwechsel. Laut Völkerrecht ist diejenige Regierung rechtmäßig, die tatsächlich die Herrschaft ausübt.
Mit dieser Aussage wischten die Autoren den Vertrag der Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs, den sie mit dem amtierenden Präsidenten Janukowitsch wenige Stunden vor dem Putsch vereinbart hatten und der baldige, in demokratischen Bahnen verlaufende Neuwahlen vorsah, vom Tisch und uminterpretierten den Staatsstreich einer nicht legitimierten militanten Gruppe zum friedlichen "Elitenwechsel". Er verließ für sie zwar "die Bahn der ukrainischen Verfassung", aber stellte deshalb keinen Bruch des Völkerrechts dar. Im Sinne des Völkerrechts, meinten sie, hat nur die Herrschaft im Staat von den alten zu den neuen Machthabern gewechselt. Ihrem Kommentar fügten sie an: "In der jüngsten Zeit hat die Staatengemeinschaft die Bereitschaft zu erkennen gegeben, von diesem Effektivitätsprinzip eine eng umrissene Ausnahme zugunsten der Legitimität zu machen. So hat der UN-Sicherheitsrat 1997/98 am demokratisch gewählten Präsidenten Sierra Leones, Ahmad Tejan Kabbah, festgehalten, als dieser durch einen Militärputsch zu Fall gekommen war. Doch wie auch immer man den ukrainischen Volksaufstand beurteilt - mit einem Putsch wie im Falle Sierra Leones lässt er sich nicht gleichsetzen. Deshalb betrachten die allermeisten Staaten die neuen Machthaber in Kiew mit Recht als die Regierung der Ukraine im Sinn des Völkerrechts." (ebd.).
3. Rückkehrwunsch der Krim-Bevölkerung nach Russland
Ganz im Gegensatz zur Interpretation des Putsches als "friedlichen Elitenwechsel" definierten sie das Referendum der Krim-Bevölkerung und die Abtrennung der Krim von der Ukraine jedoch als Völkerrechtsverletzung: "Es bleibt die Frage", notierten sie, "ob die russischen Streitkräfte der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim bei der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Beistand leisten durften. Hierin verschob sich am Ende der Schwerpunkt der völkerrechtlichen Argumentation Russlands. Doch ebenso gewiss ist, dass es seinem Inhaber keine Befugnis gibt, den Austritt aus einem bestehenden Staatsverband zu verlangen und mit Gewalt durchzusetzen." (ebd. S.17/18). Die Krim-Bewohner hätten kein Recht gehabt, meinten sie, in der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts den Austritt aus dem bestehenden Staatsverband zu verlangen. Für die Autoren war unerheblich, ob sich die Mehrheit der russischen Krim-Bewohner gegen die durch einen mit militärischer Gewalt durchgeführten Machtwechsel und aus Furcht vor ihrer Benachteiligung durch die neuen Machthaber gegen die weitere Zugehörigkeit zur Ukraine und für den Anschluss an Russland entschieden. Sie sprachen der unbewaffneten Mehrheit der Krim-Bewohner das Recht auf einen Anschluss an Russland ab und definierten den Wechsel zu Russland als Völkerrechtsverletzung.
Die Bevölkerung der Krim vollzog jedoch in der gleichen Weise einen revolutionären Akt, wie es die Kiewer Usurpatoren der Macht vorexerziert hatten. Jede Revolution untergräbt die Legitimität staatlicher Herrschaft. Dies traf sowohl für die revolutionäre Aktion der Machtusurpatoren wie für die auf Selbstbestimmung pochende Krim-Bevölkerung zu. Für ihr künftiges Wohlergehen innerhalb der Ukraine hatte die Krim-Bevölkerung von den neuen Machthabern tatsächlich nichts Gutes zu erwarten. Gegen die auf der Krim stationierte ukrainische Militärmacht, die jetzt unter dem Oberbefehl der Usurpatoren stand, baten ihre Repräsentanten um Schutz, denn ob die auf der Krim stationierten ukrainischen Armeeeinheiten mit militärischer Gewalt die Abtrennung der Krim verhindern würden, war ungewiss. Daraufhin verließen die im Marinehafen Sewastopol stationierten russischen Soldaten - in Tarnuniform und ohne Hoheitsabzeichen - ihre Unterkünfte und fuhren nach Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Sie wurden von der dortigen Bevölkerung mit Willkommensgrüßen empfangen und als Schutz vor einem möglicherweise bevorstehenden ukrainischen Militäreinsatz empfunden.
Im Interview mit Matthias Nass antwortete Helmut Schmidt auf die Frage, ob die Hinwendung der Krim zu Russland ein Bruch des Völkerrechts sei: "... ein Bruch des Völkerrechts gegenüber einem Staat, der vorübergehend durch die Revolution auf dem Maidan in Kiew nicht existierte und nicht funktionstüchtig gewesen ist" (Matthias Nass, Putins Vorgehen ist verständlich, Die Zeit, 27.3.2014). Schmidt fügte noch an, dass "das Ganze nicht ausschließlich als Rechtsproblem betrachtet werden kann" (ebd.). Gerd Held kommentierte hierzu: "Das Völkerrecht ist kein Staatenbildner. Weder im Sinn der Unantastbarkeit von Grenzen, noch im Sinn der Selbstbestimmung von Völkern. Das sollte man bedenken, bevor man im Namen eines angeblich höheren Rechtsgebots nun in eine neue Spannungspolitik ohne Ausweg schlittert" (Gerd Held: Das Völkerrecht bildet keine Staaten, Novo Argumente Online, 26.5.2014).
Eugen Ruge beklagte die einseitige Berichterstattung in den deutschen Medien: "Wenn sich die Bevölkerung einer autonomen Republik von Russland abzuspalten wünscht - wie im Falle Tschetscheniens -, findet dies den ungeteilten Zuspruch der westlichen Politik. Wenn aber die Mehrheit der Bevölkerung einer autonomen Republik sich mit Russland zu vereinigen wünscht, dann wird dies als Katastrophe angesehen?" (ebd.).
In den nächsten Wochen und Monaten meldeten sich noch weitere Völkerrechtler zu Wort. Stefan Talmon von der Universität Bonn wies auf die Besonderheit des Völkerrechts hin, das den Staaten durch Biegen und Brechen der Regeln die Schaffung neuer Regeln ermöglicht: "Das Völkerrecht verändert sich ständig, weil die Regeln durch die Staaten gemacht werden und weil es keine Zentralinstanz gibt, die das Völkerrecht verbindlich auslegt und durchsetzt." (Stefan Talmon, Biegen und Brechen, Die Zeit, 6.11.2014).
Talmon rief alle beteiligten Staaten zur Einhaltung des Völkerrechts auf. Jede Seite müsse Völkerrechtsbrüche seiner Verbündeten anprangern und nicht nur die der Gegenseite. "Im Ukrainekonflikt berufen sich westliche Staaten auf territoriale Integrität, Gewaltverbot und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Aber warum sollten diese Prinzipien nur gegenüber Russland gelten, nicht auch zugunsten Assads?", fragte Talmon (ebd.). Katar und Saudi-Arabien hatten die Rebellen Syriens mit Waffen beliefert und fanden hierbei die Unterstützung der USA und der EU. Der eigentliche Dammbruch gegenüber den etablierten Regeln des Völkerrechts sei in der Kosovo-Frage geschehen. Damals habe sich die Nato "klar über das Völkerrecht hinweggesetzt" (ebd.). Abschließend stellte Talmon fest: "Der Völkerrechtler kann die Schwächen des Systems erklären, aber er kann sie nicht beseitigen. Das kann nur die Politik." (ebd.).
Zur Diskussion stand, wer die Deutungshoheit über das vielfältig biegsame und durch Regierungshandeln veränderbare Völkerrecht erringen würde. Wenn der gewaltsame Putsch gegen Janukowitsch, der sich mit den drei westlichen Außenministern auf einen baldigen demokratischen Machtwechsel verpflichtet hatte, nur als friedlicher "Elitenwechsel" bezeichnet wurde und kein Völkerrechtsbruch darstellte, war auch die mit friedlichen Mitteln eingeleitete Abtrennung der Krim von der Ukraine nicht als Völkerrechtsbruch zu bezeichnen. Mit dem Putsch war die revolutionäre Periode der Ukraine eröffnet worden. Die Loslösung der Krim fand in diesem revolutionären Zeitraum statt. Beendet wurde die revolutionäre Zeit erst durch die Wahl Poroschenkos zum neuen Staatspräsidenten am 25. Mai 2014.
4. Divergierende Ansprüche auf Deutungshoheit
4.1 Transformation diskursiver in hegemoniale Formationen und hegemoniale Praxen
Den eigenen Staatsinteressen universelle Gültigkeit verleihen zu wollen und dafür zu sorgen, dass sie von der Gemeinschaft aller Staaten akzeptiert werden, erfordert auf der Ebene der konkreten gesellschaftlichen Machtverteilung, dass alle Einflussfaktoren eingesetzt werden, um die Deutungshoheit über das, was für das Zusammenleben der Staaten von Bedeutung ist, zu gewinnen.
In die Einflussnahme einbezogen ist an erster Stelle die Ebene der Diskursivität, auf der Theorien gebildet werden, angefangen von der Auslese des wissenschaftlichen Personals über die Finanzierung von Forschungsaufgaben bis hin zu geeigneten Verbreitungsmethoden in Fachzeitschriften und -büchern sowie auf gesponserten Fachtagungen und -konferenzen durch Gutachter, gesellschaftlich renommierte Verlage und Stiftungen.
Vorrangiges Ziel ist, die beanspruchte Deutungshoheit in hegemoniale Formationen umzusetzen und relevant für die Beziehungen der Staaten untereinander werden zu lassen. Hegemoniale Formationen entstehen auf der Ebene der Diskursivität – bzw. der wissenschaftlichen Theoriebildung – als Erweiterung diskursiver Formationen. Eine diskursive Formation (Foucault) ist ein Ensemble differentieller Positionen, das sich durch eine “Regelmäßigkeit in der Verstreuung” auszeichnet. Das Ensemble differentieller Positionen soll, so ist die Annahme, in der empirisch erfassbaren Realität vorzufinden sein. In ihr muss es also die unterstellte „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ geben. Der Gesamtzusammenhang, in den eine diskursive Formation eingebettet ist, hängt also von sehr unterschiedlichen Faktoren ab. Die “Regelmäßigkeit in der Verstreuung” setzt jedoch kein ihr äußeres System voraus, in das sie selbst einbezogen ist.2
In ihrer Praxis muss eine hegemoniale Formation sowohl auf Veränderungen Acht geben, die in den in ihr inkorporierten Systemen von Differenzen, Äquivalenzketten (z.B. innerwestliches Dreieck [USA/Großbritannien, kontinentaleuropäische Staaten und Japan] versus BRICS [Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika]) und in Formen der Überdeterminierung [Existenz von Über- und Unterordnungsverhältnissen sowie Herrschaft und Beherrschung]) stattfinden als auch auf Veränderungen ihres Terrains reagieren, auf dem sie tätig ist. Damit wird deutlich, dass hegemoniale Formationen niemals abgeschlossen sind. Ohne diese Unabgeschlossenheit gäbe es keine Zugewinn- und Verlustmöglichkeiten.
Obwohl oder gerade weil sich die Repräsentanten einer hegemonialen Formation der Unabgeschlossenheit als Voraussetzung ihres Handelns bewusst sind, umgeben sie sich und das von ihnen ausgewählte aktuelle Arrangement stets mit der Aura des Universellen. Ihre hegemoniale Praxis stellen sie selbst gern als alternativlos dar. Vorrangig fokussieren sie sich auf die aktive Ausformulierung und Gestaltung der ihnen zu Grunde liegenden hegemonialen Formationen und den Ausbau und die Erhaltung des Terrains, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat, sowie auf die daraus unmittelbar folgende Verwirklichung eines bestimmten Ensembles relativ stabiler sozialer Formen. In der Zeit der Besitzergreifung ihres Terrains restrukturieren sie die internationalen Beziehungen und be- und verdrängen bis dato anerkannte Staatsinteressen sowie das von jenen beanspruchte Terrain.
4.2 Verabschiedung des Einflusssphärenkonzepts als exemplarisches Beispiel
Mit der Verabschiedung des Einflusssphärenkonzepts, von Angela Merkel mit ihrem Satz "Dieses Denken ist mir fremd und ist uns in der Europäischen Union fremd" auf den Punkt gebracht und von Bundespräsident Joachim Gauck weiter ausformuliert - "Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Länder militärisch unterstützen." - wird das Denken und Handeln in Einflusssphären als veraltet betrachtet und längst vergangenen Weltordnungen des 19. und 20. Jahrhundert zugeordnet.
Nun ist es jeder Machtelite unbenommen, ihre machtorientierte Praxis normativ zu überhöhen. Wenn jedoch der Glaube an die proklamierten Normen unfähig macht, existierende Kräfteverhältnisse adäquat einzuschätzen und darauf abgestimmte Handlungskalküle zu entwickeln, wird der Glaube an Normen kontraproduktiv.
Sich selbst und anderen Regierungen das Normengefüge von "Good Governance" überzustülpen, die Regierungspraxen anderer Staaten nur noch daran zu messen, ob sie den gesetzten "Good Governance"-Normen entsprechen und darüber die Einschätzung von Kräfteverhältnissen zu vernachlässigen, hat Niederlagen zur Folge, was die EU in ihrer Ukrainepolitik schmerzhaft registrieren musste. Ernüchterung und Entrüstung sind die Folgen solcher Fehleinschätzungen. Sie münden in der Wiederaufnahme des Kalten-Kriegs-Denkens: Drohung, Einschüchterung, Abschreckung, Gegenmaßnahmen, Sanktionen gegen die vermeintlich schwächere Seite (Russland) und untertäniges Schweigen bei allen Maßnahmen der überlegenen Macht (USA).
Der Arbeitskreis internationale Sicherheitspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung analysierte in seiner Schrift "Über den Tag hinaus denken" die widersprüchliche Politik der EU und insbesondere Deutschlands gegenüber Russland, einerseits "die energiepolitische Anbindung Europas an Russland" zu fördern und andererseits die "fortgesetzte NATO-Osterweiterung" in der Hoffnung voranzutreiben, Russland vollständig in den "Westen" einzubinden. "Demütigungen durch die historische Wende, die Russland sowohl als gefühlten wie auch mit Blick auf den früheren Weltmachtstatus der Sowjetunion als tatsächlichen Verlierer zurückließ", sagt die Denkschrift, wurden nicht genügend einkalkuliert. "Eine echte »europäische Sicherheitsarchitektur« mit der NATO als Kern, der EU als zivilmilitärisch handlungsfähigem Pfeiler, der OSZE als verbindender Klammer und Russland als konstruktivem und verlässlichem Mitspieler hat es nie gegeben", ist das Fazit der Denkschrift.
Statt dessen wurde eine zweigeteilte Strategie in die Praxis umgesetzt, die Joseph S. Nye von der Aspen Strategy Group in den folgenden Sätzen auf den Punkt brachte und üblicherweise als Containment-Strategie bezeichnet wird: "Zwar muss der Westen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin entgegentreten, der mit der nach 1945 geltenden Norm bricht, keine gewaltsamen Territorialansprüche zu erheben, doch er darf Russland nicht völlig isolieren; ein Land, mit dem der Westen sich überschneidende Interessen in Bezug auf nukleare Sicherheit, Nichtverbreitung, Terrorismusbekämpfung, die Arktis und regionale Angelegenheiten wie Iran und Afghanistan teilt. Hinzu kommt, dass Putin schlicht aufgrund der Geographie bei einer Verschärfung des Konflikts in der Ukraine im Vorteil ist." (Joseph S. Nye, Ukraine: "Wut ist keine Strategie!", © Project Syndicate Veröffentlicht am 10.09.2014).
Innerhalb der Containment-Strategie übernehmen die USA, die weiter wie bisher an der globalen Ausdehnung ihrer Hegemonie arbeiten, die Rolle des Demütigenden und missachten die andersartigen Interessen der EU gegenüber Russland. Mit ihrem Vorpreschen bei weiteren Sanktionen gegen Russland zwingen sie die von ihnen vielfältig abhängigen EU-Staaten zum Nachvollzug, verschärfen die EU-Russland-Beziehungen und schwächen insgesamt die von der EU (und darin insbesondere die von Deutschland) angestrebte eigenständige Rolle in der Welt.
In der vermeintlichen Hoffnung, dass Putin letztlich zum Nachgeben gezwungen sei, ertragen die EU-Staaten die von den USA in Szene gesetzte Sanktionsspirale und kalkulieren weder ein, dass China Russland zur Hilfe eilen muss, um nicht nach dem Zerfall Russlands das nächste Opfer der Weltmachtstrategie der USA zu werden, noch dass Indien als weiterer BRICS-Staat stärker an die Seite Chinas und Russlands rückt. Dass sie selbst im neuen Ost-West-Konflikt als Verlierer dastehen könnten, scheinen sie bisher nicht in ihr Kräftekalkül einbezogen zu haben.
1 Die Bekanntgabe der Generalstaatsanwaltschaft erfolgte erst, als der Putsch gegen Präsident Janukowitsch bereits stattgefunden hatte und die Putschisten die Macht an sich gerissen hatten. Die unter neuem Oberbefehl handelnde Generalstaatsanwaltschaft ermittelte zwar die Identität der Scharfschützen, wurde aber offenbar daran gehindert, deren Auftraggeber dingfest zu machen.
2 Beim Kampf um die Erringung und Erhaltung der Deutungshoheit und dem Ringen um Einwirkung auf die internationalen Beziehungen unterliegt sie acht zu berücksichtigenden Ausgangsbedingungen, wobei die Unabgeschlossenheit diskursiver Formationen eine Voraussetzung für jede hegemoniale Praxis ist:
- Jeder ausdifferenzierte einzelne Begriff sowie die Gesamtheit der strukturierten Totalitäten/Formationen bleiben notwendigerweise unabgeschlossen.
- Weder die Basissätze einer Deduktion können empirisch restlos bewiesen werden, noch muss die Logik des Modells der immanenten Logik des Objekts entsprechen.
- Die von Kant gegen missbräuchliche Resultate der reinen Vernunft ins Feld geführten Verstandesbegriffe können Widerspruchsfreiheit lediglich in der theoretischen Analyse garantieren, nicht jedoch im Objekt möglicherweise enthaltene oder bereits vorgefundene.
- Im Entstehungs- und Verfallsprozess einer endlichen Struktur ist zwar die Spur ihrer Vergänglichkeit immanent eingezeichnet, aber in der Pluralität der zu jedem Zeitpunkt möglichen Arrangements bleibt sie verborgen.
- Es ist unentscheidbar, welche der möglichen Arrangements ihr am nächsten kommen.
- Je komplexer endliche Strukturen beschaffen sind, desto weniger lässt sich das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten überschauen, vorhersagen und daraufhin überprüfen, welche der veränderbaren Komponenten die Lebensdauer der Struktur optimieren.
- Neue diskursive Formationen werden deshalb sorgsam interessenbezogen daraufhin überprüft, ob sie für aktuell erforderliche Arrangements der internationalen Machterhaltung dienen.
Reinhard Hildebrandt
Stellungnahme zum Artikel von Hans-Georg Wieck
Auf den Beitrag von Botschafter a.D. Hans-Georg Wieck „Deutschland und Russland im europäischen Gefüge“, antwortet Reinhard Hildebrandt mit folgendem Artikel.
Gleich zu Beginn seines Textes erwähnt Wieck das „gemeinsame Haus Europa“, zu dem beide Staaten gehören und das sie auf je spezifische Weise mit ihrem „politischen Gewicht“ und ihrer „zivilisatorischen Leistung“ beeinflussen. Seine starke Betonung des europäischen Dachs, unter dem beide leben, sollte man im Gedächtnis behalten, wenn man seinen weiteren Ausführungen folgt und dabei manchmal den Eindruck bekommt, Wieck siedele beide Länder auf sehr unterschiedlichen Kontinenten an. Da beide Staaten den übrigen Einflussfaktoren (Europäischer Union, Nato, Europa-Rat und OSZE, Nachbarländer) auf je besondere Weise unterliegen, unterstellt er beiden Staaten ein je spezifisches Interesse an der Ausgestaltung Europas. Er selbst will mit seinem Beitrag Grundlagen legen für eine neue europäische Strategie und scheut nicht davor zurück, Differenzen offen zu benennen und Konflikte auszutragen.
Zuvor vertieft er sich jedoch in die Geschichte Russlands und Deutschlands und den Bestrebungen beider Länder, eine zentrale Rolle im „Konzert der Mächte Europas“ zu spielen. Der wilhelminischen Machtelite wirft er vor, die Abwehrreaktionen der Nachbarländer Deutschlands vor den enorm gestiegenen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und sozialen Leistungen des ab 1871 vereinten Deutschlands nicht nur unterschätzt, sondern auf törichte Weise die Situation eines Zweifrontenkrieges herbeigeführt zu haben. Statt „ehrlicher Makler“ zu bleiben sei Deutschland unter Wilhelm II. zur „Partei“ geworden. Die siegreichen europäischen Mächte hätten es nach dem I. Weltkrieg versäumt, als Abwehr gegen eine aufkeimende sowjetische Bedrohung einen Brückenschlag zum geschlagenen Deutschland anzustreben und Hitlers Gefolgsleute wären nur taktische Allianzen mit anderen Mächten eingegangen und hätten in maßloser Überschätzung des deutschen Kriegspotentials den II. Weltkrieg angezettelt, an dessen Ende die USA und die Sowjetunion zu den Europa neu ordnenden Mächten emporstiegen. Als Konsequenz aus dem Desaster der europäischen Hegemonialkriege sei die Europäischen Union entstanden.
Wieck nennt drei Gründe für die Wiedervereinigung Deutschlands und betrachtet sie offenbar als gleichwertig, gleichgewichtig und der gleichen Wurzel entstammend:
- die unter Gorbatschow erfolgte „Kurskorrektur“ der Sowjetunion,
- die von der alten Bundesrepublik Deutschland erworbene Vertrauensstellung in Europa als Folge ihrer „Entspannungspolitik“ und
- die triumphierende Gewissheit der USA, den Ost-West-Konflikt als Sieger zu beenden.
Gorbatschows Überlegungen zur Kurskorrektur resultierten aus der Vorstellung, dass die USA und die Sowjetunion eine duale Hegemonie bilden. Zum Merkmal einer dualen Hegemonie zählt das auf beiden Seiten vorherrschende Bewusstsein, existentiell aufeinander angewiesen zu sein und deshalb jede Strategie vermeiden zu müssen, die zur Auflösung des hegemonialen Verhältnisses führt. Gorbatschows Berater und er selbst konnten sich offenbar weder vorstellen, dass die amerikanische Führung unter Reagan das Ziel anstrebte, unter Inkaufnahme des Risikos einer erheblichen Zerstörung des eigenen Territoriums den Untergang der anderen Seite herbeizuführen, noch durch eine die Ressourcen der anderen Seite überfordernden massiven Aufrüstung deren Abdankung als Hegemonialmacht zu erwirken. Immerhin mussten die USA in ihr strategisches Kalkül einbeziehen, dass
- sich die Aufrüstung für Reagans „Krieg der Sterne“ auch für sie selbst als eine nur schwer zu stemmende finanzielle Bürde erweisen könnte,
- das zu entwickelnde Antiraketensystem eventuell gar keinen wirklichen Schutz vor anfliegenden Raketen böte und
- im Falle des Scheiterns der Aufrüstung des Weltraums die USA gegenüber ihren Konkurrenten ökonomisch geschwächt würden.
Mit anderen Worten: Gorbatschow unterschätzte das vorherrschende Bewusstsein in der amerikanischen Führung, im Ost-West-Konflikt kompromisslos auf Sieg zu setzen und sich über die nachteiligen Folgen für die eigene künftige Hegemonialstellung vorerst keine Gedanken zu machen. Die „Kurskorrektur“ Gorbatschows entsprang also aus einem völlig anderen Verständnis von Entfaltungsmöglichkeiten der Politik in einer dualen hegemonialen Machtposition als die amerikanische Antwort, die auf die sowjetische Kurskorrektur folgte. Reagan sah in der Gorbatschowschen Kurskorrektur nichts anderes als die sowjetische Einsicht über eine sich abzeichnende Niederlage und interpretierte sie als grandiosen Sieg der USA im Ost-West-Konflikt bzw. als den Beginn einer globalen Hegemonie der USA.
Wieck drückt dieses amerikanische Verständnis auf seine Weise aus, indem er betont, dass mit dem Vertrag über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) und der Charta von Paris vom November 1990 (Vereinbarung über die Transformation Ost- und Südosteuropas in pluralistische Demokratien) die Grundlage für das auf Übereinstimmung der Werte beruhende „Gemeinsame Haus“ Europa gelegt worden sei. Anders formuliert: Wenn ihr so werdet wie wir, sind wir bereit, mit euch ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen, andernfalls nicht (vgl. One-World-Theorien).
Beim erwähnten zweiten Grund für die Vereinigung Deutschlands – die von der alten Bundesrepublik Deutschland erworbene Vertrauensstellung in Europa als Folge ihrer „Entspannungspolitik“ – hebt Wieck einseitig den menschenrechtlichen Aspekt hervor, der zum Vertragsabschluss von Helsinki führte. Der andere Teil dieser Strategie findet bei ihm keine Erwähnung. Dieser Teil entstammt der bitteren Erkenntnis über die passiven Reaktionen der USA und der west- wie östlichen Nachbarländer zum Mauerbau im Jahre 1961. Die Begründer der Entspannungsstrategie mussten erkennen, dass niemand in West und Ost den Deutschen dabei helfen würde, die Teilung zu überwinden. Niemand würde sich in der „deutscher Frage“ deutscher als die Deutschen gerieren und die Deutschen müssten selbst dafür sorgen, dass für die noch unabsehbare Dauer der Teilung der Zusammenhalt aller Deutschen bewahrt blieb. Aus dieser Einsicht erfolgte die Anerkennung der sowjetischen Einflusssphäre in Osteuropa, ohne die eine Entspannung nicht möglich schien; was nicht bedeutete, dass die Hoffnung auf Wiedervereinigung aufgegeben wurde.
In Wiecks Analyse der ergriffenen und verschenkten Chancen nach 1990 spiegeln sich die Untiefen seiner Analyse wider. So heruntergekommen das System der Planwirtschaft nach siebzig Jahren inzwischen auch war, zerbrach die Sowjetunion im Dezember 1991 dennoch nicht am weit verbreiteten Unverständnis über Gorbatschows Reformvorhaben, genannt Glasnost und Perestroika. Vielmehr erzeugte die von Gorbatschow betriebene Ablösung der bis dahin tonangebenden militärischen Kaste, die mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf neue Militärtechnologie und steigende Rüstungsausgaben die sowjetischen Ressourcen überforderte, deren tiefe Abneigung und Feindschaft bis hin zur offenen Revolte gegenüber Gorbatschow. In der erbitterten Auseinandersetzung um die Erhaltung der eigenen Machtposition erhielten zuvor von Moskau unterdrückte Nationalbewegungen die Chance der eigenen Machtentfaltung. Unter Präsident Jelzin bekamen Personen das Sagen, die ohne viel Rücksicht auf Verluste und unter Missachtung der gewachsenen russischen Tradition aus der übrig gebliebenen Konkursmasse (Russland) im Eilschritt eine westliche Demokratie mit einem kapitalistischem Wirtschaftssystem formen wollten. Unterstützt wurden sie von Kräften des Westens, die ebenfalls der naiven Anschauung an hingen, aus der Konkursmasse des „realsozialistischen“ Wirtschafts- und Gesellschaftssystems könne man durch gründliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf schnellstem Wege eine parlamentarische Demokratie mit einer funktionierenden neoliberal ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaftsordnung erschaffen. Das Ergebnis ihres „Bemühens“ war alsbald in der Entstehung reicher Oligarchen bei gleichzeitiger Verarmung großer Teile der russischen Bevölkerung und – im Nebeneffekt – in einer enormen Verschuldung Russlands bei westlichen Banken und dem drohenden Ausverkauf russischer Erdöl- und Gasvorkommen an westliche Konzerne zu besichtigen. Gründlicher konnte man den Gedanken der Demokratie und die Hoffnung auf seine Verwirklichung der Bevölkerung Russlands nicht austreiben als es durch Jelzins Entourage und seine vorwiegend US-amerikanischen Berater geschehen ist.
Wieck stellt diese Entwicklung bestenfalls verkürzt dar und überbetont statt dessen die Denkweise von Teilen der alten Machtelite, des Geheimdienstes und neu heranwachsender Machthaber im Staatsapparat, in deren Träumen ein imperiales Russland wiederbelebt wird. Dankenswerterweise weist er aber auch selbst auf die unter russischen Politikern erhebliche Ängste produzierende Einkreisungspolitik der Bush-Administration hin und erwähnt ebenfalls die vom US-Senat verweigerte Zustimmung des Teststoppabkommen als Auslöser russischer Alpträume. Der Konflikt mit Georgien erscheint bei ihm jedoch nur als ausgreifendes imperiales Gehabe der russischen Führung, nicht jedoch auch als deren angstbesetzte Reaktion auf stets lauernde Destabilisierungserscheinungen im nördlichen Kaukasus, die von Kräften südlich des Kaukasuskamms angezettelt werden könnten. Wieck unterschlägt die erwiesenermaßen von Georgien ausgehende Rückeroberungsinitiative in Abchasien und Süd-Ossetien, die ohne die stillschweigende Duldung der Bush-Administration nicht möglich gewesen wäre. Als ehemaliger deutscher Botschafter in Russland müsste Wieck eigentlich darüber informiert sein, dass die zahlreichen Konflikte zwischen den verschiedenen Kaukasusvölkern nur sehr schwer unter Kontrolle zu halten sind. Die Alternative, allen Klein- und Kleinstvölkern, die teilweise das gleiche Territorium bewohnen, in die Unabhängigkeit zu entlassen, würde zu chaotischen Zuständen führen, an deren Ausweitung letztlich niemand ein Interesse haben kann.
In Kapitel 3.3 entfaltet Wieck seine Kernaussage. Danach hat sich das Russlands Putins und Medwedjews
„in der gegenwärtigen Phase der so genannten souveränen Demokratie von der gemeinsamen Werteordnung gelöst und richtet seine Bemühungen darauf, die Bildung eines demokratischen Gegenentwurfs im Lande zu verhindern. Der Schröder’sche Entwurf einer deutschen Russlandpolitik ist mit den gemeinsamen Kerninteressen der Europäischen Union und denen des Nordatlantischen Bündnisses nicht vereinbar.“
Wieck wirft Schröder und anderen politischen Kräften sogar vor, indem sie die „russische Karte“ spielten, betrieben sie eine Politik, „die Moskau in den Stand versetzen kann, auf Augenhöhe mit Washington zu verhandeln“. Schröder habe mit seiner Politik beabsichtigt, „sich durch deutsch-russische Verabredungen dem Einfluss der USA und Großbritanniens zu entziehen und einen eurasischen Block im Gegensatz zum atlantischen Block aufzubauen“.
Wiecks Credo lautet: „Die Priorität der deutschen Außenpolitik muss sich auf die Kohäsion der Europäischen Union und auf eine funktionierende Zusammenarbeit mit den USA konzentrieren.“
Erst wenn in den russisch-deutschen Beziehungen „zivilgesellschaftliche Verknüpfungen“ entstünden, könnten „eurorelevante Verbindungen und gemeinsame Wertvorstellungen wachsen“. Bis zu diesem fernen Zeitpunkt hält er es nur für möglich, mit Russland wie in den vergangenen Zeiten des Kalten Krieges bestenfalls eng begrenzte wirtschaftliche Beziehungen zu unterhalten.
Angesichts der massiven Grenzziehung, die Wieck gegenüber Russland vornimmt, liegt als erstes die Frage nahe, welche nicht öffentlich zugänglichen Informationen zu der Aussage nötigen, Deutschland dürfe sich nicht dem Einfluss der USA und Großbritanniens entziehen?
In diesem Zusammenhang ist ein Artikel von Egon Bahr über „Drei Briefe und ein Staatsgeheimnis“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 14. Mai 2009 von großem Interesse. Darin beschreibt Bahr das ungläubige Erstaunen des 1969 gerade sein neues Amt als Bundeskanzler antretenden Willy Brandt über die Vorlage dreier Briefe an die Botschafter der USA, Großbritanniens und Frankreichs in ihrer Eigenschaft als Hohe Kommissare für Deutschland. Mit seiner Unterschrift unter diese Briefe sollte Brandt seine Zustimmung geben zu dem, „was die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 an verbindlichen Vorbehalten gemacht hatten. Als Inhaber der unkündbaren Siegerrechte für Deutschland als Ganzes und Berlin hatten sie diejenigen Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft gesetzt, die sie als Einschränkung ihrer Verfügungshoheit verstanden“. Brandt, schreibt Bahr, „war empört, dass man von ihm verlangte, ‚einen solchen Unterwerfungsbrief’ zu unterschreiben“. Brandt unterschrieb schließlich wie alle Bundeskanzler vor und wahrscheinlich auch nach ihm, obwohl, wie Bahr sehr ironisch bemerkt, „deutsche Trompeten die gewonnene Souveränität (1955) verkündeten“. In einschlägigen Geschichtsbüchern wurde lange Zeit mit Blick auf die Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses der Beginn der wieder gewonnenen bundesdeutschen Souveränität in das Jahr 1955 verlegt und wahrscheinlich von unzähligen Geschichtslehrern nach gebetet. Diese Souveränitätseinschränkung durch die drei Westalliierten war in den Verhandlungen zum Viermächteabkommen und dem Grundlagenvertrag von 1972 zu berücksichtigen und kam erneut in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen im Jahre 1990 auf den Verhandlungstisch. In jenen Verhandlungen musste die Sowjetunion zwar auf alle ihre „Rechte für Deutschland als Ganzes“ verzichten, aber von den Westmächten entschied nur der französische Präsident Mitterand, dass Frankreich seine Truppen aus Deutschland zurückziehen werde und keine Sonderrechte mehr beanspruche. Kolportiert wird, er habe gesagt, man gehe lieber jetzt als so lange zu warten bis man von den Deutschen hinausgeworfen werde. Da Frankreich nicht der Nato angehörte, konnte die weitere Stationierung seiner Truppen nicht als Folge der Vereinbarungen der Nato plakatiert werden, was den beiden anderen Westmächten ohne weiteres möglich war.
Egon Bahr bezeichnet in seinem Artikel die Lagerung von amerikanischen Atombomben auf bundesdeutschem Territorium als „Relikt der Lebenslüge“. Diese nuklearen Waffen würden im Falle eines Krieges von deutschen Flugzeugen zu ihren Zielen transportiert. Über den Einsatz dieser Nuklearwaffen entscheidet aber allein der amerikanische Präsident. Deutsche Piloten würden faktisch amerikanischem Befehl unterstellt. Stellt man die alleinige US-amerikanische Verfügung über die Atomwaffen in den Gesamtzusammenhang der Stationierung US-amerikanischen Militärs auf deutschem Territorium, einschließlich der Existenz des US-amerikanischen Hauptquartiers in Stuttgart, liegt weiterhin folgende Vermutung nahe: Im Deckmantel der Nato und unter dem Titel deutschen Rechts sind weiterhin unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit in Kraft – z.B. ein generelles Truppenstationierungsrecht einschließlich der Hoheit über Truppenbewegungen zu und zwischen den einzelnen Stationierungsorten sowie der Hoheit über elektronische Kommunikationsnetze, darüber hinaus noch weiterreichende Rechte im Falle eines drohendes Krieges bzw. für den Kriegszustand selbst.
Sollte sich Wiecks Äußerung, Deutschland dürfe sich nicht dem Einfluss der USA und Großbritanniens entziehen, auf unkündbare originäre Rechte der Siegermächte von 1945 beziehen, müsste er sich vorhalten lassen, dass die deutsche Seite endlich – wie es Egon Bahr andeutet – damit beginnen muss, solche Bindungen offen zu diskutieren, damit sie später nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt ans Tageslicht kommen, großen Schaden anrichten und sogar zum Austritt aus der Nato führen könnten. Von den USA und Großbritannien kann man nicht erwarten, dass sie von sich aus über „Unkündbares“ reden.
Wiecks Forderung geht jedoch sehr viel weiter. Er erklärt die „funktionierende Zusammenarbeit mit den USA“ zur Priorität jeder Bundesregierung und erwähnt dabei insbesondere die Nato. Das hochherrschaftliche Gebaren der Bush-Administration gegenüber den Verbündeten muss ihn sehr geschmerzt haben. Während dieser Jahre war der von Wieck besonders geschätzte „Nato-Konsultationsprozess“ unterbrochen, weil die US-amerikanische Seite unilateral entschied und noch nicht einmal für nötig hielt, die übrigen Nato-Mitglieder zu „konsultieren“. Im „NATO-Konsultationsprozess“ hatten alle Mitglieder die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Strategien und Taktiken zu informieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu gelangen. Das Wort Konsultation erweckt den Eindruck, dass im Ausschuss alle Nato-Mitglieder auf gleicher Ebene angesiedelt waren. Wieck weist aber selbst auf die hervorgehobene Position der USA, indem er betont, dass die Bush-Administration sich „ohne Not“ vom Konsultationsprozess verabschiedet habe. Im Notfall konnten die USA also auch schon vor Bush unilateral entscheiden. Sie hatte lediglich die übrigen Mitglieder zu konsultieren, was sie gegenüber den Europäern klugerweise als wohlmeinend auftretende Hegemonie auch taten. Wenn aus dieser amerikanischen Verhaltensweise bei den Konsultierten der Eindruck entstand, sie seien gleichwertige Partner der USA, war das ihr – und offensichtlich bis zum heutigen Tage auch Wiecks – Problem, denn Wieck bestreitet immer noch die hegemoniale Position der USA und weist statt dessen einseitig auf hegemoniale Absichten Russlands hin, vor denen man sich in Acht zu nehmen habe.
Nun könnte Wieck im Einklang mit vielen Transatlantikern die Meinung vertreten, dass hegemoniales Gebaren von Demokratien grundsätzlich nichts Verabscheuungswürdiges sei, während man vor hegemonialen Tendenzen von Nichtdemokratien immer auf der Hut sein müsse. Solche Gedankengänge haben während des gesamten Ost-West-Konflikts die Köpfe des herrschaftlichen wie abhängigen Bewusstseins durchdrungen und führten beispielsweise bei Bewohnern West-Berlins zu der tiefen Überzeugung, dass sie an vorderster Front die Freiheit gegen die Unfreiheit verteidigten. Dabei kam ihnen nie in den Sinn, dass ihr Frontstadtbewusstsein von den Siegermächten des II. Weltkrieges auch dazu benutzt werden könnte, das geteilte Deutschland unter ihrer dauerhaften Kontrolle zu halten. Spätestens nach den verheerenden Ergebnissen der acht Jahre während der Bush-Administration und der bis zum heutigen Tage durch den ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney und die vorherige Außenministerin Condoleezza Rice gerechtfertigten Folter müsste doch endlich auch für Wieck erkennbar sein, dass die vereinfachenden Denkweisen des Kalten Krieges hegemonialen Zwecken dienten und in der heutigen weltpolitischen Konstellation keinen Platz mehr haben.
Vehement wendet sich Wieck auch gegen den Aufbau eines eurasischen Blocks im Gegensatz zum atlantischen Block. Angesichts der Weltwirtschaftskrise und des gewaltigen Einbruchs in der einseitig auf die USA ausgerichteten exportorientierten Volkswirtschaft Japans gegenüber der zwar ebenfalls von starken Rückgängen geplagten, aber wenigstens in die Europäische Union eingebetteten exportorientierten Volkswirtschaft Deutschlands vor einem eurasischen Block zu warnen, zeugt von wenig Rücksicht auf die heutigen Welthandelsströme. Wenn man in der Vergangenheit schon nichts gegen die Globalisierungsstrategie der USA unternommen hat, unter der die Sozialstaatssysteme Kontinentaleuropas zu zerbrechen drohten, muss man jetzt wenigstens deren Ergebnis akzeptieren. Die asiatischen Volkswirtschaften sind zu unentbehrlichen Handelspartnern der Europäer geworden. Die gewachsenen eurasischen Verflechtungen sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, indem man deren Aufrechterhaltung als Blockdenken diffamiert.
In einem Punkt ist Wieck völlig zuzustimmen. Er betont, wie wichtig die Einbettung Deutschlands in die Europäische Union ist. Die Kohäsion der Europäischen Union darf durch keine wie auch immer geartete Strategie in Frage gestellt werden, denn immer noch gilt die Feststellung Willy Brandts, dass Deutschland als Nation zu groß ist für seine Nachbarländer. Diese bleibende Erkenntnis haben deutsche Unternehmen schon kräftig vernachlässigt, als sie in ihrem Shareholderdenken die Lohnstückkosten durch Verlagerung der Produktion in die ost- und südosteuropäischen Länder senkten und bei den Westeuropäern den Eindruck erzeugten, Deutschland strebe nach dem Ende des Ost-West-Konflikts noch nachträglich das Ziel des I. Weltkrieges an, Osteuropa und den Balkan unter seine alles beherrschenden Fittiche zu nehmen. Wieck findet volle Übereinstimmung in seiner Ansicht, dass der russischen Seite eine Schwächung der EU durch Bevorzugung des einen oder anderen EU-Mitglieds nicht gelingen darf. Ihm ist auch in der Ausgestaltung einer genuinen europäischen Strategie zuzustimmen. Bisher ist eine solche Strategie nur in ersten Ansätzen vorhanden.
Sie zu entwickeln und durch aussagekräftige Symbole wie beispielsweise die adäquate Ausgestaltung des Humboldtforums (weit über die einfallslose Rekonstruktion der Schlossfassade hinaus) zusätzlich abzufedern, ist eine Herausforderung, der man sich unbedingt auf deutscher Seite zu stellen hat.
Das Humboldtforum ist mehr als das Schloss. Zu ihm gehört die gesamte Museumsinsel, die über ihre museale Prägung hinaus zu einem Ort der Begegnung der Kulturen der Welt werden muss. In den Museen und in den Räumlichkeiten des Schlosses muss Raum geschaffen werden für Theater- und Musikvorstellungen sowie Lesungen, wie es bereits ansatzweise in einigen Museen geschehen ist. Darüber hinaus ist ein Bild der Kulturen zu vermitteln, das nicht wie im 19. Jahrhundert aus eurozentristischer Sicht die Verschiedenheit der Kulturen zur Schau stellt, sondern das den Eigenwert jeder Kultur erfasst und danach fragt, welchen spezifischen Beitrag jede Kultur für alle anderen zu leisten vermag. Darin liegt die Aufgabe des „gemeinsamen Hauses Europa“ in einer zusammenwachsenden Welt. Diese Forderung tragen Vertreter anderer Kulturen auch an die Europäer heran. Greifen wir sie endlich weltoffen auf.
26. Mai 2009|
Herausforderungen und Gefahren – die „deutsche Frage“ in internationaler und nationaler Hinsicht
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1.Vorbemerkung:
Internationalen Machtstrukturen vom Wiener Kongress 1815 bis in die Gegenwart
Internationalen Machtstrukturen vom Wiener Kongress 1815 bis in die Gegenwart
In Kürze:
Erstes Schaubild: Nach den Eroberungskriegen Napoleons wurde Frankreich nicht total isoliert, sondern konnte weiterhin mit Österreich-Ungarn Beziehungen unterhalten und war damit weiterhin mit dem Fünfmächtesystem verbunden. Das ab 1871 bestehende Deutsche Reich unterhielt nur Beziehungen mit dem zaristischen Russland. Es war bereits in dieser Zeit relativ isoliert.
Zweites Schaubild: Nach dem I. Weltkrieg wurden von Deutschland folgende Gebiete abgetrennt: Im Westen Elsass-Lothringen (an Frankreich), im Norden Nordschleswig (an Dänemark), im Osten Posen, Danzig, Ostoberschlesien (an Polen und Tschechoslowakei), Memelgebiet (an Litauen). Österreich-Ungarn zerfiel in mehrere kleine Staaten.
Drittes Schaubild: Nach dem II. Weltkrieg ergriffen die USA und die Sowjetunion im Ost-West-Konflikt die Oberherrschaft über Europa. Die amerikanische, britische und französische Zone wurden ohne Absprache mit der Sowjetunion zur Bundesrepublik Deutschland zusammengelegt, woraufhin die Sowjetunion ihrer Zone zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erklärte. Die drei westlichen Sektoren Berlins erhielten enge Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland, der sowjetische Sektor wurde Hauptstadt der DDR. Alle Sektoren Berlins verblieben bis 1992 unter der Oberhoheit der vier Siegermächte des II. Weltkrieges.
Viertes Schaubild: Nach dem Zerfall der Sowjetunion strebten die USA als verbliebene alleinige Weltmacht eine globale Hegemonie an. Als unter ihrem maßgeblichen Einfluss bezeichneten sie die Mitgliedsländer der Europäischen Union und Russland sowie Japan und China. Indien verblieb blockfrei.
Fünftes Schaubild: Zwischen den zwei Dreiecken (USA, EU, Japan) auf der einen Seite und (China, Russland, Indien) auf der anderen Seite entfalten transnationale Unternehmen und das international aktive Finanzkapital ihre Herrschaft.
Gegenwärtige Entwicklung:
Im westlichen Dreieck mit den USA als dominierender Macht und der EU und Japan als abhängigen Mächten verringert sich zwar die US-Dominanz, aber mit dem drohenden Brexit und der engen Beziehung osteuropäischer EU-Mitglieder zu den USA (vor allem Polens und Rumäniens durch die auf russische Ziele gerichtete Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen) wird die Position der USA wieder gestärkt.
Im östlichen Dreieck hingegen hat China die Dominanz über Russland und Indien bereits gewonnen und verstärkt seine technologische Herrschaft und seine Handels-macht über die beiden anderen Dreiecksmitglieder weiter.
Am Horizont zeichnet sich eine neue duale Hegemonie zwischen den USA und China ab, wobei zu berücksichtigen ist, dass insbesondere dreiecksübergreifend die Handelsbeziehungen zwischen China und der EU immer stärker werden. So lange Russland die Inseln Sachalin und die Kurilen nördlich von Hokkaido zum russischen Territorium zählt, auf die aber Japan Anspruch erhebt, können sich die Beziehungen zwischen Japan und Russland nicht entscheidend verbessern.
Als neue dreiecksübergreifende Machtfaktoren haben sich die transnationalen Unternehmen und das weltweit engagierte Finanzkapital entwickelt. Beide Machtfaktoren tragen zur Stärkung einer neuen dualen Hegemonie zwischen den USA und China bei. Sie sind darüber hinaus jedoch auch bestrebt, ein neues Verhältnis zwischen den intergesellschaftlichen und den internationalen staatlichen Beziehungen herbeizuführen.
2. Ausführliche Analyse der globalen Machtkonstellationen
Innergesellschaftliche und innerstaatliche sowie globale Machtkonstellationen entstanden zu allen Zeiten menschlichen Zusammenlebens, jedoch erst auf höherem Entwicklungsniveau bildeten sich so vielschichtige Formen wie Hegemonien oder Imperien aus. Begründet wurde Herrschaft vorwiegend als Herrschaft der Besten (oftmals mit der Begründung, dass sie von Gott den Würdigsten zugeteilt würde) oder als Repräsentanz des Volkes (in der die Selbstrepräsentation der Repräsentierenden gelegentlich übersehen wird). Die ursprünglich proklamierte Herrschaftsidee degeneriert in der gesellschaftlichen Praxis nicht selten zur Ideologie, mit der die Ausübung von Macht gerechtfertigt wird (z.B. Volkssouveränität).
Obgleich alle Herrschaftsformen von endlicher Natur sind, drapieren Herrschende sich selbst und ihre Herrschaftsform gern mit der Aura der Unsterblichkeit; und obwohl sie meistens ihre Entscheidungen unter Zeitnot, Unsicherheit und vor allem Ungewissheit über den einzuschlagenden Weg treffen, der zum bereits vorher bestimmten Resultat führen soll, nehmen sie dessen ungeachtet für sich das Privileg der Deutungshoheit in Anspruch, bezeichnen überdies ihre Handlungsweise als alternativlos und als unmittelbare Folge der sie leitenden Herrschaftsidee.
Nur in der recht seltenen Form der freiwilligen Über- und Unterordnung sehen sich die Untergeordneten durch adäquate Gegenleistungen der Übergeordneten in ihrer Unterordnung voll bestätigt. Bereits das unausgeglichene Verhältnis von Über- und Unterordnung und erst recht Verhältnisse von Herrschaft und Beherrschung erzeugen strukturelle Gewalt, auf die Betroffene meist mit Widerstand antworten.
Die Analyse globaler und regionaler Machtstrukturen hat es mit verschiedenartigen Formen der Ausübung von Herrschaft zu tun, insbesondere mit dem Streben nach globaler oder dualer Hegemonie, aber auch mit der ungleichen Machtverteilung in multipolaren Konstellationen. Davon zu unterscheiden ist eine Staatengemeinschaft, in der das Modell der Ko-Evolution praktiziert und auf die Etablierung von Herrschafts- und Beherrschungsverhältnissen möglichst verzichtet wird (EU als Ideal). Nahezu ausgeschlossen ist heutzutage die Bildung von Imperien. Das inzwischen erreichte Ausmaß an Komplexität in den wechselseitigen Beziehungen steht einem solchen Bestreben entgegen.
2.1 Die Vergänglichkeit zurückliegender Machtkonstellationen
Die meisten Akteure des Fünfmächtesystems bzw. der Pentarchie des 19. Jahrhunderts (Großbritannien, Russland, Frankreich, Österreich-Ungarn und Preußen) zeichneten sich weder durch eine besondere Weitsicht aus, noch waren sie sich bewusst, dass die Struktur des Fünfmächtesystems vergänglich sein könnte. Der Weg in den Ersten Weltkrieg blieb ihnen deshalb nicht erspart. Weder erkannten sie frühzeitig die Relevanz der Machtverschiebungen innerhalb des Systems noch waren sie in der Lage, adäquat darauf zu reagieren. Die Wiederauflage des Fünfmächtesystems als modifizierte Pentarchie (Großbritannien, Frankreich, Polen, Tschechoslowakei und Deutschland – im Hintergrund mit Jugoslawien als verstärkendes Element der beiden schwächeren östlichen Mitglieder) demonstrierte überdeutlich, wie wenig lernfähig sich die politischen Akteure im Umgang mit den Resultaten des Ersten Weltkrieges zeigten. Ein Sicherheitssystem zu errichten, das ein früheres Mitglied (die revolutionäre Sowjetunion) isoliert, ein zweites Mitglied (Deutschland) in seiner Macht drastisch begrenzt, zum alleinigen Schuldigen für den Ausbruch des Krieges erklärt und beide zu Parias des Systems herabstuft, kann nicht auf Dauer funktionieren und den Frieden zwischen den Völkern erhalten. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg war damit zwar nicht vorgezeichnet, aber auch nicht frühzeitig abgewendet.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges übernahmen die außereuropäischen USA und die eurasische Sowjetunion die Kontrolle über die Länder Europas. Sie entfalteten uneingestanden mit- und gegeneinander eine duale Hegemonie, verhielten sich zueinander aber wie in einem Nullsummenspiel. Beide missachteten das wesentliche Merkmal einer dualen Hegemonie. Duale Hegemonien unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von einer Nullsummenkonstellation. Scheitert im Kampf eine der beiden Hegemonien und verliert ihren hegemonialen Status, muss die überlebende Hegemonie versuchen, die eigene global auszudehnen. Reichen ihre Kräfte dazu nicht aus und hat ihr vergebliches Bemühen sehr viel Kraft gekostet, riskiert sie, von ehemals hegemonisierten und jetzt mit ihr konkurrierenden Mächten nicht mehr als hegemoniale Macht akzeptiert bzw. erduldet zu werden. Die Kontrahenten in einer weltumspannenden dualen Hegemonie müssen deshalb immer ausloten, welche Handlungsweisen den Handlungsspielraum des jeweils Anderen so einschneidend gefährden, dass sein hegemonialer Status auf dem Spiele steht. Der unbedacht herbeigeführte Untergang des Einen provoziert letztlich den Untergang des Anderen. Mit ihrer unreflektierten Verhaltensweise führten die USA und die Sowjetunion selbst das Ende ihrer dualen Hegemonie herbei.
2.2 Globale Hegemonie der USA – die beiden Modelle Zbigniew Brzezinskis
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bot sich den USA die Chance zur Etablierung einer globalen Hegemonie. In der konkreten Ausgestaltung dieser weltweiten Hegemonie tat sich insbesondere Zbigniew Brzezinski, Chef des Nationalen Sicherheitsrats unter US-Präsident Carter, hervor. Brzezinski unterschied zwischen zwei Modellen:
Unter einer konfliktfreien Kooperation verstand Brzezinski die Errichtung einer dauer-haften Etablierung amerikanischer Vorherrschaft als globale Demokratie in allen Regionen der Erde. Er unterschied zwischen den Mächten, die sich freiwillig an der Vorherrschaft der USA beteiligten, ohne irgendwelche Ansprüche zu stellen, und Mächten, die sich unwillig oder widerspenstig zeigten und „anarchischen Tendenzen“ folgten.
Das Verhältnis zwischen der vorherrschenden Macht und den kooperativen Mitherrschern charakterisierte Brzezinski damit als ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis, in dem die einflusslosen Mitherrscher in der totalen Unterordnung unter die Vorgaben des Herrschers ihre Selbstbestimmung auf optimale Weise erfüllt sehen. Er dachte hierbei vor allem an die europäische Machtelite und japanische Politiker und Spitzenbürokraten, die ihre Interessen mit denjenigen der USA identisch setzten.
„Transatlantische Partnerschaft“ war der adäquate Begriff für ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis, in dem die Macht- und Statusunterschiede zwischen den USA und Europa aus dem Blickfeld verschwanden. Brzezinski war sich aber durch-aus über gravierende Interessenunterschiede zwischen den transatlantischen Partnern der USA bewusst. So bezeichnete er z.B. die dauerhafte Stationierung US-amerikanischer Truppen in Deutschland als Garantie für ein stabiles Europa. Der französische Präsident Mitterrand hatte den USA für den Fall der nicht mehr von Großbritannien und Frankreich zu verhindernden Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 eine Schlüsselstellung in den Sicherheitsfragen Europas zugebilligt. Die Anwesenheit amerikanischer Truppen auf deutschem Boden nehme den übrigen Europäern ihre Angst vor einem künftigen deutschen Dominanzstreben. Die Westeuropäer erwarteten also von den USA Sicherheit vor deutschen Expansionsgelüsten und ordneten sich in diesem Punkt freiwillig den USA unter. Das vereinte Deutschland hingegen wurde zur Freiwilligkeit verpflichtet. Ihm unterstellte man aufkeimendes Dominanz- und Expansionsstreben, sobald es erst einmal wiedervereint sei. Das von Brzezinski propagierte ideale Über- und Unterordnungsverhältnis im transatlantischen Bündnis hatte also unterhalb der glatten Oberfläche tief reichende Bruch-stellen und war keinesfalls ideal konstruiert.
Staaten mit „anarchischen Tendenzen“ bezeichnete Brzezinski als Beherrschte, die sich der etablierten globalen Ordnung nicht fügen wollten, die ganz offensichtlich andersartige Interessen als die USA verfolgten und mit geeigneten Mitteln zur Unterordnung gezwungen werden mussten. Im US-bestimmten Herrschafts-Beherrschungsverhältnis schlug er die einen (unbefragt) auf die Seite des Herrschers und die anderen bezeichnete er als anarchische Störenfriede, die es verdienten, beherrscht zu werden. In der Diktion Bush juniors wurden daraus „die Schurkenstaaten“ und in der Begrifflichkeit der Vertreter der Global Governance Theorie „die gescheiterten Staaten“.
Unter einer konfliktreichen geopolitischen Stabilität verstand Brzezinski die Neuauflage des Ost-West-Konflikts, nur diesmal nicht wie damals mit der Sowjetunion, sondern jetzt mit dem undemokratisch regierten China. Beide Mächte würden – wie zur Zeit des vergangenen Ost-West-Konflikts – den Verhandlungsspielraum der von ihnen Beherrschten begrenzen und wie damals würden drei Aspekte das Verhältnis der herrschenden Mächte zueinander dominieren: 1. Ideologische Feindschaft, 2. Rivalität im Streit um periphere oder noch blockfreie Gebiete und 3. Stillschweigende Kooperation in von beiden für unverzichtbar gehaltenen Einflussgebieten.
Ob konfliktfrei oder konfliktreich hergestellte Stabilität, nach Ansicht Brzezinskis fiel den USA in beiden Formen die Lokomotivfunktion in der Entfaltung der wirtschaftlichen Dynamik zu. Die USA bezeichnete er als die politisch, ökonomisch und militärisch „unverzichtbare Macht“, in deren Händen die Realisierung der globalen Demokratie in der sogenannten „Dritten Welt“ und beim undemokratisch regierten Kontrahenten läge. Brzezinskis zweites Modell lief also auf einen von den USA in die Wege geleiteten Systemwechsel in China und der „Dritten Welt“ hinaus. Die Umsetzung dieses Modells nahmen nacheinander die US-Präsidenten Clinton und Bush junior in Angriff.
2.3 Neujustierung der globalen Hegemonie der USA: Global Shift – How the West Should Respond to the Rise of China
Die Autoren des Jahresberichts 2011 der Transatlantic Academy schlugen die Bildung eines neuen Dreiecks zwischen USA, Europa und China vor, legten aber zu-gleich großen Wert auf die Fortsetzung einer spezifischen Mischung von Eindämmung und Engagement gegenüber China. Sie regten eine Arbeitsteilung zwischen den USA und der Europäischen Union an, in der sich die Europäer auf Transformationsbestrebungen in ihrer europäischen Nachbarschaft und die USA auf Schwer-punkte in Asien konzentrieren.
Wie zuvor bei Brzezinski betrachteten sie das Verhältnis zwischen den USA und Europa als ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis und negierten beispiels-weise so gravierende Interessenunterschiede, wie sie auf der NATO-Tagung in Bukarest im Juli 2008 zutage traten, als der amerikanische Präsident Bush junior der Ukraine und Georgien den Zutritt zur NATO-Mitgliedschaft öffnen wollte, aber kontinentaleuropäische Staaten dagegen votierten. Sie leugneten ebenfalls die Interessenunterschiede zwischen den USA und den Ländern der Euro-Zone in der Bewältigung der Staatsschuldenkrise im Gefolge des Finanzkollaps des Jahres 2008/2009 und der dafür letztlich verantwortlichen – über Jahrzehnte geförderten – Ungleichheit in der Einkommensverteilung als Folge des Neoliberalismus.
2.4 Henry Kissingers Vorschlag einer Ko-Evolution
Eine wirkliche Neujustierung der US-Strategie legte erst Henry Kissinger in seinem Buch „On China“ vor. Was bewog den altgedienten Strategen und Machtpolitiker Kissinger, vom Kampf um Weltmacht Abschied zu nehmen und dem Verhältnis der Staaten zueinander eine andere Zielrichtung zu geben? Ist es die Erkenntnis, dass Machtpolitik ebenso mit Wunschdenken behaftet ist wie jede Form idealistischer bzw. altruistischer Politik? Kissinger war überzeugt, dass weder die USA noch China mächtig genug sind, den anderen zu beherrschen. Ihre Beziehungen sollten deshalb nicht auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen, in dem der Erfolg des Einen der Nachteil des Anderen ist. Am Ende würden sich beide gegenseitig schwächen und konkurrierenden Mächten zum Erfolg über sie verhelfen.
Kissinger präzisierte jedoch nicht, auf welche Weise der Aktions- und Reaktionsmechanismus außer Kraft gesetzt werden kann. Handelt die Politik gemäß der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), setzt sie das amerikanisch-chinesische Binnenverhältnis dem Mechanismus von Aktion und Reaktion aus, aber gegen die Dynamik, die militärischer, ökonomischer und geopolitischer Kraftentfaltung inhärent ist, vermag Diplomatie allein wenig auszurichten. Das Abgleiten in ein Nullsummenspiel ist dann kaum zu vermeiden. Kissinger stellte selbst einschränkend fest: „Leaders cannot create the context in which they operate. Their distinctive contribution consists in operating at the limit of what the given situation permits. If they exceed these limits, they crash; if they fall short of what is necessary, their policies stagnate.” (ebd. S.215).
Im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg wurde Kissingers Betonung der Diplomatie verständlich, denn ohne intensive diplomatische Bemühungen wäre wahrscheinlich damals die Enteisung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen nicht gelungen. Ohne einfühlsame Worte und begleitende Gesten hätte der Eispanzer nicht gesprengt werden können. Weniger begnadete Diplomaten auf beiden Seiten wären vielleicht an dieser Aufgabe gescheitert.
Was die Schuldzuweisung am verlorenen Krieg betrifft, argumentierte Kissinger sehr einseitig. Für ihn war auf der Seite der USA die Überzeugung eines bedeutenden Teils des amerikanischen Establishments, den Krieg für nicht gewinnbar zu halten und als angeborenen moralischen Fehler des amerikanischen politischen Systems zu betrachten, entscheidend für den Ausgang des Krieges. Die eigentliche Ursache war jedoch die Weigerung der USA, China für die Mithilfe an der Beendigung des Krieges angemessen zu entschädigen und mindestens für Südvietnam einen neutralen Sta-tus zu erlauben. Mit ihrer Weigerung lieferten sie der kulturrevolutionären Linie in der chinesischen Führung das entscheidende Argument für die weitere Unterstützung des Vietkongs.
Kissinger war sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass heutzutage Welt-mächte nicht mehr unabhängig voneinander ihre Entwicklung vorantreiben können. Ko-Evolution bedarf eines hohen Maßes an wechselseitiger Information über beab-sichtigte Maßnahmen des anderen und erfordert einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Sie geht selbst weit über die Verhaltensweisen hinaus, die in einer dualen Hegemonie erforderlich sind.
Ob die USA Kissingers Vorschlägen zur Entfaltung einer Ko-Evolution folgen würden, war angesichts der auf amerikanischer Seite unaufgearbeiteten dualen Hegemonie zwischen der Sowjetunion und den USA unwahrscheinlich. Dem US-amerikanischen Militär und dem republikanisch dominierten Repräsentantenhaus fiel es, wie der ehemalige stellvertretende US-Verteidigungsminister Chas W. Freeman feststellte, immer noch schwer, vom Streben nach globaler Hegemonie abzulassen und entsprechend der geschwächten Finanzkraft der USA den bisher weltweit ausgelegten Aktionsradius auf die begrenzteren Erfordernisse einer dualen Hegemonie umzustellen.
Einige Mitglieder der Machtelite der USA schienen sich sogar über Kissinger lustig zu machen. Sie glaubten fest daran, dass ihre strategischen Zielsetzungen bar jeden Wunschdenkens sind und Kissinger dem Idealismus verfallen war. Da zur Ko-Evolution zwei Parteien beitragen müssen, kam es aber auch auf die chinesische Führung an, ob Kissingers Überlegungen Realisierungschancen erhalten.
2.5 Chinas komplexe Herrschaftsstruktur
Jin Canrong behauptete in seinem Buch „Big Power’s Responsibility – China’s Perspective“ (China Renmin University Press 2011), “Harmonious China” sei das Vorbild der Diplomaten aus aller Welt (ebd.S.2). China habe es gar nicht nötig, eine Hegemonie zu errichten. Die vielgestaltige und mit geschichtlicher Erfahrung gesättigte chinesische Kultur biete der Führung des Landes einen idealen Maßstab für die Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn und den Mitspielern auf der globalen Bühne. Jin Canrong erwähnte explizit die Vision von Laozi, nach der zwischen Mensch und Natur Harmonie herrscht. Der Mensch nimmt sich die Natur als Vorbild, die Natur richtet sich am Firmament aus, das Firmament beeinflusst maßgeblich den Weg des Lebens (dao) und jener befindet sich wiederum in idealer Übereinstimmung mit der Natur (ebd.S.24).
“Harmonious China” sei der perfekte Ausdruck dieses geschlossenen Kreislaufs, der sowohl für China selbst wie für seine Außenbeziehungen Gültigkeit besitze, postuliert Jin Canrong. „Harmonious China” meine nicht, dass innergesellschaftlich und in den Außenbeziehungen Chinas keine Über- und Unterordnungsverhältnisse existieren sollen. Gemeint sei ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis gemäß Hegels Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn bzw. Niklas Luhmanns Darstellung der Verhaltensweise des Machtunterworfenen, von dem erwartet wird, dass er „sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat,.." (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, a.a.O. S.153f; Luhmann, Niklas, 1988, 2.Aufl.: Macht, Stuttgart, S.21). Ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis kommt sicherlich der Wunschvorstellung aller Übergeordneter entgegen, aber realisieren lässt es sich meistens nicht, denn das von Unterwürfigkeit und Widerspenstigkeit gleichermaßen gekennzeichnete Bewusstsein des Macht-unterworfenen vereitelt seine Realisierung.
Mit diesem Widerspruch im Unterordnungsbewusstsein der chinesischen Bevölkerung muss sich die chinesische Staatsmacht auseinandersetzen, so lange sie nicht in der Lage zu sein glaubt, ihre eigene allumfassende Gewaltbefugnis in freiwilliger Selbstverpflichtung einzuschränken. Sie hat zwar in der Wirtschaft Chinas kapitalistische Strukturen und die für die Eigeninitiative der Unternehmer benötigte Freiheit zugelassen, aber nicht zugleich das Feld der Diskurse für verschiedene Denkansätze und Theorien geöffnet. Als Folge der wirtschaftlichen Transformation und der beibehaltenen Begrenzung auf der Ebene der Diskursivität hat es die Bevölkerung Chinas mit Formen struktureller Gewalt zu tun, die sowohl der kapitalistischen Produktions-weise wie der politischen Herrschaft entstammen.
Die Staatsführung hingegen muss sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Problematik aus dieser geteilten Freiheit für die Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft entsteht; denn gehen hochrangige Formationen, die als Folge der kapitalistischen Akkumulation zunehmend herrschaftliches Gebaren an den Tag legen, und der Staat eine enge Bindung miteinander ein, wird entweder der Staat zu deren Anhängsel und treibt an vorderster Stelle deren Praxen voran, oder ein starker Staat bedient sich der Vor- und Mitarbeit der herrschenden Formationen, um seine eigenen Ziele und Aktivitäten voran zu bringen. Im ersten Fall verliert der Staat seine Fähigkeit, zum Zweck der Erhaltung des formlosen Gegenhalts einzugreifen, und im zweiten maßt er sich eine umfassende Steuerungskapazität an, die er aufgrund der auch ihm fehlenden Information über die künftigen Erfordernisse nicht hat. Kaderparteien mit ihrem streng hierarchischen Aufbau bilden die denkbar schlechteste Voraussetzung für die Entfaltung einer in komplexen Gesellschaften immer notwen-diger werdenden Irrtumskultur (Wolf Singer).
2.6 Die Scharnierfunktion Russlands
Nach dem Ende der Sowjetunion war für Russland vor allem die Funktion eines Rohstoff- und Energielieferanten der übrigen Welt vorgesehen. Der von Zbigniew Brzezinski entworfene strategische Ausblick sah das Vordringen der USA und der EU bis zu den Erdöl- und Erdgasvorkommen Zentralasiens vor. Durch die Verselbständigung Sibiriens und der Randgebiete des vormals sowjetischen Territoriums sollte Russland isoliert und künftig an seiner Südflanke durch Georgien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan und Kasachstan auf einer neuen „Seidenstraße“ von Europa nach China umgangen werden.
Die meisten der im Prozess der dilettantisch durchgeführten Privatisierung des Staatseigentums zu schnellem Reichtum gelangten Oligarchen zeigten wenig Interesse an der Re-Industrialisierung Russlands und investierten ihre Gewinne aus dem Verkauf von Rohstoffen und Energie vornehmlich in börsennotierten Wertpapieren und Immobilien des Auslands. Als sie der Nachfolger Präsident Jelzins im Amt, Wladimir Putin, aufforderte, mit ihren Gewinnen auch zum Wiederaufbau Russlands beizutragen, verweigerten viele ihre Beteiligung. Ihre florierenden Geschäftsbeziehungen mit global tätigen Rohstoff- und Energiekonzernen, die keinerlei Verlangen nach einer mühsamen und risikoreichen Re-Industrialisierung Russlands hatten, jedoch wie die Oligarchen an der Besitznahme und schnellen Ausbeutung russischer Bodenschätze großes Interesse zeigten, waren ihnen wichtiger. Manche wichen dem zunehmenden Druck der russischen Regierung aus, indem sie Teile ihrer Unter-nehmen an ausländische Unternehmen verkauften, oder gemeinsam mit ihnen Unternehmen gründeten, um sich so dem Zugriff des russischen Staates zu entziehen. Um den drohenden Ausverkauf der gesamten Öl- und Gasindustrie an finanzkräftige Konzerne aus dem westlichen Ausland zu verhindern, verklagte die russische Regierung schließlich eines der Unternehmen in einem Steuerhinterziehungsprozess auf hohe Strafzahlungen. Die Signalwirkung dieser Vorgehens-weise war so deutlich, dass einige Oligarchen das Land verließen und andere handzahm wurden und die Zusammenarbeit mit der neuen russischen Führung anstrebten.
Dem Wiederaufbau einer neuen konkurrenzfähigen Industrie war man aber mit diesen Maßnahmen keinen Schritt nähergekommen, vielmehr hatte man es zunehmend mit einer Re-Sowjetisierung (modernisierungshemmende enge Verzahnung von Politik und Staatsunternehmen) und verbreiteter Korruption zu tun. Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis die erstrebte Modernisierung Russlands endlich in Gang kam. Erst nach dem mehrere Jahre von Georgien und den USA hintertriebenen Beitritt Russlands zum Welthandelsabkommen im Juli 2012, unter anderem durch die Aufrechterhaltung des Vanik-Jackson-Amendments, investierten – außer den seit mehreren Jahren bereits vor Ort tätig deutschen Unternehmen – auch US-amerikanische Unternehmen wieder verstärkt in Russland.
Parallel zur Problematik der Re-Industrialisierung entwickelte sich die lange Zeit ungeklärte Frage der Nationalität Russlands. Wie die untergegangene Sowjetunion ist auch Russland ein Vielvölkerstaat und kann deshalb nicht auf die russische Nationalität beschränkt werden. Mit der Schaffung der Eurasischen Union (Russland, Kasachstan, Weißrussland) anerkennt das heutige Russland, dass es territorial und in der Zusammensetzung der Bevölkerung sowohl ein europäisches wie asiatisches Land ist. Ob der Eurasischen Union längerfristig auch die übrigen zentralasiatischen Länder beitreten werden, ist ebenso ungewiss wie eine künftige Mitgliedschaft der Ukraine.
In enger Abstimmung mit China soll die Eurasische Union auch dazu beitragen, die Ambitionen der USA und der EU auf mehr Einfluss im rohstoffreichen Zentralasien zurückzuweisen, die Wasserversorgung dieser bewässerungsintensiven Gebiete in einer Interessenabwägung mit China sicherzustellen und das Transportnetz zwischen dem europäischen Teil Russlands und China leistungsstark auszubauen.
Als größte Herausforderung der russischen Machtelite hat sich die Ablehnung von Putins Machtvertikale durch die aufstrebende Mittelschicht Russlands herausgestellt. Sofern Putin auf das Produktivpotential der Mittelschicht für die weitere Modernisierung Russlands angewiesen ist, muss er dem dort verbreiteten Wunsch nach mehr individueller Freiheit und auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen entgegen kommen und zugleich das Verlangen nach einem starken Staat in der Bevölkerung der Provinz berücksichtigen. Eine Balance zwischen diesen beiden gegensätzlichen Wünschen zu finden, übersteigt selbst die Fähigkeiten von Staaten in etablierten Demokratien. Aber die schwierige Suche nach einer Balance kritisch zu begleiten, schafft gleichzeitig die Möglichkeit, die Scharnierfunktion Russlands auch für Europa zu nutzen.
2.7 Das ungleiche Verhältnis zwischen China und Indien
Der bis in die Gegenwart andauernde, Misstrauen säende Streit um den exakten Verlauf der Grenze zwischen beiden Mächten reicht zurück bis in die Zeit der Kolonialherrschaft des Britischen Imperiums über Indien und dessen Expansion auf tibetisches Territorium zu Lasten des chinesischen Anspruchs auf Tibet. Dieser Grenzstreit hat bereits im Jahre 1962 zum Krieg zwischen beiden Mächten geführt und behindert bis in die heutige Zeit die Evolution eines freundschaftlichen Verhältnisses der bevölkerungsreichsten Länder der Erde.
Im Kampf um maßgeblichen Einfluss setzen Indien und China ihren Streit entlang des Himalayas im gesamten Indischen Ozean und dem Südchinesischen/Süd-asiatischen Meer sowie in den Staaten Indochinas fort. Skrupellose Bedrohungsanalytiker beider Länder nutzen ihre Chancen, den fruchtlosen Aktions- und Reaktionsmechanismus und den von Periode zu Periode fortschreitenden Bewegungs- und Gegenbewegungsprozess am Leben zu erhalten und jeden Versuch einer ko-evolutionären Entwicklung zum Scheitern zu bringen. In ihrem Vorhaben nützlich sind ihnen die Untersuchungen naiver Bedrohungsanalytiker, deren Durchblicksvermögen vor allem von der Angst beherrscht wird. Unter solchen widrigen Umständen sehen Politiker beider Seiten ihre Verständigungsmöglichkeiten auf das Niveau pragmatischen Handelns begrenzt, aus dem die Konflikte als vorerst nicht lösbar heraus-gehalten werden.
Beide Führungen geben außerdem durch die Aufrechterhaltung ihrer wechselseitigen Bedrohungsängste interessierten Mächten die Gelegenheit, sie gegeneinander aus-zuspielen und ihre Ungleichheit zu vertiefen. Die Schere der Auseinanderentwicklung in der Wirtschaftsleistung vergrößert sich zu Ungunsten Indiens, so dass insbesondere Teile der indischen Machtelite für eine antichinesische Koalition und eine militärische Aufrüstung offen sind. Demgegenüber bestärkt das Strategiepapier Non-Alignment 2.0 alle jene gesellschaftlichen Kräfte Indiens, die dem dringenden Aus-bau der Infrastruktur und der Steigerung der Wirtschaftsleistung Indiens den Vorrang vor der Beschaffung militärischer Rüstung einräumen.
2.8 Globale oder duale Hegemonie versus Multipolarität
Das Fünfmächtesystem des 19. Jahrhunderts stellte durchaus eine erste multipolare Mächtestruktur dar. Die Frage war hier, inwieweit bereits ein Ausgleichsmechanismus existierte, der den Egoismus der einzelnen Mächte bremsen und ein Auseinanderbrechen dieser Struktur vermeiden konnte. Großbritannien kam in diesem Zusammenhang „als Zünglein an der Waage“ die Rolle zu, diesen Ausgleichsmechanismus in Gang zu setzen, falls sich zwei feindlich gesinnte Koalitionen gegenüberstanden. War eine der beiden Zweierkoalitionen zu keinem Kompromiss bereit und reichte der Einfluss des britischen Imperiums entweder nicht aus, um die zum Krieg entschlossenen Mächte rechtzeitig zu beruhigen, oder zeigte die britische Regierung kein Interesse an der Wahrnehmung ihrer Ausgleichsfunktion, weil sie nach dem Aufstieg des Deutschen Reiches den Verlust ihrer Schiedsrichterrolle fürchtete, war ein Krieg unvermeidlich. Bismarcks geheimer Rückversicherungsvertrag mit Russland, in dem das Deutsche Reich sich für drei Jahre zu wohlwollender Neutralität im Kriegsfall verpflichtete, wenn die österreichisch-ungarische Regierung Russland den Krieg erklärte, weil die russische Regierung ihren maßgeblichen Einfluss in Bulgarien geltend machte und auf die Ausdehnung ihres Einflusses auf den Bosporus bestand (ganz geheimes Zusatzprotokoll), stellte eine weitere Variante eines Ausgleichsmechanismus dar, die jedoch im Falle eines Angriffskriegs Russlands gegen Österreich-Ungarn und des Deutschen Reiches gegen Frankreich unwirksam blieb. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages und das fehlende Interesse Großbritanniens an der Verhinderung eines europäischen Krieges beendete das multipolare Fünfmächtesystem und bestärkte nach dem Zweiten Weltkrieg die USA und die Sowjetunion in ihrem Streben nach Entfaltung einer globalen Hegemonie. Die Kraftentfaltung beider Mächte ermöglichte jedoch nur die Etablierung einer dualen Hegemonie, die beide als Nullsummenspiel missverstanden und deshalb im Verlust der hegemonialen Position der Sowjetunion und der trügerischen Hoffnung auf die Errichtung einer dauerhaften US-amerikanischen globalen Hegemonie endete.
Das daraufhin folgende Bemühen der USA, eine globale Hegemonie zu errichten und gegen alle Widerstände zu etablieren, endete nach ein paar Jahren mit der Einsicht, dass noch nicht einmal die zweitbeste Lösung, eine duale Hegemonie - diesmal mit China - realisierbar war. Scheiterte auch dieser Versuch, musste man sich schließlich mit einer multipolaren Machtstruktur abfinden. Chinas immer wieder artikuliertes Desinteresse an einer dualen Hegemonie mit den USA bestärkte die Herausbildung einer multipolaren Struktur, in der neben den USA und China auch Indien, Russland, die Europäische Union sowie Brasilien beteiligt sind.
Anders als im Fünfmächtesystem des 19. Jahrhunderts, in dem Staat und nationale Zirkulationssphäre noch nicht weit auseinander drifteten und Finanzkapital und Industrieunternehmen den Heimatimperien stärker zugeordnet blieben, muss sich heutzutage eine globale multipolare Machtstruktur mit der Regelung der Geschäftsbeziehungen von global agierenden transnationalen Unternehmen und dem weltweit tätigen Finanzkapital befassen. Geschieht dies nicht, produzieren unregulierte „Märkte“ chaotische Beziehungen, in denen die stärksten Weltunternehmen und Banken über die Staatenwelt dominieren und in weltweiten Krisen gegeneinander konkurrieren. Gelingt es jedoch den Staaten, die ökonomisch und finanziell relevanten Akteure in ihren Marktbeziehungen zur Einhaltung von gesetzlich und vertraglich fixierten Regeln zu zwingen, manifestieren sich weltweit gültige Normensysteme, die auch die Ausgleichsmechanismen der Staaten untereinander normativ aufladen. Auf diesem Weg könnte allmählich eine globale multipolare Machtstruktur entstehen, die das von Henry Kissinger vorgeschlagene Modell der Ko-Evolution zum Vorbild hätte.
Bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2013 deutete der US-amerikanische Vizepräsident Joe Biden an, dass sich die USA von der „Weltpolizistenrolle“ verabschieden würden. Die USA agierten künftig in der Beilegung von Konflikten vorwiegend aus der zweiten Reihe. Daraus konnte nicht geschlossen werden, dass die USA allen Hegemonievorstellungen für immer abgeschworen hatten. Die Etablierung einer dualen Hegemonie mit China war weiterhin eine Perspektive, die insbesondere von den Protagonisten der „US Rebalancing Policy“ voran getrieben wurde. Unter „Rebalancing“ wurde verstanden, dass die USA im gesamten Pazifik bis hart an die Küsten Chinas dominant bleiben und die europäischen Staaten aufgefordert werden, vor ihrer eigenen Haustür das Kommando von den USA zu übernehmen und im asiatischen Raum der Eindämmungs- und Menschenrechtsstrategie der USA willig beizutreten.
Im Vertrauen auf die den etablierten Industrieländern nach der Banken- und Staatsschuldenkrise (2008) verbliebene Wirtschaftsleistung von etwas mehr als der Hälfte der Weltwirtschaftsleistung boten die USA den Staaten der Europäischen Union die Entwicklung einer gemeinsamen Freihandelszone an und prognostizieren für die Zukunft einen erheblichen Zuwachs im Austausch von Waren und Dienstleistungen. Getrieben wurde dieses Angebot von der Angst, dem weiter rapide steigenden Handelsaustausch zwischen der EU und China sowie Russland nichts Gleichwertiges entgegen setzen zu können und gegenüber dem Zusammenwachsen Eurasiens ins Hintertreffen zu geraten.
Als Argument diente die angebliche „Wertegemeinschaft“ mit den USA, die jedoch so lange wertlos blieb, wie das republikanisch bestimmte Repräsentantenhaus in Washington am Straflager Guantanamo auf Kuba festhielt, US-amerikanische und europäische Regierungen die Menschenrechte missachtende Führung Saudi-Arabiens zum Stabilitätsfaktor im arabischen Raum stilisierten und im syrischen Bürgerkrieg mit Al Kaida sympathisierende Rebellen tolerierten, aber gleichzeitig – interessengeleitet – gegen Al Kaida in Mali und dem angrenzenden Niger wegen der Uranvorkommen militärisch vorgingen (Thomas Schmid, Der Kollateralnutzen militärischer Interventionen, Frankfurter Rundschau, 26./ 27.1. 2013, Jürgen Todenhöfer, Die Terror-Zyniker, Frankfurter Rundschau, 31.1. 2013).
Die europäischen Länder sollten sich jedoch an die Zeit des Ost-West-Konflikts erinnern, in dem sie als Schwächere des innerwestlichen Dreiecks USA-Japan-Westeuropa den drastischen Handelsbeschränkungen des von den USA einseitig im US-amerikanischen Interesse ausgelegten COCOM unterworfen wurden. Marshall-plan und COCOM bildeten die zwei Seiten einer Medaille, die zur ökonomischen Teilung Europas und insbesondere Deutschlands führten und das innerwestliche Dreieck schufen. Die erneute Etablierung des Dreiecks USA-EU-Japan würde die Handelsbarrieren gegenüber China und insbesondere Russland stark steigen lassen und die Gefahr heraufbeschwören, dass die Europäer künftig von den Rohstoffen, Produktionskapazitäten und der Binnennachfrage Russlands und dem prosperieren-den Binnenmarkt Chinas abgeschnitten werden. Folgt man in Europa jedoch der eurasischen Perspektive, sind dem weiteren Handelsaustausch mit China und Russland keine Grenzen gesetzt und die USA müssten schließlich, um nicht isoliert zu werden, dem Beispiel Europas folgen und sich mit einer multipolaren Machtstruktur globalen Ausmaßes abfinden.
Aus: Reinhard Hildebrandt, Globale und regionale Machtstrukturen – Globale oder duale Hegemonie, Multipolarität oder Ko-Evolution, Schlusskapitel, Peter-Lang Verlag 2013
3. Teilung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg
Während sich Historiker immer noch darüber streiten, wer die Hauptschuld am Ausbruch des I. Weltkriegs (1914-1918) trägt oder alle Beteiligten ein wenig Schuld, ist der Beginn des II. Weltkrieges (1939-1945) mehrere Jahre von Hitlerdeutschland vorbereitet worden. Die als schmachvoll für Deutschland verstandenen Resultate des I. Weltkrieges sollten revidiert werden und darüber hinaus wollte man das deutsche Territorium nach Osten auf Kosten Polens und nach Süden durch Eingliederung Südtirols ausdehnen. Die zögerlichen Kriegsvorbereitungen anderer europäischer Mächte zur Abschreckung eines deutschen Angriffskrieges resultierten teilweise aus der Einsicht, dass die Bedingungen des Versailler Vertrages zu hart ausgefallen waren und in Deutschland von radikalen Kräften gegen den Aufbau einer demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung benutzt wurden.
Nachdem jedoch ab 1943 vorhersehbar wurde, dass Deutschland auch diesen Krieg verlieren würde, begannen auf Seiten der Alliierten vorbereitende Verhandlungen über Deutschland aufzuerlegende Kapitulationsbedingungen, die im Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die gemeinsame Verwaltung von Groß-Berlin vom 12. 9. 1944 ihren Niederschlag fanden. Die Gemeinsamkeit der Siegermächte über die Behandlung der nach der Kapitulation Deutschlands geschaffenen Besatzungszonen zerbrach bereits nach wenigen Monaten. Entsprechend der Viermächtevereinbarungen sollten alle Beschlüsse einstimmig gefasst werden, was insbesondere in der Kommandantura für Groß-Berlin dazu führte, dass man immer häufiger keine Entscheidungen traf und jede Besatzungsmacht in ihrem Sektor von Berlin separate Entwicklungen vorantrieb. Dadurch geriet der von der Sowjetunion nach der alleinigen Besetzung ganz Berlins durch die Rote Armee geschaffene Gesamtberliner Magistrat mit den drei von den USA, Großbritannien und Frankreich in ihren Westsektoren Berlins eingesetzten deutschen Verwaltungen zunehmend in Konfliktsituationen.
Zwischen den vier Siegermächten entfachten vor allem die von Deutschland zu zahlenden Reparationslasten tiefgreifende Auseinandersetzungen. Während die deutsche Armee auf russischem Territorium beträchtliche Kriegsverwüstungen hinterließ, hatte Großbritannien vor allem Zerstörungen durch den Abwurf von Bomben auf einige britische Städte zu beklagen. Frankreich war zwar von deutschen Truppen besetzt worden, aber blieb mit wenigen Ausnahmen von Luftangriffen weitgehend verschont. Die USA lagen weit außerhalb der Reichweite deutscher Bomber und Angriffe deutscher Truppen. Entsprechend der großen Unterschiede in der Zerstörung des eigenen Territoriums erhoben die vier Mächte sehr unterschiedliche Reparationsforderungen. Sehr bald entschieden die USA und Großbritannien für ihre Besatzungszonen, dass kaum noch Reparationslasten aus der laufenden Produktion der deutschen Industrie entnommen werden sollten, während die Sowjetunion so-wohl auf die Verlagerung von Industrie wie auf die Entnahme aus der laufenden Produktion bestand. Der Streit über die Frage, wieviel Reparationsgüter aus den Westzonen Deutschlands und Westsektoren Berlins zusätzlich in die Sowjetunion abtransportiert werden sollten, führte zu massiven Auseinandersetzungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Die USA befürchteten, dass als Folge der hohen Reparationsforderungen der deutschen Bevölkerung nicht nur Verelendung drohte, sondern auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) daraus Nutzen ziehen würde. Um beides zu verhindern und den Warenverkehr zwischen den USA und Europa wieder anzukurbeln, reduzierten sie die Entnahme von Reparationsgütern und -zahlungen und dehnten den Marshallplan auch auf die Westzonen aus. Mit Hilfe des Marshallplans wurden europäische Unternehmen wieder zahlungsfähig und die USA konnten Massenarbeitslosigkeit in den vermeiden.
Die Sowjetunion verweigerte für ihre Besatzungszone den Empfang von Marshallplangeldern, solange die Verteilungsbedingungen die Einführung eines privat-kapitalistischen Wirtschaftssystems voraussetzten. Sie beabsichtigte in ganz Deutschland ein Gesellschaftsmodell zu etablieren, dass eine Mischung zwischen kapitalistischem und realsozialistischem darstellte und dazu dienen sollte, die Einheit Deutschlands zu bewahren und vor allem die Lieferung von Reparationsleistungen an die Sowjetunion sicher zu stellen. Dieser Konflikt entschied die Frage, ob Deut-
schland als Einheit erhalten blieb oder in zwei Teile zerbrach. In den Westzonen wurde auf Drängen der USA und der von Adenauer geführten CDU die Annahme der Marshallgelder beschlossen. Die damit möglicherweise verbundene Teilung Deutschlands in einen West- und einen Oststaat nahm man in Kauf. Denn sollte es aufgrund der schnellen wirtschaftlichen Erholung in den Westzonen und dem Zurückbleiben der sowjetischen Besatzungszone zu einer Fluchtbewegung aus der sowjetischen Besatzungszone in die Westzonen kommen, würde die Ostzone „ausbluten“ und die Sowjetunion gezwungen werden, entweder die eigene Zone abzuriegeln oder völlig aufzugeben. Als vordringliche Aufgabe empfand man die Durchführung einer Wäh-rungsreform in den drei Westzonen und den Westsektoren Berlins im Jahre 1948 (Ersatz der Reichsmark durch die DM). Die Sowjetunion entschied sich zunächst für die Blockade von Berlin (West), um über diesen Hebel die drei anderen Alliierten wieder an den Verhandlungstisch des Alliierten Kontrollrates zu zwingen. Auf diese Maßnahme reagierten die Westalliierten mit der Versorgung der Westberliner Bevöl-kerung durch die Luft (Luftbrücke) und die USA drohten mit der atomaren Zerstörung der Sowjetunion. Abgesehen von der notwendigen Versorgung der Menschen flogen sich insbesondere die Amerikaner in die Herzen der Westberliner. Der daraufhin entstandene Widerstandswille der Westberliner Bevölkerung signalisierte den Westalliierten, dass es keine massenhaften Absetzbewegung in die drei Westzonen geben würde und man dieses Berlin (West) als Faustpfand gegen die Sowjetunion und ihre Zone richten konnte. Für die Sowjetunion ging die Blockade der Teilstadt ohne jeglichen Erfolg im Juni 1949 zu Ende. Die im Mai 1949 – auf Geheiß der Westalliierten – stattfindende Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) beantwortete sie mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Oktober 1949 als zweiten deutschen Staat. Die Teilung Deutschlands würde bis zum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts dazu führen, dass sich die beiden untereinander verfeindeten deutschen Staaten jeweils als Juniorpartner ihrer Führungsmächte USA einerseits und Sowjetunion andererseits empfanden und das geteilte Berlin zum Brennpunkt des Ost-West-Konflikts wurde.
4. Die deutsch-deutsche Konstellation zu und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (1988/89)
Voraus gingen:
Der Bau der Mauer am 13. August 1961, nachdem mehr als 3 von 17 Millionen DDR-Bürgern ihre Heimat in Richtung Bundesrepublik Deutschland verlassen hatten. Um das weitere „Ausbluten“ der DDR zu stoppen, willigte die Sowjetunion in die von der DDR-Regierung geforderte Abriegelung der Innerberliner Grenze (zwischen Berlin (West) und Berlin(Ost) ein. Die Westmächte wurden acht Tage vor dem Bau der Mauer in Geheimdepeschen von der Sowjetunion informiert. Sie bestanden lediglich darauf, dass ihre Freizügigkeit innerhalb Berlins nicht verletzt wird. Bereits längere Zeit vor dem Mauerbau war die Grenze von Berlin(West) zur DDR und zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (1952) durch undurchdringliche Sperrmaßnahmen unpassierbar geworden. Unzufriedene DDR-Bürger blieben jetzt in der DDR. Sie konnten nicht mehr in den Westen Deutschlands oder nach Berlin (West) fliehen, um von dort in die Bundesrepublik Deutschland ausgeflogen zu werden. Von Jahr zu Jahr und erhöhte sich die Zahl der sich zum DDR-Regime ablehnend verhaltenen Bevölkerung. Der Staatssicherheitsdienst der DDR stand vor einem immer weniger lösbaren gesellschaftlichen Konflikt. Außerdem konnten Versorgungsengpässe nicht mehr aus eigener Kraft der DDR vermindert werden. Die bundesdeutsche Regierung unterstützte im zunehmenden Maße die DDR mit direkten Zahlungen und Krediten, um zu verhindern, dass die DDR-Regierung eine scharfe antiwestliche Politik einschlug. Auf diese Weise geriet die DDR in finanzielle Abhängigkeit von der BRD. Beiden deutschen Regierungen war klar, dass weder die USA noch die Sowjetunion und auch kein europäisches Land die Vereinigung beider deutscher Staaten wünschte. Sie taten alles, um die Zweiteilung Deutschlands zu erhalten, mussten jedoch hinnehmen, dass immer mehr DDR-Flüchtlinge in andere mitteleuropäische Staaten ausreisten und von dort die Grenze zur BRD überquerten.
Unter dem US-Präsidenten Reagan erhöhten die USA in den achtziger Jahren ihren Rüstungsetat so stark, dass die Sowjetunion in ihrem Versuch, den Vorsprung der USA gering zu halten, scheiterte und sich im Rüstungswettlauf mit den USA beinahe „zu Tode rüstete“; d.h. sie vernachlässigte auf ruinöse Weise ihre ziviltechnologische Entwicklung und war dem wirtschaftlichen Bankrott sehr nahe. Um ihn zu verhindern, zog der russische Präsident Gorbatschow seine letzte Karte aus dem Ärmel: Gegen den Widerstand der DDR-Regierung gab er die Einwilligung zur Vereinigung Deutschlands und erhielt dafür als Gegenleistung einen Milliardenkredit von der deutschen Bundesregierung. Die Mauer wurde daraufhin „versehentlich“ am 9. November 1989 geöffnet. Zahlreiche DDR-Bewohner passierten jetzt jeden Tag die geöffneten Grenzübergänge. Sie registrierten neidvoll bzw. bewundernd den weitaus höheren Lebensstandard der Bundesbürger, kehrten aber nach den Besuchen wieder in ihre DDR-Wohnorte zurück.
Die einseitigen Entscheidungen der deutschen Bundesregierung in der Zeit des Übergangs von der Teilung zur Vereinigung enttäuschten viele DDR-Bewohner: In der Zeit vor der Grenzöffnung hatten viele Bürgerrechtler der DDR eigene Vorstellungen über die Zukunft der DDR entwickelt. Aus ihr sollte eine demokratisch verfasste Gesellschaft und ein der Demokratie verpflichteter Staat werden, in denen nicht die Wirtschaft die maßgeblichen Entscheidungen trifft, an denen sich die Politik zu orientieren hat, sondern die Bürger stets das letzte Wort behalten. In zahlreichen sogenannten „Runden Tischen“ entwickelte man Vorstellungen über eine lebendige Demokratie. Zugleich wurde jedoch der Wunsch nach einer Vereinigung mit der Bundesrepublik immer stärker. Der nur zu verständliche Wunsch der DDR-Bürger, endlich auch an dem Reichtum teilhaben zu können, den die bundesrepublikanische Bevölkerung mit Hilfe des Marshall-Plans seit 1949 aufbauen konnte und der der DDR vorenthalten blieb, beschleunigte die Forderung, auch in den Besitz der D-Mark zu gelangen. Aus dem der DDR-Regierung entgegengeschleuderten Ruf „Wir sind das Volk“ wurde nach kurzer Zeit der Ruf „Wir sind ein Volk“. Damit war der Weg in die schnelle Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vorgezeichnet. Außerdem versprach der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, für den Fall der baldigen Vereinigung den Anbruch „blühender Landschaften“. Die Realität nach der Vereinigung sah jedoch ganz anders aus. Die bereits im August getroffene Entscheidung, die DDR der Bundesrepublik nach Artikel 23 Grundgesetz beitreten zu lassen und nicht – wie nach Artikel 146 ebenfalls möglich – eine wirkliche Vereinigung mit einer auf neuen Füssen stehenden Verfassung herbeizuführen, ebnete den Weg in eine Phase, in der die Mehrzahl der DDR-Bevölkerung „Aufbruch und Abbruch“ zugleich erfuhr, gepaart zu allem Unglück mit dem Grundgefühl von „Entwertung und Geringschätzung“, das „mehrere Generationen der Ostdeutschen bis heute [prägt]“. (vgl. Christin Melcher, Tagesspiegel.)
Diese Vereinigung entsprach dem Wort Annexion sehr viel eher als der Vereinigung zweier gleichberechtigter deutscher Staaten. Der DDR wurde nicht nur die bundes-deutsche Gesellschaftsstruktur übergestülpt, sondern statt der versprochenen „blühenden Landschaften“ entstand Massenarbeitslosigkeit. Die von der Bundesregierung ins Leben gerufene „Treuhandgesellschaft“ bot meistbietenden Interessenten den Kauf der bis dahin in Staatsbesitz befindlichen Unternehmen der DDR an. Dies waren oftmals bundesdeutsche Unternehmen, die kein Interesse an der Existenz zusätzlicher Konkurrenten hatten, denn sie waren ohne weiteres in der Lage, den Bedarf der ehemaligen DDR-Bevölkerung aus ihren bereits produzierenden bundesdeutschen Betrieben zu decken. Nach dem Aufkauf der ihnen angebotenen Staatsbetriebe legten sie die Betriebe still, entließen die Arbeitskräfte und behielten nur die wertbeständigen Betriebsteile. Welche negativen Folgen für Regionen entstanden, in denen die geschlossenen Betriebe bisher ein Netzwerk mit anderen Betrieben bildeten, blieb unberücksichtigt. So wurden reihenweise rentable Ressourcen vernichtet, ohne die negativen Folgen für die DDR-Bevölkerung zu bedenken.
Sofort nach der Annexion der DDR begann die Säuberung der staatlichen Institutionen. Mitglieder der staatstragenden Parteien der DDR wurden entlassen und durch bundesdeutsche Personen ersetzt. An der Universität Potsdam behielt z.B. nur ein Dozent seine Stelle. Alle anderen wurden fristlos entlassen. An ihre Stelle traten Bewerber aus dem Bundesgebiet und Berlin (West), die sich weder durch Kritik an bundesdeutschen Verhältnissen hervorgetan hatten, noch durch besondere Qualifikationen aufgefallen waren. Die Verwaltungsstruktur der DDR erhielt eine völlig neue Ausrichtung. Das hieß Abschaffung der Zentralverwaltung zugunsten des Aufbaus von Verwaltungen in den neu geschaffenen Bundesländern. Die Parteienlandschaft ähnelte nach kurzer Zeit der bundesdeutschen. Die Sozialdemokratische Partei (SPD) der Bundesrepublik weigerte sich, Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei der DDR (SED) aufzunehmen, geschweige denn eine Fusion mit ihr in die Weg zu leiten, während die CDU und FDP mit ihren Schwesterparteien der DDR fusionierten. Ob und wieviel der ehemaligen Parteimitglieder ihrer Schwesterparteien schließlich zu führenden Positionen aufstiegen, ist unbekannt. Zum vorherrschenden und diffamierenden Thema in den öffentlichen und privaten Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie in den Zeitungen avancierte die Tätigkeit der Staatssicherheit (Stasi) in allen Bereichen der untergegangenen DDR.
Nach dem Beispiel der Übernahme der DDR verlief auch die Annexion der übrigen osteuropäischen Staaten, die bis zum Ende des Ost-West-Konflikts zur sowjetischen Einflusssphäre gezählt wurden. Insbesondere bundesdeutsche Unternehmen gründeten dort Zweigbetriebe und schlossen sie eng an ihre Konzern- bzw. Unternehmenszentralen des Bundesgebietes an. Die Schaffung einer eigenständigen Zirkulationssphäre unterblieb in den meisten osteuropäischen Staaten. Stattdessen wurden sie zu verlängerten Werkbänken der westeuropäischen Industrie- und Handelsunternehmen herabgestuft.
4.1 Vereinigung im Zeichen des Neoliberalismus
Unter dem Begriff Neoliberalismus, der seit Mitte der neunziger Jahre das Denken beherrscht, versteht man die Lehre, dass jedes Lebewesen egoistisch agiert und seine Ziele mit allen Mitteln durchsetzt. Daraus folgt: der Reiche, Fleißige schafft Arbeitsplätze aus Geldgier; der Arme, Faule entspannt sich im sozialen Netz. Die Daseinsfürsorge des Staates unterstützt das darin enthaltene Gerechtigkeitsgefälle. Er sollte deshalb von den Faulen mehr fordern und die fleißigen Reichen mehr fördern, sich also aus sozialstaatlichen Aktivitäten zurückziehen und darauf vertrauen, dass höhere Gewinnspannen der Fleißigen mehr Arbeitsplätze schafft, in die die Faulen eingewiesen werden müssten.
Zu Beginn der neunziger Jahre schien diese Lehre den Staat von einigen seiner enormen Wiedervereinigungskosten zu entlasten. Der Milliardenkredit an die Sowjetunion, die Nachzahlung der Invaliden- und Krankenversicherungsbeiträge der DDR-Bevölkerung an gesetzliche Kranken- und Invalidenversicherung der Bundesrepublik, die Erneuerung der Infrastruktur der DDR (Bau von Autobahnen, Straßen und Schienenwegen, Ausbesserung von Wasserstraßen, Erhaltung und Erneuerung der Bausubstanz in Städten, Renovierung der Abwassersysteme) erforderte eine erhebliche Schuldenaufnahme der Bundesregierung. Im Gegenzug wurden sozialstaatlich begründete Leistungen der DDR reduziert bzw. ganz gestrichen. Dies geschah im gesamten Bereich der engeren Sozialversicherung, bei den zusätzlichen Sonderversorgungssystemen für besonders wichtige Gruppen, bei den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, in der Arbeitskräftelenkung, der Arbeitsplatzgarantie, der Bildungspolitik, der Familienförderung, der Wohnungspolitik und den Preissubventionen für Güter des Grundbedarfs, für Mieten und für verschiedene Tarife usw. Die Gleichschaltung der DDR unter neoliberalen Vorzeichen ging der Reduzierung sozialstaatlicher Leistungen im westlichen Teil Deutschlands voraus, bekannt als Hartz-IV-Gesetze der sozialliberalen Koalition, die am 1. Januar 2005 in Kraft traten. Mit Hartz I wurden die Personal-Service-Agenturen(PSA) eingerichtet, die Zumutbarkeitsregelungen verschärft und die Verpflichtung, sich bei Erhalt der Kündigung unverzüglich arbeitslos zu melden. Hartz II führte die Ich-AG ein und brachte die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung (Mini-Jobs). Hartz III regelte die Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit und mit Hartz IV wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II zusammengelegt.
Im Herbst 2002 lag die Arbeitslosenzahl noch unter 4 Millionen. Nach der Einführung von Hartz IV stieg sie auf über 5 Millionen an. Obgleich jetzt aufgrund von Hartz IV als arbeitsfähig eingestufte vorherige Sozialhilfeempfänger die Zahl der Arbeitslosen erhöhte, indizierte die insgesamt auf hohem Niveau verharrende Arbeitslosigkeit eine geringe Wirksamkeit der gesamten Arbeitsmarktpolitik. Laut Presseberichten konnten die Personal-Service-Agenturen lediglich 33 000 Arbeitslosen in neue Stellen vermitteln. Ich-AGs beflügelten zwar Arbeitslose zur Selbständigkeit, aber leider blieb ein dauerhafter Geschäftserfolg oftmals ganz aus, oder das Experiment endete in Selbstausbeutung und der Hinnahme geringer Einkommen. Mini-Jobs verdrängten nicht selten eine reguläre Beschäftigung und beide Einrichtungen standen unter Verdacht, zum Leistungsmissbrauch einzuladen. Denn rund eine Million mehr als geplant bezogen das neue Arbeitslosengeld II, worunter sich nicht nur bisher von der Familie unterhaltene Arbeitslose befanden, sondern auch gering verdienende Selbständige oder ausgesonderte vormals abhängig Beschäftigte, die jetzt als Scheinselbständige kein ausreichendes Einkommen mehr erzielen konnten. („Wir werden alle Berater sein“, meint der promovierte Ingenieur, „das ist ein besseres Wort für Tagelöhner“ [Mario Müller, Phoenix will fliegen, in: Frankfurter Rundschau, 22.10. 2004])
In zweistelligen Prozentsätzen steigende Vorstandsbezüge von Großunternehmen und steil ansteigende Gewinnraten vieler international tätiger Unternehmen, kontrastiert durch fortgesetzte Entlassungsaktionen bei Arbeitskräften sowie stagnieren-den oder gar zurückgehenden Einkommen bei den abhängig Beschäftigten und drastischen Kürzungen bei Hartz-IV-Empfängern, vermittelten den Wählern den enttäuschenden Eindruck, dass die rot-grüne Regierung der Umverteilung von unten nach oben den Vorzug vor einer gerechten Lastenverteilung gab. Viele von ihnen trieb die Angst, künftig bei noch weiter abgesenkten Förderungsleistungen und erhöhten Sanktionsandrohungen ganz leer auszugehen. So wurden ab Februar 2006 die Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld-I verschärft. Bis zu jenem Zeitpunkt bekam Arbeitslosengeld-I, wer mindestens ein Jahr sozialversichert beschäftigt war. Künftig musste er schon wenigstens zwei Jahre vorweisen können. Die Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld-I, die zum gleichen Zeitpunkt eingeführt wurde, traf alle unter 55-Jährigen. Diese Leistung konnte fortan nur noch ein Jahr lang bezogen werden, während vor diesem Datum für 45-Jährige die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld-I länger als ein Jahr betrug und für über 57-Jährige sogar 32 Monate. Die erlaubte Nebenbeschäftigung für Bezieher von Arbeitslosengeld-I reduzierte sich auf unter 15 Stunden. Als künftige Bezieher von Arbeitslosengeld-II würden sie zwar mehr Geld erhalten als frühere Sozialhilfeempfänger, aber sie müssen mit dem pauschalierten Regelsatz zurechtkommen, der auf besondere Lebenslagen keine Rücksicht mehr nimmt. Sie wären finanziell an ihren noch nicht arbeitslosen Lebenspartner gekettet, ihr Erspartes, das bestimmte Freibeträge übersteigt, müssten sie angreifen und wären gezwungen, sich eine günstigere Mietwohnung zu suchen, wenn die alte als unangemessen eingestuft wurde. Am härtesten würde es diejenigen treffen, die beispielsweise als ältere Arbeitskräfte über dreißig Jahre gearbeitet und gut verdient hatten und nach einjähriger Arbeitslosigkeit und nun nicht mehr vermittelbare ältere Arbeitslosengeld-II-Bezieher das für den Lebensabend zurückgelegte vorzeitig aufzubrauchen hatten. Die Angst der noch Beschäftigten vor dem Abstieg in die Armut war also zu verstehen.
4.2 Deutschland wird Exportweltmeister
Die mit den Hartz-IV-Gesetzen eingeleitete Umverteilung von unten nach oben reduzierte die Nachfrage nach Konsumgütern in der von Lohnarbeit abhängigen Bevölkerung. Zu erwarten war, dass mit einem gewissen Zeitverzug auch die Nachfrage der Unternehmen nach Investitionsgütern zurückgehen würde, sofern es nicht gelang, neue Exportmärkte zu erschießen und auf diese Weise den Nachfragerückgang auf dem Binnenmarkt zu kompensieren. Deutschland wurde jedoch Ex-portweltmeister, weil die in Euro zu bezahlenden Exportprodukte auf den Auslands-märkten auf immer weniger Konkurrenz stießen. Im gleichen Zeitraum verzeichneten andere Mitgliedsländer der Europäischen Union Handelsbilanzdefizite. Dadurch sank der Wert des Euros im Vergleich zu anderen Währungen und damit zugleich der Preis deutscher Exportprodukte auf dem Weltmarkt. Deutschlands Position in der Europäischen Union wurde als Folge dieser Entwicklung immer mächtiger, was unter den übrigen Mitgliedern der EU entsprechenden Argwohn erregte und die sogenannte „Deutsche Frage“ wieder verstärkt in das Bewusstsein hob. Darunter versteht man traditionell, dass Deutschland in der Mitte Europas zu mächtig ist und die Verankerung der Demokratie in der deutschen Bevölkerung als zu schwach erscheint. Anzeichen für letzteres war der Anstieg der rechtslastigen und deutsch-nationalen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in der Wählergunst vor allem der ehemaligen DDR-Bewohner, aber auch in Teilen der Bevölkerung des westlichen Deutschlands.
5 Das deutsch-französische Verhältnis
Es ist gewiss eine Banalität festzustellen, dass sich das deutsch-französische Verhältnis in einer ständigen „Auf- und Abwindbewegung“ befindet. Der Gradmesser ist hierbei in der Tat die ständig schwankende Einschätzung über die Position Deutschlands in der Mitte Europas: mal wird es als zu schwach eingeschätzt (z.B. nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten / Deutschland, der „kranke Mann Europas“), mal wird es als zu stark eingeschätzt (z.B. jetzt als Schul- und Exportweltmeister).
Dagegen muss aber eindeutig festgehalten werden, dass nach den drei verheeren-den Kriegen zwischen Deutschland/Preußen und Frankreich – 1817 / Erster Welt-krieg / Zweiter Weltkrieg – diese Partnerbeziehung seit 1963 eine Stabilität erlangt hat, die nicht nur in gefährlichen und schwierigen Situationen funktioniert (z.B. in der - wenn auch äußerst schwierigen - Beruhigung des Ukraine-Konflikts), sondern auch unerwartete Spannungen aushält – wie jetzt in der Frage der zukünftigen russischen Erdgaslieferungen über die North-Stream 2-Pipeline, bei der man relativ schnell zu einer beiderseitigen Einigung gelangt ist.
Unterhalb der „hohen“ Politik ist insbesondere über das deutsch-französische Jugendwerk und die Städtepartnerschaften ein Netzwerk entstanden, in das vor allem weite Teile der Bevölkerung eingebunden sind; so auch die Schichten der Bevölkerung, die in den Zwischenkriegszeiten die deutsch-französischen Beziehungen gepflegt haben, z.B. die Künstler, die Schriftsteller, die Musiker. Diese Ebene der Beziehungen ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Hier wäre es auch erforderlich, sehr viel mehr Kenntnisse über das jeweilige Partnerland zu verbreiten. So sind gerade die Sozialsysteme in beiden Ländern sehr unterschiedlich (z.B. die Versorgung mit Krippen- und Kindergartenplätzen), die gegenseitige Kenntnis darüber ist ausgesprochen unterentwickelt. Ginge man genau diese Bereiche intensiver an, könnte das gegenseitige Verständnis viel größer sein; die wechselseitigen (Vor)Ur-teile, die in dem Ausspruch gipfeln „Die Deutschen leben, um zu arbeiten und die Franzosen arbeiten, um zu leben“ wären nicht sogleich beseitigt, aber der gegen-seitige Respekt bezüglich der „Andersartigkeit“ könnte viel eher produktiv umgesetzt und auch auf Beziehungen zu anderen europäischen Ländern übertragen werden.
Erstes Schaubild: Nach den Eroberungskriegen Napoleons wurde Frankreich nicht total isoliert, sondern konnte weiterhin mit Österreich-Ungarn Beziehungen unterhalten und war damit weiterhin mit dem Fünfmächtesystem verbunden. Das ab 1871 bestehende Deutsche Reich unterhielt nur Beziehungen mit dem zaristischen Russland. Es war bereits in dieser Zeit relativ isoliert.
Zweites Schaubild: Nach dem I. Weltkrieg wurden von Deutschland folgende Gebiete abgetrennt: Im Westen Elsass-Lothringen (an Frankreich), im Norden Nordschleswig (an Dänemark), im Osten Posen, Danzig, Ostoberschlesien (an Polen und Tschechoslowakei), Memelgebiet (an Litauen). Österreich-Ungarn zerfiel in mehrere kleine Staaten.
Drittes Schaubild: Nach dem II. Weltkrieg ergriffen die USA und die Sowjetunion im Ost-West-Konflikt die Oberherrschaft über Europa. Die amerikanische, britische und französische Zone wurden ohne Absprache mit der Sowjetunion zur Bundesrepublik Deutschland zusammengelegt, woraufhin die Sowjetunion ihrer Zone zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erklärte. Die drei westlichen Sektoren Berlins erhielten enge Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland, der sowjetische Sektor wurde Hauptstadt der DDR. Alle Sektoren Berlins verblieben bis 1992 unter der Oberhoheit der vier Siegermächte des II. Weltkrieges.
Viertes Schaubild: Nach dem Zerfall der Sowjetunion strebten die USA als verbliebene alleinige Weltmacht eine globale Hegemonie an. Als unter ihrem maßgeblichen Einfluss bezeichneten sie die Mitgliedsländer der Europäischen Union und Russland sowie Japan und China. Indien verblieb blockfrei.
Fünftes Schaubild: Zwischen den zwei Dreiecken (USA, EU, Japan) auf der einen Seite und (China, Russland, Indien) auf der anderen Seite entfalten transnationale Unternehmen und das international aktive Finanzkapital ihre Herrschaft.
Gegenwärtige Entwicklung:
Im westlichen Dreieck mit den USA als dominierender Macht und der EU und Japan als abhängigen Mächten verringert sich zwar die US-Dominanz, aber mit dem drohenden Brexit und der engen Beziehung osteuropäischer EU-Mitglieder zu den USA (vor allem Polens und Rumäniens durch die auf russische Ziele gerichtete Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen) wird die Position der USA wieder gestärkt.
Im östlichen Dreieck hingegen hat China die Dominanz über Russland und Indien bereits gewonnen und verstärkt seine technologische Herrschaft und seine Handels-macht über die beiden anderen Dreiecksmitglieder weiter.
Am Horizont zeichnet sich eine neue duale Hegemonie zwischen den USA und China ab, wobei zu berücksichtigen ist, dass insbesondere dreiecksübergreifend die Handelsbeziehungen zwischen China und der EU immer stärker werden. So lange Russland die Inseln Sachalin und die Kurilen nördlich von Hokkaido zum russischen Territorium zählt, auf die aber Japan Anspruch erhebt, können sich die Beziehungen zwischen Japan und Russland nicht entscheidend verbessern.
Als neue dreiecksübergreifende Machtfaktoren haben sich die transnationalen Unternehmen und das weltweit engagierte Finanzkapital entwickelt. Beide Machtfaktoren tragen zur Stärkung einer neuen dualen Hegemonie zwischen den USA und China bei. Sie sind darüber hinaus jedoch auch bestrebt, ein neues Verhältnis zwischen den intergesellschaftlichen und den internationalen staatlichen Beziehungen herbeizuführen.
2. Ausführliche Analyse der globalen Machtkonstellationen
Innergesellschaftliche und innerstaatliche sowie globale Machtkonstellationen entstanden zu allen Zeiten menschlichen Zusammenlebens, jedoch erst auf höherem Entwicklungsniveau bildeten sich so vielschichtige Formen wie Hegemonien oder Imperien aus. Begründet wurde Herrschaft vorwiegend als Herrschaft der Besten (oftmals mit der Begründung, dass sie von Gott den Würdigsten zugeteilt würde) oder als Repräsentanz des Volkes (in der die Selbstrepräsentation der Repräsentierenden gelegentlich übersehen wird). Die ursprünglich proklamierte Herrschaftsidee degeneriert in der gesellschaftlichen Praxis nicht selten zur Ideologie, mit der die Ausübung von Macht gerechtfertigt wird (z.B. Volkssouveränität).
Obgleich alle Herrschaftsformen von endlicher Natur sind, drapieren Herrschende sich selbst und ihre Herrschaftsform gern mit der Aura der Unsterblichkeit; und obwohl sie meistens ihre Entscheidungen unter Zeitnot, Unsicherheit und vor allem Ungewissheit über den einzuschlagenden Weg treffen, der zum bereits vorher bestimmten Resultat führen soll, nehmen sie dessen ungeachtet für sich das Privileg der Deutungshoheit in Anspruch, bezeichnen überdies ihre Handlungsweise als alternativlos und als unmittelbare Folge der sie leitenden Herrschaftsidee.
Nur in der recht seltenen Form der freiwilligen Über- und Unterordnung sehen sich die Untergeordneten durch adäquate Gegenleistungen der Übergeordneten in ihrer Unterordnung voll bestätigt. Bereits das unausgeglichene Verhältnis von Über- und Unterordnung und erst recht Verhältnisse von Herrschaft und Beherrschung erzeugen strukturelle Gewalt, auf die Betroffene meist mit Widerstand antworten.
Die Analyse globaler und regionaler Machtstrukturen hat es mit verschiedenartigen Formen der Ausübung von Herrschaft zu tun, insbesondere mit dem Streben nach globaler oder dualer Hegemonie, aber auch mit der ungleichen Machtverteilung in multipolaren Konstellationen. Davon zu unterscheiden ist eine Staatengemeinschaft, in der das Modell der Ko-Evolution praktiziert und auf die Etablierung von Herrschafts- und Beherrschungsverhältnissen möglichst verzichtet wird (EU als Ideal). Nahezu ausgeschlossen ist heutzutage die Bildung von Imperien. Das inzwischen erreichte Ausmaß an Komplexität in den wechselseitigen Beziehungen steht einem solchen Bestreben entgegen.
2.1 Die Vergänglichkeit zurückliegender Machtkonstellationen
Die meisten Akteure des Fünfmächtesystems bzw. der Pentarchie des 19. Jahrhunderts (Großbritannien, Russland, Frankreich, Österreich-Ungarn und Preußen) zeichneten sich weder durch eine besondere Weitsicht aus, noch waren sie sich bewusst, dass die Struktur des Fünfmächtesystems vergänglich sein könnte. Der Weg in den Ersten Weltkrieg blieb ihnen deshalb nicht erspart. Weder erkannten sie frühzeitig die Relevanz der Machtverschiebungen innerhalb des Systems noch waren sie in der Lage, adäquat darauf zu reagieren. Die Wiederauflage des Fünfmächtesystems als modifizierte Pentarchie (Großbritannien, Frankreich, Polen, Tschechoslowakei und Deutschland – im Hintergrund mit Jugoslawien als verstärkendes Element der beiden schwächeren östlichen Mitglieder) demonstrierte überdeutlich, wie wenig lernfähig sich die politischen Akteure im Umgang mit den Resultaten des Ersten Weltkrieges zeigten. Ein Sicherheitssystem zu errichten, das ein früheres Mitglied (die revolutionäre Sowjetunion) isoliert, ein zweites Mitglied (Deutschland) in seiner Macht drastisch begrenzt, zum alleinigen Schuldigen für den Ausbruch des Krieges erklärt und beide zu Parias des Systems herabstuft, kann nicht auf Dauer funktionieren und den Frieden zwischen den Völkern erhalten. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg war damit zwar nicht vorgezeichnet, aber auch nicht frühzeitig abgewendet.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges übernahmen die außereuropäischen USA und die eurasische Sowjetunion die Kontrolle über die Länder Europas. Sie entfalteten uneingestanden mit- und gegeneinander eine duale Hegemonie, verhielten sich zueinander aber wie in einem Nullsummenspiel. Beide missachteten das wesentliche Merkmal einer dualen Hegemonie. Duale Hegemonien unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von einer Nullsummenkonstellation. Scheitert im Kampf eine der beiden Hegemonien und verliert ihren hegemonialen Status, muss die überlebende Hegemonie versuchen, die eigene global auszudehnen. Reichen ihre Kräfte dazu nicht aus und hat ihr vergebliches Bemühen sehr viel Kraft gekostet, riskiert sie, von ehemals hegemonisierten und jetzt mit ihr konkurrierenden Mächten nicht mehr als hegemoniale Macht akzeptiert bzw. erduldet zu werden. Die Kontrahenten in einer weltumspannenden dualen Hegemonie müssen deshalb immer ausloten, welche Handlungsweisen den Handlungsspielraum des jeweils Anderen so einschneidend gefährden, dass sein hegemonialer Status auf dem Spiele steht. Der unbedacht herbeigeführte Untergang des Einen provoziert letztlich den Untergang des Anderen. Mit ihrer unreflektierten Verhaltensweise führten die USA und die Sowjetunion selbst das Ende ihrer dualen Hegemonie herbei.
2.2 Globale Hegemonie der USA – die beiden Modelle Zbigniew Brzezinskis
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bot sich den USA die Chance zur Etablierung einer globalen Hegemonie. In der konkreten Ausgestaltung dieser weltweiten Hegemonie tat sich insbesondere Zbigniew Brzezinski, Chef des Nationalen Sicherheitsrats unter US-Präsident Carter, hervor. Brzezinski unterschied zwischen zwei Modellen:
Unter einer konfliktfreien Kooperation verstand Brzezinski die Errichtung einer dauer-haften Etablierung amerikanischer Vorherrschaft als globale Demokratie in allen Regionen der Erde. Er unterschied zwischen den Mächten, die sich freiwillig an der Vorherrschaft der USA beteiligten, ohne irgendwelche Ansprüche zu stellen, und Mächten, die sich unwillig oder widerspenstig zeigten und „anarchischen Tendenzen“ folgten.
Das Verhältnis zwischen der vorherrschenden Macht und den kooperativen Mitherrschern charakterisierte Brzezinski damit als ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis, in dem die einflusslosen Mitherrscher in der totalen Unterordnung unter die Vorgaben des Herrschers ihre Selbstbestimmung auf optimale Weise erfüllt sehen. Er dachte hierbei vor allem an die europäische Machtelite und japanische Politiker und Spitzenbürokraten, die ihre Interessen mit denjenigen der USA identisch setzten.
„Transatlantische Partnerschaft“ war der adäquate Begriff für ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis, in dem die Macht- und Statusunterschiede zwischen den USA und Europa aus dem Blickfeld verschwanden. Brzezinski war sich aber durch-aus über gravierende Interessenunterschiede zwischen den transatlantischen Partnern der USA bewusst. So bezeichnete er z.B. die dauerhafte Stationierung US-amerikanischer Truppen in Deutschland als Garantie für ein stabiles Europa. Der französische Präsident Mitterrand hatte den USA für den Fall der nicht mehr von Großbritannien und Frankreich zu verhindernden Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 eine Schlüsselstellung in den Sicherheitsfragen Europas zugebilligt. Die Anwesenheit amerikanischer Truppen auf deutschem Boden nehme den übrigen Europäern ihre Angst vor einem künftigen deutschen Dominanzstreben. Die Westeuropäer erwarteten also von den USA Sicherheit vor deutschen Expansionsgelüsten und ordneten sich in diesem Punkt freiwillig den USA unter. Das vereinte Deutschland hingegen wurde zur Freiwilligkeit verpflichtet. Ihm unterstellte man aufkeimendes Dominanz- und Expansionsstreben, sobald es erst einmal wiedervereint sei. Das von Brzezinski propagierte ideale Über- und Unterordnungsverhältnis im transatlantischen Bündnis hatte also unterhalb der glatten Oberfläche tief reichende Bruch-stellen und war keinesfalls ideal konstruiert.
Staaten mit „anarchischen Tendenzen“ bezeichnete Brzezinski als Beherrschte, die sich der etablierten globalen Ordnung nicht fügen wollten, die ganz offensichtlich andersartige Interessen als die USA verfolgten und mit geeigneten Mitteln zur Unterordnung gezwungen werden mussten. Im US-bestimmten Herrschafts-Beherrschungsverhältnis schlug er die einen (unbefragt) auf die Seite des Herrschers und die anderen bezeichnete er als anarchische Störenfriede, die es verdienten, beherrscht zu werden. In der Diktion Bush juniors wurden daraus „die Schurkenstaaten“ und in der Begrifflichkeit der Vertreter der Global Governance Theorie „die gescheiterten Staaten“.
Unter einer konfliktreichen geopolitischen Stabilität verstand Brzezinski die Neuauflage des Ost-West-Konflikts, nur diesmal nicht wie damals mit der Sowjetunion, sondern jetzt mit dem undemokratisch regierten China. Beide Mächte würden – wie zur Zeit des vergangenen Ost-West-Konflikts – den Verhandlungsspielraum der von ihnen Beherrschten begrenzen und wie damals würden drei Aspekte das Verhältnis der herrschenden Mächte zueinander dominieren: 1. Ideologische Feindschaft, 2. Rivalität im Streit um periphere oder noch blockfreie Gebiete und 3. Stillschweigende Kooperation in von beiden für unverzichtbar gehaltenen Einflussgebieten.
Ob konfliktfrei oder konfliktreich hergestellte Stabilität, nach Ansicht Brzezinskis fiel den USA in beiden Formen die Lokomotivfunktion in der Entfaltung der wirtschaftlichen Dynamik zu. Die USA bezeichnete er als die politisch, ökonomisch und militärisch „unverzichtbare Macht“, in deren Händen die Realisierung der globalen Demokratie in der sogenannten „Dritten Welt“ und beim undemokratisch regierten Kontrahenten läge. Brzezinskis zweites Modell lief also auf einen von den USA in die Wege geleiteten Systemwechsel in China und der „Dritten Welt“ hinaus. Die Umsetzung dieses Modells nahmen nacheinander die US-Präsidenten Clinton und Bush junior in Angriff.
2.3 Neujustierung der globalen Hegemonie der USA: Global Shift – How the West Should Respond to the Rise of China
Die Autoren des Jahresberichts 2011 der Transatlantic Academy schlugen die Bildung eines neuen Dreiecks zwischen USA, Europa und China vor, legten aber zu-gleich großen Wert auf die Fortsetzung einer spezifischen Mischung von Eindämmung und Engagement gegenüber China. Sie regten eine Arbeitsteilung zwischen den USA und der Europäischen Union an, in der sich die Europäer auf Transformationsbestrebungen in ihrer europäischen Nachbarschaft und die USA auf Schwer-punkte in Asien konzentrieren.
Wie zuvor bei Brzezinski betrachteten sie das Verhältnis zwischen den USA und Europa als ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis und negierten beispiels-weise so gravierende Interessenunterschiede, wie sie auf der NATO-Tagung in Bukarest im Juli 2008 zutage traten, als der amerikanische Präsident Bush junior der Ukraine und Georgien den Zutritt zur NATO-Mitgliedschaft öffnen wollte, aber kontinentaleuropäische Staaten dagegen votierten. Sie leugneten ebenfalls die Interessenunterschiede zwischen den USA und den Ländern der Euro-Zone in der Bewältigung der Staatsschuldenkrise im Gefolge des Finanzkollaps des Jahres 2008/2009 und der dafür letztlich verantwortlichen – über Jahrzehnte geförderten – Ungleichheit in der Einkommensverteilung als Folge des Neoliberalismus.
2.4 Henry Kissingers Vorschlag einer Ko-Evolution
Eine wirkliche Neujustierung der US-Strategie legte erst Henry Kissinger in seinem Buch „On China“ vor. Was bewog den altgedienten Strategen und Machtpolitiker Kissinger, vom Kampf um Weltmacht Abschied zu nehmen und dem Verhältnis der Staaten zueinander eine andere Zielrichtung zu geben? Ist es die Erkenntnis, dass Machtpolitik ebenso mit Wunschdenken behaftet ist wie jede Form idealistischer bzw. altruistischer Politik? Kissinger war überzeugt, dass weder die USA noch China mächtig genug sind, den anderen zu beherrschen. Ihre Beziehungen sollten deshalb nicht auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen, in dem der Erfolg des Einen der Nachteil des Anderen ist. Am Ende würden sich beide gegenseitig schwächen und konkurrierenden Mächten zum Erfolg über sie verhelfen.
Kissinger präzisierte jedoch nicht, auf welche Weise der Aktions- und Reaktionsmechanismus außer Kraft gesetzt werden kann. Handelt die Politik gemäß der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), setzt sie das amerikanisch-chinesische Binnenverhältnis dem Mechanismus von Aktion und Reaktion aus, aber gegen die Dynamik, die militärischer, ökonomischer und geopolitischer Kraftentfaltung inhärent ist, vermag Diplomatie allein wenig auszurichten. Das Abgleiten in ein Nullsummenspiel ist dann kaum zu vermeiden. Kissinger stellte selbst einschränkend fest: „Leaders cannot create the context in which they operate. Their distinctive contribution consists in operating at the limit of what the given situation permits. If they exceed these limits, they crash; if they fall short of what is necessary, their policies stagnate.” (ebd. S.215).
Im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg wurde Kissingers Betonung der Diplomatie verständlich, denn ohne intensive diplomatische Bemühungen wäre wahrscheinlich damals die Enteisung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen nicht gelungen. Ohne einfühlsame Worte und begleitende Gesten hätte der Eispanzer nicht gesprengt werden können. Weniger begnadete Diplomaten auf beiden Seiten wären vielleicht an dieser Aufgabe gescheitert.
Was die Schuldzuweisung am verlorenen Krieg betrifft, argumentierte Kissinger sehr einseitig. Für ihn war auf der Seite der USA die Überzeugung eines bedeutenden Teils des amerikanischen Establishments, den Krieg für nicht gewinnbar zu halten und als angeborenen moralischen Fehler des amerikanischen politischen Systems zu betrachten, entscheidend für den Ausgang des Krieges. Die eigentliche Ursache war jedoch die Weigerung der USA, China für die Mithilfe an der Beendigung des Krieges angemessen zu entschädigen und mindestens für Südvietnam einen neutralen Sta-tus zu erlauben. Mit ihrer Weigerung lieferten sie der kulturrevolutionären Linie in der chinesischen Führung das entscheidende Argument für die weitere Unterstützung des Vietkongs.
Kissinger war sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass heutzutage Welt-mächte nicht mehr unabhängig voneinander ihre Entwicklung vorantreiben können. Ko-Evolution bedarf eines hohen Maßes an wechselseitiger Information über beab-sichtigte Maßnahmen des anderen und erfordert einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Sie geht selbst weit über die Verhaltensweisen hinaus, die in einer dualen Hegemonie erforderlich sind.
Ob die USA Kissingers Vorschlägen zur Entfaltung einer Ko-Evolution folgen würden, war angesichts der auf amerikanischer Seite unaufgearbeiteten dualen Hegemonie zwischen der Sowjetunion und den USA unwahrscheinlich. Dem US-amerikanischen Militär und dem republikanisch dominierten Repräsentantenhaus fiel es, wie der ehemalige stellvertretende US-Verteidigungsminister Chas W. Freeman feststellte, immer noch schwer, vom Streben nach globaler Hegemonie abzulassen und entsprechend der geschwächten Finanzkraft der USA den bisher weltweit ausgelegten Aktionsradius auf die begrenzteren Erfordernisse einer dualen Hegemonie umzustellen.
Einige Mitglieder der Machtelite der USA schienen sich sogar über Kissinger lustig zu machen. Sie glaubten fest daran, dass ihre strategischen Zielsetzungen bar jeden Wunschdenkens sind und Kissinger dem Idealismus verfallen war. Da zur Ko-Evolution zwei Parteien beitragen müssen, kam es aber auch auf die chinesische Führung an, ob Kissingers Überlegungen Realisierungschancen erhalten.
2.5 Chinas komplexe Herrschaftsstruktur
Jin Canrong behauptete in seinem Buch „Big Power’s Responsibility – China’s Perspective“ (China Renmin University Press 2011), “Harmonious China” sei das Vorbild der Diplomaten aus aller Welt (ebd.S.2). China habe es gar nicht nötig, eine Hegemonie zu errichten. Die vielgestaltige und mit geschichtlicher Erfahrung gesättigte chinesische Kultur biete der Führung des Landes einen idealen Maßstab für die Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn und den Mitspielern auf der globalen Bühne. Jin Canrong erwähnte explizit die Vision von Laozi, nach der zwischen Mensch und Natur Harmonie herrscht. Der Mensch nimmt sich die Natur als Vorbild, die Natur richtet sich am Firmament aus, das Firmament beeinflusst maßgeblich den Weg des Lebens (dao) und jener befindet sich wiederum in idealer Übereinstimmung mit der Natur (ebd.S.24).
“Harmonious China” sei der perfekte Ausdruck dieses geschlossenen Kreislaufs, der sowohl für China selbst wie für seine Außenbeziehungen Gültigkeit besitze, postuliert Jin Canrong. „Harmonious China” meine nicht, dass innergesellschaftlich und in den Außenbeziehungen Chinas keine Über- und Unterordnungsverhältnisse existieren sollen. Gemeint sei ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis gemäß Hegels Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn bzw. Niklas Luhmanns Darstellung der Verhaltensweise des Machtunterworfenen, von dem erwartet wird, dass er „sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat,.." (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, a.a.O. S.153f; Luhmann, Niklas, 1988, 2.Aufl.: Macht, Stuttgart, S.21). Ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis kommt sicherlich der Wunschvorstellung aller Übergeordneter entgegen, aber realisieren lässt es sich meistens nicht, denn das von Unterwürfigkeit und Widerspenstigkeit gleichermaßen gekennzeichnete Bewusstsein des Macht-unterworfenen vereitelt seine Realisierung.
Mit diesem Widerspruch im Unterordnungsbewusstsein der chinesischen Bevölkerung muss sich die chinesische Staatsmacht auseinandersetzen, so lange sie nicht in der Lage zu sein glaubt, ihre eigene allumfassende Gewaltbefugnis in freiwilliger Selbstverpflichtung einzuschränken. Sie hat zwar in der Wirtschaft Chinas kapitalistische Strukturen und die für die Eigeninitiative der Unternehmer benötigte Freiheit zugelassen, aber nicht zugleich das Feld der Diskurse für verschiedene Denkansätze und Theorien geöffnet. Als Folge der wirtschaftlichen Transformation und der beibehaltenen Begrenzung auf der Ebene der Diskursivität hat es die Bevölkerung Chinas mit Formen struktureller Gewalt zu tun, die sowohl der kapitalistischen Produktions-weise wie der politischen Herrschaft entstammen.
Die Staatsführung hingegen muss sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Problematik aus dieser geteilten Freiheit für die Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft entsteht; denn gehen hochrangige Formationen, die als Folge der kapitalistischen Akkumulation zunehmend herrschaftliches Gebaren an den Tag legen, und der Staat eine enge Bindung miteinander ein, wird entweder der Staat zu deren Anhängsel und treibt an vorderster Stelle deren Praxen voran, oder ein starker Staat bedient sich der Vor- und Mitarbeit der herrschenden Formationen, um seine eigenen Ziele und Aktivitäten voran zu bringen. Im ersten Fall verliert der Staat seine Fähigkeit, zum Zweck der Erhaltung des formlosen Gegenhalts einzugreifen, und im zweiten maßt er sich eine umfassende Steuerungskapazität an, die er aufgrund der auch ihm fehlenden Information über die künftigen Erfordernisse nicht hat. Kaderparteien mit ihrem streng hierarchischen Aufbau bilden die denkbar schlechteste Voraussetzung für die Entfaltung einer in komplexen Gesellschaften immer notwen-diger werdenden Irrtumskultur (Wolf Singer).
2.6 Die Scharnierfunktion Russlands
Nach dem Ende der Sowjetunion war für Russland vor allem die Funktion eines Rohstoff- und Energielieferanten der übrigen Welt vorgesehen. Der von Zbigniew Brzezinski entworfene strategische Ausblick sah das Vordringen der USA und der EU bis zu den Erdöl- und Erdgasvorkommen Zentralasiens vor. Durch die Verselbständigung Sibiriens und der Randgebiete des vormals sowjetischen Territoriums sollte Russland isoliert und künftig an seiner Südflanke durch Georgien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan und Kasachstan auf einer neuen „Seidenstraße“ von Europa nach China umgangen werden.
Die meisten der im Prozess der dilettantisch durchgeführten Privatisierung des Staatseigentums zu schnellem Reichtum gelangten Oligarchen zeigten wenig Interesse an der Re-Industrialisierung Russlands und investierten ihre Gewinne aus dem Verkauf von Rohstoffen und Energie vornehmlich in börsennotierten Wertpapieren und Immobilien des Auslands. Als sie der Nachfolger Präsident Jelzins im Amt, Wladimir Putin, aufforderte, mit ihren Gewinnen auch zum Wiederaufbau Russlands beizutragen, verweigerten viele ihre Beteiligung. Ihre florierenden Geschäftsbeziehungen mit global tätigen Rohstoff- und Energiekonzernen, die keinerlei Verlangen nach einer mühsamen und risikoreichen Re-Industrialisierung Russlands hatten, jedoch wie die Oligarchen an der Besitznahme und schnellen Ausbeutung russischer Bodenschätze großes Interesse zeigten, waren ihnen wichtiger. Manche wichen dem zunehmenden Druck der russischen Regierung aus, indem sie Teile ihrer Unter-nehmen an ausländische Unternehmen verkauften, oder gemeinsam mit ihnen Unternehmen gründeten, um sich so dem Zugriff des russischen Staates zu entziehen. Um den drohenden Ausverkauf der gesamten Öl- und Gasindustrie an finanzkräftige Konzerne aus dem westlichen Ausland zu verhindern, verklagte die russische Regierung schließlich eines der Unternehmen in einem Steuerhinterziehungsprozess auf hohe Strafzahlungen. Die Signalwirkung dieser Vorgehens-weise war so deutlich, dass einige Oligarchen das Land verließen und andere handzahm wurden und die Zusammenarbeit mit der neuen russischen Führung anstrebten.
Dem Wiederaufbau einer neuen konkurrenzfähigen Industrie war man aber mit diesen Maßnahmen keinen Schritt nähergekommen, vielmehr hatte man es zunehmend mit einer Re-Sowjetisierung (modernisierungshemmende enge Verzahnung von Politik und Staatsunternehmen) und verbreiteter Korruption zu tun. Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis die erstrebte Modernisierung Russlands endlich in Gang kam. Erst nach dem mehrere Jahre von Georgien und den USA hintertriebenen Beitritt Russlands zum Welthandelsabkommen im Juli 2012, unter anderem durch die Aufrechterhaltung des Vanik-Jackson-Amendments, investierten – außer den seit mehreren Jahren bereits vor Ort tätig deutschen Unternehmen – auch US-amerikanische Unternehmen wieder verstärkt in Russland.
Parallel zur Problematik der Re-Industrialisierung entwickelte sich die lange Zeit ungeklärte Frage der Nationalität Russlands. Wie die untergegangene Sowjetunion ist auch Russland ein Vielvölkerstaat und kann deshalb nicht auf die russische Nationalität beschränkt werden. Mit der Schaffung der Eurasischen Union (Russland, Kasachstan, Weißrussland) anerkennt das heutige Russland, dass es territorial und in der Zusammensetzung der Bevölkerung sowohl ein europäisches wie asiatisches Land ist. Ob der Eurasischen Union längerfristig auch die übrigen zentralasiatischen Länder beitreten werden, ist ebenso ungewiss wie eine künftige Mitgliedschaft der Ukraine.
In enger Abstimmung mit China soll die Eurasische Union auch dazu beitragen, die Ambitionen der USA und der EU auf mehr Einfluss im rohstoffreichen Zentralasien zurückzuweisen, die Wasserversorgung dieser bewässerungsintensiven Gebiete in einer Interessenabwägung mit China sicherzustellen und das Transportnetz zwischen dem europäischen Teil Russlands und China leistungsstark auszubauen.
Als größte Herausforderung der russischen Machtelite hat sich die Ablehnung von Putins Machtvertikale durch die aufstrebende Mittelschicht Russlands herausgestellt. Sofern Putin auf das Produktivpotential der Mittelschicht für die weitere Modernisierung Russlands angewiesen ist, muss er dem dort verbreiteten Wunsch nach mehr individueller Freiheit und auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen entgegen kommen und zugleich das Verlangen nach einem starken Staat in der Bevölkerung der Provinz berücksichtigen. Eine Balance zwischen diesen beiden gegensätzlichen Wünschen zu finden, übersteigt selbst die Fähigkeiten von Staaten in etablierten Demokratien. Aber die schwierige Suche nach einer Balance kritisch zu begleiten, schafft gleichzeitig die Möglichkeit, die Scharnierfunktion Russlands auch für Europa zu nutzen.
2.7 Das ungleiche Verhältnis zwischen China und Indien
Der bis in die Gegenwart andauernde, Misstrauen säende Streit um den exakten Verlauf der Grenze zwischen beiden Mächten reicht zurück bis in die Zeit der Kolonialherrschaft des Britischen Imperiums über Indien und dessen Expansion auf tibetisches Territorium zu Lasten des chinesischen Anspruchs auf Tibet. Dieser Grenzstreit hat bereits im Jahre 1962 zum Krieg zwischen beiden Mächten geführt und behindert bis in die heutige Zeit die Evolution eines freundschaftlichen Verhältnisses der bevölkerungsreichsten Länder der Erde.
Im Kampf um maßgeblichen Einfluss setzen Indien und China ihren Streit entlang des Himalayas im gesamten Indischen Ozean und dem Südchinesischen/Süd-asiatischen Meer sowie in den Staaten Indochinas fort. Skrupellose Bedrohungsanalytiker beider Länder nutzen ihre Chancen, den fruchtlosen Aktions- und Reaktionsmechanismus und den von Periode zu Periode fortschreitenden Bewegungs- und Gegenbewegungsprozess am Leben zu erhalten und jeden Versuch einer ko-evolutionären Entwicklung zum Scheitern zu bringen. In ihrem Vorhaben nützlich sind ihnen die Untersuchungen naiver Bedrohungsanalytiker, deren Durchblicksvermögen vor allem von der Angst beherrscht wird. Unter solchen widrigen Umständen sehen Politiker beider Seiten ihre Verständigungsmöglichkeiten auf das Niveau pragmatischen Handelns begrenzt, aus dem die Konflikte als vorerst nicht lösbar heraus-gehalten werden.
Beide Führungen geben außerdem durch die Aufrechterhaltung ihrer wechselseitigen Bedrohungsängste interessierten Mächten die Gelegenheit, sie gegeneinander aus-zuspielen und ihre Ungleichheit zu vertiefen. Die Schere der Auseinanderentwicklung in der Wirtschaftsleistung vergrößert sich zu Ungunsten Indiens, so dass insbesondere Teile der indischen Machtelite für eine antichinesische Koalition und eine militärische Aufrüstung offen sind. Demgegenüber bestärkt das Strategiepapier Non-Alignment 2.0 alle jene gesellschaftlichen Kräfte Indiens, die dem dringenden Aus-bau der Infrastruktur und der Steigerung der Wirtschaftsleistung Indiens den Vorrang vor der Beschaffung militärischer Rüstung einräumen.
2.8 Globale oder duale Hegemonie versus Multipolarität
Das Fünfmächtesystem des 19. Jahrhunderts stellte durchaus eine erste multipolare Mächtestruktur dar. Die Frage war hier, inwieweit bereits ein Ausgleichsmechanismus existierte, der den Egoismus der einzelnen Mächte bremsen und ein Auseinanderbrechen dieser Struktur vermeiden konnte. Großbritannien kam in diesem Zusammenhang „als Zünglein an der Waage“ die Rolle zu, diesen Ausgleichsmechanismus in Gang zu setzen, falls sich zwei feindlich gesinnte Koalitionen gegenüberstanden. War eine der beiden Zweierkoalitionen zu keinem Kompromiss bereit und reichte der Einfluss des britischen Imperiums entweder nicht aus, um die zum Krieg entschlossenen Mächte rechtzeitig zu beruhigen, oder zeigte die britische Regierung kein Interesse an der Wahrnehmung ihrer Ausgleichsfunktion, weil sie nach dem Aufstieg des Deutschen Reiches den Verlust ihrer Schiedsrichterrolle fürchtete, war ein Krieg unvermeidlich. Bismarcks geheimer Rückversicherungsvertrag mit Russland, in dem das Deutsche Reich sich für drei Jahre zu wohlwollender Neutralität im Kriegsfall verpflichtete, wenn die österreichisch-ungarische Regierung Russland den Krieg erklärte, weil die russische Regierung ihren maßgeblichen Einfluss in Bulgarien geltend machte und auf die Ausdehnung ihres Einflusses auf den Bosporus bestand (ganz geheimes Zusatzprotokoll), stellte eine weitere Variante eines Ausgleichsmechanismus dar, die jedoch im Falle eines Angriffskriegs Russlands gegen Österreich-Ungarn und des Deutschen Reiches gegen Frankreich unwirksam blieb. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages und das fehlende Interesse Großbritanniens an der Verhinderung eines europäischen Krieges beendete das multipolare Fünfmächtesystem und bestärkte nach dem Zweiten Weltkrieg die USA und die Sowjetunion in ihrem Streben nach Entfaltung einer globalen Hegemonie. Die Kraftentfaltung beider Mächte ermöglichte jedoch nur die Etablierung einer dualen Hegemonie, die beide als Nullsummenspiel missverstanden und deshalb im Verlust der hegemonialen Position der Sowjetunion und der trügerischen Hoffnung auf die Errichtung einer dauerhaften US-amerikanischen globalen Hegemonie endete.
Das daraufhin folgende Bemühen der USA, eine globale Hegemonie zu errichten und gegen alle Widerstände zu etablieren, endete nach ein paar Jahren mit der Einsicht, dass noch nicht einmal die zweitbeste Lösung, eine duale Hegemonie - diesmal mit China - realisierbar war. Scheiterte auch dieser Versuch, musste man sich schließlich mit einer multipolaren Machtstruktur abfinden. Chinas immer wieder artikuliertes Desinteresse an einer dualen Hegemonie mit den USA bestärkte die Herausbildung einer multipolaren Struktur, in der neben den USA und China auch Indien, Russland, die Europäische Union sowie Brasilien beteiligt sind.
Anders als im Fünfmächtesystem des 19. Jahrhunderts, in dem Staat und nationale Zirkulationssphäre noch nicht weit auseinander drifteten und Finanzkapital und Industrieunternehmen den Heimatimperien stärker zugeordnet blieben, muss sich heutzutage eine globale multipolare Machtstruktur mit der Regelung der Geschäftsbeziehungen von global agierenden transnationalen Unternehmen und dem weltweit tätigen Finanzkapital befassen. Geschieht dies nicht, produzieren unregulierte „Märkte“ chaotische Beziehungen, in denen die stärksten Weltunternehmen und Banken über die Staatenwelt dominieren und in weltweiten Krisen gegeneinander konkurrieren. Gelingt es jedoch den Staaten, die ökonomisch und finanziell relevanten Akteure in ihren Marktbeziehungen zur Einhaltung von gesetzlich und vertraglich fixierten Regeln zu zwingen, manifestieren sich weltweit gültige Normensysteme, die auch die Ausgleichsmechanismen der Staaten untereinander normativ aufladen. Auf diesem Weg könnte allmählich eine globale multipolare Machtstruktur entstehen, die das von Henry Kissinger vorgeschlagene Modell der Ko-Evolution zum Vorbild hätte.
Bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2013 deutete der US-amerikanische Vizepräsident Joe Biden an, dass sich die USA von der „Weltpolizistenrolle“ verabschieden würden. Die USA agierten künftig in der Beilegung von Konflikten vorwiegend aus der zweiten Reihe. Daraus konnte nicht geschlossen werden, dass die USA allen Hegemonievorstellungen für immer abgeschworen hatten. Die Etablierung einer dualen Hegemonie mit China war weiterhin eine Perspektive, die insbesondere von den Protagonisten der „US Rebalancing Policy“ voran getrieben wurde. Unter „Rebalancing“ wurde verstanden, dass die USA im gesamten Pazifik bis hart an die Küsten Chinas dominant bleiben und die europäischen Staaten aufgefordert werden, vor ihrer eigenen Haustür das Kommando von den USA zu übernehmen und im asiatischen Raum der Eindämmungs- und Menschenrechtsstrategie der USA willig beizutreten.
Im Vertrauen auf die den etablierten Industrieländern nach der Banken- und Staatsschuldenkrise (2008) verbliebene Wirtschaftsleistung von etwas mehr als der Hälfte der Weltwirtschaftsleistung boten die USA den Staaten der Europäischen Union die Entwicklung einer gemeinsamen Freihandelszone an und prognostizieren für die Zukunft einen erheblichen Zuwachs im Austausch von Waren und Dienstleistungen. Getrieben wurde dieses Angebot von der Angst, dem weiter rapide steigenden Handelsaustausch zwischen der EU und China sowie Russland nichts Gleichwertiges entgegen setzen zu können und gegenüber dem Zusammenwachsen Eurasiens ins Hintertreffen zu geraten.
Als Argument diente die angebliche „Wertegemeinschaft“ mit den USA, die jedoch so lange wertlos blieb, wie das republikanisch bestimmte Repräsentantenhaus in Washington am Straflager Guantanamo auf Kuba festhielt, US-amerikanische und europäische Regierungen die Menschenrechte missachtende Führung Saudi-Arabiens zum Stabilitätsfaktor im arabischen Raum stilisierten und im syrischen Bürgerkrieg mit Al Kaida sympathisierende Rebellen tolerierten, aber gleichzeitig – interessengeleitet – gegen Al Kaida in Mali und dem angrenzenden Niger wegen der Uranvorkommen militärisch vorgingen (Thomas Schmid, Der Kollateralnutzen militärischer Interventionen, Frankfurter Rundschau, 26./ 27.1. 2013, Jürgen Todenhöfer, Die Terror-Zyniker, Frankfurter Rundschau, 31.1. 2013).
Die europäischen Länder sollten sich jedoch an die Zeit des Ost-West-Konflikts erinnern, in dem sie als Schwächere des innerwestlichen Dreiecks USA-Japan-Westeuropa den drastischen Handelsbeschränkungen des von den USA einseitig im US-amerikanischen Interesse ausgelegten COCOM unterworfen wurden. Marshall-plan und COCOM bildeten die zwei Seiten einer Medaille, die zur ökonomischen Teilung Europas und insbesondere Deutschlands führten und das innerwestliche Dreieck schufen. Die erneute Etablierung des Dreiecks USA-EU-Japan würde die Handelsbarrieren gegenüber China und insbesondere Russland stark steigen lassen und die Gefahr heraufbeschwören, dass die Europäer künftig von den Rohstoffen, Produktionskapazitäten und der Binnennachfrage Russlands und dem prosperieren-den Binnenmarkt Chinas abgeschnitten werden. Folgt man in Europa jedoch der eurasischen Perspektive, sind dem weiteren Handelsaustausch mit China und Russland keine Grenzen gesetzt und die USA müssten schließlich, um nicht isoliert zu werden, dem Beispiel Europas folgen und sich mit einer multipolaren Machtstruktur globalen Ausmaßes abfinden.
Aus: Reinhard Hildebrandt, Globale und regionale Machtstrukturen – Globale oder duale Hegemonie, Multipolarität oder Ko-Evolution, Schlusskapitel, Peter-Lang Verlag 2013
3. Teilung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg
Während sich Historiker immer noch darüber streiten, wer die Hauptschuld am Ausbruch des I. Weltkriegs (1914-1918) trägt oder alle Beteiligten ein wenig Schuld, ist der Beginn des II. Weltkrieges (1939-1945) mehrere Jahre von Hitlerdeutschland vorbereitet worden. Die als schmachvoll für Deutschland verstandenen Resultate des I. Weltkrieges sollten revidiert werden und darüber hinaus wollte man das deutsche Territorium nach Osten auf Kosten Polens und nach Süden durch Eingliederung Südtirols ausdehnen. Die zögerlichen Kriegsvorbereitungen anderer europäischer Mächte zur Abschreckung eines deutschen Angriffskrieges resultierten teilweise aus der Einsicht, dass die Bedingungen des Versailler Vertrages zu hart ausgefallen waren und in Deutschland von radikalen Kräften gegen den Aufbau einer demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung benutzt wurden.
Nachdem jedoch ab 1943 vorhersehbar wurde, dass Deutschland auch diesen Krieg verlieren würde, begannen auf Seiten der Alliierten vorbereitende Verhandlungen über Deutschland aufzuerlegende Kapitulationsbedingungen, die im Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die gemeinsame Verwaltung von Groß-Berlin vom 12. 9. 1944 ihren Niederschlag fanden. Die Gemeinsamkeit der Siegermächte über die Behandlung der nach der Kapitulation Deutschlands geschaffenen Besatzungszonen zerbrach bereits nach wenigen Monaten. Entsprechend der Viermächtevereinbarungen sollten alle Beschlüsse einstimmig gefasst werden, was insbesondere in der Kommandantura für Groß-Berlin dazu führte, dass man immer häufiger keine Entscheidungen traf und jede Besatzungsmacht in ihrem Sektor von Berlin separate Entwicklungen vorantrieb. Dadurch geriet der von der Sowjetunion nach der alleinigen Besetzung ganz Berlins durch die Rote Armee geschaffene Gesamtberliner Magistrat mit den drei von den USA, Großbritannien und Frankreich in ihren Westsektoren Berlins eingesetzten deutschen Verwaltungen zunehmend in Konfliktsituationen.
Zwischen den vier Siegermächten entfachten vor allem die von Deutschland zu zahlenden Reparationslasten tiefgreifende Auseinandersetzungen. Während die deutsche Armee auf russischem Territorium beträchtliche Kriegsverwüstungen hinterließ, hatte Großbritannien vor allem Zerstörungen durch den Abwurf von Bomben auf einige britische Städte zu beklagen. Frankreich war zwar von deutschen Truppen besetzt worden, aber blieb mit wenigen Ausnahmen von Luftangriffen weitgehend verschont. Die USA lagen weit außerhalb der Reichweite deutscher Bomber und Angriffe deutscher Truppen. Entsprechend der großen Unterschiede in der Zerstörung des eigenen Territoriums erhoben die vier Mächte sehr unterschiedliche Reparationsforderungen. Sehr bald entschieden die USA und Großbritannien für ihre Besatzungszonen, dass kaum noch Reparationslasten aus der laufenden Produktion der deutschen Industrie entnommen werden sollten, während die Sowjetunion so-wohl auf die Verlagerung von Industrie wie auf die Entnahme aus der laufenden Produktion bestand. Der Streit über die Frage, wieviel Reparationsgüter aus den Westzonen Deutschlands und Westsektoren Berlins zusätzlich in die Sowjetunion abtransportiert werden sollten, führte zu massiven Auseinandersetzungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Die USA befürchteten, dass als Folge der hohen Reparationsforderungen der deutschen Bevölkerung nicht nur Verelendung drohte, sondern auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) daraus Nutzen ziehen würde. Um beides zu verhindern und den Warenverkehr zwischen den USA und Europa wieder anzukurbeln, reduzierten sie die Entnahme von Reparationsgütern und -zahlungen und dehnten den Marshallplan auch auf die Westzonen aus. Mit Hilfe des Marshallplans wurden europäische Unternehmen wieder zahlungsfähig und die USA konnten Massenarbeitslosigkeit in den vermeiden.
Die Sowjetunion verweigerte für ihre Besatzungszone den Empfang von Marshallplangeldern, solange die Verteilungsbedingungen die Einführung eines privat-kapitalistischen Wirtschaftssystems voraussetzten. Sie beabsichtigte in ganz Deutschland ein Gesellschaftsmodell zu etablieren, dass eine Mischung zwischen kapitalistischem und realsozialistischem darstellte und dazu dienen sollte, die Einheit Deutschlands zu bewahren und vor allem die Lieferung von Reparationsleistungen an die Sowjetunion sicher zu stellen. Dieser Konflikt entschied die Frage, ob Deut-
schland als Einheit erhalten blieb oder in zwei Teile zerbrach. In den Westzonen wurde auf Drängen der USA und der von Adenauer geführten CDU die Annahme der Marshallgelder beschlossen. Die damit möglicherweise verbundene Teilung Deutschlands in einen West- und einen Oststaat nahm man in Kauf. Denn sollte es aufgrund der schnellen wirtschaftlichen Erholung in den Westzonen und dem Zurückbleiben der sowjetischen Besatzungszone zu einer Fluchtbewegung aus der sowjetischen Besatzungszone in die Westzonen kommen, würde die Ostzone „ausbluten“ und die Sowjetunion gezwungen werden, entweder die eigene Zone abzuriegeln oder völlig aufzugeben. Als vordringliche Aufgabe empfand man die Durchführung einer Wäh-rungsreform in den drei Westzonen und den Westsektoren Berlins im Jahre 1948 (Ersatz der Reichsmark durch die DM). Die Sowjetunion entschied sich zunächst für die Blockade von Berlin (West), um über diesen Hebel die drei anderen Alliierten wieder an den Verhandlungstisch des Alliierten Kontrollrates zu zwingen. Auf diese Maßnahme reagierten die Westalliierten mit der Versorgung der Westberliner Bevöl-kerung durch die Luft (Luftbrücke) und die USA drohten mit der atomaren Zerstörung der Sowjetunion. Abgesehen von der notwendigen Versorgung der Menschen flogen sich insbesondere die Amerikaner in die Herzen der Westberliner. Der daraufhin entstandene Widerstandswille der Westberliner Bevölkerung signalisierte den Westalliierten, dass es keine massenhaften Absetzbewegung in die drei Westzonen geben würde und man dieses Berlin (West) als Faustpfand gegen die Sowjetunion und ihre Zone richten konnte. Für die Sowjetunion ging die Blockade der Teilstadt ohne jeglichen Erfolg im Juni 1949 zu Ende. Die im Mai 1949 – auf Geheiß der Westalliierten – stattfindende Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) beantwortete sie mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Oktober 1949 als zweiten deutschen Staat. Die Teilung Deutschlands würde bis zum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts dazu führen, dass sich die beiden untereinander verfeindeten deutschen Staaten jeweils als Juniorpartner ihrer Führungsmächte USA einerseits und Sowjetunion andererseits empfanden und das geteilte Berlin zum Brennpunkt des Ost-West-Konflikts wurde.
4. Die deutsch-deutsche Konstellation zu und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (1988/89)
Voraus gingen:
Der Bau der Mauer am 13. August 1961, nachdem mehr als 3 von 17 Millionen DDR-Bürgern ihre Heimat in Richtung Bundesrepublik Deutschland verlassen hatten. Um das weitere „Ausbluten“ der DDR zu stoppen, willigte die Sowjetunion in die von der DDR-Regierung geforderte Abriegelung der Innerberliner Grenze (zwischen Berlin (West) und Berlin(Ost) ein. Die Westmächte wurden acht Tage vor dem Bau der Mauer in Geheimdepeschen von der Sowjetunion informiert. Sie bestanden lediglich darauf, dass ihre Freizügigkeit innerhalb Berlins nicht verletzt wird. Bereits längere Zeit vor dem Mauerbau war die Grenze von Berlin(West) zur DDR und zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (1952) durch undurchdringliche Sperrmaßnahmen unpassierbar geworden. Unzufriedene DDR-Bürger blieben jetzt in der DDR. Sie konnten nicht mehr in den Westen Deutschlands oder nach Berlin (West) fliehen, um von dort in die Bundesrepublik Deutschland ausgeflogen zu werden. Von Jahr zu Jahr und erhöhte sich die Zahl der sich zum DDR-Regime ablehnend verhaltenen Bevölkerung. Der Staatssicherheitsdienst der DDR stand vor einem immer weniger lösbaren gesellschaftlichen Konflikt. Außerdem konnten Versorgungsengpässe nicht mehr aus eigener Kraft der DDR vermindert werden. Die bundesdeutsche Regierung unterstützte im zunehmenden Maße die DDR mit direkten Zahlungen und Krediten, um zu verhindern, dass die DDR-Regierung eine scharfe antiwestliche Politik einschlug. Auf diese Weise geriet die DDR in finanzielle Abhängigkeit von der BRD. Beiden deutschen Regierungen war klar, dass weder die USA noch die Sowjetunion und auch kein europäisches Land die Vereinigung beider deutscher Staaten wünschte. Sie taten alles, um die Zweiteilung Deutschlands zu erhalten, mussten jedoch hinnehmen, dass immer mehr DDR-Flüchtlinge in andere mitteleuropäische Staaten ausreisten und von dort die Grenze zur BRD überquerten.
Unter dem US-Präsidenten Reagan erhöhten die USA in den achtziger Jahren ihren Rüstungsetat so stark, dass die Sowjetunion in ihrem Versuch, den Vorsprung der USA gering zu halten, scheiterte und sich im Rüstungswettlauf mit den USA beinahe „zu Tode rüstete“; d.h. sie vernachlässigte auf ruinöse Weise ihre ziviltechnologische Entwicklung und war dem wirtschaftlichen Bankrott sehr nahe. Um ihn zu verhindern, zog der russische Präsident Gorbatschow seine letzte Karte aus dem Ärmel: Gegen den Widerstand der DDR-Regierung gab er die Einwilligung zur Vereinigung Deutschlands und erhielt dafür als Gegenleistung einen Milliardenkredit von der deutschen Bundesregierung. Die Mauer wurde daraufhin „versehentlich“ am 9. November 1989 geöffnet. Zahlreiche DDR-Bewohner passierten jetzt jeden Tag die geöffneten Grenzübergänge. Sie registrierten neidvoll bzw. bewundernd den weitaus höheren Lebensstandard der Bundesbürger, kehrten aber nach den Besuchen wieder in ihre DDR-Wohnorte zurück.
Die einseitigen Entscheidungen der deutschen Bundesregierung in der Zeit des Übergangs von der Teilung zur Vereinigung enttäuschten viele DDR-Bewohner: In der Zeit vor der Grenzöffnung hatten viele Bürgerrechtler der DDR eigene Vorstellungen über die Zukunft der DDR entwickelt. Aus ihr sollte eine demokratisch verfasste Gesellschaft und ein der Demokratie verpflichteter Staat werden, in denen nicht die Wirtschaft die maßgeblichen Entscheidungen trifft, an denen sich die Politik zu orientieren hat, sondern die Bürger stets das letzte Wort behalten. In zahlreichen sogenannten „Runden Tischen“ entwickelte man Vorstellungen über eine lebendige Demokratie. Zugleich wurde jedoch der Wunsch nach einer Vereinigung mit der Bundesrepublik immer stärker. Der nur zu verständliche Wunsch der DDR-Bürger, endlich auch an dem Reichtum teilhaben zu können, den die bundesrepublikanische Bevölkerung mit Hilfe des Marshall-Plans seit 1949 aufbauen konnte und der der DDR vorenthalten blieb, beschleunigte die Forderung, auch in den Besitz der D-Mark zu gelangen. Aus dem der DDR-Regierung entgegengeschleuderten Ruf „Wir sind das Volk“ wurde nach kurzer Zeit der Ruf „Wir sind ein Volk“. Damit war der Weg in die schnelle Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vorgezeichnet. Außerdem versprach der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, für den Fall der baldigen Vereinigung den Anbruch „blühender Landschaften“. Die Realität nach der Vereinigung sah jedoch ganz anders aus. Die bereits im August getroffene Entscheidung, die DDR der Bundesrepublik nach Artikel 23 Grundgesetz beitreten zu lassen und nicht – wie nach Artikel 146 ebenfalls möglich – eine wirkliche Vereinigung mit einer auf neuen Füssen stehenden Verfassung herbeizuführen, ebnete den Weg in eine Phase, in der die Mehrzahl der DDR-Bevölkerung „Aufbruch und Abbruch“ zugleich erfuhr, gepaart zu allem Unglück mit dem Grundgefühl von „Entwertung und Geringschätzung“, das „mehrere Generationen der Ostdeutschen bis heute [prägt]“. (vgl. Christin Melcher, Tagesspiegel.)
Diese Vereinigung entsprach dem Wort Annexion sehr viel eher als der Vereinigung zweier gleichberechtigter deutscher Staaten. Der DDR wurde nicht nur die bundes-deutsche Gesellschaftsstruktur übergestülpt, sondern statt der versprochenen „blühenden Landschaften“ entstand Massenarbeitslosigkeit. Die von der Bundesregierung ins Leben gerufene „Treuhandgesellschaft“ bot meistbietenden Interessenten den Kauf der bis dahin in Staatsbesitz befindlichen Unternehmen der DDR an. Dies waren oftmals bundesdeutsche Unternehmen, die kein Interesse an der Existenz zusätzlicher Konkurrenten hatten, denn sie waren ohne weiteres in der Lage, den Bedarf der ehemaligen DDR-Bevölkerung aus ihren bereits produzierenden bundesdeutschen Betrieben zu decken. Nach dem Aufkauf der ihnen angebotenen Staatsbetriebe legten sie die Betriebe still, entließen die Arbeitskräfte und behielten nur die wertbeständigen Betriebsteile. Welche negativen Folgen für Regionen entstanden, in denen die geschlossenen Betriebe bisher ein Netzwerk mit anderen Betrieben bildeten, blieb unberücksichtigt. So wurden reihenweise rentable Ressourcen vernichtet, ohne die negativen Folgen für die DDR-Bevölkerung zu bedenken.
Sofort nach der Annexion der DDR begann die Säuberung der staatlichen Institutionen. Mitglieder der staatstragenden Parteien der DDR wurden entlassen und durch bundesdeutsche Personen ersetzt. An der Universität Potsdam behielt z.B. nur ein Dozent seine Stelle. Alle anderen wurden fristlos entlassen. An ihre Stelle traten Bewerber aus dem Bundesgebiet und Berlin (West), die sich weder durch Kritik an bundesdeutschen Verhältnissen hervorgetan hatten, noch durch besondere Qualifikationen aufgefallen waren. Die Verwaltungsstruktur der DDR erhielt eine völlig neue Ausrichtung. Das hieß Abschaffung der Zentralverwaltung zugunsten des Aufbaus von Verwaltungen in den neu geschaffenen Bundesländern. Die Parteienlandschaft ähnelte nach kurzer Zeit der bundesdeutschen. Die Sozialdemokratische Partei (SPD) der Bundesrepublik weigerte sich, Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei der DDR (SED) aufzunehmen, geschweige denn eine Fusion mit ihr in die Weg zu leiten, während die CDU und FDP mit ihren Schwesterparteien der DDR fusionierten. Ob und wieviel der ehemaligen Parteimitglieder ihrer Schwesterparteien schließlich zu führenden Positionen aufstiegen, ist unbekannt. Zum vorherrschenden und diffamierenden Thema in den öffentlichen und privaten Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie in den Zeitungen avancierte die Tätigkeit der Staatssicherheit (Stasi) in allen Bereichen der untergegangenen DDR.
Nach dem Beispiel der Übernahme der DDR verlief auch die Annexion der übrigen osteuropäischen Staaten, die bis zum Ende des Ost-West-Konflikts zur sowjetischen Einflusssphäre gezählt wurden. Insbesondere bundesdeutsche Unternehmen gründeten dort Zweigbetriebe und schlossen sie eng an ihre Konzern- bzw. Unternehmenszentralen des Bundesgebietes an. Die Schaffung einer eigenständigen Zirkulationssphäre unterblieb in den meisten osteuropäischen Staaten. Stattdessen wurden sie zu verlängerten Werkbänken der westeuropäischen Industrie- und Handelsunternehmen herabgestuft.
4.1 Vereinigung im Zeichen des Neoliberalismus
Unter dem Begriff Neoliberalismus, der seit Mitte der neunziger Jahre das Denken beherrscht, versteht man die Lehre, dass jedes Lebewesen egoistisch agiert und seine Ziele mit allen Mitteln durchsetzt. Daraus folgt: der Reiche, Fleißige schafft Arbeitsplätze aus Geldgier; der Arme, Faule entspannt sich im sozialen Netz. Die Daseinsfürsorge des Staates unterstützt das darin enthaltene Gerechtigkeitsgefälle. Er sollte deshalb von den Faulen mehr fordern und die fleißigen Reichen mehr fördern, sich also aus sozialstaatlichen Aktivitäten zurückziehen und darauf vertrauen, dass höhere Gewinnspannen der Fleißigen mehr Arbeitsplätze schafft, in die die Faulen eingewiesen werden müssten.
Zu Beginn der neunziger Jahre schien diese Lehre den Staat von einigen seiner enormen Wiedervereinigungskosten zu entlasten. Der Milliardenkredit an die Sowjetunion, die Nachzahlung der Invaliden- und Krankenversicherungsbeiträge der DDR-Bevölkerung an gesetzliche Kranken- und Invalidenversicherung der Bundesrepublik, die Erneuerung der Infrastruktur der DDR (Bau von Autobahnen, Straßen und Schienenwegen, Ausbesserung von Wasserstraßen, Erhaltung und Erneuerung der Bausubstanz in Städten, Renovierung der Abwassersysteme) erforderte eine erhebliche Schuldenaufnahme der Bundesregierung. Im Gegenzug wurden sozialstaatlich begründete Leistungen der DDR reduziert bzw. ganz gestrichen. Dies geschah im gesamten Bereich der engeren Sozialversicherung, bei den zusätzlichen Sonderversorgungssystemen für besonders wichtige Gruppen, bei den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, in der Arbeitskräftelenkung, der Arbeitsplatzgarantie, der Bildungspolitik, der Familienförderung, der Wohnungspolitik und den Preissubventionen für Güter des Grundbedarfs, für Mieten und für verschiedene Tarife usw. Die Gleichschaltung der DDR unter neoliberalen Vorzeichen ging der Reduzierung sozialstaatlicher Leistungen im westlichen Teil Deutschlands voraus, bekannt als Hartz-IV-Gesetze der sozialliberalen Koalition, die am 1. Januar 2005 in Kraft traten. Mit Hartz I wurden die Personal-Service-Agenturen(PSA) eingerichtet, die Zumutbarkeitsregelungen verschärft und die Verpflichtung, sich bei Erhalt der Kündigung unverzüglich arbeitslos zu melden. Hartz II führte die Ich-AG ein und brachte die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung (Mini-Jobs). Hartz III regelte die Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit und mit Hartz IV wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II zusammengelegt.
Im Herbst 2002 lag die Arbeitslosenzahl noch unter 4 Millionen. Nach der Einführung von Hartz IV stieg sie auf über 5 Millionen an. Obgleich jetzt aufgrund von Hartz IV als arbeitsfähig eingestufte vorherige Sozialhilfeempfänger die Zahl der Arbeitslosen erhöhte, indizierte die insgesamt auf hohem Niveau verharrende Arbeitslosigkeit eine geringe Wirksamkeit der gesamten Arbeitsmarktpolitik. Laut Presseberichten konnten die Personal-Service-Agenturen lediglich 33 000 Arbeitslosen in neue Stellen vermitteln. Ich-AGs beflügelten zwar Arbeitslose zur Selbständigkeit, aber leider blieb ein dauerhafter Geschäftserfolg oftmals ganz aus, oder das Experiment endete in Selbstausbeutung und der Hinnahme geringer Einkommen. Mini-Jobs verdrängten nicht selten eine reguläre Beschäftigung und beide Einrichtungen standen unter Verdacht, zum Leistungsmissbrauch einzuladen. Denn rund eine Million mehr als geplant bezogen das neue Arbeitslosengeld II, worunter sich nicht nur bisher von der Familie unterhaltene Arbeitslose befanden, sondern auch gering verdienende Selbständige oder ausgesonderte vormals abhängig Beschäftigte, die jetzt als Scheinselbständige kein ausreichendes Einkommen mehr erzielen konnten. („Wir werden alle Berater sein“, meint der promovierte Ingenieur, „das ist ein besseres Wort für Tagelöhner“ [Mario Müller, Phoenix will fliegen, in: Frankfurter Rundschau, 22.10. 2004])
In zweistelligen Prozentsätzen steigende Vorstandsbezüge von Großunternehmen und steil ansteigende Gewinnraten vieler international tätiger Unternehmen, kontrastiert durch fortgesetzte Entlassungsaktionen bei Arbeitskräften sowie stagnieren-den oder gar zurückgehenden Einkommen bei den abhängig Beschäftigten und drastischen Kürzungen bei Hartz-IV-Empfängern, vermittelten den Wählern den enttäuschenden Eindruck, dass die rot-grüne Regierung der Umverteilung von unten nach oben den Vorzug vor einer gerechten Lastenverteilung gab. Viele von ihnen trieb die Angst, künftig bei noch weiter abgesenkten Förderungsleistungen und erhöhten Sanktionsandrohungen ganz leer auszugehen. So wurden ab Februar 2006 die Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld-I verschärft. Bis zu jenem Zeitpunkt bekam Arbeitslosengeld-I, wer mindestens ein Jahr sozialversichert beschäftigt war. Künftig musste er schon wenigstens zwei Jahre vorweisen können. Die Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld-I, die zum gleichen Zeitpunkt eingeführt wurde, traf alle unter 55-Jährigen. Diese Leistung konnte fortan nur noch ein Jahr lang bezogen werden, während vor diesem Datum für 45-Jährige die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld-I länger als ein Jahr betrug und für über 57-Jährige sogar 32 Monate. Die erlaubte Nebenbeschäftigung für Bezieher von Arbeitslosengeld-I reduzierte sich auf unter 15 Stunden. Als künftige Bezieher von Arbeitslosengeld-II würden sie zwar mehr Geld erhalten als frühere Sozialhilfeempfänger, aber sie müssen mit dem pauschalierten Regelsatz zurechtkommen, der auf besondere Lebenslagen keine Rücksicht mehr nimmt. Sie wären finanziell an ihren noch nicht arbeitslosen Lebenspartner gekettet, ihr Erspartes, das bestimmte Freibeträge übersteigt, müssten sie angreifen und wären gezwungen, sich eine günstigere Mietwohnung zu suchen, wenn die alte als unangemessen eingestuft wurde. Am härtesten würde es diejenigen treffen, die beispielsweise als ältere Arbeitskräfte über dreißig Jahre gearbeitet und gut verdient hatten und nach einjähriger Arbeitslosigkeit und nun nicht mehr vermittelbare ältere Arbeitslosengeld-II-Bezieher das für den Lebensabend zurückgelegte vorzeitig aufzubrauchen hatten. Die Angst der noch Beschäftigten vor dem Abstieg in die Armut war also zu verstehen.
4.2 Deutschland wird Exportweltmeister
Die mit den Hartz-IV-Gesetzen eingeleitete Umverteilung von unten nach oben reduzierte die Nachfrage nach Konsumgütern in der von Lohnarbeit abhängigen Bevölkerung. Zu erwarten war, dass mit einem gewissen Zeitverzug auch die Nachfrage der Unternehmen nach Investitionsgütern zurückgehen würde, sofern es nicht gelang, neue Exportmärkte zu erschießen und auf diese Weise den Nachfragerückgang auf dem Binnenmarkt zu kompensieren. Deutschland wurde jedoch Ex-portweltmeister, weil die in Euro zu bezahlenden Exportprodukte auf den Auslands-märkten auf immer weniger Konkurrenz stießen. Im gleichen Zeitraum verzeichneten andere Mitgliedsländer der Europäischen Union Handelsbilanzdefizite. Dadurch sank der Wert des Euros im Vergleich zu anderen Währungen und damit zugleich der Preis deutscher Exportprodukte auf dem Weltmarkt. Deutschlands Position in der Europäischen Union wurde als Folge dieser Entwicklung immer mächtiger, was unter den übrigen Mitgliedern der EU entsprechenden Argwohn erregte und die sogenannte „Deutsche Frage“ wieder verstärkt in das Bewusstsein hob. Darunter versteht man traditionell, dass Deutschland in der Mitte Europas zu mächtig ist und die Verankerung der Demokratie in der deutschen Bevölkerung als zu schwach erscheint. Anzeichen für letzteres war der Anstieg der rechtslastigen und deutsch-nationalen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in der Wählergunst vor allem der ehemaligen DDR-Bewohner, aber auch in Teilen der Bevölkerung des westlichen Deutschlands.
5 Das deutsch-französische Verhältnis
Es ist gewiss eine Banalität festzustellen, dass sich das deutsch-französische Verhältnis in einer ständigen „Auf- und Abwindbewegung“ befindet. Der Gradmesser ist hierbei in der Tat die ständig schwankende Einschätzung über die Position Deutschlands in der Mitte Europas: mal wird es als zu schwach eingeschätzt (z.B. nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten / Deutschland, der „kranke Mann Europas“), mal wird es als zu stark eingeschätzt (z.B. jetzt als Schul- und Exportweltmeister).
Dagegen muss aber eindeutig festgehalten werden, dass nach den drei verheeren-den Kriegen zwischen Deutschland/Preußen und Frankreich – 1817 / Erster Welt-krieg / Zweiter Weltkrieg – diese Partnerbeziehung seit 1963 eine Stabilität erlangt hat, die nicht nur in gefährlichen und schwierigen Situationen funktioniert (z.B. in der - wenn auch äußerst schwierigen - Beruhigung des Ukraine-Konflikts), sondern auch unerwartete Spannungen aushält – wie jetzt in der Frage der zukünftigen russischen Erdgaslieferungen über die North-Stream 2-Pipeline, bei der man relativ schnell zu einer beiderseitigen Einigung gelangt ist.
Unterhalb der „hohen“ Politik ist insbesondere über das deutsch-französische Jugendwerk und die Städtepartnerschaften ein Netzwerk entstanden, in das vor allem weite Teile der Bevölkerung eingebunden sind; so auch die Schichten der Bevölkerung, die in den Zwischenkriegszeiten die deutsch-französischen Beziehungen gepflegt haben, z.B. die Künstler, die Schriftsteller, die Musiker. Diese Ebene der Beziehungen ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Hier wäre es auch erforderlich, sehr viel mehr Kenntnisse über das jeweilige Partnerland zu verbreiten. So sind gerade die Sozialsysteme in beiden Ländern sehr unterschiedlich (z.B. die Versorgung mit Krippen- und Kindergartenplätzen), die gegenseitige Kenntnis darüber ist ausgesprochen unterentwickelt. Ginge man genau diese Bereiche intensiver an, könnte das gegenseitige Verständnis viel größer sein; die wechselseitigen (Vor)Ur-teile, die in dem Ausspruch gipfeln „Die Deutschen leben, um zu arbeiten und die Franzosen arbeiten, um zu leben“ wären nicht sogleich beseitigt, aber der gegen-seitige Respekt bezüglich der „Andersartigkeit“ könnte viel eher produktiv umgesetzt und auch auf Beziehungen zu anderen europäischen Ländern übertragen werden.