
Internationale Beziehung
1. USA
1.1 Vergänglichkeit von Imperien und Hegemonien
1.2 Plan B zur Erhaltung US-amerikanischer Hegemonie
1.3 Wege aus der Krise in die „Hölle“
1.4 Die amerikanische Finanzkrise und die massive Verschuldung der USA
1.5 US-Strategie nach der Bush-Ära
1.6 Können wir uns Hegemonialmächte heute noch leisten?
1.7 Looking beyond the honeymoon
2. Russland
2.1 Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten –eine Konferenz in Berlin
2.2 Industrielle Entwicklung und Verortung Russlands in der globalen Machtstruktur
3. Indien
3.1 „Swing“ Power Indien im Fokus US-amerikanischer Hegemonialstrategie
3.2 Indo-European Dialogue in a Changing World
4. China
4.1 China – An Attempt at Understanding a Complex Power Structure
4.2 Chinesische Anstrengungen zur Vermeidung eines neuen Ost-West-Konflikts: USA/EU/Japan – China/Russland
4.3 China – Annäherung an eine komplexe Herrschaftsstruktur
5. Europäische Union
5.1Was verbindet die Europäische Union und die Ukraine? – Die Suche nach Identität!
5.2 What unites the European Union and Ukraine? – The search for identity!
5.3 Die EU zwischen transatlantischer Partnerschaft und engeren Beziehungen zu Indien-Russland-China
5.4 Die EU – eine Ellipse mit zwei Brennpunkten
Reinhard Hildebrandt
Vergänglichkeit von Imperien und Hegemonien
Der neue amerikanische Präsident Barack Obama erfuhr anfangs eine Welle des „Mitleids“ angesichts der Diskrepanz zwischen den überhöhten Erwartungen der Welt und der tiefen ökonomischen, moralischen und strategischen Krise, in denen sich die USA befand. Neben praktischen Lösungen für die Krisen im In- und Ausland hing viel davon ab, ob und wieweit es Obama gelang, dass die USA imperiale und hegemoniale Ansprüche aufgaben und eine neue Rolle innerhalb einer multilateralen internationalen Struktur fanden. Mit den historischen und politischen Hintergründen dieser Fragestellung beschäftigt sich der folgende Artikel.
1. Vergänglichkeit von Imperien und Hegemonien
Machtkonstellationen entstanden in allen Zeiten menschlichen Zusammenlebens, jedoch erst auf höherem Entwicklungsniveau bildeten sich so vielschichtige Formen wie Hegemonien oder Imperien aus. Begründet wurde Herrschaft vorwiegend als Herrschaft der Besten, von Gott selbst dem/den Würdigsten zugeteilt oder als Repräsentanz des Volkes. Obgleich alle Herrschaftsformen von endlicher Natur waren, umhüllte sie oftmals die Aura der Unsterblichkeit. Das Attribut „heilig“ (nichts anderes bedeutet der Begriff Hierarchie = heilige Ordnung) sollte z.B. ihren höchst irdischen Ordnungen höhere Weihen verleihen.
Die Entwicklungsgeschichte der Herrschaftsformen und der dazugehörigen spezifischen Akkumulation von Macht verlief keineswegs gradlinig. Auf Zeitabschnitte, in denen Herrschaftsformen mit beschleunigter Machtzusammenballung dominierten, folgten Perioden, in denen Herrschaft eher mit Machtentsagung und Machtverfall assoziiert wurde. Gleichzeitig stattfindende parallele und gegenläufige Entwicklungen in der Entfaltung von Herrschaftsformen ließen die Herausarbeitung einer generellen Entwicklungslinie nicht zu, obwohl die fortschreitende Technologie als durchgängige Konstante nicht ohne Einfluss auf Machterwerb und -erhalt und die Ausformung neuere Herrschaftsformen geblieben ist.
In vergangenen Zeiten erstreckten sich Imperien und Hegemonien zwar manchmal auch über den gesamten Globus, aber obwohl in ihnen die Sonne niemals unterging, gab es in und neben ihnen herrschaftsfreie oder umkämpfte Räume, die von Konkurrenten zur eigenen Machtentfaltung genutzt werden konnten. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts im Jahre 1990 schien in der Menschheitsgeschichte erstmals eine völlig neue Konstellation entstanden zu sein, die von der Machtelite der USA als eine nützliche Herausforderung angesehen wurde, um ihrer bis dahin räumlich beschränkten Hegemonie ein globales Ausmaß zu geben.
Gründe für den Auf- und Untergang der Pax Americana - Der phänomenale Aufstieg der USA
Die auf dem nordamerikanischen Kontinent siedelnde multikulturell zusammengesetzte Gemeinschaft verließ die hinter sich gelassene „alte Welt“ mit dem festen Willen, in der „neuen Welt“ nicht nur den europäischen Kolonialregimes den Kampf anzusagen, sondern gesellschaftlich etwas grundlegend Neues zu schaffen. Sie fand fruchtbares Land auf ausgedehntem besiedeltem Territorium vor. Die nun beginnende Fremdherrschaft über die angestammte indianische Bevölkerung und die Ausbeutung afrikanischer Sklaven setzte der Schaffenskraft und dem Schaffensvermögen des „weißen Mannes“ keine Grenzen und bereitete ihm wenig Skrupel, sondern wurde vielmehr von ihm als Zeichen Gottes gedeutet, dem „Guten“ und „Fortschrittlichen“ gegenüber dem Zurückgebliebenen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zum Durchbruch zu verhelfen. Begünstigt durch die Selbstschwächung der europäischen Herkunftsländer der Siedler und den frühzeitigen Übergang zur industriellen Massenproduktion von Gütern gelang bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Aufbau einer wirkungsvollen Konkurrenzposition gegenüber den alten europäischen Industrienationen, so dass schon nach dem 1. Weltkrieg die USA zum geschickt kalkulierenden Kapitalgeber der untereinander zerstrittenen, finanziell ausgebluteten sowie hinter den USA wirtschaftlich zurückbleibenden europäischen Staaten werden konnten. Nach dem 2. Weltkrieg rückte sogar das Ziel in greifbare Nähe, die bis dahin hinderliche Isolation des amerikanischen Kontinents durch zwei Weltmeere von den europäischen und asiatischen Absatzmärkten zu überwinden und sich in Westeuropa und den Küstenregionen des Pazifik als Vormacht zu etablieren. Der heraufziehende Konflikt mit der ökonomisch schwächeren Sowjetunion wurde zur Bündelung der eigenen wirtschaftlichen und militärischen Stärke und ihrer ständigen Steigerung benutzt, so dass im Dreiklang mit der eigenen kulturellen Ausstrahlungskraft nicht nur die us-amerikanische Vormacht in den Küstenregionen von Atlantik und Pazifik gefestigt, sondern schließlich sogar der Sieg im Ost-West-Konflikt errungen werden konnte.[1]
2. Hypertrophes hegemoniales Bewusstsein
Die Sowjetunion hatte nach vierzigjähriger dualer Hegemonie mit den USA den Status einer Hegemonialmacht verloren. Die übrig gebliebenen USA nahmen die Herausforderung an, die Alleinherrschaft anzutreten und dehnten ihre Herrschaft auf das bis dahin von ihrem Partner/Gegner beherrschte Territorium sowie über den bis dahin block-freien Zwischenbereich aus. Das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) kündigte aus der Sicht us-amerikanischer Eliten das Zeitalter unbefristeter amerikanischer Obhut über die übrige Welt an, in dem es keine Freiräume für potentielle Konkurrenten mehr geben sollte.
So hatte beispielsweise die Diskussion über den Unterschied zwischen Imperium und Hegemonie für die amerikanische Führung jeglichen Sinn verloren. Das Wohlergehen der USA war für sie deckungsgleich geworden mit dem Wohl der gesamten Staatengemeinschaft. Unilaterale Verhaltensweisen der us-amerikanischen Führung (leadership) entsprachen dieser Geisteshaltung. Die Differenzierung zwischen willigen und unwilligen „Partnern“, die Disqualifizierung der Ausgestoßenen als Schurken und die Reduzierung von Aufständen mit unterschiedlichsten Hintergründen auf verdammenswerte Untaten des „internationa-len Terrorismus“ war gleichfalls Resultat dieser Gesinnung. In ihrem Allmachtsdenken begriffen us-amerikanische Administrationen sogar die von ihnen propagierte und voran getriebene Globalisierung der Märkte zur Unterstützung der weltweiten Aktivität transnationaler Unternehmen und des Finanzkapitals als Beweis ihrer zunehmenden Stärke. Ihre bereits seit langer Zeit vernachlässigte Infrastruktur und die nicht mehr konkurrenzfähigen veralteten Industrien der USA entschwanden hinge-gen aus ihrer vornehmlich nach außen und auf den Ausbau ihrer Hegemonie gerichteten Aufmerksamkeit. Überbetonung der eigenen Weltgeltung bei gleichzeitigem inneren Verfall zeugten von einer zunehmenden Desorientierung der tonangebenden Eliten. Sie übersahen oder ignorierten die auf sie zukommenden realen Herausforderungen.
Zunehmende innergesellschaftliche SpannungenIn der zweiten Amtsperiode der Bush-Administration erlebten die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte gleichzeitig das Erstarken ökonomischer Konkurrenten und die Anzeichen gesellschaftlicher sowie ökonomischer Schwächeerscheinungen in den USA. Etliche Mitglieder der reich gewordenen Oberschicht hatten damit begonnen bzw. zugelassen, dass große Teile der in ihrem Besitz befindlichen Industrie- und Dienstleistungsbereiche ins kostengünstigere Ausland (sogenannte Schwellenländer) verlagert wurden, die aus der Verlagerung der Produktion entstandenen Einkünfte in lukrativen Finanzanlagen zu investieren und durch drastische Steuersenkungen, die man während der Administrationen unter den Präsidenten Clinton und Bush Junior im Kongress durchsetzte, mehr Netto- vom ohnehin stark gestiegenen Bruttoeinkommen zurück zu behalten.
Die Mittelschicht hatte sich unter dem Druck der Abwanderung mit geringen oder sogar stagnierenden Lohn- und Gehaltszuwächsen abzufinden, wurde aber zunächst durch preisgünstige Einfuhren von Waren aus Schwellenländern zufriedengestellt, mit der Illusion höherer Wiederverkaufswerte ihrer kreditfinanzierten Häuser geködert und durch groß-zügige Konsumentenkredite über ihren schleichend vonstatten gehenden Abstieg getäuscht. Der bereits verarmten und wenig gebildeten Unterschicht hingegen entzog der Staat sukzessive weitere staatliche Sozialleistungen und trieb die auf Gelegenheitsarbeiten mit geringer Entlohnung Angewiesenen sowie ohne Versicherungsschutz hilflos ihren Krankheiten Ausgelieferten immer tiefer in das Elend.
Die Folgen der sich verschärfenden Ungleichheit zwischen dem „Geldadel“ an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide, der zwischen ihm und der Unterschicht eingeklemmten und um ihren Status besorgten Mittelschichtenangehörigen und der immer mehr verarmten Unterschicht untergruben den sozialen Frieden der us-amerikanischen Gesellschaft. Sie hatte bei ihrer Gründung dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zwar nicht das Gleichheitsgebot, sondern das Glück und das Erfolgsstreben jedes Einzelnen als Basiswert unterlegt, aber die ungezügelte Bereicherung der Vermögenden und Spitzenverdiener verletzte immer stärker den lange Zeit existierenden Grundkonsens der us-amerikanischen Siedlergesellschaft und erzeugte in ihr beträchtliche Spannungen, die erstmals begleitet wurden von hegemonialen Überdehnungssymptomen.
3. Hinweise der Überdehnung us-amerikanischer Hegemonie
So lange wie sich die USA darauf beschränkten, unter Einbeziehung der flankierenden Hilfe des Ost-West-Konflikts das innerwestliche Dreieck USA-Japan-Westeuropa zu dominieren, blieb ihre hegemoniale Position unangefochten. Gegenüber Westeuropa und Japan bevorzugten sie im allgemeinen das Erscheinungsbild einer wohlwollenden Hegemonie, während sie im Verhältnis zu Lateinamerika und nahöstlichen Rohölproduzenten ihre rein machtorientierte und interventionistische Negativseite hervorkehrten.
Erst nach dem Zerfall ihres Ko-Hegemons UdSSR zu Anfang der neunziger Jahre, den sie ohne zu ahnen vorangetrieben hatten, dass auch ihre hegemonialen Ambitionen darunter zerbrechen könnten, verfingen sie sich auf dem unsicheren Terrain der Globalisierung. Von den vormals im innerwestlichen Dreieck hegemonisierten Randstaaten des Pazifik und Westeuropa sowie den als Hintersassen behandelten Lateinamerikanern fiel der Druck des Ost-West-Konflikts ab. Sie drangen auf Gleichbehandlung und lehnten die Fortsetzung amerikanischer Hegemonie ab, die ihnen jetzt als us-amerikanische Forderung angetragen wurde, das angeblich sehr erfolgreiche us-amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu übernehmen. In der Sichtweise des künftig global agierenden Hegemons mussten alle hegemonisierten Volkswirtschaften nach dem amerikanischen Modell funktionieren und auf die zentralen Handels- und Finanzplätze New York und London orientiert werden. Der Widerstand der Kontinentaleuropäer gegenüber dem anglo-amerikanischen Muster entzündete sich insbesondere an der amerikanischen Forderung, im Zeichen des Neoliberalismus ihre Sozialstaatssysteme aufgeben zu sollen, auf denen bisher die Erhaltung des sozialen Friedens ihrer Gesellschaften beruhte. Nur wenn die us-amerikanische Globalisierungsstrategie auch auf die sogenannten Schwellenländer (China, Indien, Mexiko u.a.) ausgedehnt wurde und dort engagierte transnational agierende Unternehmen deren niedrige Produktionskosten als Druckmittel gegenüber den etablierten hochindustrialisierten Ländern ausspielten, schien deren Widerstand gebrochen werden zu können.
Hatten anfangs amerikanische Unternehmen und Finanzorganisationen leichtfertig die Meinung vertreten, den chinesischen Markt mit us-amerikanischen Waren überschwemmen zu können, um im gegenseitigen Handelsaustausch zugleich auch kostengünstig produzierte chinesische Waren auf dem amerikanischen Markt zu verkaufen, wurden sie nach kurzer Zeit eines besseren belehrt. Nicht die USA drückten China ihren Stempel auf, sondern umgekehrt ergoss sich ein immer umfangreicherer Strom in chinesischen Fabriken produzierter Waren auf den amerikanischen Markt. Denn die Chefs amerikanischer Unternehmen hatte nicht nur Gefallen an der Verlagerung von Produktionsstätten aus den USA nach China und den daraus entstehenden zusätzlichen Gewinneinnahmen gefunden, sondern – wie bereits erwähnt – konnten amerikanische Konsumenten mit preisgünstigen Verbrauchsgütern aus chinesischer Produktion für längere Zeit über die langfristigen negativen Folgen der Produktionsverlagerungen im Unklaren gelassen werden. Zielstrebig an der grenzenlosen Vermehrung ihres Reichtums interes-sierte Mitglieder der us-amerikanischen Gesellschaft unterminierten die hervorgehobene Position der USA in einer globalisierten Welt, indem sie ihren privaten Gewinninteressen Vorrang einräumten gegenüber dem bis dahin für alle US-Bürger geltenden gesellschaftlichen Konsens am vorrangigen Wohlergehen der amerikanischen Nation. Sie untergruben in der gleichen Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt der USA wie es in feudalistischen Staaten des alten Europas geschehen war, als Feudalherren dem aufstrebenden Bürgertum nacheiferten und als Unternehmer zu Reichtum und Einfluss gelangen wollten. Jene zu kapitalistischen Unternehmern gemauserten Feudalherren zerstörten den bis dahin für den gesamten Adel geltenden Konsens an der Erhaltung der gesellschaftlichen Grundlagen des Feudalismus, schwächten die Privilegien des Adels und stärkten das auf gleiche Rechte für alle Gesellschaftsmitglieder pochende Bürgertum.
Die Globalisierungshoffnungen der USA scheiterten jedoch letztendlich an der Weigerung Chinas, künftig zum Annex des erweiterten innerwestlichen Dreieck USA-Westeuropa-Japan zu werden. China öffnete sich zwar dem einfließenden Anlagekapital transnationaler Unternehmen, aber die chinesischen Führer gaben die Staatszügel zu keinem Zeitpunkt aus der Hand und verhielten sich insofern völlig anders als die russische Führung unter Präsident Jelzin. Es gelang den USA auch nicht, China die Ko-Hegemonie anzudienen. Sie verloren sogar ihren maßgeblichen Einfluss auf das Russland Putins und mussten schließlich akzeptieren, dass das von ihnen umworbene Indien zwar das Nuklear-abkommen mit ihnen abschloss, sich aber nicht als Gegenleistung an der Eindämmung Chinas beteiligte. Ganz im Gegenteil knüpften die führenden asiatischen Länder China, Russland und Indien engere Kontakte untereinander und selbst Japan und Südkorea näherten sich dieser übergreifenden asiatischen politischen und ökonomischen Zusammenarbeit. Abgesehen von Großbritannien zeigten sich auch die übrigen Westeuropäer gegenüber der Schaffung eines gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraums aufgeschlossen. Sie mussten aber noch die ost-europäischen Mitgliedsländer der Europäischen Union vom Nutzen dieser Verbindung überzeugen. Jene Länder, darunter insbesondere Polen und Tschechien, betrachten immer noch die USA als ihren Beschützer. Erst das militärische Nichteingreifen der USA im georgisch-russischen Konflikt scheint sie davon überzeugt zu haben, dass sie sich nicht auf die USA verlassen können.
4. Die Finanzkrise als Menetekel für die unabwendbare Anpassung der USA an eine multilaterale Struktur
Bereits die Misserfolge der USA in den beiden von ihnen geführten Kriegen – im Irak und Afghanistan – hatten ihre Glaubwürdigkeit stark beschädigt. Noch stärker sank ihre Wertschätzung in der Meinung der Weltöffentlichkeit durch die Zulassung von Folter im sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Aber erst die von den USA ausgehende Finanzkrise zerstörte das bis dahin noch vorhandene Grundvertrauen in die USA als federführende Finanzmacht. Den letzten Rest besorgte der ehemalige Chef der Technologiebörse Nasdaq, Bernard L. Madoff, der in der bisher größten Betrugsaffäre der Wall Street seine Gläubiger um mehr als 50 Mrd. US-Dollar brachte. Die USA werden in der Zukunft nicht mehr der Hort für sichere Geldanlagen sein, die Leitwährungsfunktion ihres Dollars verlieren und ihre Handelsdefizite wie alle anderen auch durch Sparmaßnahmen abtragen müssen.
Damit hätten die USA ihre hegemoniale Stellung als Finanzmacht verloren. Sie würden sich in das Konzert der führenden Großmächte einordnen und als unaufschiebbare Forderung ihre eigene Volkswirtschaft sanieren müssen. Ein Wiederauflage des „New Deal“ ist bereits unter dem amerikanischen Präsidenten Obama in Planung. Die Ausrichtung auf eine Erneuerung der maroden Infrastruktur, die Modernisierung der heimischen Industrie und Dienstleistungsbereiche wird aller Wahrscheinlichkeit nach nur durch eine drastische Reduzierung der Militärausgaben zu finanzieren sein. Damit würden die USA auch ihre Fähigkeit verlieren, in allen Gebieten der Erde militärisch präsent zu sein und in Konflikten auf die eine oder andere Weise eingreifen zu können. Ihre bereits stark reduzierte militärische hegemoniale Position hätten sie damit ebenfalls vollkommen verloren. Die USA würden den Gang vieler vor ihnen gescheiterter Hegemonien gehen. In den meisten Fällen hatten deren machtpolitische Eliten den Niedergang eingeleitet, indem sie ihre eigenen Interessen über diejenigen der Gesamtgesellschaft stellten. Im Verein mit anderen innergesellschaftlichen Kräften nahmen sie entweder die damit oftmals verknüpfte Überdehnung ihrer Hegemonie hin oder erkannten diese Gefahr nicht rechtzeitig.
Bereits vor dem Amtsantritt des gewählten US-Präsidenten Obama im Januar 2009 stießen seine vorgeschlagenen Maßnahmen zur inneren Erneuerung der USA im Kongress auf erhebliche Widerstände. Der Konflikt zwischen einem Arbeitsplätze schaffenden Beschäftigungsprogramm auf der einen Seite und einer konsumentenfreundlichen generellen Senkung von Steuern auf der anderen Seite trennt in den beiden Häusern des Kongresses Demokraten und Republikaner. Ob nach den vergeblichen Versuchen der Vergangenheit die dringend erforderliche Reform des Gesundheitswesens dieses Mal die Mehrheit von Repräsentantenhaus und Senat erhält, ist höchst zweifelhaft. Auf welche Widerstände die Reduzierung der Militärausgaben stoßen wird, ist angesichts der prestigeträchtigen Vergabe von Rüstungsaufträgen an die untereinander um Aufträge konkurrierenden Unionsstaaten ebenfalls noch nicht kalkulierbar. Der zur Überwindung der wirtschaftlichen Rezession gegen null tendierende Zinssatz der US-Zentralbank und die fast grenzenlose Vermehrung des US-Dollars werden zu einer drastischen Abwertung der us-amerikanischen Währung führen. Wie darauf die Halter von US-Schatzanweisungen reagieren werden, ist noch unklar. Die Flucht in den Euro könnte eine der Reaktionen sein.
Hegemoniales Bewusstsein ist langlebig, wie man am Beispiel des immer noch lebendigen Denkens der russischen Machtelite erkennen kann. Erst recht käme es für die tonangebende Elite der USA einer fast übermenschlichen Anstrengung gleich, ihr „leadership“-Denken und -Verhalten nicht nur zu mäßigen, sondern ganz aufzugeben und sich als gleicher unter gleichen in das Konzert der globalen Mächte einzureihen. Bemühungen der Europäer, und darunter insbesondere die Anstrengungen der sogenannten Transatlantiker, zwischen Europa und den USA ein Verhältnis von gleich zu gleich zu etablieren, könnten an den verfestigten Denkstrukturen in den USA und dem eigenen, nur teilweise bewussten Unterwürfigkeitsverhalten scheitern.
Anmerkungen
1 Sich am eigenen Schopf aus krisenhaften Entwicklungen zu ziehen ist geradezu zum Markenzeichen us-amerikanischer gesellschaftlicher Entwicklung geworden, wie beispielsweise die Überwindung der Lethargie am Ende der fünfziger Jahre durch die Orientierung auf die Eroberung des erdnahen Weltraums in der Administration unter John F. Kennedy, die Aufarbeitung des Vietnamtraumas in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, der Abschied vom „Star Wars“ unter Reagan am Ende der ersten Hälfte der achtziger Jahre und die technologische Erneuerung unter Clinton zur Jahrhundertwende.
20. Januar 2009
Reinhard Hildebrandt
Plan B zur Erhaltung US-amerikanischer Hegemonie
Ausgangspunkt und Zentrum der Finanzkrise sind die USA. Amerika wird mit allen Mitteln versuchen, in dieser Krise ihre Vormachtstellung in der Welt zu verteidigen. Inwieweit dies gelingt, hängt massgeblich von den europäischen Antworten ab. Der folgende Artikel debattiert die Unterschiede zwischen Europa und den USA hinsichtlich des aktuellen Krisenmanagements sowie der vorgesehenen Regulierungsmassnahmen der Finanzmärkte vor dem Hintergrund der verschiedenen Staatsauffassungen auf beiden Seiten des Atlantiks.
Floyd Norris enthüllte in der „International Herald Tribune“ vom 15. Oktober 2008 unter dem Titel „U.S. follows lead of Europeans in supporting banks“, wie das amerikanische Finanzkapital trotz der Infizierung des Finanzmarktes mit faulen Krediten und windigen Derivaten und der dadurch verursachten globalen Krise seine Jahrzehnte lange zentrale Position erhalten möchte. Die 15 europäischen Staaten mit dem Euro sowie die derzeit größten Gläubigerstaaten der USA – China, Japan, die Arabischen Ölproduzenten, Russland und Brasilien – stehen den USA als Konkurrenten gegenüber. Hauptverbündete der USA dagegen sind die global agierenden transnationalen Unternehmen und Finanzorganisationen, für die das Streben nach Rendite aus Finanzkapitalanlagen einen nicht unerheblichen Teil ihres Alltagsgeschäfts ausmacht. Angesichts dieser Konstellation befinden sich das Vereinigte Königreich mit dem Finanzplatz London, dessen Stellenwert in den zurückliegenden Jahrzehnten vom Wohlergehen der Wall Street abhing, und die Staatsfonds, die auf zwei Schultern tragen, in einer Zwitterposition. Die von Norris skizzierte Vorgehensweise könnte man als „Plan B“ bezeichnen, nachdem „Plan A“ gescheitert ist.
I. „Plan A“ – der historische Vorlauf der aktuellen Finanzkrise„
Plan A“ funktionierte nach der folgenden Devise: der größte Schuldner der Welt bestimmt das Geschehen auf den Finanzmärkten und diktiert außeramerikanischen Zentralbanken und Regierungen den Gang der Dinge. Aufgrund der den USA 1944 im Bretton Woods Abkommen gewährten Verschuldungsmöglichkeit häuften die USA über die Jahrzehnte hinweg eine gigantische Schuldenlast auf. Dabei stand für sie selbst stets die ausreichende Versorgung des Weltfinanzsystems mit Liquidität im Vordergrund, während alle anderen Länder die Führungsrolle der USA mit zunehmend gemischten Gefühlen betrachteten.
Sobald Hauskäufer ihre mit progressiv steigenden Zinsen belasteten Hypotheken nicht mehr mit dem gestiegenen Wert ihrer Häuser abtragen konnten, waren die ausstehenden Kredite nicht mehr einzutreiben und die faul gewordenen Darlehensforderungen mussten anderen Kreditpapieren beigemischt werden, um sie trotz minderen Wertes noch auf dem global ausgelegten Finanzmarkt veräußern zu können. Zusammen mit der ausufernden Derivateproduktion (Collateralised Debt Obligations [CDOs], Asset backed Securities [ABS], Credit Default Swaps [CDS]) in allen übrigen Geschäftsbereichen der Investmentbanken) legte man nicht nur die Grundlagen für unbegrenzte Kapitalanlagemöglichkeiten, sondern erhöhte zugleich die Gefahr, die institutionellen wie privaten Kapitalanleger des gesamten Globus mit dubiosen Papieren zu infizieren. Oberstes Ziel der US-Regierungen und US-Notenbank im letzten Jahrzehnt war es, kreditwürdig zu bleiben und zugleich die globale Finanzpolitik fest in der Hand zu behalten, obwohl man bereits weit über seine finanziellen Verhältnisse lebte und für die Gläubiger kaum noch Hoffnung auf Rückzahlung der gewährten Kredite bestand. Es existierte sogar folgender paradoxer Zusammenhang: Je größere Ausmaße die Verschuldung annahm, desto unangreifbarer wurden die USA für ihre zahlreichen Gläubiger; denn wechselten z.B. Gläubiger in größeren Tauschaktionen ihre niedrig verzinslichen US-Schuldverschreibungen wieder in US-Dollar um, riskierten sie einen massiven Absturz des US-Dollars und wurden somit zu Verursachern einer Weltwirtschaftskrise.
Um das Vertrauen der Gläubiger in den US-Dollar trotz fortgesetzter Verschuldung aufrecht zu erhalten, war die kontinuierliche Ankurbelung der amerikanischen Wirtschaft und darin insbesondere der vorwiegend kreditfundierte Konsum der amerikanischen Verbraucher sowie der ebenfalls kreditfinanzierte steigende Staatsbedarf an militärischer Rüstung ein absolutes Muss. Von den USA abhängige Gläubiger würden schließlich sogar – so die Spekulation – bereit sein, selbst Darlehensforderungen in ihr Portfolio aufzunehmen, deren Herkunft dubios und deren realer Wert sehr zweifelhaft war.
Angesichts der dramatischen Situation der letzten Wochen stellen sich nun folgende Fragen: Hoffte man eventuell, dass nichtamerikanische Banken als erste betroffen wären, wenn die infektiöse Blase schließlich platzen würde? Spekulierten finanzstarke US-amerikanische Investment- und Geschäftsbanken darauf, den kollabierenden Banken gönnerhaft ihre Hilfe in der Überwindung von Liquiditätsproblemen anzubieten und auf diese Weise ihren Einfluss global weiter ausdehnen zu können?
Mahnende Einwände europäischer Regierungen auf den Gipfeltreffen der G-7/8 Staaten schlug die Bush-Administration jedenfalls im Einklang mit der britischen Regierung so lange in den Wind, wie offenbar die Hoffnung bestand, dass sich die Masse der faulen Kredite tatsächlich bei den Banken außerhalb der beiden Finanzplätze Wall Street und Londoner City aufhäufen würden. Erst als die Einsicht wuchs, dass die Hauptmasse der infizierten Kredite wieder in die USA zurückflossen und vor allem zwischen den 10 größten US-amerikanischen Banken zirkulierten, wurde denjenigen, die für diese Krise verantwortlich waren, klar, dass sie letztendlich auf ihren faulen Krediten und windigen Derivaten als Hauptleidtragende sitzen bleiben würden.
In diesem Zusammenhang können auch bestimmte politische Ereignisse als außenpolitische wie militärische Ablenkungsmanöver betrachtet werden:
II. „Plan B“ – Nutzbare Resultate eines kontrollierten Zusammenbruchs
1. Krisenbewältigungsmaßnahmen zur Vermeidung einer unkontrolliert verlaufenden Finanzkrise
Ein unkontrollierter globaler Finanzkrach würde nicht nur die beiden wichtigsten Finanzplätze Wall Street und London in dauerhaften Verruf bringen, sondern hätte auch ruinöse Folgen für die Realwirtschaft. Das mahnende Beispiel der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 und die damalige kontraproduktive Geldpolitik der Zentralbanken trieben die US-amerikanische und britische Regierung zur Eile in der Bewältigung der Krise an. Schließlich stand die bisherige angloamerikanische Dominanz in der Abwicklung globaler Finanzgeschäfte über die beiden Finanzplätze New York und London sowie über die meist unter britischer Hoheit stehenden Steueroasen auf dem Spiel.
Die bange Frage für alle Banken, ob in ihren täglich notwendigen Interbankgeschäften die traditionellen Handelspartner noch solvent waren oder vielleicht sogar schon kurz vor der Insolvenz standen, verstärkte das Misstrauen der Banken untereinander. In kurzer Zeit kam der gesamte Interbankhandel zum Stillstand, der in „normalen Zeiten“ dazu dient, längerfristig eingegangene Engagements kurzfristig zu refinanzieren. Zentralbanken sprangen ein und versorgten den Geldmarkt mit „frischem Geld“, indem sie den notleidenden Banken den Ankauf von unverkäuflich gewordenen faulen Krediten anboten und auch dadurch, dass sie ihre traditionellen Geldmarktinstrumente verlockend günstig für Kreditnehmer gestalteten. In Fällen, in denen alle anderen Rettungsaktionen zu scheitern drohten, sprang selbst der Staat mit Verstaatlichungsangeboten ein, um ganz im Gegensatz zur bisherigen neoliberal ausgerichteten Staatsverneinung entweder sofort die gesamte aufgelaufene Schuldenlast dem Steuerzahler aufzubürden oder lediglich für den Ernstfall mit Ausfallbürgschaften zu helfen.
2. Die Forderung nach Regulierung der Finanzmärkte
Schon zu einem frühen Zeitpunkt schlugen weit- und umsichtig denkende Finanztheoretiker Regulierungsmaßnahmen insbesondere für den bis dahin völlig unregulierten Geschäftsverkehr der Investmentbanken vor. So schrieb beispielsweise Martin Wolf bereits im Frühjahr 2008 die folgende Erkenntnis nieder: „Die Öffentlichkeit, spüren die Regierungen, müssen vor den Banken und die Banken vor sich selbst geschützt werden. Das Finanzwesen wird als zu wichtig angesehen, als es dem Markt zu überlassen“. Er gelangte abschließend zu dem Schluss: „Regulierung wird immer in hohem Maße unvollkommen sein. Es müssen aber Anstrengungen unternommen werden, sie zu verbessern.“ (Martin Wolf, Sieben Gewohnheiten, die Aufsichtsbehörden für den Wertpapierhandel annehmen müssen, Financial Times, 7. Mai 2008 – vom Autor bereits im Solon-Beitrag zur Finanzkrise vom 3. Juni 2008 zitiert).
In der darauf anhebenden Diskussion über Regulierungsvorschläge wurde unter anderem die Auskunftspflicht der Kreditgeber durch die Anordnung ergänzt, dass sie zu einem bestimmten Prozentsatz für die vergebenen Kredite verantwortlich bleiben müssen. Einige Staaten verboten im Handel mit Derivaten sogar bereits sogenannte Leerverkäufe, in denen auf die Zahlungsunfähigkeit des ursprünglichen Kreditnehmers spekuliert wird. Eifrig diskutierte man auch die drastische Reduzierung von Managergehältern und die Abkehr vom Bonussystem.
Im Kontext der Forderung nach geeigneten Institutionen zur Regulierung der Finanzmärkte und zweckmäßigen Regulierungsmaßnahmen beklagten die einen vor allem die erwiesene Unzulänglichkeit von marktinternen Steuerungsmechanismen und stritten für den Eingriff des regulierenden Staates, während die anderen dem Staat schlichtweg jede Steuerungskompetenz absprachen und statt dessen auf vom Staat lediglich unterstützte Selbstregulierungsmaßnahmen der Finanzakteure setzten. Ausgetragen wurden die Konflikte auf dem Hintergrund unterschiedlicher Staatsvorstellungen. Bekanntermaßen unterscheiden sich die USA in ihrer Betrachtungsweise des Staates von derjenigen der Kontinentaleuropäer auf gravierende Weise.2
3. Regulierung auf dem Hintergrund unterschiedlicher Staatsauffassungen
Der Staat hat bereits lange vor der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in verschiedenen Formen bestanden, existierte danach neben ihr als selbständiger Pol mit Eigengewicht weiter und verstand sich zu keinem Zeitpunkt als bloßes Ableitungsprodukt der bürgerlichen Gesellschaft. Speziell in den kontinentaleuropäischen Nationalgesellschaften, die nach der Abschaffung des Absolutismus entstanden, hat der Staat niemals seine Exklusivität verloren. Am Beispiel der Herleitung der Staatsgewalt im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Interpretation dieses Artikels im Bonner Grundgesetzkommentar lässt sich sehr gut nachweisen, welcher geringe Stellenwert der Volkssouveränität bzw. der Gesellschaft in der Herkunft der Staatsgewalt tatsächlich zugemessen wird.
Zwar leitet der Staat seine Gewalt im Grundgesetz nicht mehr von Gott, sondern vom Volke ab (Art. 20, Absatz II, Satz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland [„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“]), aber „ein Rechtsverhältnis der Repräsentation zwischen dem Volk und dem Parlament besteht nicht, weil das Volk nur imStaat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichten zukommen könnten;…“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 6, S.26). “Diese Auffassung”, so postulieren die Kommentatoren des Grundgesetzes, „… ist nicht eine Missachtung der politischen Tatsachen (…), sondern eine Folge der Unterscheidung zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.S.26). Aus den „ideologischen Vorstellungen über den eigentlichen ‚Träger’ der Staatsgewalt ein Rechtsverhältnis zwischen Volk und Parlament zu konstruieren“, ist ihrer Ansicht nach „abzulehnen“. Mit anderen Worten: Der eigentliche „Träger“ der Staatsgewalt war zu keinem Zeitpunkt das Volk. Der Satz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wird faktisch in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Staatsgewalt als höchste Gewalt statt vom realen Volk von einer „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ „ausgeht“, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll. Eingebettet in eine Ideengeschichte und abgelöst vom jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehung von Ideen, werden Grundannahmen wie die der Rousseauschen Generalversammlung des Volkes zu nicht mehr hinterfragten Axiomen und dienen nur noch der Legitimation etablierter Machtverteilung.
Jedoch: Trotz aller Zurückdrängung der Souveränität des Volkes entfaltet die ideologisch bedingte Rückkoppelung der Staatsgewalt an eine Generalversammlung des Volkes dennoch in einer bestimmten Hinsicht weiterhin erhebliche Wirkungsmacht. Der Staatsgewalt tut gut daran, die angenommene ursprüngliche Gleichheit aller Teilnehmer der Generalversammlung stets zu beachten und in ihren Entscheidungen adäquat zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt insbesondere in Krisenzeiten, wenn der soziale Friede gefährdet ist und die Selektion der Maßnahmen zu seiner Wiederherstellung im Kampf zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausgefochten wird. So stößt es beispielsweise bei Niedriglohnempfängern und Langzeitarbeitslosen auf erhebliches Unverständnis, wenn von Illiquidität bedrohte Banken vom Staat großzügige Hilfe ohne ausreichende Gegenleistung der Banken erwarten dürfen, während Niedriglöhne nach unten generell nicht durch einen Mindestlohn begrenzt werden und Hartz-IV-Empfänger scharfen und entwürdigenden Kontrollen unterliegen. Eine derartige eklatante Ungleichbehandlung ruft Unmut hervor, verletzt das Gleichheitsgebot und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt bzw. den sozialen Frieden.
In einer aus Siedlergemeinschaften entstandenen Gesellschaft hingegen – wie beispielsweise in den USA – wird das „Volk als Ganzes“ nicht als Quelle staatlicher Macht angesehen. Das Axiom der Volkssouveränität hat keinerlei Bedeutung. Das einzelne aus freiem Willen handelnde Individuum übergibt seine Ur-Freiheit nicht an den Staat, denn Siedlergemeinschaften bestehen darauf, dass jedes Mitglied seine in ihm schlummernden Talente voll ausschöpfen kann und dabei möglichst geringen Begrenzungen unterliegt. Siedlergemeinschaften schützen sich selbst und ihr Eigentum durch die Entfaltung und Beachtung gemeinsamer Werte in ungeschriebenen sowie schriftlich fixierten Vertragsbeziehungen. Lediglich für Angelegenheiten, die über die Realisierungsmöglichkeiten der einzelnen Siedlergemeinschaft hinausreichen oder beim Schutz vor äußeren Feinden fühlen sie sich gezwungen, als gemeinschaftsübergreifende Institution den Staat zu errichten und finanziell mit ausreichenden Mitteln auszustatten. Dieser staatlichen Administration werden von den Siedlergemeinschaften um der Bewahrung der individuellen Ur-Freiheit willen enge Handlungsgrenzen gesetzt.
Je älter jedoch Siedlungsgesellschaften werden, desto stärker können im Laufe der Zeit entstandene Einkommens- und Vermögensunterschiede aufgrund ungleich gewordener Lebensverhältnisse dazu führen, dass Repräsentationsorgane und staatliche Administration nicht mehr nur mit sehr unterschiedlichen Interessen konfrontiert, sondern dass sie sogar vom privilegierten Teil der Bevölkerung einseitig zur Verfolgung ihrer Interessen in Anspruch genommen werden. Als Konsequenz der zurückbehaltenen Ur-Freiheit werden die erworbenen Privilegien jedoch grundsätzlich von allen Individuen akzeptiert. Sie verstoßen nicht gegen ein Gleichheitsgebot, sondern werden als Folge der von jedem Individuum mit mehr oder weniger Erfolg praktizierten Ur-Freiheit betrachtet. Selbst wenn ein solcher Privilegien befördernder Staat massiv gegen die weniger erfolgreichen und nunmehr unterprivilegierten Teile der Bevölkerung aktiv wird, kann seine einseitig orientierte Tätigkeit lange Zeit mit einer großen Duldsamkeit selbst unter den Benachteiligten rechnen, ehe er Gefahr läuft, den sozialen Frieden zu gefährden. Die Maßnahmen der Bush-Administration und des Kongresses, den Banken die nicht mehr eintreibbaren Darlehensforderungen auf Kosten des Steuerzahlers zum Nulltarif abzukaufen und Liquidität für notleidende Banken ohne Gegenleistung der Banken bereitzustellen, stützen einseitig den privilegierten Teil der amerikanischen Bevölkerung, gehen aber zu Lasten aller Steuerzahler und erhöhen den Anteil der Staatsschulden, der unterschiedslos auf jeden Bürger entfällt.3
Der Handlungsspielraum amerikanischer Administrationen ist also erheblich größer als der kontinentaleuropäischer Regierungen; was nicht weiter von Bedeutung wäre, wenn nicht im Zeichen der Globalisierung zum Nachteil der Kontinentaleuropäer neue Kräftekonstellationen entstanden wären.
4. Der Staat im hegemonialen Kräftefeld
Ohne die institutionalisierte Kraft eines Staates jedoch kann keine Gesellschaft existieren, in welchen nationalen, regionalen oder globalen Grenzen sie auch immer agiert! Die hegemonialen Formationen – die global agierenden transnationalen Unternehmen und Finanzorganisationen – würden auf sich gestellt ihren formlosen Gegenhalt auf die Dauer selbst zerstören, totalitär deformieren, die für eine lebendige Demokratie lebensnotwendige Diskursvielfalt beseitigen und keine Verständigung mehr über den Maßstab und die Regeln des Zusammenlebens erzielen. Der Zerfall wäre unausweichlich und auch die schönste volkswirtschaftliche Markttheorie könnte daran nichts ändern. Die jetzige Finanzkrise ist ein überdeutliches Beispiel.4
Anpassungsstrategien des Staates an den nationale Grenzen übergreifenden formlosen Gegenhalt hegemonialer Formationen greifen schon jetzt, indem Rechtsetzungsbefugnisse an internationale und regionale Instanzen übergehen und die Souveränität des Nationalstaats im zunehmenden Maße internationalem Recht unterliegt. Die Globalisierung wird von der Erzeugung neuer Rechtssysteme und Rechtsprechung begleitet. Teilweise haben Nationalstaaten diese Entwicklung direkt unterstützt oder sie mussten hinnehmen, dass sie in der Gestaltung dieser neuen Formen schlichtweg umgangen wurden. Außerdem treten nationale Kulturen, Rechtssysteme und -ansätze in Wettbewerb um ihre globale Durchsetzung, was sich insbesondere schon im Handelsrecht und in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zeigt. Zwischen den USA und Kontinentaleuropa wird es auf diesem Gebiet nicht nur beim moderat ausgetragenen Wettbewerb bleiben. Die augenblickliche Finanzkrise birgt eine Menge Konfliktstoff in sich, in dessen Abarbeitung es noch zu großen Verwerfungen kommen kann.
Die Herausbildung von Elementen transnationaler Rechtskulturen bedarf aber unabänderlich der Verständigung über Grundsätze transnationaler Gerechtigkeit. So stellt beispielsweise das Recht auf gleiche Berücksichtigung die substanzielle Ausformung des Gleichheitsgrundsatzes dar und äußert sich im Recht auf politische Teilhabe. Eine konsequente Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes der Völker schreibt diesem politischen Mitspracherecht Gültigkeit auf jeder institutionellen Ebene zu, auf der politische oder ökonomische Entscheidungen mit tendenziell übernationaler Wirkung getroffen werden. Gemäß der Idee der Mitsprache müssen gemeinsam die Grundregeln des Zusammenlebens, die die wechselseitigen moralischen Verpflichtungen festlegen, vereinbart werden, bevor aus deren Positivierung korrespondierende wechselseitige Rechtsansprüche hervorgehen können. Der Hegemonieanspruch einer Macht behindert einen solchen Prozess.
5. Konfliktlinien zwischen den USA und hegemonialen Formationen einerseits und kontinentaleuropäischen Staaten andererseits
Am Beispiel der von der SPD verfassten 14 Maßnahmen für mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten lässt sich gut erkennen, welche Konflikte in den Verhandlungen auftauchen werden. Die einzelnen Punkte stellen zwar Maximalforderungen dar, von denen man in konkreten Verhandlungen Abstriche akzeptieren würde, aber dennoch greifen einige Maßnahmen so tief in die bisher gewachsenen Finanzstrukturen ein, dass die Gegenseite sie rundweg ablehnen wird. Die SPD fordert
1. eine höhere Liquiditäts- und Eigenkapitalvorsorge der Finanzinstitute. Die aufsichtsrechtlichen Liquiditätsvorschriften müssen ausgebaut, Liquiditätsrisiken stärker berücksichtigt, Liquiditätspuffer geschaffen, Stresstests optimiert und die Aufsicht besser einbezogen werden. Ebenso müssen die Eigenkapitalanforderungen deutlich steigen: Wir fordern Mindesteigenkapitalquoten. Das gilt nicht zuletzt für Kredite an Hedge-Fonds, für die zukünftig mindestens 40 Prozent Eigenkapital hinterlegt werden sollte.
Bereits diese auf dem ersten Blick plausible Forderung reduziert die Kreditvergabemöglichkeiten der Banken erheblich und holt die staatliche Aufsicht in die Banken, was auf nationaler Ebene die Banken und auf globaler Ebene die USA strikt ablehnen werden. Gerade Hedge-Fonds wurden bisher von den Banken als willkommenes Renditeinstrument angesehen. Für profitable Geschäfte, die den Banken selbst nicht erlaubt waren, konnte bei Hegde-Fonds angeheuert werden. Die USA haben bisher jeden Eingriff in ihre Souveränität abgelehnt und nichtsdestoweniger ihren hegemonialen Einfluss auf andere Volkswirtschaften ausgedehnt.
2. Strengere Bilanzierungspflichten der Finanzinstitute!
Risiken müssen in Zukunft eindeutig in den Bilanzen der Finanzinstitute ausgewiesen sein und dürfen nicht etwa – wie bisher üblich – in Zweckgesellschaften ausgelagert werden. Die EU-Bankenrichtlinie ist in diesem Punkt noch nicht präzise genug. Wir halten es für dringend notwendig, Risiken zwingend nach einem standardisierten Schema darzulegen. Die gegenwärtige „Fair-Value-Bewertung“ muss krisenoptimiert werden.
Die „Fair-Value-Bewertung“5 entstammt dem US-amerikanischen Bilanzrecht und fördert die Entobjektivierung der Unternehmensbilanzen. In diesem Punkt stimmen die USA mit den national wie global operierenden Unternehmen überein. Bilanzverschleierung war und ist für alle Finanzinstitute ein Instrument des Managements, auf das es nur nach äußerster Druckausübung verzichtet. Die EU wird allein diesen Maximaldruck nicht ausüben können. Sogenannte Zweckgesellschaften sind aber auch die von transnationalen Unternehmen und Finanzinstituten unterhaltenen Holdings in Steueroasen, um den nationalen Steuerregimes zu entgehen.
3. Mindestens 20 Prozent Selbstbehalt bei Verbriefungen!
Wir brauchen ein stärkeres Risikobewusstsein im gesamten Finanzsystem. Die Trennung zwischen der Entscheidung, einen Kredit zu vergeben, und der Verantwortung für das damit einhergehende Risiko muss aufgehoben werden. Deshalb dürfen Finanzinstitute ihre Kreditrisiken nicht mehr zu 100 Prozent verbriefen und weiterreichen können. Sie müssen auf Grundlage einer internationalen Regelung nach unserer Auffassung künftig mindestens 20 Prozent des Risikos selber tragen.
Diese SPD-Forderung steht diametral der bisherigen Praxis US-amerikanischer Investment- und Geschäftsbanken entgegen. Wie bereits dargelegt, basierte die US-amerikanische Globalisierungspolitik auf der Verbreitung infizierter Darlehensforderungen über den gesamten Globus. Eine Abkehr von dieser Praxis hätte gravierende Folgen für die bisher US-dominierte Liquiditätsversorgung der Finanzmärkte und wird deshalb auf massiven Widerstand der USA und teilweise des Vereinigten Königreichs stoßen.
4. Verbot schädlicher Leerverkäufe!
Schädliche ‚Leerverkäufe’, also die ungedeckte Spekulation auf fallende Aktienkurse, haben die Finanzmarktkrise noch verschärft. Krisenverschärfende, schädliche Leerverkäufe müssen auf internationaler Ebene verboten werden.
Der Text bezieht sich nur auf „krisenverschärfende“ Leerverkäufe. Leerverkäufe sind ein gebräuchliches Börseninstrument. Sie dienen der Auslotung von Trends bei Kursentwicklungen in die eine oder andere Richtung. Ihnen haftet deshalb unvermeidlich immer ein Moment der Spekulation an. Wie jedoch auf Dauer die „krisenverschärfenden“ von den stabilisierenden Leerverkäufen unterschieden werden sollen, wird vom Text nicht problematisiert. Insofern verbleibt die Forderung nach Verbot von Leerverkäufen im plakativen Bereich und wird sich deshalb dauerhaft nicht durchsetzen lassen.
5. Anpassung der Anreiz- und Vergütungssysteme!
Wer von Gewinnen profitiert, muss auch Verluste tragen. Über veränderte Anreiz- und Vergütungssysteme im Finanzsektor auf Grundlage eines internationalen ’Verhaltenskodex’ wollen wir dafür sorgen, dass individuelles Fehlverhalten in Zukunft individuelle Sanktionen nach sich zieht.
Die Beteiligung der Manager am Gewinn ihres Unternehmens bzw. seiner Bewertung an der Börse ist eine der Folgen des Shareholderprinzips. Mit der Zeit war es für Spitzenmanager nicht mehr von Bedeutung, ob sie ausreichend für ihre Tätigkeit entgolten wurden, sondern auf welcher Rangstufe sie sich im Wettbewerb mit ihren inländischen und ausländischen Kollegen befanden. Ein solches Bonussystem ist grundsätzlich nach oben offen. Je stärker es die Alltagsarbeit der Manager beherrscht, desto schädlicher wirkt es sich für die langfristige Perspektive des gesamten Unternehmenssektors aus. Renditeforderungen von 20 und mehr Prozent bei einem durchschnittlichen Produktivitätszuwachs von 2-3 Prozent können in der Realwirtschaft nur auf Kosten der Lohnempfänger und der Zurückdrängung des Sozialstaats erzielt werden. Wenn außerdem die persönliche Haftung für Verluste für die verantwortlichen Manager ohne Sanktionen bleibt, wird die persönliche Bereicherung prestigesüchtiger Manager zu ihrem eigentlichen Antriebsmotor. Der von der SPD angestrebte neue „Verhaltenskodex“ setzt voraus, dass Managergehälter überall nach den gleichen Kriterien ermittelt werden und den gleichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen unterliegen. Dies ist jedoch nicht der Fall, so dass eine Verständigung zwischen den USA und den Kontinentaleuropäern kaum möglich erscheint.
6. Persönliche Haftung der Verantwortlichen!
Das Prinzip „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“ ist für uns inakzeptabel. Wir brauchen internationale Standards für eine stärkere persönliche Haftung der Finanzmarktakteure. Ihre Verantwortung muss sich auch in der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen und individuellen Haftung widerspiegeln.
Für diese Forderung der SPD trifft in ganz besonderem Maße die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftsordnungen der USA und Kontinentaleuropas zu. Richard von Weizsäcker hat einmal die USA als Plutokratie bezeichnet, in der ungefähr 200 wohlsituierte und etablierte Familien darüber befinden, ob in den nächsten Wahlperiode der demokratischen oder der republikanischen Partei der Vorzug gegeben werden soll. Entsprechend fällt ihre finanzielle und immaterielle Unterstützung der zur Auswahl stehenden zwei Parteien bzw. des Präsidentschaftskandidaten aus. In der Frage der Sozialisierung der Verluste und der Privatisierung der Gewinne entscheiden sich diese tonangebenden Gruppierungen in einer plutokratischen Gesellschaft ganz klar für die Sozialisierung der Verluste. Das jetzige Verhalten des Kongresses und der Bush-Administration zeigt in aller Klarheit eine solche Präferenz. In der Erarbeitung internationaler Standards werden sich die Kontinentaleuropäer nur dann mit ihren Forderungen durchsetzen können, wenn in der Zwischenzeit die USA am wirtschaftlichen Abgrund angelangt sind und die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung den Plutokraten das Vertrauen entzieht.
7. Europäische Aufsicht stärken!
Das europäische Aufsichtsystem muss weiter entwickelt werden. Zwar sind erste Schritte gemacht worden, aber sie reichen bei weitem nicht aus. So muss vor allem die nationale und supranationale Zusammenarbeit aller Aufsichtsbehörden endlich in der EU-Bankenrichtlinie verankert werden. Im nächsten Schritt muss das Kollegium der an einer internationalen Bank beteiligten Aufsichten zu verbindlichen Entscheidungen befugt werden.
Dieser Punkt betrifft zwar vordergründig nicht die europäisch-amerikanischen Beziehungen. Gelingt hier jedoch keine Einigung ist auf jeden Fall die Verhandlungsposition der Europäer gegenüber den USA nachhaltig beeinträchtigt.
8. Verbesserte Ratings!
Die Errichtung einer europäischen Rating-Agentur als Gegengewicht zu den bislang allein in den USA existierenden Agenturen sollte geprüft werden. Die Beratungstätigkeit der Ratingagenturen muss eingeschränkt werden. Ratingagenturen müssen sich verpflichten, den – weiter zu entwickelnden – IOSCO (Code of Conduct) anzuwenden. Eine europäische Agentur – ggf. das Committee of European Security Regulators – sollte Ratingagenturen registrieren und kontrollieren. Die Bedeutung von Ratings für die Beurteilung von Risiken sollte verringert werden.
Für die drei existierenden US-amerikanischen Ratingagenturen werden die USA wohl kaum eine europäische Mitkontrolle zugestehen. Sie werden deren Bewertungen von Unternehmen weiter veröffentlichen und auf Verbindlichkeit der Einschätzungen bestehen. An den Europäern liegt es, sie zu übernehmen oder zu ignorieren.
9. Zentrale und neue Rolle für den IWF!
Wir brauchen verstärkte Frühwarnkapazitäten und eine bessere Zusammenarbeit von IWF und FSF. Dazu müssen die Kernkompetenzen der beiden Institutionen zusammengeführt und ausgebaut werden. Ein gemeinsamer jährlicher Bericht von IWF und FSF könnte insbesondere die Effektivität bei der Krisenprävention erhöhen.
Die FSF (Financial Stability Forum) wurde 1999 mit dem Ziel gegründet, die internationale finanzielle Stabilität durch Informationsaustausch und Kooperation bei der finanziellen Inspektion zu erreichen. Die jetzige Finanzkrise wäre gar nicht eingetreten, wenn der Informationsfluss ausreichend und die Kooperation in der Inspektion erfolgreich gewesen wäre.
Wie will man eine engere Zusammenarbeit von IWF und FSF in Verhandlungen mit den USA erreichen, wenn die Gegenseite noch nicht einmal zur Aufgabe ihrer Sperrminorität im IWF bereit ist? Solange die USA nicht von der ihr durch Bretton Woods eingeräumten Verschuldungsmöglichkeit Abstand nehmen, sind von einer Kooperation von IWF und FSF nur geringe Erfolge zu erwarten.
10. Hedge-Fonds und Private Equity-Fonds straff regulieren;
Hedge-Fonds und Private Equity-Fonds müssen effektiver kontrolliert und reguliert werden. Wichtige Stichworte sind für uns Pflichten zur Offenlegung der Vermögens- und Eigentümerstruktur, verstärkte Aufklärungspflichten hinsichtlich der Risiken für Anleger, Einschränkung übermäßiger Fremdkapitalfinanzierung und Anlagebeschränkungen.
In diesem Punkt ist mit dem gemeinsamen Widerstand der USA, den transnationalen und weltweit agierenden Finanzinstitutionen zu rechnen. Wenn zwei US-amerikanische Hegde-Fonds seit längerem die „Deutsche Börse“ in Frankfurt am Main zerschlagen wollen, um einen lästigen Konkurrenten für die Wall Street und die City von London entscheidend zu schwächen und zugleich mit Verkauf der Aktien der „Deutschen Börse“ ein gutes Geschäft machen wollen, ist die Interessenlage eindeutig.
11. Mehr Transparenz bei Staatsfonds einfordern!
Wir begrüßen die jüngsten vom IWF moderierten Fortschritte in der Selbstverpflichtung von Staatsfonds zu stärkerer Transparenz und unterstützen weitere internationale, europäische und bilaterale Schritte zu einer konstruktiven Einbindung von Staatsfonds in das Weltfinanzsystem.
Staatsfonds waren früher wohl gelitten und stellten offensichtlich keine Gefahr dar, zumal sie sich inzwischen als willkommene Investoren an notleidenden US-amerikanischen Banken beteiligt haben. Mit ihnen verbanden sich Namen wie Abu Dhabi Investment Authority, United Arab Emirates; Rentenfonds der Regierung Norwegen; Government Investment Corp., Singapore; Zentralbank Saudi-Arabiens; Fonds für zukünftige Generationen, Kuwait; Temasek, Singapore ( die Reihenfolge ergibt sich aus der Höhe des Anlagekapitals in Mrd. US-Dollar). Als neue Namen hinzutraten wie China Investment Corporation und der Russische Staatsfond witterte man Gefahr, obwohl sie international bisher nicht zu den größten Investoren zählen. Zu einer völlig neuen Einschätzung wird man greifen müssen, wenn künftig der französische Staat ebenfalls einen Staatsfond gegründet haben wird.
12. Beteiligungsrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärken!
Die Mitbestimmung im Unternehmen ist ein wichtiges Instrument zum langfristigen Erhalt des Unternehmens und muss daher gestärkt werden. Die Sanktionen für die Verletzung der mit dem Risikobegrenzungsgesetz ausgeweiteten Informationspflichten der Unternehmen gegenüber den Betriebsräten sind deutlich zu erhöhen.
Die Mitbestimmung ist ein besonders gutes Beispiel für die grundlegenden Unterschiede in der Auffassung über die Rolle des Staates. Gemäß den obigen Ausführungen ist nicht zu erwarten, dass der langfristige Erhalt von Unternehmen in den USA von der Existenz von Betriebsräten abhängig gemacht wird. Auf diesem Gebiet wird es keinerlei Vereinbarungen mit den USA geben.
13. Steueroasen austrocknen!
Die international existierenden Steueroasen und weitgehend regulierungs- und rechtsfreie Offshore-Finanzzentren müssen trocken gelegt werden. Vor allem Steuerhinterziehung ist entschlossen zu bekämpfen. Dazu sind auch neue Wege erforderlich. Bedauerlicherweise finden sich Steueroasen und „Parkplätze für schwarze Kassen“ auch immer noch in Europa. Daher muss Europa bei deren Bekämpfung auch vorangehen. Wir fordern eine Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie mit diesem Ziel.
So lange Mitgliedsländer der EU wie das Vereinigte Königreich (Kanalinseln, Gibraltar), Luxemburg, Österreich, Frankreich (Monaco, Andorra), Spanien (Andorra) und Italien (San Marino) in Europa an Steueroasen profitieren, ist jeder Versuch, die außereuropäischen Steueroasen auszutrocknen, ein vergeblicher Versuch. Insbesondere das Vereinigte Königreich, aber auch Frankreich und die Niederlande unterhalten Steueroasen in anderen Teilen der Erde und die USA stützen einige von ihnen im erheblichen Ausmaß.
14. Deutschlands Drei-Säulen-Modell bewahren – Landesbanken konsolidieren!
Die Projektgruppe steht zum dreigliedrigen, ausgeprägt dezentral strukturierten deutschen Bankensystem aus Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Geschäftsbanken. Die Verbundstrukturen der Sparkassen und der Genossenschaftsbanken haben gerade in der aktuellen Krise ihre stabilisierende Wirkung unter Beweis gestellt. Auch aus diesem Grund lehnen wir die Umwandlung der Sparkassen in Aktiengesellschaften und andere privatrechtliche Organisationsformen ab. Der Landesbankensektor muss horizontal konsolidiert werden.
Da eine in dieser Weise geartete Bankenstruktur in den USA völlig unbekannt ist, sind auch auf diesem Gebiet Vereinbarungen mit den USA ausgeschlossen. Unter den 14 Punkten zählt die SPD noch weitere Detailforderungen auf, die hier nicht mehr ausgeführt werden.
6. Intendierter Wettbewerbsvorteil des US-amerikanisches „bailout“6„In a number of ways, the American bailout is being given fewer strings than are bailouts in European countries. While that would seem to place the American government at a disadvantage, it could rebound to its benefit if that relative leniency helps the banks to recover quickly and provides the government with a big profit on the equity stake it is receiving. Whereas some of the European plans barred banks from paying dividends on common stock until the government got its money back, and demanded promises that the banks would keep loans flowing to businesses and individuals, the U.S. government said that the banks it invested in could continue to pay dividends on existing common and preferred shares. In addition, while European banks are being required in some cases to put government representatives on their boards of directors, the American government will not receive board representation or have voting power.” (Floyd Norris, ibd.).
Zusammengefasst vertritt Norris die Auffassung, dass die USA Zeit gewinnen sollten, um zum nächst günstigen Augenblick wieder zu ihrer hegemonialen Position zurückkehren zu können. Die von der Bush-Administration und der Notenbank getroffenen Maßnahmen würden der Finanzindustrie nur sehr milde Regularien auferlegen, so dass sie die Chance erhielte, sich sehr viel schneller von der Krise zu erholen als ihr europäisches Pendant. Setzt sich in den USA dieser Plan B durch, stehen die europäischen Regierungen an einem entscheidenden Wendepunkt: Ist man bereit, im Verhältnis zu den USA eine Position von gleich zu gleich durchzusetzen oder lässt man sich ein weiteres Mal spalten, indem jede Regierung ihr Verhandlungsglück auf eigene Faust sucht? Die USA wären letztlich die Gewinner und würden den Europäern nach gelungener Zeitverzögerung erneut das Schild „Follow me!“ zeigen.
James K. Galbraith drückt es in seinem Artikel „Die Weltfinanzkrise – und was der neue US-Präsident tun sollte“, Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11’08, S.57, etwas freundlicher aus: „Der neue Präsident sollte sich darauf einstellen zu erklären, dass die Führungsrolle in einer Weltgemeinschaft – die Aufgabe, kollektives Handeln im großen Maßstab anzuführen – die wahre Bestimmung der Vereinigten Staaten ist.“ Auch er träumt noch von der Rückgewinnung der „technischen Führungsrolle“ der USA, nachdem sie die „finanzielle Hegemonierolle“ verloren hätten. Aber nach der Ära Bush wird es wohl kein Zurück zum Status der „wohlwollenden Hegemonie“ früherer Jahrzehnte geben.
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1 Alan Greenspan am 23. 10. 2008 bei einer Anhörung vor einem Ausschluss des US Kongresses: „Ich habe falsch gelegen mit der Annahme, dass Organisationen – speziell Banken – aufgrund von Eigeninteresse ihre Aktionäre und ihr Firmenkapital am besten schützen können“ (Andreas Oswald in Tagesspiegel, 25.10.2008). Die US-amerikanische Globalisierungsstrategie erwähnte er jedoch nicht.
2 Methodologisch betrachtet kann der Staat über, unter, neben oder im Zentrum der Gesellschaft platziert werden. Würde streng hierarchisch vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen, nähmen entweder die Gesellschaft oder der Staat die Spitzenposition ein und bestimmten die jeweils nachgeordnete Kategorie vollständig. Für den Staat blieben dann für die einen beispielsweise lediglich Nachhutgefechte einer dynamisch voranschreitenden Gesellschaft übrig, während ihn die anderen gerade umgekehrt sogar zum Motor der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung erklärten. Stünde der Staat sogar im Zentrum der Gesellschaft, um das sich alles dreht, wäre er die allein bewegende Kraft des aus ihm selbst und seinen gesellschaftlichen Ausstülpungen bestehenden Ganzen. Die um ihn kreisenden gesellschaftlichen Bereiche wären bestenfalls mit einem Mindestmaß an Autonomie ausgestattet. Würden Gesellschaft und Staat jedoch als zwei nebeneinander existierende und sich teilweise überlappende unterschiedliche gleichwertige Pole herausgearbeitet, stünde ihre gegenseitige Angewiesenheit und Beeinflussung im Zentrum der Analyse. Letztere Sichtweise findet ihre Entsprechung in der historischen Entwicklung von Staat und Gesellschaft.
3 Am 30. Oktober 2008 übernimmt „T-online“ einen Artikel der „Washington Post“ und titelt: „US-Banken zahlen üppige Dividenden dank Staatshilfen“. Danach planen die 33 Banken, die das Rettungspaket der Regierung abrufen, allein im laufenden Quartal Dividendenzahlungen in Höhe von rund sieben Milliarden Dollar. In den nächsten Jahren könnten sich die Dividenden bei den Banken auf 3,3 Milliarden Dollar summieren. Von den Zahlungen profitieren jetzt auch vermögende institutionelle Aktionäre.
4 In der Selbsterhaltung von Gesellschaften steht dem instabilen formlosen Gegenhalt, den die hegemonialen Formationen aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehens-und Vergehenszeiten sowie ihres regelmäßig gewordenen Gegensatzes bilden, der Staat als institutionalisierte Kraft gegenüber. Zwar fehlt auch ihm – wie allen anderen Akteuren – der sichere Blick in die Zukunft, aber bereits gut erkennbaren Fehlentwicklungen kann er durchaus rechtzeitig entgegensteuern. Aus der umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zum Zwecke der Selbsterhaltung von Gesellschaften ragen folgende hervor, die auch unabhängig von der Entgrenzung der bisherigen Zirkulationssphären bestehen bleiben:
5 Die Bestimmung des Fair Value durch die International Financial Reporting Standards (IFRS) ist keinesfalls eindeutig. Die IFRS kommen ohne Hilfslösungen nicht aus und räumen den Unternehmen Wahlrechte und Ermessensspielräume ein. „Je weiter die gewählte Ausprägungsform des Fair Value vom Marktpreis entfernt ist, desto geringer ist die Nachvollziehbarkeit des gewählten Ansatzes und desto stärker wird der Weg zu einer entobjektivierten Bilanz beschritten.“ Professor Karlheinz Küting, Direktor des Saarbrückener Instituts für Wirtschaftsprüfung, plädiert deshalb in seinem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) dafür, dass weniger die Theorie bei der Bilanzierung an erster Stelle stehen sollte, sondern „was in der Praxis umsetzbar oder überhaupt von Bedeutung ist“. (kib in LexisNexis – Deutschland, Beitrag Nr. 113890 vom 21.03.2007).
6 aus der Patsche helfen
3. November 2008
Reinhard Hildebrandt
Wege aus der Krise in die „Hölle“
So notwendig es war, die amerikanischen Banken auf dem Höhepunkt der Finanzkrise mit frischem Kapital zu versorgen, stellen sich gleichzeitig viele drängende Fragen: wie kann eine galoppierende Inflation vemieden werden? Kommt es zu einer neuen spekulativen Blasenbildung? Werden die Europäer größere wirtschaftspolitische Unabhängigkeit entwickeln? Und vor allem: haben Regierungen den Mut, das globale Finanzcasino zu schließen? Fragen über Fragen, deren Beantwortung auch darüber entscheiden wird, ob diese Krise mit friedlichen Mitteln beigelegt werden kann oder nicht.
1. Aktuelle Ausgangslange – Drohende Inflation als Grundproblem
Als „Weg in die Hölle“ bezeichnete der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek die Krisenbewältigungspolitik des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama (t-online.de, 25.3.2009). Die Konjunkturhilfen seien sogar geeignet, die Stabilität der globalen Finanzmärkte zu untergraben. Zur Finanzierung ihrer Konjunkturstützungsmaßnahmen müssten die USA Staatsanleihen auf den Markt bringen, für die es zur Zeit keine Käufer gäbe. [1] Zwei Fragen sind zu beantworten: Wann droht eine Inflation und wie können inflationäre Entwicklungen rechtzeitig gestoppt werden?
Tatsächlich hat sich die Notenbank der USA (FED) gezwungen gesehen, die Staatsanleihen aufzukaufen. Denn liegen keine oder nicht genügend Kauforder privater Käufer vor, erhält der Staat zwar „frisches Geld“ im Umfang der von der Notenbank aufgekauften Anleihen, aber diesem Betrag steht keine gleichgroße Reduzierung der Geldmenge im außerstaatlichen Sektor gegenüber. Für die Zeit der Geltungsdauer der Schuldverschreibungen erhöht sich die gesamte im Umlauf befindliche Menge an US-Dollar, d.h. das Inflationspotential wächst. Erst wenn der Staat zu einem späteren Zeitpunkt seine Schuldverschreibungen von der Zentralbank zurückfordert und den Gegenwert in Geld einzahlt, reduziert er das entstandene Inflationspotential wieder.
Topolaneks Kritik ist jedoch für Krisenzeiten ungerechtfertigt, in denen das Interbankengeschäft zum Erliegen gekommen ist. Gewähren sich Banken aufgrund fehlenden Vertrauens gegenseitig keine Kredite mehr, sinkt die auf dem Finanzmarkt zirkulierende Geldmenge drastisch. Der Staat hilft aus, indem er „frisches Geld“ in den Markt pumpt.
Steigt jedoch das Vertrauen der Banken untereinander und der Interbankenhandel erreicht wieder einen der Realwirtschaft angemessenen Umfang, kann die von Regierung und Notenbank vergrößerte Geldmenge durchaus die Grundlage für eine inflationäre Entwicklung legen, denn sofern der Staat bei der Notenbank seine Schuldverschreibungen nicht einlöst, sondern sogar sein Haushaltsdefizit noch erhöht und die Zentralbank weiterhin keine privaten Käufer für die in ihrem Depot befindlichen Staatsschulden findet, steigt das Inflationspotential erheblich.
Zur Vermeidung einer solchen Entwicklung sollten die in der Bewältigung der jetzigen Finanzkrise engagierten Staaten bis dahin erreicht haben, dass die globalen Finanzoperationen der Banken, Hedgefonds, Private Equity Unternehmen und Pensionsfonds stärker reguliert werden. Andernfalls steht die nächste Blasenbildung mit noch verheerenderen Folgen ins Haus.
2.US-amerikanische Globalisierungsstrategie als Ursache der gegenwärtigen Finanzkrise
Die europäischen Staaten, Japan und einige Schwellenländer müssen ihre kritiklose Übernahme amerikanischer Globalisierungsstrategien endlich beenden. Dieser Strategie, die bereits in der ersten Amtsperiode Bill Clintons konzipiert und in ersten Maßnahmen umgesetzt wurde, hatte man diesseits des Atlantiks und jenseits des Pazifiks nicht nur wenig entgegen zu setzen, sondern teilweise unterwarf man sich ihr im vollen Bewusstsein über die Folgen für andere Gesellschaftsmodelle.
Das Bekenntnis des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vom Herbst 1998, wonach mit ihm „keine Politik gegen die Wirtschaft zu machen“ sei, zeugte zwar von einer gewissen Distanz zu den Vorgaben aus den USA, aber eine Gegenstrategie war aus seinen Worten nicht ablesbar. Dem Diktum des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Josef Breuer, „die Struktur der internationalen Finanzmärkte spiegelt die Wertegemeinschaft der westlichen Welt wider“, und der Behauptung des damaligen Bundesbankpräsidenten Tietmeyer, „Meine Herren, Sie sind jetzt der Herrschaft der Finanzmärkte unterworfen“, hatte Schröder außer Beschwichtigungsworten nichts entgegen zu setzen (einführende Worte Oskar Lafontaines zum Buch Heiner Flassbecks mit dem Titel „Gescheitert“, in: „ Das Casino schließen – der Ökonom Heiner Flassbeck zur globalen Finanzkrise“ von Frank Hahn, Solon-line, 25. März 2009).
Auch der von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück geäußerten Meinung, die deutsche Bundesregierung sei über die Jahrhundertwende aus Sorge um die Erhaltung des Finanzplatzes Frankfurt am Main für die Marktliberalisierung und die Innovation von Finanzprodukten „offen“ gewesen, ist zwar die Strategie der Anpassung zu entnehmen, aber nicht die Entfaltung einer Gegenstrategie (Peer Steinbrück, „Warum die Krise eine Zäsur ist“, Die Zeit, 26. 4. 2009).
Britische Regierungen hatten ausschließlich die Stärkung des Finanzplatzes London vor Augen. So lange die City von London der Labourregierung genügend Steuereinnahmen einbrachte, um ihre Sozialprogramme zu finanzieren, beharrte sie auf ihrer Sonderstellung zu den USA und übernahm jede Maßnahme – sinnvoll oder nicht – , die über den Atlantik herüberschwappte.
In Japan, China und Indien zeigte man sich dankbar für die Aufblähung der Finanzmärkte und die Verschuldungspolitik der USA. Die Exportchancen für ihre Industrie- und Dienstleistungsprodukte wären ohne eine solche US-amerikanische Politik viel geringer gestiegen.
Mit den weitreichenden Folgen ihrer Unterwerfung unter die US-amerikanische Globalisierungsstrategie haben gegenwärtig alle etablierten Industrieländer, sämtliche industriell aufschließenden Schwellenländer und ganz besonders die in ihrer industriellen Entwicklung noch zurückliegenden Dritteweltländer zu kämpfen. Bisher ist noch nicht einmal sicher, ob die Stabilisierung der Finanzmärkte gelingt.
3. Schließung des globalen Finanzcasinos als Krisenbewältigungsstrategie für die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise
3.1 Maßnahmen zur kurzfristigen Stabilisierung der Finanzmärkte
Eine Hiobsbotschaft nach der anderen zwang die Staaten zum Eingreifen. So stellte sich die Übernahme von Merrill-Lynch durch die Bank of America als Schuldenfass ohne Boden heraus und kostete den Chef der Übernahmebank letztlich seinen Posten. Die den amerikanischen Hypothekenmarkt beherrschenden großen amerikanischen Hypothekenbanken Freddy Mac und Fanny Mae benötigten zum Überleben dringend weitere Staatshilfen in Milliardenhöhe. Der weltweit engagierte Versicherungsriese American International Group (AIG) musste vom Staat vor dem Kollaps gerettet werden, weil im Falle eines Zusammenbruchs dem globalen Finanzmarkt unabsehbarer Schaden drohte. Immer mehr Private Equitiy Funds zeigten sich nicht mehr in der Lage, den für sie lebenswichtigen Zirkel von „raise money, invest it, add lashing of debt, dress up the portfolio of companies and sell them at a profit“ zu schließen. „The number of private equity firms that completed fund-raising efforts in the first quarter fell by more than 70 percent from the first quarter of last year“ (Lauren Silva Laughlin, „Buyout fund investors now in the driver’s seat“, International Herald Tribune, April 15, 2009). Weitere britische Banken gingen in staatliche Hände über. Sämtliche isländischen Banken wurden verstaatlicht. Kunden der schweizerischen UBS-Bank entzogen der Bank Einlagen in Milliardenhöhe, und nach ihrem Milliardenverlust kündigte die Bank einen Stellenabbau in Höhe von 8700 Stellen an (Frankfurter Rundschau, 16.4.2009). Die belgische Fortis-Bank hatte im Jahre 2008 einen Verlust von 20,6 Milliarden Euro hinzunehmen (Tagesspiegel, 15.4.2009). Amerikanische Lebensversicherer hatten nicht nur einschneidende Wertverluste der in ihrem Besitz befindlichen Hypothekenpapiere zu verkraften, sondern mussten außerdem mit zunehmenden Zahlungsausfällen vom Konkurs bedrohter Unternehmen rechnen. Am Horizont tauchte im April 2009 als nächstes Debakel der drohende Zusammenbruch der wichtigsten amerikanischen Kreditkartenfirmen – Mastercard, Visa American Express, Capital One, HSBC, Citigroup, Wells Fargo und Bank of America – auf.
Obwohl sich laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die Verluste der weltweiten Finanzwirtschaft inzwischen auf vier Billionen US-Dollar addierten und in den Bankbilanzen massenhaft weitere faule Papiere lagern sollen, über deren Entsorgung noch gestritten wird (Tagesspiegel, 20./22.4.2009), verzichteten Bankmanager oftmals nicht auf die ihnen in besseren Zeit zugesicherten Bonuszahlungen und riefen mit ihrer Verhaltensweise den Zorn der Weltöffentlichkeit hervor. Noch mehr Ärger entstand, als US-Banken den durchsichtigen Versuch unternahmen, aufgrund geänderter Bilanzregeln wieder Gewinne auszuweisen, und den scheinbaren Erfolg als Anlass nahmen, sich den Stresstests der amerikanischen Regierung zur Ermittlung der den Banken verbliebenen Eigenkapitalbasis zu entziehen und insgesamt der staatlichen Aufsicht zu entfliehen. Immerhin müssen sich nach ersten Berichten rund die Hälfte der US-Großbanken zur Überwindung der Finanzkrise offensichtlich erneut frisches Kapital beschaffen (Frankfurter Rundschau, 6.5. 2009). Allein die Bank of America hat laut „Wall Street Journal“ offenbar einen zusätzlichen Finanzbedarf von 35 Milliarden US-Dollar und nach einem Bericht der „New York Times“ benötigt die Citigroup fünf bis zehn Milliarden und Wells Fargo 15 Milliarden (Tagesspiegel, 7.5.2009).
Trotz der verheerenden Ergebnisse der neoliberalen Deregulierungspolitik zweifeln Banker weiterhin an der Weisheit neuer Regulierungen. „The biggest issue for banks – and indeed insurance companies – is whether the accounting rules are sensible“, stellte Charlie McCreevy fest, European commissionar for the internal market and services, in einem Interview mit Karina Robinson (International Herald Tribune, April, 11-12, 2009). Aber bei aller verständlichen Abneigung vieler Bankmanager gegen die Entmachtung durch den Staat sei jedoch unabweisbar, meinte Martin Hellwig, das System der Bankenregulierung langfristig „völlig neu“ zu konzipieren (Interview mit Robert Heusinger „Dieses System ist katastrophal“, Frankfurter Rundschau, 7. 4. 2009). Welche Gestalt es annehmen könnte, war bereits Gegenstand der Erörterungen auf dem Gipfel der G-20 in London Anfang April 2009.
3.2 Langfristige Reform des Finanz- und Wirtschaftssystems
Die Befürchtung der Kontinentaleuropäer, dass die USA und Großbritannien auf der Londoner Konferenz der G-20 ausschließlich für massive Konjunkturbeihilfen plädieren und die anstehende Regulierung der Finanzmärkte vernachlässigen würden, erwies sich als unbegründet. Da den angloamerikanischen Repräsentanten schon vor Konferenzbeginn deutlich vor Augen stand, dass die im Euroraum zusammengeschlossenen Länder auch ohne die Zustimmung des Vereinigten Königreichs und die Vereinigten Staaten einschneidende Regelungen treffen können, verzichteten sie auf eine Konfrontation. Insbesondere die Vertreter der USA mussten eingestehen, dass das enorme Ungleichgewicht zwischen dem einem Fünftel des US-amerikanischen am Weltbruttosozialprodukt und dem Anteil des US-Dollars an den von allen Zentralbanken gehaltenen Währungsreserven von ungefähr 75 Prozent dringend einer Korrektur bedurfte. Unüberhörbar war der Ruf chinesischer Repräsentanten geworden, den US-Dollar als vom Internationalen Währungsfonds allein anerkannte Weltreservewährung durch ein Bündel von Währungen oder eine gemeinschaftlich getragene und verantwortete Weltreservewährung abzulösen. Schon bevor in den darauf folgenden Monaten entsprechende Beschlüsse des IWF gefasst werden konnten, entkleideten die in London versammelten Repräsentanten der G-20 den IWF seiner bisherigen Funktion, lediglich wie bisher als verlängerter Arm globaler Politikstrategie der USA zu dienen. Statt dessen sollte er wieder vor allem zur Risikotragfähigkeit des gesamten globalen Finanzsystems auf entscheidende Weise beitragen. Am 23. April 2009 sprach sich erstmals sogar der IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn für eine Aufhebung des Vetorechts der USA aus (Focus Magazin Finanzen, 24.4.2009).
Der Druck auf Steueroasen wurde ebenfalls verstärkt. Kooperationswillige Steueroasen sahen sich in einer grauen Liste aufgereiht (Caymaninseln, Liechtenstein, Österreich, Belgien, Chile, Monaco, Niederlande, Luxemburg, Singapur, Schweiz) und vorrübergehend unwillige in einer schwarzen (Costa Rica, Malaysia, Philippinen, Uruguay). Obwohl die USA auf der weißen Liste der „Gutwilligen“ standen, blieb die künftige steuerverschleiernde Funktion einzelner Unionsstaaten der USA (z.B. Delaware) unerwähnt.
Die Konferenz endete mit einer vagen Absage an den Protektionismus (dem krisenverschärfenden Resultat der Weltwirtschaftskrise 1929/34) und dem Versprechen, Abwertungswettläufe zu verhindern. Alle Regulierungslücken auf dem Finanzmarkt sollten geschlossen werden. Das internationale Aufsichtsgremium Financial Stability Board (FSB) sollte zwar gestärkt, aber lediglich die bedeutenden Hedgefonds kontrolliert werden. Außerdem ist noch völlig unklar, ob dieses oder ein anderes Gremium in die Lage versetzt würde, eine antizyklische Regulierungspolitik durchsetzen zu können. Welche Staaten wären bereit, für dieses Gremium einen Teil ihrer bisher scheinbar souveränen Geld- und Finanzpolitik abzutreten?
Die Weltbank schnürte nach der G-20-Konferenz für noch wenig industrialisierte Länder, die selbst noch nicht in der Lage seien, eigene Hilfsprogramme zu finanzieren, ein milliardenschweres Investitionspaket. Diskutiert wurden außerdem bereits unterschiedliche Modelle über die Errichtung sogenannter Bad Banks, mittels derer Banken ihre problematischen Wertpapiere entsorgen können (Stephan Kaiser, „Regierung einigt sich auf Bad Banks“, Tagesspiegel, 22.4.2009). Nach dem schwedischen Beispiel, ausführlich zitiert im Interview mit Martin Hellwig, würden alle Banken zunächst verstaatlicht bzw. unter staatliche Obhut gestellt und danach in eine „schlechte“ und eine „gute“ Bank aufgeteilt. Die „schlechte“ Bank verbliebe beim Staat und die „gute“ Bank würde privatisiert. Die „schlechte“ Bank behielte die zweifelhaften Wertpapiere und würde mit der Zeit abgewickelt. Die „gute“ Bank erhielte die guten Wertpapiere sowie die Einlagen der Kunden und außerdem genügend Eigenkapital vom Steuerzahler. Gewinne der „guten“ Bank kämen auch dem Eigenkapital der „guten“ Bank zugute, das sich im Besitz der „schlechten“ Bank befände. Im Falle einer letztendlich unvermeidlichen Insolvenz der „schlechten“ Bank würde der Steuerzahler von den Gewinnen der „guten“ Bank profitieren und die enteigneten Altaktionäre gingen leer aus. Gelänge es, am Ende die „schlechte“ Bank solvent zu stellen, würden auch die Altaktionäre profitieren (ebd.).
Für die globale Bereinigung der Finanzkrise schlug Heiner Flassbeck folgende Regelung vor: „Den finanziellen Giftmüll aus den Bilanzen der Banken zu entfernen, ist technisch einfach. Wir müssen am besten eine internationale Clearing-Stelle einrichten, über die der Giftmüll abgewickelt wird, damit die Banken sich wieder dem Kerngeschäft der Kreditvergabe widmen können.“ (ebd.). Wieviel Zeit noch verstreichen wird, bis die Kreditmärkte wieder funktionieren, ist noch nicht abzusehen. Sehr viel dringlicher erscheint inzwischen die Ankurbelung der Realwirtschaft, die unter der Finanzkrise leidet und mancherorts bereits kurz vor dem Kollaps steht.
In den führenden Industrienationen ist das Bruttoinlandsprodukt im letzten Quartal 2008 und im ersten Quartal 2009 bereits um sechs Prozent zurückgegangen. In der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise geht es mit der Entwicklung rasanter bergab als in der Weltwirtschaftskrise 1929 (Thomas Fischermann, „Schneller – aber auch tiefer?“, Die Zeit, 16. 4. 2009). Konjunkturforscher streiten darüber, ob die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Zeit als horizontal langgestreckte U-Form oder als ausgestreckte L-Form mit geringer Aussicht auf Wiederbelebung zu bezeichnen ist. Von einer Spitzkehre nach steilem Abstieg und einem erhofften ebenso steilen Aufstieg träumt niemand mehr.
Unternehmensanleihen sind an den Börsen jetzt immer günstiger zu haben. Insolvenzverwalter bei Unternehmen und Staaten haben Hochkonjunktur. Die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China versagen zunehmend als Puffer für die alten Industrieländer. Zurückbeorderte Kredite, die an weniger entwickelte Dritteweltländer und osteuropäische Länder in der Vergangenheit ausgegeben wurden, lassen deren Volkswirtschaften ins Bodenlose sinken und zugleich legen Überschussländer bei Landkäufen ihre Devisen zunehmend in einigen Dritteweltländern inflationssicher an (Marie-Béatrice Baudet et Laetitia Clavreul, „Les terres agricoles, de plus en plus convoitées“, Le Monde, 15 April 2009). Massenarbeitslosigkeit breitet sich aus.
Die Kosten für die Rettung des Bankensektors in den USA und andernorts und für die Ankurbelung der Wirtschaft (z.B. die Autoindustrie) steigen in astronomische Höhen, obgleich nicht sicher ist, ob die angestrebten Ziele wirklich erreicht werden. Die USA werden zum Vorreiter in der Austrocknung von Steueroasen (Reuters, SNAP ANALYSIS – „Obama takes first step in tax overhaul“ May 4, 2009). Das neue europäische Finanzaufsichtssystem soll nach dem Willen der Europäischen Kommission bereits 2010 fertig gestellt sein, und nach vorsichtigen Prognosen kann erst im Jahre 2011 mit einem Ende der Krise in der Realwirtschaft gerechnet werden.
Was jedoch unbeeindruckt von den wirtschaftlichen Abwärtsbewegungen boomt, ist die Waffenproduktion und der Handel mit Waffen. Laut Sipri stehen die USA (34,9 Mrd. Dollar) und Russland (28,5 Mrd. Dollar von 2004 bis 2008) an erster und zweiter Stelle der größten Waffenexporteure. Dahinter folgen Deutschland (11,5 Mrd.) und weitere europäische Länder (Frankfurter Rundschau, 28. 4. 2009). Die größten Waffenimporteure im Zeitraum von 2004 bis 2008 sind China (13. Mrd.), Indien (8,2 Mrd.), Ver. Arab. Emirate (7,1 Mrd.), Südkorea (6,9 Mrd.), Griechenland (4,8 Mrd.) und Israel (4,6 Mrd.). Entlang der Konfliktlinien einiger dieser Länder mit anderen könnten künftig Kriege entstehen, für deren erfolgreiche Austragung schon jetzt in vorwiegend der Aufrüstung dienenden Arbeitsbeschaffungsprogrammen Vorsorge getroffen wird.
4. Ein historischer Rückblick – Alternativstrategien zur Überwindung von Weltwirtschaftskrisen
Erfolgreiche und misslungene Beispiele aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigen auf, zu welchen alternativen Maßnahmen Staaten gegriffen haben, um die schädlichen Wirkungen von Finanzkrisen, die durch das Platzen von Kreditblasen hervorgerufen wurden, einzudämmen. Zu solchen Krisenbewältigungslösungen zählen unter anderem die Ankurbelung der Rüstungsindustrie in Kriegsvorbereitungsstrategien, ebenso die kreditfinanzierte Erneuerung der Infrastruktur und/oder die staatlich geförderte Entwicklung neuer Technologien, aber auch die umfassende Restrukturierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Auf die 1929 ausgebrochene Weltwirtschafskrise antworteten die USA und Deutschland z.B. auf sehr unterschiedliche Weise.
4.1 New Deal in den USA
Ab dem 14. Oktober 1929 war die Stimmung an der New Yorker Börse gekippt. Die Verkäufe von Wertpapieren schnellten in die Höhe. Der Ausverkauf erreichte bis zum 29. Oktober 1929 Panikdimensionen. Die von Roosevelts republikanischen Vorgänger Hoover verfolgte Politik der Senkung von Steuern und Zinsen als Mittel gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die Wiederankoppelung der Währungen an das Gold (nicht nur in den USA) scheiterte.
Dem von Roosevelt propagierten New Deal lag kein inhaltlich ausgefeiltes Programm zugrunde. Unter dem Zwang, kurzfristig Ergebnisse zu erzielen, verabschiedete der dann demokratisch zusammengesetzte Kongress kurz nach dem Amtsantritt Roosevelts am 4. März 1933 in einer „100-Tage“-Notsitzungsperiode eine Serie von Gesetzen über Staatseingriffe in Finanzsektor und Wirtschaft, wie beispielsweise die Regulierung des Finanzwesens, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Sozialhilfemaßnahmen, Wirtschaftsförderung, Marktregulierung der Landwirtschaft, Regionalentwicklung, staatliche Unterstützung für Wohneigentümer bei drohender Zwangsversteigerung und die Aufhebung des Goldstan-dards.[2]
Zu den Erfolgen des New Deal zählten erstens die Verhinderung einer Bankenpanik und eines darauf folgenden Zusammenbruchs des gesamten Finanzsystems im Frühjahr 1933 und zweitens eine geringere Zunahme der bis zum Winter 1933-34 massiv gestiegenen Massenarbeitslosigkeit. 1934 lag das amerikanische Bruttoinlandsprodukt zwar 15 Prozent über dem von 1933, aber noch 15 Prozent unter dem von 1932 (Michael Liebig, „War on the Depression“ – Der Erste New Deal (1933-34) und sein Vorläufer: die War Mobilization (1917-18). „The New Deal mobilization of 1933-34, from which so much had been expected, brought disappointing economic returns“, urteilten Braeman / Leuchtenburg (Braeman, John (Hrsg.): Change and Continuity in 20th Century America, New York, 1964; darin: Leuchtenburg, William: The New Deal and the Analogy of War, S. 127).
Da die Maßnahmen zur Kriegsmobilisierung 1917-18 als Vorbild für den ersten New Deal gedient hatten, konnte in seiner Neuauflage auch umgekehrt wieder auf diese Ursprünge zurückgegriffen werden. Der zweite New Deal diente der Vorbereitung des Kriegseintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg. Damit rückten US-amerikanische Maßnahmen in die Nähe von Krisenbewältigungsstrategien, die andernorts sehr viel früher mit Priorität verfolgt wurden.
4.2 Krisenbewältigung durch Aufrüstung in Deutschland
Die Industrieproduktion sank in Deutschland um 50 Prozent. Um das Handelsbilanzdefizit auszugleichen und die Exportwirtschaft zu stärken, reagierte die Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning mit Notverordnungen zur Reduzierung der Staatsausgaben, der Kürzung der Beamtengehälter, der Erhöhung der Steuern, Sozialausgaben und Zölle, der Senkung der Löhne der Beschäftigten um bis zu 50 Prozent. Jeder dritte verlor seinen Arbeitsplatz. 1933 waren sechs Millionen arbeitslos und 23,3 Millionen Deutsche lebten von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Angesichts der mit diesen Maßnahmen verknüpften drastischen Umverteilung von Einkommen aus Lohn auf Einkünfte aus Unternehmertätigkeit nahm die Demokratieverdrossenheit in der Bevölkerung kräftig zu, radikale Parteien fanden lebhaften Zuspruch und soziale Unruhen breiteten sich aus.
Die nach den Reichstagswahlen erstarkte Nationalsozialistische Partei Deutschlands (NSDAP) unter Adolf Hitler profitierte nicht nur von den harten Maßnahmen der Regierung Brüning, sondern setzte gleich nach ihrer Machtergreifung ein beschäftigungswirksames Aufrüstungsprogramm in Gang, das zwar die Massenarbeitslosigkeit reduzierte, aber zugleich der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs diente. Der „New Deal“ der Nationalsozialisten zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise war von Anfang an rüstungsorientiert, wurde von der deutschen Schwerindustrie mit Beifall quittiert und fand auch den Zuspruch der führenden Banken.
5.Schlussfolgerungen
Protektionismus, eine prozyklische Finanz- und Haushaltspolitik, engstirniger Nationalismus, nicht aufgegebene Hegemonieansprüche, Revanchismus und Angst vor sozialen Unruhen bestimmten die vorherrschenden Handlungsweisen vor und nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Geschichte wiederholt sich zwar nicht in den gleichen Formen, aber gleiche Konstellationen können durchaus gleiche Antworten herbeiführen. Die bisherigen Bewältigungsstrategien der Finanz- und Wirtschaftskrise weisen noch in eine andere Richtung. Sobald jedoch zwischen den USA und Europa die Frage zur Beantwortung anstehen wird, ob der angloamerikanischen oder der kontinentaleuropäischen Form von Kapitalismus oder – global betrachtet – der chinesischen mehr Bewältigungskraft zuzutrauen ist, taucht die Gefahr auf, dass Frontlinien gezogen werden und militärischen Aspekten wieder mehr Bedeutung zugemessen wird. Die weltweite Aufrüstung würde dann die gestiegenen Ängste auf bequeme Weise bedienen und – zugleich als noch verbliebenes und bisher nicht ausreichend genutztes Mittel – zur Überwindung der Krise angepriesen werden.
Anmerkungen
[1] Jörg Assmussen, Staatssekretär im Finanzministerium, Jens Weidmann wirtschaftspolitischer Berater der Bundeskanzlerin Merkel, beide starke Befürworter und Beförderer der Deregulierung der vergangenen Jahre und ausgebildet von Professor Axel Weber, heute Bundesbankpräsident und ebenfalls Anhänger der neoklassischen Theorie, sind Beispiele einer einseitigen Auswahl von Führungspersönlichkeiten, die jetzt eine Finanzkrise bewältigen sollen, die sie selbst mit herbeigeführt haben. Sie haben den Staat ausschließlich als Diener des Marktes begriffen und das komplexe Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich weder vor noch in oder nach ihrem Studium der Volkswirtschaft in ihr Blickfeld genommen.
[2] Der Boom der US-Wirtschaft zwischen 1925 und 1929, angetrieben von der beginnenden Innovationswelle um das Auto sowie elektrische Haushaltsgeräte herum (Autoindustrie plus Straßenbau, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Teilzahlungskredite, Versicherungen, LKW-Logistik usw.), wurde ab 1927 von einer Politik des „billigen Geldes“ der Federal Reserve begleitet. Diese expansive Geldpolitik war ein wichtiger Faktor für die Zunahme der Börsenspekulation, insbesondere des kreditfinanzierten Kaufs von Wertpapieren. Als die Federal Reserve Ende 1928 gegenzusteuern begann, hatte die Börsenspekulation bereits eine solche Eigendynamik entwickelt, dass die Kreditverknappung an der Börse keine Wirkung mehr zeigte.
18. Mai 2009
Reinhard Hildebrandt
Die amerikanische Finanzkrise und die massive Verschuldung
der USA
1. Einführung
In der gegenwärtig stattfindenden Neuordnung der globalen Wechselbeziehungen der Mächte, die vornehmlich zu Lasten der USA geht, sehen sich die USA außerdem der Gefahr der Isolierung durch eine Finanzkrise gegenüber, verstärkt durch eine massive, bereits seit längerem zu beklagende wachsende Haushaltsverschuldung und ein weiterhin hohes Handelsbilanzdefizit. Künftig wird die amerikanische Wirtschaft noch weniger in der Lage sein, die Exportgüter der übrigen Welt aufzunehmen.
Nach Ansicht von Joseph Stiglitz ist die wirtschaftliche Abwärtsentwicklung die unmittelbare Folge des Irakkrieges. Bevor die USA den Krieg begannen, bewegte sich beispielsweise der für die amerikanische Wirtschaft ausschlaggebende Preis für Erdöl um die Marke von 25 Dollar pro Barrel. Jetzt ist der Preis auf über 100 Dollar gestiegen, und nach Stiglitz‘ Berechnung bildet der Krieg einen der wesentlichen Faktoren dieses krisenverstärkenden Preisanstiegs. Aber die Behauptung Stiglitz‘, der Irakkrieg sei seit dem Unabhängigkeitskrieg der erste Krieg, der durch das Ausland finanziert worden sei, ist falsch. Er hat den Golfkrieg vor mehr als zehn Jahren übersehen, der von Deutschland und Japan größtenteils finanziert wurde. Im Falle des gegenwärtigen Irakkrieges wollten sich die Invasionsmächte USA und Großbritannien durch Erdöllieferungen aus dem von Saddam Hussein befreiten und nun von ihren Truppen besetzten Irak schadlos halten. Aber aufgrund der länger als erwartet zerstörten und noch nicht wieder vollständig hergestellten Pipelines wurde bisher nur ein Bruchteil der gesamten Kriegskosten vom Irak selbst bezahlt. Den größeren Teil der offenen Rechnung wird China bezahlen müssen, und zwar aufgrund des Wertverlustes der von der chinesischen Zentralbank gehaltenen amerikanischen Schatzanleihen, die vom US Dollarverfall betroffen sind.
Die Abwertung der amerikanischen Währung stellt mehr dar als nur einen empfindlichen Schlag für das amerikanische Selbstbild: Es untergräbt die Position des amerikanischen Dollar als führende Weltreservewährung. Schon jetzt ist ein Wechsel zum Euro als einer zweiten Weltreservewährung, die zum Dollar in Konkurrenz treten wird, absehbar. Die wachsende Haushaltsverschuldung und ein nur wenig sinkendes Handelsdefizit bezeugen die zunehmende Schwäche der amerikanischen Wirtschaft. „Die Arbeitsplätze, die durch den Welthandel zerstört werden, sind weitaus bedeutender als die, die durch ihn geschaffen werden“, bemerkte Alan S. Binder am 7. Januar 2008 in der International Herald Tribune – diese Zwickmühle lässt auch das Vertrauen der Amerikaner in die Globalisierung schwinden, die zuvor als unverzichtbare Quelle amerikanischer Stärke angesehen wurde.
2. Die Finanzkrise
Wenn reale Produktion und Finanzwirtschaft weit auseinanderdriften und der Kreislauf des Finanzkapitals sogar seinen unabdingbaren Rückhalt in der Güterproduktion verloren hat, droht eine Wirtschaftskrise. Im Folgenden einige Indikatoren, die auf eine Krise hindeuten:
2.1. Höhere Gewinne bei Finanzinvestitionen als in der Güterproduktion
Wenn in Finanzanlagen investiertes Kapital in einer Wirtschaft höhere Gewinne erzielt als in der Produktion von Waren, verlangsamt sich zunächst die Modernisierung der Fabriken und es droht die Gefahr, den Anschluss an die Entwicklung der im näheren und weiteren Umfeld konkurrierenden Volkswirtschaften zu verlieren. Wenn der Entwertungsprozess außerdem von einer allgemein sinkenden Nachfrage des privaten Verbrauchs begleitet wird, drohen Gewinnrückgänge der Unternehmen und hohe Arbeitslosigkeit unter den Beschäftigten.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung kann jedoch Kapital, das in der Warenproduktion investiert wurde, in einigen Volkswirtschaften hohe Gewinne erzielen, und zugleich können in anderen Volkswirtschaften Finanzanlagen ebenfalls sehr ertragreich sein. Beispielsweise kann in den aufstrebenden Industrien Chinas, Indiens, Brasiliens, Mexikos oder Vietnams investiertes Kapital extrem lukrativ sein, während in entwickelten Industrienationen wie den USA, Europa oder Japan reine Geldkapitalanlagen hohe Gewinne abwerfen. Die aus den beiden unterschiedlichen Kapitalanlagen resultierenden addierten Gewinne und Dividenden verstärken die Finanzströme, die ohnehin schon um die Welt zirkulieren und verbreitern die bereits vorhandene Kluft zwischen dem Wert der Warenproduktion und dem der gesamten Finanzanlagen.
In ihrem Bemühungen, dem Ertragsstreben ihrer Klienten entgegen zu kommen, sind Investmentbanker zunehmend bereit, die Chancenvielfalt bei der Wertpapieranlage ständig auszuweiten und beispielsweise völlig neue, komplexe Derivat-Finanzinstrumente bis hin zu dubiosen „collateralised debt obligations (CDO)“ oder „credit default swaps (CDS)“ zu erschaffen.
Aktienhändler behandeln alsbald diese neuen Derivate wie normale Bestandteile ihres Tagesgeschäftes, vergleichbar mit normalen Kreditswaps, um neues kreditfinanziertes Geld zu erzeugen. Schließlich zirkuliert eine ständig vergrößerte Geldmenge zwischen den verschiedenen Börsenplätzen, und weil immer noch risikobehaftete Kredite hinzukommen, ist niemand mehr in der Lage, den realen Wert des immensen kreditfinanzierten Geldvolumens abzuschätzen. Die wachsende Kluft zwischen dem Umfang der Güterproduktion und dem erheblichen Ausmaß von Finanzanlagen stellt die Glaubwürdigkeit der Finanzwirtschaft in Frage und untergräbt das gegenseitige Vertrauen. Letzten Endes können die verheerenden Konsequenzen eine Wirtschaftskrise hervorrufen.
2.2 Spekulation in sinkende oder steigende Wechselkurse
Nationale und grenzüberschreitend agierende Unternehmen, die auf unterschiedlichen Märkten tätig sind, haben es mit verschiedenen Währungen und deren ständig schwankenden Wechselkursen zu tun. Um sich vor den Auswirkungen schwankender Wechselkurse zu schützen, müssen sie die erforderlichen Devisen im Voraus erwerben und zugleich einen entsprechenden Wert zu einem zukünftigen Datum verkaufen. Diese gängige Geschäftspraxis ermutigt die Devisenhändler auf sinkende oder steigende Wechselkurse zu spekulieren. Als Folge davon werden derzeit beispielsweise über drei Mrd. Dollar zwischen den verschiedenen Devisenbörsen hin und her bewegt. Des weitern kommen noch Milliarden von Euro, Pfund Sterling, Schweizer Franken und anderen mehr oder weniger frei konvertierbare Währungen hinzu. Da der Geldumlauf immer dazu neigt, sich von der zugrunde liegenden Güterproduktion zu lösen, kann diese Art der Devisenspekulation dazu beitragen, eine schädliche Kluft zwischen beiden Bereichen hervorzurufen, was inflationäre Entwicklungen fördert und – zusammen mit anderen Effekten – die beeinträchtigten Volkswirtschaften in Krisen stürzen kann.
2.3 Ausweichstrategien der Anteilseigner: Investitionen in Immobilien, Rohstoffe und in sonstige Geldanlagen
Forderungen nach hohen Gewinnspannen als Folge des Shareholderprinzips zu Lasten der Lohnempfänger vertiefen den Graben zwischen den Einkommen der Anteilseigner und der Lohnempfänger. Wenn zusätzlich noch die Kaufkraft der übrigen Erwerbstätigen schrumpft, werden Anteilseigner zunehmend ihre Gelder aus der Güterproduktion abziehen und sich stärker anderen Einkommensquellen wie etwa dem Immobilienerwerb, spekulativen Anlagen in Rohstoffen wie Gold, Erdöl, landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder reinen Finanzanlagen zuwenden, um dort höhere Erträge zu erwirtschaften. Derartige Geschäfte tragen zur Entstehung spekulativer Blasen bei. Je länger die Spekulation anhält, umso stärker wachsen die Blasen und umso drastischer fällt der Absturz aus, wenn Spekulanten nach den ersten Anzeichen eines Preisverfalls ihre Gelder aus jenen Bereichen panikartig abziehen.
3. Einige Ursachen der amerikanischen Finanzkrise
3.1 Versagen auf vielen Ebenen
Hypotheken an Kreditnehmer zweifelhafter Bonität („subprime borrowers“) brachten als erstes die amerikanische Wirtschaft ins Schlingern, aber die Krise hat auch verschiedene andere Ursachen. Ein Vertreter des Finanzhauses Goldman erklärte: „Im Zentrum des Booms bei Hypotheken für Kreditnehmer zweifelhafter Bonität stand die früher gewinnträchtige Partnerschaft der Wall Street mit den ,subprime‘-Kreditgebern. Diese Beziehung bildete die treibende Kraft hinter den schnell steigenden Hauspreisen und der Verbreitung exotischer Kredite, die jetzt in immer größere Zahl nicht bedient werden.“ (Jeny Anderson/Vikas Bajaj, Subprime Scrunity focuses on Wall Street, in International Herald Tribune, 7. 12. 2007) So geschehen etwa im Falle von Lakeiha Williams, die ein Hypothekenvermittler der First Metro dazu überredete, acht Häuser auf Kredit zu erwerben. Obwohl ihm bekannt war, dass sie als Pflegehilfe in einem öffentlichen Pflegeheim nur über ein geringes Einkommen verfügte, überredete er sie dazu, die Hypothekensumme zu erhöhen und ließ skrupellos zu, dass sie Schulden von fast 1 Mio. Dollar aufhäufte. Zu ihren Gläubigern gehörten drei der neun größten Kreditbanken, die sich auf Kredite für Kreditnehmer zweifelhafter Bonität spezialisiert hatten (Kohlenberg, Kerstin, Acht Häuser für Lakeisha, Die Zeit, 14.2.2008).
Alan Binder, der frühere stellvertretende Vorstandschef der amerikanischen Notenbank Federal Reserve und derzeit Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Princeton, sagte: „Es gab ein Versagen auf vielen Ebenen. Es ist schwierig, einen Teil des Systems zu finden, der tatsächlich im Vorfeld der Pleite funktionierte.“ (Nelson D.Schwart/Julie Creswell, Desperate for solution, but who understands the problem?, International Herald Tribune, 25.3.2008) Die Deregulierungspolitik des amerikanischen Repräsentantenhauses und der demokratischen wie republikanischen Präsidenten in den vergangenen Jahrzehnten, die unter der Bezeichnung „Neoliberalismus“ bekannt ist und als eines der wichtigsten Instrumente für den Aufbau einer weltweiten amerikanischen Vorherrschaft gilt, hat maßgeblich zu diesem Versagen beigetragen.
3.2 Das vorrangige Ziel: Globalisierung der amerikanischen Vorherrschaft
Am 17. März dieses Jahres räumte der Vorstandschef von JP Morgan Chase, James Dimon, ein: „Wir haben es mit einer schrecklichen globalen Welt zu tun, und die Finanzregulierung hat damit nicht Schritt gehalten.“ (ibid.) Aber die Formulierung „Schritt gehalten“ stellte schon eine Untertreibung dar. Die Finanzregulierung schloss die Wall Street überhaupt nicht ein. Barney Frank, Vorsitzender des Ausschusses für Finanzdienstleistungen im US-Repräsentantenhaus, beklagte, „die Wall Street genoss nicht nur enorme Freiheiten, sondern schuf für die Handelsbanken den Anreiz, sich ebenfalls ihren Bestimmungen zu entziehen.“ (ibid.) Unter Bezug auf die Wall Street räumte er ein, im Repräsentantenhaus habe man „gedacht, es seien keine Vorschriften erforderlich“. (ibid.) Die Wall Street widersetzte sich vehement allen Versuchen, Bestimmungen für den sich entwickelnden Derivatmarkt durchzusetzen, erinnerte sich Michael Greenberger, ein früherer hochrangiger Beamter und Mitglied der Commodity Futures Trading Commission. (ibid.) Er erwähnte auch, der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan habe die Ansicht vertreten, „Derivate könnten das Risiko in der Wirtschaft verteilen“. (ibid.) Tatsächlich aber, fuhr Greenberger fort, „verbreiteten sie sich wie ein Virus in der Wirtschaft, weil die Produkte so undurchsichtig und schwer zu bewerten sind.“ (ibid.)
Es habe sich ein „verdeckter Handelsmarkt“ herausgebildet, „der über die Telefone der Wall-Street-Händler abgewickelt wurde und so außerhalb der Wertpapierbörse ablief“. (ibid.) Jeder Versuch, diesen Markt zu regulieren, wurde von den Politikern mit dem Argument bekämpft, „dies würde diese lukrativen Märkte zur Abwanderung nach Übersee zwingen“. (ibid.) Mit anderen Worten, man betrachtete die unregulierten amerikanischen Märkte offensichtlich als ein wesentliches Werkzeug, um das vorrangige Ziel einer Globalisierung der amerikanischen Hegemonie auf folgende Weise zu verwirklichen:
Einige Anzeichen wiesen darauf hin, dass die amerikanische Strategie genau diese Absicht verfolgte. So bat in der Frühphase der Finanzkrise die deutsche Industrie-Kreditbank AG um Finanzhilfe, um ihre Schuldenlast, entstanden aus amerikanischen „faulen Krediten“, abtragen zu können. Amerikanische Banken taten die Notlage der Bank achselzuckend als ein ausschließlich deutsches Problem ab und weigerten sich einzuräumen, dass die Probleme ihren Ursprung im deregulierten amerikanischen Finanzmarkt hatten. Ein weiteres Beispiel aus der Zeit der fortgeschrittenen Finanzkrise bildet die Notlage von Bradford&Bingle (B&B). Der Tagesspiegel vom 3. Juni 2008 berichtete: „Die weltweite Finanzkrise hat den britischen Hypothekenfinanzierer Bradford&Bingle ins Schlingern gebracht. Das Institut rutschte angesichts der Marktturbulenzen in den ersten vier Monaten in die roten Zahlen und musste sich von der US-Beteiligungsgesellschaft TPG rund 230 Millionen Euro frisches Kapital besorgen. Dafür erhält TPG einen Anteil von 23 Prozent an der Immobilienbank. Zudem holte sich B&B von den Anteilseignern über eine Kapitalerhöhung weitere 330 Millionen Euro.“
3.3 Die fragile Struktur der „globalen Finanzarchitektur“ ( Underhill)
Einige Monate vor den ersten Anzeichen einer Kreditverknappung zeigten sich Geoffrey Underhill und andere Fachleute bereits über die wenig belastbare Struktur der „globalen Finanzarchitektur“ (GFA), ihre fehlende Leistungsfähigkeit und mangelnde politische Legitimität in zahlreichen Ländern“ besorgt. (Underhill, Geoffrey R.D., Policy Recommendations, Section 1: Concerning the shareholder principle specifically, in: Global Financial Architecture, Legitimacy, and Representation: Voice for Emerging Markets, Garnet Policy Brief No.3, January 2007).Underhill bezeichnete mit Finanzarchitektur „die Summe der internationalen Institutionen und zusammenwirkenden Prozesse, die globale Ungleichgewichte, Wechselkurse, länderübergreifende Kapitalströme und die Finanzmarktstabilität regeln sollen, von der Krisenvermeidung bis zum Umgang mit Schuldenumwandlungen“ (ibid.). Nach Underhill wurden herkömmlich finanzpolitische Entscheidungen in einem relativ engen Personenkreis getroffen, in dem sich Zentralbanken, Finanzministerien, Regulierungsbehörden und deren privatwirtschaftliche Gesprächspartner gegenseitig beeinflussten. Nach Underhills Auffassung brachte die grenzüberscheitende Integration der Märkte zusätzliche einflussreiche private Akteure – „besonders große international agierende Finanzinstitutionen“ – auf den Plan, die dazu neigten, die demokratisch getroffenen Entscheidungen staatlicher Institutionen zu unterlaufen. (ibid.) Als Folge davon gründe sich die Politik heutzutage „mehr auf wirtschaftliche Theorien als auf Tatsachen. Die Politik sollte sich besser auf die reale Welt gründen“ (ibid.) Die Politiker sollten sich verstärkt um Reformen bemühen, die „sich der politischen Grundlage und den Verteilungswirkungen auf die Finanzarchitektur vor allem hinsichtlich der Fragen a) wer entscheidet in wessen Interesse und b) der Legitimität beider Entscheidungsprozesse und der daraus folgenden Politik und c) der Verbindungen zwischen den Entscheidungsprozessen und dem Ergebnis“ stellen müssen (ibid.).
Underhills Kritik war harsch: Grenzüberscheitende Finanzverflechtungen haben beträchtliche Spannungen zwischen dem, was politische Entscheidungsträger auf nationaler Ebene in einer Demokratie eigentlich leisten sollten, und dem, was sie vor dem Hintergrund weltweiter Finanzzwänge tatsächlich tun können, hervorgerufen. Er forderte daher: Wir müssen „darüber nachdenken, wer an diesem Prozess beteiligt ist, wie ein breiter zugrundeliegender Konsens erreicht werden kann, der die Legitimität des Ergebnisses auf diese Weise durch eine vernünftige Politik erhöht, die einem breiteren Interessenspektrum genügt und schließlich langfristig eine breitere Unterstützung für eine weltweite Finanzsteuerung aufbaut.“ (ibid.) Als die Finanzkrise immer offensichtlicher wurde, brach das wechselseitige Vertrauen der Banken untereinander, das Vertrauen der Politik gegenüber den Banken und der Öffentlichkeit gegenüber dem Finanzsystem brach drastisch ein. Beklagt wurden in der öffentlichen Meinung vor allem die zunehmend illegitimen und undemokratischen Methoden, die in der Vergangenheit immer mehr zu Einsatz gelangt waren.Lange Zeit akzeptierten amerikanische Regierungen keinerlei Gründe, die sie gedrängt hätten, Underhills Vorschlägen zu folgen. So reagierten die USA mit Unverständnis, als die Europäer eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorschlugen. Hier hatte Geoffrey Underhill gefordert, „die USA sollten ernsthaft darüber nachdenken, ihre faktische Vetoposition hinsichtlich von Zusätzen zu den Artikeln aufzugeben; dies sollte gegen eine zusammengefasste, wenn auch ausreichend reduzierte EU-Stimme getauscht werden, wobei niemand ein Veto beanspruchen könnte“ (ibid.).2 Selbst als die Krise eine dramatische Wendung nahm und tatsächlich einige Länder erfolgreich versuchten , das „Hotel Capital Mobility“ des IWF zu verlassen, hielten die USA an ihrem Vetorecht fest. Die USA halten jetzt immer noch 16,77 Prozent der Stimmrechte. Nur ein Bündnis des asiatischen Dreiecks (China-Indien-Russland) mit der Europäischen Union, den Arabischen Emiraten sowie Japan und Brasilien könnte aller Wahrscheinlichkeit nach die USA zwingen, ihre inakzeptable Haltung aufzugeben. Bisher blieb der privilegierte Status der USA, der es ihnen erlaubt, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung anzuhäufen, unangetastet. Kein anderes Mitgliedsland der Bretton-Woods-Institutionen genießt den gleichen Vorteil, was bisher zwar durchaus heftig kritisiert, aber niemals grundsätzlich in Frage gestellt wurde.
Selbst China als der größte Kreditgeber und die Europäische Union als der wichtigste Wettbewerber der USA auf den Weltmärkten haben in diesem Zusammenhang keine entscheidenden Schritte unternommen. China versuchte im Gegenteil die negativen Auswirkungen der Dollarschwäche zu umgehen, indem es teilweise seine Währungsreserven von US-Dollar zu Euro umschichtete und seine Zinskonten durch Investitionen in US-Banken und Investmenthäuser wie Blackstone verbesserte. Blackstone ist einer der wichtigsten amerikanischen Investoren und bezeichnet sich selbst als „weltweit führenden alternativen Vermögens- und Anlagenverwalter sowie Anlage- und Finanzberater“ (Internetseite der Blackstone-Gruppe). Die Europäische Union hat zwar den Euro als ernsthafte Herausforderung gegenüber dem US-Dollar geschaffen, aber bisher keinen dauerhaften Erfolg erzielt, den US-Dollar als Abrechnungswährung für Rohstoffe wie Erdöl und -gas sowie hochwertige Güter wie Flugzeuge abzulösen.
Erst als amerikanische Investment- und Handelsbanken gezwungen waren, immense Verluste anzukündigen und erst nachdem Bürgermeister mehrerer amerikanischer Städte einem drastischen Einbruch ihres Vermögenssteueraufkommens ins Auge blicken mussten, wodurch sie zu Ausgabenkürzungen gezwungen wurden, sah sich die amerikanische Regierung bemüßigt, der wachsenden Finanzkrise mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Als eine der wichtigsten Investmentbanken – Bear Stearns – zahlungsunfähig wurde und kurz vor dem Bankrott stand und nur durch eine von der Regierung vermittelte Aktion durch JP Morgan gerettet werden konnte, setzte das amerikanische Finanzministerium durch, dass sich die Wall Street einem neuen Regulationsmechanismus des amerikanischen Finanzsystems zu unterwerfen habe. Der Notverkauf von Bear Stearns zeigte, dass die amerikanischen Regierung unter erheblichem Zeitdruck stand, endlich einen neuen Regulierungsschirm für den amerikanischen Finanzmarkt aufzuspannen. Der Schweizer Bankier Oswald Grüber erklärte, diese Intervention habe das internationale Finanzsystem vor dem Zusammenbruch gerettet (Frankfurter Rundschau, 21. April 2008).
Unterdessen gerieten vor allem Wall-Street-Manager wegen ihrer rasch ansteigenden Verluste im Zusammenhang mit den subprime-Krediten unter starken Druck der Anteilseigner. Der Unterstaatssekretär im Finanzminister Robert Steel, ein früheres Vorstandsmitglied von Goldman Sachs, setzte sich im April 2008 für einen weitreichenden Plan des Finanzministeriums zur Regulierung der Wall-Street-Geschäfte ein (Landon Thomas Jr., Learning to embrace regulation, International Herald Tribune, 16. April 2008). Steel ließ verlauten, nach den Planungen sollte das Ministerium die Möglichkeit haben, „überall aufzutauchen: Private Beteiligungsfonds, Investmentbanken, Hedgefonds“ (ibid.). Bereits einen Monat zuvor hatte die Federal Reserve hoch bewertete Hypothekenschuldverschreibungen im Tausch gegen Kredite akzeptiert. Damit sollten Fannie Mae und Freddie Mac, die beiden wichtigsten (staatlich geförderten) Hypothekenbanken, gerettet werden, die darauf spezialisiert sind, Hypotheken von kleineren Banken aufzukaufen, um sie dann auf den Finanzmärkten anzubieten.
Obwohl verschiedene in Staatsbesitz befindliche Fonds aus China, den Arabischen Emiraten und Singapur bereits auf den amerikanischen Finanzmarkt eingriffen und in einige amerikanische Banken, die in Schwierigkeiten geraten waren3, investiert haben (Citigroup, Merill Lynch, Morgan Stanley) kündigten die folgenden Banken massive Abschreibungen und Verluste in Milliardenhöhe im Zusammenhang mit Krediten an, die sich aufgrund des nicht bezifferbaren Wertes der „strukturierten Produkte“ in ihrem Portfolio seit April 2008 nur noch schwierig oder gar nicht mehr verkaufen ließen (Frankfurter Rundschau, 15. Januar 2008): Citigroup, die größte Geschäftsbank der USA bezifferte die Verluste auf mehr als 5 Mrd. Dollar in drei Monaten und insgesamt bis heute auf 14. Mrd. Dollar; die zweitgrößte amerikanische Geschäftsbank Bank of America Corp.; JP Morgan Chase, die drittgrößte Geschäftsbank; sowie die zweitgrößte US-Investmentbank Morgan Stanley und Weels Fargo, die zweitgrößte Hypothekengläubigerin.
Ohne Zweifel wurden auch führende europäische Großbanken wie etwa die beiden führenden Schweizer Banken UBS und Credit Suisse sowie die Deutsche Bank und einige staatliche deutsche Banken von der Kreditkrise schwer getroffen, standen aber nicht in der Gefahr, ihre Banklizenz zu verlieren. Dagegen blühte dieses Schicksal einer britischen Bank. Als erstes rettete die britische Regierung die Bank Northern Rock mit Beistandskrediten, um sie dann später doch verstaatlichen zu müssen. Die City of London litt erheblich unter der Kreditverknappung , viele Bankmitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz. „Eine beispiellose Geldspritze in Höhe von 50 Mrd. Pfund zu Rettung des maroden britischen Bankensystems könnte sogar noch verdoppelt werden müssen, wenn es nicht gelingt, einen Zusammenbruch des Wohnungsmarktes abzufangen“, berichtete die Times (Thomson Financial News, Forbes, 21. April 2008).
Die amerikanische Finanzkrise hat die Wall Street, immer noch der weltweit wichtigste Finanzplatz, schwer mitgenommen. Die Gesamthöhe der Abschreibungen aufgrund der Krise beläuft sich nach Berechnungen auf mindestens 945 Mrd. Dollar (Frankfurter Rundschau, 9. April 2008). Damit stellt sich die Frage, ob die Vereinigten Staaten nicht jegliche Glaubwürdigkeit verloren und die letzte Säule gestürzt haben, die ihren Status als Hegemonialmacht absicherte.
3.4 Einfach nur „neue Gewohnheiten“ oder tatsächlich ein erneuter „New Deal“
Um die USA vor einem tiefen Fall zu bewahren, diskutieren führende amerikanische Wirtschaftsexperten und die führenden Köpfe der Deregulierungspolitik Bushs – wie etwa Matthew Slaughter – seit Jahren über einen „New Deal“, der auf eine „aggressive Einkommensumverteilung“ hinauslaufen soll (Harald Schumann, Wer rettet die Globalisierung?, Tagesspiegel, 20. April 2008). Wieder einmal wird der Staat dazu aufgerufen, die Marktwirtschaft zu retten. Man erwartet, das Federal Reserve System werde eigentlich nicht mehr an den Mann zu bringende „strukturierte Produkte“ akzeptieren und später eine keynesianische Wirtschaftspolitik einleiten (Mark Schieritz, Genug diskutiert!, Die Zeit, 13.März 2008). In der Zwischenzeit hat der Euro gegenüber dem Dollar weiter an Wert gewonnen und erreichte teilweise sogar einen Wechselkurs von 1: 1,6. Der Euro könnte sich, so einige Erwartungen, zur zweitwichtigsten Reservewährung nach dem Dollar entwickeln. Das Vereinigte Königreich zeigt in letzter Zeit eine überraschende Bereitschaft, über Steueroasen zu diskutieren und unternimmt damit einen ersten vorsichtigen Schritt, aus der früheren anglo-amerikanischen Allianz auszuscheren.
Martin Wolf hielt fest: „Die Öffentlichkeit, spüren die Regierungen, müssen vor den Banken und die Banken vor sich selbst geschützt werden. Das Finanzwesen wird als zu wichtig angesehen, als es dem Markt zu überlassen“. Er gelangte abschließend zu dem Schluss: „Regulierung wird immer in hohem Maße unvollkommen sein. Es müssen aber Anstrengungen unternommen werden, sie zu verbessern.“ (Martin Wolf, Sieben Gewohnheiten, die Aufsichtsbehörden für den Wertpapierhandel annehmen müssen, Financial Times, 7. Mai 2008)
Unter Bezug auf Nouriel Roubine von der Stern Business School an der Universität New York schlug Martin Wolf sieben Prinzipien der Regulierung vor, die er als die „sieben Cs“ bezeichnete:
Am Ende zitiert Wolf John Maynard Keynes: „Wenn die Kapitalentwicklung eines Landes zum Nebenprodukt der Aktivitäten eines Kasinos wird, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern.“ Über die von Wolf genannten Prinzipien hinaus sollte die Finanzpolitik noch einige andere Vorschläge von Keynes beherzigen, wenn die Kreditkrise nicht in einer schweren Wirtschaftskrise enden soll. Die Verteilung des Einkommens und des Reichtums im Rahmen eines wieder in Gang gesetzten „New Deals“ könnte zu den dringend erforderlichen Maßnahmen gehören.
Anmerkungen:
1. Zu den einfachsten Finanzinstrumenten gehören die CDOs. Verschiedene CDOs werden gebündelt und dann als Super-CDOs oder CDO2 bezeichnet. Nimmt man sie aus den Banken heraus und verlagert sie in spezielle Unternehmen, wechseln sie ihren Namen und heißen nun „special investment vehicle“ (SIV). (Buchter, Heike, Kippen jetzt die Kreditversicherer?, Die Zeit, 7. Februar 2008)
2. Dank der in Bretton Woods getroffenen Vereinbarungen haben die USA das Recht, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung aufzunehmen. Kein anderes Bretton-Woods-Mitgliedsland erfreut sich der gleichen Möglichkeit. Nachdem einige Länder aus dem „Hotel Capital Mobility“ ausgetreten sind, das von der weltweiten Finanzarchitektur zur Verfügung gestellt wird , verringert sich zwar der Einfluss des IWF, schmälert aber keineswegs den privilegierten Status der USA.
3. Zu den größten in Staatsbesitz befindlichen Fonds (Anlagekapital in Mrd. US-Dollar) gehören:Abu Dhabi Investment Authority, United Arab Emirates, 875; Rentenfonds der Regierung, Norwegen, 380; Government Investment Corp., Singapore, 330; Zentralbank Saudi-Arabiens, 289; Fonds für zukünftige Generationen, Kuwait, 213; China Investment Corporation, 200; Temasek, Singapore, 108 (Tagesspiegel, 13. April 2008). – Zu den größten Investoren zählen: Rentenfonds, 21,6; Anlagefonds, 19,3; Versicherungen, 18,5; Investoren von Erdöl-Dollar, 3,8; Asiatische Zentralbanken, 3,1; Hedgefonds, 1,5; Beteiligungsgesellschaften, 0,7 (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Oktober 2007).
2. Juni 2008
Reinhard Hildebrandt
US-Strategie nach der Bush-Ära
Eine kritische Analyse des Jahresberichts 2011: Global Shift – How the West should respond to the rise of China
Die Transatlantic Academy in Washington D.C empfindet sich als ein Kompetenzzentrum, in dem europäische und amerikanische Experten gemeinsam Zukunftsthemen bearbeiten. Sie wurde von der ZEIT-Stiftung und dem German Marshall Fund of the United States geschaffen. Die Autoren Daniel Deudney (Associate Professor at John Hopkins University USA), James Goldgeier (Professor of Political Science at George Washington University USA), Hanns W. Maull (Professor für Außenpolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Trier), Steffen Kern (Direktor für Internationale Finanzmarkt Politik bei der Deutschen Bank) Soo Yeon Kim (ab 2011 Associate Professor of Political Science at National University of Singapor), Iskander Rehman (Science Po, Institute of Political Studies, Paris) analysieren die „Weltpolitik im Umbruch“ und fragen sich, auf welche Weise der „Westen“ auf den Aufstieg Chinas antworten sollte.
1. Entwicklung einer Strategie zur Bewältigung des tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik
In ihrer deutschen Zusammenfassung stellen die Autoren fest, dass der Aufstieg neuer Mächte (China, Indien, Brasilien) „nur einen Aspekt eines umfassenden und tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik darstellt“. In mindestens zweierlei Hinsicht unterscheide sich die Welt heute fundamental von früheren Epochen: „Erstens durch beispiellos dichte globale Verflechtungen und damit Verwundbarkeiten (‚Globalisierung’), und zweitens durch eine neue Qualität der Komplexität und Unberechenbarkeit der Weltpolitik, in der Veränderungen von großer Tragweite häufig, plötzlich und unerwartet eintreten (‚Turbulenz’).“ Da die „Diffusion von Macht und Einfluss“ (an neue Mächte und nichtstaatliche Akteure, d.Verf.) eine „Erosion der globalen Ordnung“ zur Folge habe und die „Interessen des Westens“ und der gesamten „Staatengemeinschaft“ bedrohten, seien, um den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen, neue „globale Lösungsansätze“ erforderlich.
Mit ihrer Andeutung einer tiefgreifenden Bedrohung, der die „Interessen des Westens“ und darüber hinaus auch die gesamte „Staatengemeinschaft“ ausgeliefert sei, geraten die Autoren in die Nähe von Dominique Moïsi, der die Emotionen zum alles entscheidenden Moment des Weltgeschehens hochstilisiert hat (Moïsi, Dominique, „Kampf der Emotionen – Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, (Originaltitel: The Geopolitics of Emotion), München 2009. Moïsi gibt zu bedenken, Emotionen hätten nicht zu unterschätzende Auswirkungen für die Einstellung von Menschen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen und auf das Verhalten von Völkern untereinander. Emotionen spiegelten den Grad des Selbstvertrauens einer Gesellschaft wider. Im kollektiven Bewusstsein der Völker hänge von ihnen ab, wie gut ein Volk eine Herausforderung bewältigen und sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen könnte. Weder Politiker noch Historiker und auch nicht interessierte gewöhnliche Bürger könnten sie ignorieren (S. 53).
In seinem Modell verknüpft er drei geopolitische Großräume mit jeweils einer vorherrschenden Emotion: Hoffnung bei den Asiaten, die Kultur der Demütigung in der arabischen Welt und Angst im traditionellen Westen (USA/Europa). Moïsi fasst die drei Emotionen in den folgenden griffigen Formeln zusammen: Hoffnung („Ich will es tun, ich kann es tun, und ich werde es tun.“), Demütigung („Ich werde es nie schaffen.“) und Angst („Lieber Himmel, die Welt ist zu einem gefährlichen Ort geworden; wie kann ich mich vor ihr schützen“) (S. 21).
Mit seinem Experiment folgt er seiner durchaus nachvollziehbaren Einsicht, dass „im Zeitalter der Globalisierung (…) die Beziehung zum ‚Anderen’ (dem Fremden) mehr denn je von grundlegender Bedeutung“ ist (S. 40). Der in früheren Zeiten lediglich als Kuriosum bestaunte „Andere“ hätte „die westliche Welt“ zu keinem Zeitpunkt zur Hinterfragung ihrer „eigenen Identität“, ihrer „sozialen und politischen Modelle“, herausgefordert. Selbst in seiner Gestalt als „absolut Anderer“ des kommunistischen Systems sei er nur als die „andere Seite des Westens“ begriffen worden. Im Zeitalter der Globalisierung jedoch käme das „absolut Andere“ „nicht nur aus einer anderen, nicht-westlichen Kultur, sondern auch, in gewisser Weise, aus einem anderen Jahrhundert“ (S.40/41). Sowohl der Aufstieg Asiens wie der aufkeimende Fundamentalismus stellten für den Westen eine große Herausforderung dar, der er sich „mit tiefgreifenden Fragen nach seiner Identität“ zu stellen habe: „Wer sind wir? Was macht uns besonders und andersartig?“
Obwohl sich Moïsis Ansatz auf den ersten Blick ganz selbstkritisch gibt, steckt in ihm doch ein hohes Maß an Unbewusstheit: Offenbar war für Moïsi nicht klar, wie verletzend die Selbstbezogenheit des „Westens“ auf Menschen anderer Kulturen wirkte. Über die gravierenden Folgen westlicher Selbstbezogenheit in nicht-westlichen Regionen musste er sich, solange er sich vollkommen im Kokon eines anglo-amerikanisch bestimmten Weltbildes und Wissenschaftsbetriebes aufgehoben fühlte, in der Tat lange Zeit keine Rechenschaft ablegen. Dieser Kokon begrenzte seinen Blick bis über das Ende des Kalten Krieges hinaus. Die Autoren des Berichts „Global Shift“ haben sich wie Moïsi der schmerzvollen Aufgabe unterzogen, diesem Kokon zu entfliehen. Sie verfolgen jedoch andere Lösungsansätze als Moïsi, um, wie sie formulieren, die „Interessen des Westens“ in der sich wandelnden „Staatengemeinschaft“ zu wahren und den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen. Der Titel ihres Berichts – „Global Shift“ – bestätigt zwar nur, dass sich die Welt verändert. Der von ihnen vorgenommenen Lageanalyse und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen lässt sich jedoch entnehmen, dass sie sich ihrer Ansicht nach in eine ganz bestimmte Richtung ändert und sie einen Richtungswechsel bewirken möchten. Ob der Wechsel mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ihnen eine zutreffende Analyse der Probleme, die auf dem Hintergrund der vom „Westen“ geprägten Weltordnung entstanden sind, gelungen ist.
Die Autoren empfehlen eine Strategie mit drei zentralen Komponenten:
In diesem Sinne formulieren die Autoren folgende Handlungsempfehlungen:
2. Zulängliche und unzulängliche Einsichten
Gleich zu Beginn ihres Berichts formulieren die Autoren sehr ungenau: „At the end of the 20th century, Western dominance of the international order appeared complete“ (Global Shift, S.6). Was verstehen sie unter „Western dominance“? Wer im „Westen“ bestimmte die Weltordnung: die USA, Europa oder beide zusammen? Wenn letzteres zutraf, welchen Anteil hatte Europa daran und in welchem Ausmaß trugen die USA dazu bei? Was begreifen die Autoren als „Weltordnung“? „Ordnungen“ sind als endliche Strukturen ausgelegt, deshalb ist danach zu fragen, welche Arrangements nötig sind, um die Lebensdauer dieser Ordnung optimal auszufüllen? Welche ausgewählten Arrangements dienen zwar der Machterhaltung der dominierenden Kräfte, aber nicht der optimalen Entfaltung der Lebensdauer der Struktur?
Mit ihrer Formulierung „Western dominance“ erwecken die Autoren den Eindruck, dass es eine „transatlantische Gemeinschaft“ der Machtgleichheit, Interessen- und Wertegemeinschaft zwischen den USA und Europa gegeben habe. Eine Begründung für diese Feststellung ist im Text nicht zu finden. Außerdem klammern sie die Sonderrolle Großbritanniens aus. Britische Regierungen betonten immer wieder ihr spezielles Verhältnis zu den USA. Zugleich war Großbritannien ein Mitglied der Europäischen Union und britische Regierungen unterstützten alle Bemühungen, den Standort der EU auf der Achse zwischen Staatenbund und Bundesstaat in Richtung Staatenbund zu verschieben.
Den Autoren ist z.B. der Streit auf der NATO-Konferenz in Bukarest im Juli 2008 zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern der NATO keine Erwähnung wert. Gegen den damaligen Vorschlag der Bush-Administration, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die NATO zu öffnen, erwartete sie keinen Widerspruch. Ging sie doch davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, dagegen seine Stimme zu erheben? Aber selbst der britische Premierminister Brown erhob Einwände, obgleich er dann dennoch für den Vorschlag Bushs stimmte, während die französische und deutsche Regierung Bushs Ansinnen glatt ablehnten. Der Vorfall zeigte, dass die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit US-amerikanischer Arrangements zur optimalen Ausgestaltung der NATO zwar die Dominanz der USA im Bündnis im Blickfeld hatte, aber nicht die Erreichung einer optimalen Lebenserwartung der Organisation. Das Ausmaß der inzwischen eingetretenen Verschiebung der Gewichte zwischen den USA und Europa innerhalb der NATO wurde von Bush verkannt.
Statt diesen gravierenden Vorfall zum Anlass für eine Hinterfragung des Begriffs „Westen“ zu nehmen, konzentrieren sich die Autoren auf ganz andere Verschiebungen innerhalb der Weltordnung. So konstatieren sie: „What is new is the quality of global interdependence and its complexity“ (S.7). Man sucht im Text vergebens nach einer Definition für die spezifische Qualität der globalen Interdependenz und der ihr inhärenten Komplexität. Vermutlich verbirgt sich dahinter die Global Governance Theorie, in der Nationalstaaten, die alleinigen Akteure der vergangenen Perioden auf dem internationalen Parkett, ergänzt und teilweise abgelöst werden durch außer- sowie überstaatliche Organisationen/Institutionen und global agierende Unternehmen und Finanzkapitale, die sich dem Postulat des Good Governance (Regierungen) bzw. Good Corporative Governance (Unternehmen) verpflichtet fühlen sollen. In der Vorstellung der Global Governance Theorie dominieren interdependente Beziehungen das Weltgeschehen. Hegemoniale Verhaltensweisen werden als irrelevant für die heutige Zeit betrachtet.
In diese Richtung scheint auch der nächste Satz der Autoren zu verweisen: „As global problems grow, the diffusion of world power is undermining present arrangements of global governance, widening the gap between what is needed and what can be delivered“ (S.7/8). Offenbar sind die Autoren der Ansicht, dass sich in einer Zeit auftürmender Weltprobleme Macht heutzutage auf immer mehr Schultern verteilt und aufgrund dieser Entwicklung die bisherige vom „Westen“ bestimmte Weltordnung unterminiert wird und nicht mehr ausreichend adäquate Lösungen zur Verfügung stellen kann. Was sie jedoch wirklich darunter verstehen, offenbaren sie im folgenden Satz: “China is the only credible challenger to American hegemony, in Asia and beyond” (S.8)
Im Gegensatz zu Global Governance Theoretikern existiert für sie eine US-bestimmte Hegemonie. Sie sehen die US Hegemonie nicht so sehr von der Mitwirkung von NGOs oder private public partnerships beeinträchtigt, sondern vor allem durch die zunehmende Interdependenz der Staaten untergraben und denken hierbei insbesondere an den Machtzuwachs Chinas. Wechselbeziehungen (Interdependenz) – sowohl symmetrischer wie asymmetrischer Form – bestehen zwischen Mächten, die sich bei aller Unterschiedlichkeit gegenseitig als gleichwertig und gleichrangig betrachten. Hegemoniale Verhältnisse hingegen gehen von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der beteiligten Mächte aus. Zwischen ihnen bestehen zwar auch Wechselbeziehungen, aber sie spiegeln stets den Rangunterschied zwischen Hegemon und Hegemonisierten. Indem die Autoren die Gefahr beschwören, dass in der Zukunft der “Beijing Consensus” den “Washington Consensus” der vergangenen Periode ablösen könnte (ebd.), drücken sie ihre Befürchtung aus, dass der US-Hegemonie in der wachsenden Weltgeltung Chinas ein ernst zu nehmender Widerpart erwachsen könnte. Im gleichen Atemzug unterstellen sie der chinesischen Führung hegemoniales Denken.
Sie nehmen die kurze Geschichte der USA als Siedlergesellschaft zum Maßstab für das Denken und Handeln anderer, weitaus älterer Gesellschaften. So wie sich die USA zunächst von der Kolonialmacht Großbritannien befreiten, danach im Bürgerkrieg den nordamerikanischen Kontinent unter eine einheitliche Führung brachten, als nächsten Schritt ihre Herrschaft auf Mittel- und Südamerika ausdehnten, erst dann den Sprung über den Nordatlantik und den Pazifik auf die gegenüberliegenden Küstenregionen wagten und nach der Niederkämpfung der Sowjetunion schließlich den Versuch unternahmen, ihre Hegemonie weltweit auszudehnen, unterstellen sie nun der chinesischen Führung, dass sie von der Mitte Asiens aus schrittweise eine globale Hegemonie errichten wolle.
Dass die geographische Lage Chinas eine ganz andere als die der USA ist, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Als Reich der Mitte war China stets von anderen Völkern umgeben und nicht, wie die USA vornehmlich von zwei Weltmeeren. Sie hatten sich der Eroberungen durch andere Völker zu erwehren und unternahmen selbst Eroberungsfeldzüge. Die Jahrtausende alte chinesische Geschichte ist voll von wechselnden Machtkonstellationen, Niedergängen und Wiedererlangung der Macht. Die chinesische Führung blickt auf eine lange Tradition von herrschaftlichem Gebaren und Verhaltensweisen beherrschter Regierungen zurück. Die chinesische Kultur kennt vielfältige Variationen der Machtausübung und Werteorientierung. Ihr ist bewusst, dass sie trotz der Dominanz des Hauptvolkes einen Vielvölkerstaat regiert und dass ein Streben nach Hegemonie mit enormen Risiken verbunden ist. Ihr ohne stichhaltige Beweise umstandslos hegemoniales Denken und Handeln zu unterstellen, nährt den Verdacht absichtlicher Unterstellung und kann als Übertragung eigenen Denkens und Handelns auf andere gedeutet werden, was im nächsten Satz der Autoren auch zum Vorschein kommt. So geben sie zu bedenken, dass Chinas Wachstum „raises the spector of a return to great power rivalry and ideological competition that appeared to end with the Soviet collapse“ (ebd.). Mit diesem Satz bezeugen die Autoren, dass sie die Anforderungen, die eine duale Hegemonie an die Kontrahenten stellt, bis heute nicht in ihr Denken aufgenommen haben. Deshalb erscheint es notwendig, die beiden bestimmenden Momente des Ost-West-Konflikts nochmals zu skizzieren.
3. Grundzüge einer dualen Hegemonie
Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Diese für eine duale Hegemonie ausschlaggebende Konstellation steht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht − nur durch den eigenen Willen begrenzt.
In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potenzial an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. Da beide Seiten zu keinem Zeitpunkt exakt einschätzen konnten, welcher Handlungsspielraum für einen selbst und dem Kontrahenten tatsächlich zur Verfügung stand, führte das hohe Maß an Unsicherheit und Vernichtungsrisiko durch atomare Waffen dazu, dass sie trotz härtester Konkurrenz zugleich ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der fragilen geopolitischen Stabilität und damit ihrer dualen Hegemonie entwickelten. Dieses Interesse trat insbesondere an geopolitischen Orten zutage, an denen unbedachte Schritte zu unkontrollierbaren Folgen führen konnten, wie z.B. zwischen West- und Ostberlin vor, während und nach dem Bau der Mauer im Jahre 1961, auf den Transitrouten durch die DDR, oder wenn nachgeordnete Mächte beabsichtigten, kurzzeitig in der etablierten Sicherheitsarchitektur des Ost-West-Konflikts auftretende ungeklärte Schwebezustände zum eigenen Vorteil zu nutzen (Emanzipationsbestrebungen vorwiegend der Westeuropäer im Gefolge des für die USA ungünstig ausgehenden Vietnamkrieges).
Im Widerspruch zum immer vorhandenen gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der geopolitischen Stabilität (Sicherheitsarchitektur) handelten beide Mächte zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen. Die USA betrachteten ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivalen, während sie sich selbst als obersten Verteidiger der Freiheit dekorierten. Die Sowjetunion trat als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse auf und unterstellte den USA feindlichste Absichten gegen den Rest der Menschheit. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, verschoben sie gedankenlos die Grenzlinie zwischen den für beide Seiten verfügbaren Handlungsoptionen zuungunsten des jeweils anderen und handelten im Sinne eines Nullsummenspiels. So kümmerten sie sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwendige Erhaltung der geopolitischen Stabilität. Dies führte für die Sowjetunion kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts dazu, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration, während sich die USA gerade umgekehrt mit der Frage auseinandersetzen mussten, ob ihre bisherige räumlich begrenzte Hegemonie auf globale Ausmaße ausgedehnt werden konnte und auf welche Widerstände sie hierbei stoßen würden.1
4. Das Streben nach globaler Hegemonie der USA
Auf dem Hintergrund der engen Verbindung ökonomischer und militärischer Überlegenheit begannen die USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit der Globalisierung ihrer Hegemonie. Sie traten nach dem Ende des Kalten Krieges gegenüber Europa nicht mehr wie zuvor als wohlmeinender Hegemon auf, sondern forderten ultimativ die Anpassung der europäischen Volkswirtschaften an den US-amerikanischen Shareholderkapitalismus und verlangten damit die Übernahme des Werte- und Gesellschaftssystems der USA. Sie propagierten ihren Unilateralismus, als die Europäer ihre Ängste vor der Sowjetunion allmählich verloren und auf mehr Eigenständigkeit pochten. Während des Ost-West-Konflikts hatten sich die Westeuropäer aus Furcht vor der Sowjetunion an den westlichen Hegemon angelehnt. Nach dem Ende der Sowjetunion betrachteten die Europäer US-Aktivitäten jedoch zunehmend kritischer.
Sie erinnerten sich daran, dass die USA im Namen der Befreiung vom Kolonialismus den europäischen Kolonialstaaten das ihnen bis dahin verbliebene Hinterland entzogen hatten und die ökonomischen Aktionsmöglichkeiten der europäischen Mutterländer immer stärker auf die USA konzentrierten. Das innerwestliche Dreieck mit den USA an der Spitze und Westeuropa und Japan an der Basis unterwarfen sie den ökonomischen Vorgaben aus den USA, was solange zu wenig Unmut führte, wie der Handel florierte und der Lebensstandard der Bevölkerung stieg.
Die USA mussten − wenn auch erst einige Jahre später − akzeptieren, dass auf das Ende der dualen Hegemonie mit der Sowjetunion nicht die globale Hegemonie der USA folgte, wie sie noch unter den beiden Administrationen unter Clinton auf der Grundlage der Informationstechnologie und Menschenrechtsstrategie und unter der nachfolgenden von Bush Junior unter Androhung und Anwendung militärischer Gewalt angestrebt wurde.
Die Finanzkapitalkrise nahm ihren Ausgang in den USA und hat als letzten Akt eine gigantische Staatsverschuldung der USA und einiger EU-Länder zur Folge. Wer, wie die USA, den Anteil des privaten Konsums an der Erstellung und dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts auf über 50 Prozent ansteigen lässt, seine Infrastruktur jahrzehntelang vernachlässigt, seinen Militärhaushalt ins Unermessliche anhebt, die Gefahr einer plutokratischen Ausrichtung der Gesellschaft nicht energisch bekämpft und einen hohen Anteil verarmter Bevölkerung klaglos akzeptiert,2 darf sich nicht wundern, wenn andere Volkswirtschaften den schnell steigenden Handelsaustausch mit Schwellenländern wie China und Indien bevorzugen und die USA mit ihrer steigenden Arbeitslosigkeit und zunehmenden Konsumschwäche meiden. Wer trotz dieser unübersehbaren Schwächen bis in die Gegenwart auf die Sperrminorität im Internationalen Währungsfonds (IWF) beharrt, die den USA ermöglicht, trotz höchster Verschuldung dem US-Dollar die Leitwährungsfunktion auf unbegrenzte Zeit zu garantieren und zugleich den Europäern empfiehlt, ihren Stimmenanteil zugunsten der Schwellenländer zu reduzieren (S.10), muss mit massiver Gegenwehr rechnen.
Wir leben in einer Welt, die nicht mehr unter der Oberaufsicht einer US Hegemonie steht. Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte ist durch folgende Kriterien bestimmt:
5. „Global Shift“ – Eine „strategy for renewel“
Die USA haben über die Jahre hinweg vergeblich versucht, China in die Rolle der ehemaligen Sowjetunion zu drängen. Die chinesische Führungen verhielten sich immer geschickt genug, diese Position zu vermeiden und nicht militärisch, sondern ökonomisch zu agieren und zu reagieren. Die Vokabel “Beijing Consensus” stellt nun einen weiteren Versuch dar, China in die Angst einflößende Position zu rücken. Sie steht im engen Zusammenhang mit der Debatte über demokratische und autoritäre Regime und der Zielbestimmung, dass ein neuer weltweiter Kampf zwischen den freiheitlichen und autoritären Regimen zu führen sei.
In der schon seit einigen Jahren stattfindenden Debatte, schreiben die Autoren, vertreten die einen die Meinung, dass der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas die Demokratisierung zeitverzögert folgen werde, während die anderen Seite die Kontinuität des autoritären Regimes Chinas propagierten. Die Debatte zwischen „integrationists and balancers sets the alternatives too starkly“, meinen die Autoren und behaupten, dass „China’s course will probably fall somewhere in between these two extremes“ (S.9). Der „Westen“ handele deshalb klug, wenn er eine Mischung von Engagement and Eindämmung verfolge. Denn man müsse deutlich machen, dass der Aufstieg Chinas (und anderer Schwellenländer) zwar als Teil wachsender Interdependenz und Komplexität aufgefasst werden könne, aber darüber hinaus auch „a resulting crisis of global governance“ (ebd.) darstelle. Diese Krise erfordere eine „strategy for renewel“ der westlichen Hegemonie (S.10).
Was sie darunter real verstehen, bedarf einer Ergänzung aus dem englischen Haupttext des „Global Shift“. Darin sind – im Rückgriff auf den Kalten Krieg von 1945 bis 1990 – unter „division of labor“ folgende zwei bemerkenswerte Sätze zu lesen: „During the Cold War, the United States led, and Europe assisted and followed in our efforts to defend ourselves against a common threat, avoid war, and eventually overcome and resolve our differences with our opponents. The new circumstances require a recasting of the previous division of labor, the use of the separate capabilities and means of the individual transatlantic community members on problems based on a common vision and strategy.”(S.10). Unter der Ausblendung des hegemonialen Verhältnisses zwischen den USA und Europa in der Periode des Ost-West-Konflikts und der darauf folgenden Periode unter Clinton und Bush, die US-Hegemonie global auszudehnen, versuchen die Autoren ein neues einigendes Band zwischen den USA und Europa zu knüpfen und hierbei auf die Existenz gemeinsamer Werte zu rekurrieren, die es zu erhalten gelte. Dementsprechend formulieren sie im folgenden Satz: „Second, the members of the transatlantic community need to cultivate a new mindset about ourselves appropriate for a multipolar interdependent world.”(ebd.).
Unter multipolar verstehen sie vor allem das Dreieck USA-Europa-China. Auf dem von ihnen geforderten Hintergrund einer engen Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa wird daraus unmittelbar ein Gegensatz zwischen „dem Westen“ und China. Die anderen BRIC-Staaten (Brasilien, Russland und Indien) erwähnen sie nicht. Die Autoren bleiben eine Antwort darauf schuldig, auf welchen Positionen sie diese globalen Mitspieler einordnen. Die ständigen Versuche der USA, Indien in eine Containmentpolitik gegen China einzubeziehen sowie die Re-Industrialisierung Russlands mit europäischem Know-how zu behindern und Brasiliens Bestreben zu mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in den Handelsverträgen Brasiliens mit den USA zu sabotieren, veranlassen sie zu keinerlei Reaktion.
Fragen sich die Autoren ernsthaft, ob die USA tatsächlich bereit sein könnten, auf ihre Hegemonie zu verzichten? Wie ist ihr beschwichtigender Satz zu verstehen: “The United States, after years of hegemony, must recognize that it can no longer lead through domination or coercion but rather must now rely on the power of its example and its contributions to global problem-solving.” (S.10). Haben sich die Autoren gefragt, ob die USA künftig Europa als gleichberechtigten Partner anerkennen werden oder zielt ihr Bericht lediglich darauf ab, die Europäer ins gemeinsame Boot zu holen? Die alte Weisheit, dass ein Kamel eher durch ein Nadelöhr geht als dass ein Hegemon auf seine Ansprüche verzichtet, gilt es erst noch zu widerlegen.
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1Kernelement der unter amerikanische Vorherrschaft gestellten Küstenregionen von Atlantik und Pazifik blieb das unbeschränkte Stationierungsrecht amerikanischer Truppen in Deutschland und Japan. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Jahre 1945 mussten beide Staaten ihre staatliche Souveränität an die Siegermächte übergeben und darauf vertrauen, dass ihnen die Souveränität schrittweise wieder zurückgegeben wurde.
Die verbliebene Souveränitätseinschränkung durch die drei Westalliierten war in den Verhandlungen zum Viermächteabkommen und dem Grundlagenvertrag von 1972 zu berücksichtigen und kam erneut in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen im Jahre 1990 auf den Verhandlungstisch. Während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern. Die Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten. Die gleiche Rechtslage bezüglich zurückbehaltener Souveränität existiert in Japan.
Das us-amerikanische Beharren auf ihre unkündbaren Rechte in Deutschland und Japan zeigt, dass die USA stets ökonomische und militärische Dominanz eng verknüpft haben. Letztere sicherte ihnen den freien Zugang zu unentbehrlichen Rohstoffen, die Öffnung von Volkswirtschaften für den Güter- und Kapitalverkehr und die Absicherung von Handelswegen.
Ganz auf dieser Linie liegt, dass die USA unter der Bush-Administration zur Wahrung ihrer Interessen für die Zeit nach ihrem Abzug der Kampfgruppen aus dem Irak wie aus Afghanistan die Einrichtung von Militärbasen auf unbestimmte Dauer forderten. Die USA bestehen auch unter dem Präsidenten Obama gegenüber der Kabuler Regierung auf einer dauerhaften Präsenz ihrer Truppen in Afghanistan.
Zugleich mahnt der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass keines der NATO-Länder aus nationalen Gründen allein mit dem Abzug von Truppen beginnen dürfe (Tagespiegel, 11.6.2011). Die USA sind offenbar weiterhin überzeugt, dass sie dank militärisch überlegener Technologie die Talibankämpfer schließlich zur Aufgabe zwingen und die Warlords mit finanziellen Zuwendungen zum Einlenken bringen können. Der enge Zusammenhang zwischen der angestrebten permanenten US-Truppenpräsenz und der weiteren Unterstützung terroristischer Gruppen durch nationalistisch gesinnte Talibanfraktionen wird geleugnet und der von Soldaten der übrigen in Afghanistan engagierten NATO-Staaten daraufhin zu erbringende Blutzoll wird in Kauf genommen.
2 Die USA sind – gemessen an der Gesamtbevölkerung – das Land mit dem weltweit höchsten prozentualen Anteil von Gefängnisinsassen. Sie beharren weiterhin in mehreren Bundesstaaten auf der Todesstrafe, ganz zu schweigen von den sogar im Bericht erwähnten Foltermethoden und der Nichtanerkennung des Weltstrafgerichtshofs im Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror. Ihr positives Selbstbild entspricht nicht dem Bild, das sie für andere vorzeigen.
25. Juni 2011
Reinhard Hildebrandt
Können wir uns Hegemonialmächte heute noch leisten?
Vortrag bei Spree-Athen
Die Erfahrung lehrt uns, dass Hegemonialmächte zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie stets den Versuch unternehmen, den hegemonisierten Mächten ihre spezifische Gesellschaftsform, ihr Wertgefüge, ihre Politik und ihre Strategien überzustülpen. Hegemonialmächte schwächen ihre Opfer, entziehen ihnen Ressourcen.
Ob wir der Ausformung von Hegemonialmächten entfliehen können, ist ungewiss und bedarf einer umfassenden Analyse.
Das Imperium versucht, die innere Autonomie und die äußere Handlungsfähigkeit der beherrschten Macht absolut zu unterbinden. Die Hegemonialmacht kann die beherrschte Macht nur in ihrem Streben nach Autonomie begrenzen, aber nicht entscheidend daran hindern. Imperium und Hegemonialmacht formen endliche Strukturen, deren Lebensdauer sie selbst nicht bestimmen können.
Hegemonialmächte verlieren ihre Macht auf dreierlei Weise:
Zu 1. Überziehung des Hegemonialanspruchs
Die Nato-Konferenz in Bukarest 2008Gegen den damaligen Vorschlag der USA, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die Nato zu öffnen, erwartete die Bush-Administration, dass keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, seine Stimme zu erheben.
Der Hegemon unterstellte bei den Hegemonisierten ein unüberschreitbares abhängiges Bewusstsein.
Die Bush-Administration ging davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und dass das von ihr ausgewählte aktuelle Arrangement als einzig möglicher Weg unhinterfragt bliebe.
Die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit seiner hegemonialen Praxis verkannte jedoch die inzwischen eingetretene Veränderung des hegemonialen Verhältnisses zu Lasten der USA.
Zu 2. Durch Selbstschwächung, indem sie auf obsolet gewordenen Rechten beharren
Beispiel: Beharren auf Sonderrechten der USA und UKDie Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten.
Auch während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern (zurückbehaltene Souveränitätsrechte).
Folgende Veränderungen gibt es in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA sowie Großbritannien:
Zu 3. Fehler in der Ausgestaltung ihrer Hegemonie
Beispiel: Nato-KonsultationsprozessIm Nato-Konsultationsprozess haben alle Mitglieder die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Strategien und Taktiken zu informieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu gelangen. Das Wort Konsultation erweckt den Eindruck, dass im Ausschuss alle Nato-Mitglieder auf gleicher Ebene angesiedelt sind. Im Notfall können jedoch die USA auch unilateral und ohne Konsultierung der anderen entscheiden, was zu Zeiten der Bush-Administration auch öfters geschehen ist.
Ein wohlmeinender Hegemon strebt ein kostenfreies ideales Unterordnungsverhältnis an. Wenn gemäß Hegel Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn besteht, erscheint im Bewusstsein des Knechts seine real existierende Unterordnung gerade umgekehrt als absolute Freiheit. Für den Hegemon ist ein solches Verhältnis kostenfrei.
Diese Deckungsgleichheit funktioniert seit dem Ende der Bush-Administration nicht mehr und führt damit zu einer Veränderung des bisher funktionierenden hegemonialen Verhältnisses. Die Folge: Verlust ihres Images als wohlmeinende hegemoniale Macht. Darin sind auch erste Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht zu erkennen.
Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht
Geopolitisch:
Ökonomisch:
Militärisch:
Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte
Hegemoniale Formationen und deren hegemoniale PraxisHegemoniale Formationen entstehen auf der Ebene der Diskursivität – bzw. der wissenschaftlichen Theoriebildung – als Erweiterung diskursiver Formationen. Was versteht man unter einer diskursiven Formation? Was unter der „Ebene der Diskursivität“, was unter der „Ebene des gesellschaftlichen Ensembles relativ stabiler Formen“?
Die diskursive FormationEine diskursive Formation (Foucault) ist ein Ensemble differentieller Positionen, das sich durch eine „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ auszeichnet. Mit einfachen Worten:
Der Wissenschaftler beschreibt mit einem allgemeinen Satz ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen oder eine neue Erkenntnis, die im Selbstgespräch oder im Dialog mit anderen entstanden ist. Beispiel: Die Erde dreht sich um die Sonne! Er formuliert also eine Hypothese, aus der er streng rational vorgehend Unterpunkte bzw. voneinander abgeleitete Unteraussagen bis hin zu Basissätzen ableitet (eine diskursive Formation). Dieses Ensemble differentieller Positionen soll, so ist die Annahme, in der empirisch erfassbaren Realität vorzufinden sein. In ihr muss es also die unterstellte „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ geben.
Auf welche Weise das artikulierende Subjekt in den Humanwissenschaften zu einer Aussage über das artikulierte Objekt gelangt, hängt anders als in den Naturwissenschaften von folgenden Überlegungen ab:
17. April 2011
Reinhard Hildebrandt
Looking beyond the honeymoon
Wie schätzen die USA Indien ein: gleichbedeutend mit China als Global Player oder als hilfreicher Mitspieler in der Eindämmung Chinas? Verfolgt Indien weiterhin eine eigenständige Politik auf der Grundlage originärer indischer Interessen? Welche multipolare Konstellation wird sich in Asien durchsetzen? Die Autoren dieses Artikels, der zuerst in der in Indien viel gelesenen und sehr geschätzten Zeitung „The Hindu“ erschienen ist, versuchen auf die Fragen eine Antwort zu geben.
1.The relationship between India and the U.S. is emerging as one of the three that will shape Asia and global politics in the decades ahead, the other two being U.S.-China and India-China
It is rare for the ideas people to be behind the curve but those who say the India-US relationship has been reduced to merely “feel good” meetings and junkets are exactly that — a little behind the curve. Critics in both Washington and New Delhi complain about the preponderance of grand rhetoric which remains unmatched by delivery. Yes, India has signed some significant defence deals with the U.S. but where’s the real beef or the strategic content, they ask.
This reductive description is more a function of the traits typical of people in the two countries — if some Americans are driven by “instant gratification,” their Indian counterparts see “melodrama” as a virtue. But beyond these personality quirks, clues point to a maturing partnership that no longer needs the adrenalin rush of big-ticket developments such as the Indo-U.S. civil nuclear agreement of 2008.
The languageIt is apparent that India and the U.S. have made a long-term bet on each other even though the language reflects a cautious discretion bred in political realities. In India it is still not kosher for many to call America a good friend, a useful partner. It is ever so easy to point to the long history of Washington’s coddling of Pakistan and its disregard of Indian concerns as exhibit A. Their counterparts in Washington complain: what has India done for the U.S. lately? Remember the promise of commercial dividends from the nuclear deal?
Fortunately, those who make decisions are largely unfettered by this narrative. They don’t want the present to be completely hostage to the past. They are already moving ahead, pushed by new geographies and challenges. The India-U.S. relationship is emerging as one of the three bilateral relationships that will shape Asia and perhaps define global politics in the decades ahead. The other two being U.S.-China and India-China.
2. Four trends
The new India-U.S. partnership has four broad trends, which were apparent during recent discussions between Indian parliamentarians and scholars with senior officials in the departments of State and Defence, and at the National Security Council as part of a delegation organised by the Naval Post-graduate School, Monterey Bay and the Observer Research Foundation.
The relationship has moved beyond “parallel actions” where both countries despite a congruence of interests moved separately, whether in Myanmar, the Middle East or Afghanistan. The old distrust has been replaced by a new respect for this kind of independent parallelism, which now seems to be converging. This has opened up the field to a wide variety of issues for frank discussion and an exchange of ideas between the two. From Pakistan to cyber security to space, no subject is taboo.
The two main drivers for American consolidation of thought: an externality called China on the one hand, and internal doubts about the merits of unilateralism, on the other. American people have no appetite for new, expensive engagements. They imagine themselves better off “leading from behind” despite the hawkish clamour from conservative talking heads.
The second noticeable trend is the understanding between the political leadership in both countries, stressed and repeated at very senior levels. In the U.S., bipartisan support for India is public and enthusiastic, putting New Delhi in the sanguine position of not having to fret about a change of administration in Washington this November. In India, the support is pledged quietly and firmly and repeated through itinerant former foreign secretaries and retired generals. The challenge here is to overcome the inertia of the mid-level bureaucracy on both sides which can puncture their political masters’ biggest dreams with pinpricks born of residual institutional memories.
Also apparent is a new appreciation at high levels that the bet on India cannot and should not be purely for its large market. India’s emergence is good in itself because of strategic convergences. Short-term transactional expectations around that odd contract or defence deal gone awry will continue to disappoint, but policymakers understand the need for “patience” — a word that has become part of official U.S. speak on India. The understanding has opened the door to Washington looking at India in the medium-term instead of just for short-term gains. A growing number of thinkers in Washington believe the strengthening of India will be one of the main features of the U.S. presence in Asia this century.
The last and perhaps the most interesting development is the real entry of the U.S. Defense Department to try to “own and guide” the India relationship in ways that were unimaginable a few years ago. Defense Secretary Leon Panetta and Deputy Secretary Ashton Carter have taken a decision to act on some of India’s perennial complaints about tech and weapons transfer to put real meat on the bones. Almost all key U.S. relationships are driven by the Department of Defense (DoD) because of the high element of the strategic content. The trajectory from the early 1990s when the DoD hardly had any interest in India to reach a point where it wants to be the main driver is significant.
Regional issuesThis has important benefits. Plain talk is one. Senior U.S. officials have apparently conveyed to the Pakistani generals that India’s strategic interests in Afghanistan far outweigh theirs because India has greater capacity, reach and ultimately more robust goals in the region. So they had better get used to the idea. The de-hyphenation is complete. This attitudinal change is a far cry from even two years ago when the Americans were hedging their bets between the two countries. But today there is greater appreciation of India’s pain. The Americans are equally perplexed about how to deal with a country that has allowed its own slow radicalisation and despite opportunities, has failed to stem the tide.
Where will the new trends lead? There could be a mismatch of expectations and capacity. For instance, the U.S. may now be willing to see India as a key balancer in the region and in Afghanistan. New Delhi, however, may be more comfortable with a far modest role. India is unlikely to agree to be a net provider of security and its strategic outlook may be limited to ensuring that anti-India forces don’t dominate Kabul. The green-on-blue attacks against U.S. troops may have already given the Indian political class jitters about training Afghan forces.
Then there is the brute reality of India itself, which can alienate the strongest ally. The Democrats and the Republicans are united in their support for India but what about the political climate in a country with narrow horizons and where short-term obsessions manifest in “tactical” moves that can derail the country’s larger strategic goals?
(Seema Sirohi is a columnist based in Washington DC. Samir Saran, Vice-President at the Observer Research Foundation, was a part of the recent Track-2 interactions with the U.S. establishment.)
Copyright: The right to republish this article was granted by the authors to solon-line.de. For further usage contact the authors.
16. Oktober 2012
Reinhard Hildebrandt
Indo-European Dialogue in a Changing World
On November 25-27, 2009, the conference “Indo-European Dialogue” was held in Brussels and in Paris. The event was organized by the Foundation for European Progressive Studies in collaboration with the French Foundation Jean Jaurès. We publish here Dr. Reinhard Hildebrandt’s discussion paper, titled “Indo-European Dialogue in a Changing World,” for the conference.
The following discussion paper is to be situated within the context of the subjects debated at the “Indo-European Dialogue” conference:
I. Introduction
II. A brief review of the past
1.The pentarchy (five-power system): 1815 to 1871
The steady decline of the “Holy Roman Empire of the German Nation”, dominated by German princes, kings and emperors, together with Napoleon’s “daredevil” attempt to build a French empire, led to the emergence of the European five-power system with Great Britain, France, Russia, Austria-Hungary and Prussia as players. Looking at the scenario from the perspective of power politics, it may be said that the three powers of the European flank – Russia, France and Austria-Hungary – contributed to a further weakening of the European center which consisted of many small states. The latter saw themselves faced with the threat of annexation by a still ambitious Prussia. The five-power system operated as follows: If Prussia and Austria-Hungary were for instance locked in a war over territorial disputes, France and Russia maintained a balance between the warring sides while Great Britain was the power that tipped the scales. In weakening the stronger two-power alliance and strengthening the weaker of the two, Great Britain ensured that continental Europe was kept preoccupied with itself, thereby leaving it free to expand its own empire. However this system, guided solely as it was by power politics, was unable to prevent Prussia from expanding its territory and influence over the small German states.
2. A somewhat modified pentarchy following German unification:1872 to 1919
Reacting to the growing endeavors of democratic and nationalist-minded Germans and economic experts to do away with the system of small states and, with that, also shake off regressive princely rule to create a liberal German nation state with a single external customs border, Prussia
The absence of an overarching normative structure straddling the purely power-driven architecture of the pentarchy was now more conspicuous than ever before. Without the same generally accepted values for all the powers involved, the purely power-oriented architecture showed signs of strain and finally collapsed amid the turmoil of the First World War (1914-18).
3.The pentarchy re-configured: 1919 to 1945
The unsuccessful attempt, together with the new allies Poland, Czechoslovakia and Yugoslavia, to revive the pentarchy against the isolated revolutionary Soviet Union and the vanquished, severely crippled Germany and finally ended in the Second World War (1939-45) from which the USA and the Soviet Union emerged the new leaders for Europe. The division of Germany into two states, with a divided Berlin as a separate unit, and the division of Europe into an American and a Soviet zone of influence created an entirely new security architecture dominated by peripheral powers – a situation described as indicative of the East-West conflict but in reality reflecting the dual hegemony of the USA and the Soviet Union.
4. The security architecture of the dual hegemony of the USA and the Soviet Union (1945-1990)
With the end of American monopoly over the nuclear bomb in 1949 and, more importantly, with the loss of nuclear invincibility in 1959, there emerged for both hegemony-oriented powers a strategic situation in which geo-political stability could be established and maintained exclusively with, and at the same time against, the other in each case.
4.1. The geopolitical ‘with-each-other’
If the geopolitical ‘with-each-other’ were to be considered first, it should be assumed with respect to the implementation of real politics that both hegemonial powers – contrary to their self-perception – were not in a position to exploit all conceivable options for the maximum assertion of their own will. In other words: The assertion of one’s own will curtailed the will of the opposite side to assert itself. The “freedom” of both hegemonial powers henceforth lay in the choice between the options offered by the unfolding of their own power, and the options that could be checked and obstructed, and therefore effectively curtailed, by the opposite side. However, at no point could they assess the exact scope of action open to them. This high measure of uncertainty meant that despite very severe competition, both hegemonial powers shared a common interest in the preservation of the fragile geopolitical stability, particularly in divided Europe and consequently also in their dual hegemony.
4.2. The political ‘against-each-other’
Political ‘against-each-other’, which existed alongside, may be briefly explained as follows: Although there was an interest in preserving geopolitical stability as explained above, both powers nevertheless also acted in accordance with the principle of the maximum unleashing of power. The USA regarded its Soviet hegemonial partner as devil incarnate and arch rival, while priding itself on being the ultimate defender of freedom. The Soviet Union projected itself as the ultimate representative of the proletariat and suspected the US of the most hostile intentions. Both sides sought to weaken the other with all the military, economic and political means at their disposal. Thus, almost unconsciously, they questioned the stability necessary for dual hegemony while – without themselves noticing – pushing the boundary line between the framework of action open to both sides to the detriment of the other in each case. Finally, shortly before the end of the East-West conflict (1989), the Soviet Union found itself divested of nearly all its freedom of action, whilst the US could expand its room for maneuver to the maximum. The Soviet Union lost all its areas of influence and was on the verge of collapse. However, even the USA had to accept – even if only 20 years later – that the end of dual hegemony had at the same time also irretrievably eroded its own hegemonial claim. Even before this realization had dawned in the US, two American administrations had already made every effort to expand their territorially restricted hegemony into a global one.
5. US ambitions for global hegemony: 1990 to 2009
Under President Clinton and Bush Jr., the USA used various means to pursue an unilateral policy of expanding American hegemony to states that had formerly belonged to the Soviet or non-aligned block. A weakened Russia and China were likewise also brought under the purview of this policy. Under Clinton, the USA instrumentalized human rights policy in particular for its own hegemonial intent, though it drew just as much upon the neo-liberal strategy for bringing economies in the rest of the world closer to the US model. Under Bush Jr., this policy was supplemented with military intervention through the three wars entered into against Iraq, Afghanistan and what was (and is) referred to as “international terrorism”. To attempts on the part of Russia, China and India to assert themselves, the Bush administration responded by adopting containment strategies against Russia and China on the one hand and holding India in friendly embrace on the other. Some of the continental powers of the European Union held out against the USA’s hegemonial ambitions, whereas the majority of the East European countries fell entirely in line while Great Britain even worked in tandem with the US to maintain Anglo-American supremacy. Finally, the heavy losses inflicted by the wars and the financial crisis have taken such a toll on the US that it finds itself compelled to relinquish most of its hegemonial ambitions in the near future and finally take on the challenge posed by more recent developments in the concert of global powers.
III. The present re-orientation of the concert of globally engaged powers: (2009/2010)
The following developments brought about changes in the global architecture:
1. The Bush administration recklessly frittered away its influence on Russia, which the Clinton administration had come to gain over Russian President Jelzin.
2. After the USA and the EU increasingly began to offer the states of the former Soviet Union membership to the NATO and the EU, while at the same time instrumentalizing the uncertainty created by differences between Russia and the Ukraine over oil and gas supplies in order to advance their own pipeline project circumventing Russia, the Russian President Putin began to increasingly turn to Asia. This shift saw the birth of the “Asian triangle” of which resource-rich Russia is a part along with China and India, and in which the Central Asian Republics are fully engaged.
Should the strategic partnerships between China, India and Russia – converging in the “Asian triangle” – result in the emergence of a legal superstructure in the long term, they would, like the EU, become a lasting factor of stability in the global play of powers.
3. An ever-increasing number of Asian economies are turning to China, after the USA – as the largest importer of Asian products until the financial crisis – has now become considerably less important for these markets as a result of the crisis.
4. Some key member countries of the EU, among them Germany in particular, are in turn strengthening their ties with Russia, regarding that country as a useful stepping-stone to Asia.
5. On the Latin American continent – regarded as the USA’s “backyard” during the East-West conflict – only Columbia remains an ally of the US, while Brazil is readying to become a global player.
As a consequence of these developments, a new interplay of the global powers appears to be emerging. Economically, the inner Western triangle of USA-Japan-EU still attracts 40 percent of the world trade, but given the activities of the transnational companies and the financial capital involved, even this 40 percent is intensively linked with the emerging Asian triangle of China, India and Russia. Trade within this new triangle is also substantial. The trend towards more globalization remains unbroken although the economic crisis has temporarily curtailed the global flow of financial capital, dented the production volume of transnational companies and caused the rapid decline of the US market. However, we have to take into consideration a shift in global production and trade from the traditional Western triangle to the new Asian one. This development will also have political, military and cultural impacts besides challenging the hegemonic ambitions of the USA.
9. Dezember 2009
Reinhard Hildebrandt
„Swing“ Power Indien im Fokus US-amerikanischer Hegemonialstrategie
1. Strategische Partnerschaft zwischen den USA und Indien
Kanwal Sibal, ehemaliger Foreign Secretary Indiens, analysiert in seinem Artikel „Crosscurrents in India-U.S. ties“ (The Hindu, 16. Juli 2013) die Zweifel Indiens und der USA an der Substanz ihrer strategischen Partnerschaft. Das frühere indische Misstrauen gegenüber den USA sei zwar in der Zwischenzeit von einem positiven Engagement und größerer Akzeptanz US-amerikanischer Goodwill Bekundungen abgelöst worden, aber grundlegende Differenzen blieben weiterhin bestehen.
Die indische Regierung müsse zur Kenntnis nehmen, dass die USA in der Förderung „universeller Werte“ eine selektive Verhaltensweise an den Tag legten: Verschonung befreundeter Staaten und Sanktionen gegen Widersacher der USA. Im Falle des Terrorismus erdulde man die Handlungen befreundeter Mächte, während Gegnern der USA der Regimewechsel angedroht werde. Gegenüber Pakistan, Afghanistan, Iran und Syrien sowie beim Klimawandel, in der Doha-Runde, der Souveränität von Staaten und in weltpolitischen Fragen hätten Indien und die USA unterschiedliche Perspektiven. Strategische Partnerschaft, meint Kanwal Sibal, erfordere keine gleiche Sichtweisen und erst recht nicht die einseitige Anpassung Indiens an US-amerikanische Präferenzen, zumal sich Indien mit fehlender Transparenz US-amerikanischer Politik und unangekündigten Strategiewechseln konfrontiert sehe.
An den Beispielen Pakistan, Afghanistan und China illustriert Kanwal Sibal Indiens Kopfschütteln über US-amerikanische Politik. Obwohl Pakistan Osama bin Laden beherbergt habe, unterstütze die US-Regierung Pakistan weiterhin militärisch und ökonomisch. Trotz pakistanischer Begünstigung terroristischer Akte gegen Indien unterlägen die USA immer wieder der Tendenz, Indien und Pakistan auf der gleichen Stufe anzusiedeln. In Afghanistan hätten die USA zuerst Indiens Engagement völlig in Frage gestellt, dann unterstützt und jetzt wiesen sie Indiens Zweifel an der politischen Rehabilitation der Taliban durch die USA zurück. US-amerikanische Beziehungen zu China wechselten von der groß angekündigten Fokussierung auf den pazifischen Raum (mit der unausgesprochenen Forderung nach Eindämmung Chinas) zur schwächeren Strategie des „re-balancing“.
2. Visite des US-amerikanischen Außenministers Kerry in Indien
Kanwal Sibal kommt anhand des Kommunikees, das nach dem Besuch Kerrys im Juni 2013 die Ergebnisse der Verhandlungen zusammenfasst, zu dem Schluss, dass der „India-U.S. strategic dialogue … ignores or obfuscates key strategic issues“: „The joint statement omits any mention of China Sea or U.S.‘re-balancing’ towards Asia, though Mr. Kerry affirmed in his press statement that the U.S. leadership considered India a key part of such a re-balancing. There is only a general reference – in the paragraph dealing with the Indian Ocean and the Arctic Council – to maritime security, unimpeded commerce and freedom of navigation! Iran and Syria are absent from the statement.” Hingegen als “arm-twisting” bezeichnet Kanwal Sibal Kerrys Forderung, den Vertrag zwischen Westinghouse und der Nuclear Power Corporation of India zur Beschaffung ziviler Nukleartechnologie durch Indien bereits bis zum September dieses Jahres abzuschließen, obwohl viele Fragen zwischen den beteiligten Seiten völlig ungeklärt seien und um unterschriftsreife Formulierungen noch gerungen werden müsse. Abschließend kommentiert Sibal die indisch-US-amerikanischen Beziehungen mit der folgenden Bemerkung: „… the cogs of the strategic partnership still grate with each other and the machine is not adequately lubricated yet by the diplomatic grease of coherence, clarity, balance of interests and a sense of true partnership.”
3. Ein asiatisches Jahrhundert?Die andersartigen Perspektiven, die Indien und die USA mit der strategischen Partnerschaft verbinden und die unterschiedlichen Schlussfolgerungen beleuchtet Rajiv Bhatia in seinem Artikel „Learning to live in a new Asia“ (The Hindu, 9. Juli 2013). Als erstes benennt er die unterschiedlichen Vorstellungen über die Größe und Reichweite der asiatischen Region. In der strategischen Literatur beginne Asien nicht, wie viele in Indien meinten, am Suezkanal und reiche bis zum Japanischen Meer. Asiatische Regierungen und die globale strategische Gemeinschaft bezeichneten mit dem Terminus „Asia-Pacific“ den geographischen Raum, den die Mitglieder des East-Asia Summits (EAS) ausfüllen. Das sind die zehn ASEAN-Mitglieder (Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand, Burma [Myanmar] ,Brunei, Kambodscha, Laos, Vietnam), zusätzlich sechs „dialogue partner“ (China, Indien, Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland) und zwei „Pacific“ powers (USA und Russland). Deren Interaktionen hätten den „Asia-Pacific Roundtable“ auf der „major Track II conference“ in Kuala Lumpur zu Anfang Juni dieses Jahres bestimmt. Im Fokus stand die Einschätzung der Politik des Schwergewichts China und dessen Beziehungen mit den USA.
Die ASEAN-Staaten unternahmen den vergeblichen Versuch, in Konsultationen und durch Konsensbildung die Nachbarschaftsprobleme mit China in den Griff zu bekommen. Sie scheiterten an den sich aufbauenden fundamentalen Spannungen zwischen Japan und China, dem Konflikt zwischen Nord- und Südkorea und der robusten Einmischung der USA in diesen Konflikt. Chinas Unsicherheit über die gespannte Situation habe sich in zunehmender Aggressivität entladen.
Angesichts der vorherrschenden Diskussion des Verhältnisses zwischen den USA und China sei deutlich geworden, dass Indien als „Tier II power“ einzustufen sei. („It may hurt or pride but a realistic assessment shows that India, along with Japan, is a Tier II power, not exactly in the same upper category as China and the U.S. A frank recognition of the fact should help us to craft and pursue a dependable policy to handle Asia’s complexities.”) Was versteht Rajiv Bhatia darunter?
4. Pentarchie (Fünfmächtesystem) und/oder Europäische Union als Vorbild für Asien?Aus dem stetig fortschreitenden Siechtum des von deutschen Fürsten, Königen und Kaisern dominierten „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ entstand nach dem Wiener Kongress 1814/15 das europäische Fünfmächtesystem mit den Mitspielern Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn und Preußen. Die drei kontinentalen Flügelmächte Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn sorgten für die weitere Schwächung des europäischen Zentrums, das aus vielen Kleinstaaten bestand und sich der Gefahr ausgesetzt sah, vom noch nicht saturierten Preußen aufgesogen zu werden.
Das Fünfmächtesystem funktionierte auf folgende Weise: Gerieten beispielsweise Preußen und Österreich-Ungarn in kriegerisch ausgetragene Gebietsstreitigkeiten, sorgten Frankreich und Russland für einen Ausgleich der Kontrahenten und Großbritannien bildete das Zünglein an der Waage. War eine der beiden Zweierkoalitionen zu keinem Kompromiss bereit und reichte der Einfluss des britischen Imperiums entweder nicht aus, um die zum Krieg entschlossenen Mächte rechtzeitig zu beruhigen, oder zeigte die britische Regierung kein Interesse an der Wahrnehmung ihrer Ausgleichsfunktion, weil sie nach dem Aufstieg des Deutschen Reiches den Verlust ihrer Schiedsrichterrolle fürchtete, war ein Krieg unvermeidlich. Die meisten Akteure des Fünfmächtesystems bzw. der Pentarchie des 19. Jahrhunderts zeichneten sich weder durch eine besondere Weitsicht aus, noch beschäftigten sie sich mit dem Fünfmächtesystem als einer endlichen Struktur. Der Weg in den Ersten Weltkrieg blieb ihnen deshalb nicht erspart. Weder erkannten sie frühzeitig die Relevanz der Machtverschiebungen innerhalb des Systems noch waren sie in der Lage, adäquat darauf zu reagieren. Ohne für alle beteiligten Mächte gleichermaßen mit gültigen und anerkannten Werten ausgestattet zu sein, zeigte sich die rein machtorientierte Architektur überfordert und zerbrach schließlich in den Wirren des ersten Weltkrieges (1914 -1918).
Die Wiederauflage des Fünfmächtesystems als modifizierte Pentarchie (Großbritannien, Frankreich, Polen, Tschechoslowakei und Deutschland – im Hintergrund mit Jugoslawien als verstärkendes Element der beiden schwächeren östlichen Mitglieder) demonstrierte überdeutlich, wie wenig lernfähig sich die politischen Akteure im Umgang mit den Resultaten des Ersten Weltkrieges zeigten. Ein Sicherheitssystem zu errichten, das ein früheres Mitglied (die revolutionäre Sowjetunion) isoliert, ein zweites Mitglied (Deutschland) in seiner Macht drastisch begrenzt, zum alleinigen Schuldigen für den Ausbruch des Krieges erklärt und beide zu Parias des Systems herabstuft, kann nicht auf Dauer funktionieren und den Frieden zwischen den Völkern erhalten. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg war damit zwar nicht vorgezeichnet, aber auch nicht frühzeitig abgewendet.
Die Aufteilung Deutschlands in zwei Staaten und Europas in ein amerikanisches und sowjetisches Einflussgebiet schuf für Europa eine völlig neue, von Randmächten beherrschte Sicherheitsarchitektur, die als Ost-West-Konflikt bezeichnet wurde, aber tatsächlich eine duale Hegemonie zwischen den USA und der Sowjetunion darstellte.
Nach der verheerenden europäischen Geschichte unternimmt die Europäische Union den Versuch der Zusammenführung bisher selbständiger Zirkulationssphären, deren Glieder weiterhin sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. Der völkerrechtliche Status der EU entspricht weder einem Bundesstaat, in dem die Untergliederungen der Zentralgewalt untergeordnet sind, noch einem Staatenbund mit selbständigen Gliedstaaten. An der EU lässt sich erkennen, welche Probleme gelöst werden müssen, damit eine untereinander abgestimmte Entwicklung zum Vorteil aller gereicht. In ihr werden über Jahrhunderte hinweg unabhängig voneinander gewachsene gesellschaftliche und staatliche Strukturen der einzelnen Nationalstaaten daraufhin analysiert, ob sie in ihrer Fortentwicklung den übrigen Gliedstaaten der EU Schaden zufügen und wenn ja, entweder an die gemeinsame Entwicklung angepasst oder aussortiert werden müssen. Das Zusammenwachsen der EU verlangt nur in wenigen Bereichen eine weitreichende Vereinheitlichung und erlaubt und fördert überall dort separate Ausprägungen, wo sie für den Gesamtzusammenhang nützlich sind und dem Ziel dienen, die Vielheit in der Einheit zu bewahren, zum Nutzen aller zu mehren.
Eine ähnliche Entwicklung wie die Schaffung der Europäischen Union ist für Asien unwahrscheinlich. Für die absehbare Zukunft ist beispielsweise eine mit der EU vergleichbare Gemeinschaft zwischen China und Indien nicht vorstellbar. Dies gilt auch für die ASEAN-Staaten, die ihre nationale Souveränität in gleicher Weise wie China und Indien für unantastbar halten. Das Prinzip der Nichteinmischung entsprechend dem Westfälischen Frieden von 1648 gilt uneingeschränkt. Realistischer erscheint eine genaue Prüfung der Mechanismen des Fünfmächtesystems, um aus dem Scheitern der Pentarchie die richtigen Schlussfolgerung ziehen zu können.
Endnoteni Siehe dazu: Das ungleiche Verhältnis zwischen China und Indien, in: Reinhard Hildebrandt, Globale und regionale Machtstrukturen – Globale oder duale Hegemonie, Multipolarität oder Ko-Evolution, Frankfurt am Main 2013, S. 157-176.
1. August 2013
Reinhard Hildebrandt
China – Annäherung an eine komplexe Herrschaftsstruktur
In welchem Übergangsstadium sich China als „sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes“ gegenwärtig befindet, ist für Außenstehende kaum feststellbar. Vielleicht sind sich die Machthaber noch nicht einmal selbst darüber völlig im klaren. Ob die Informationen, die frei verfügbar sind, bereits eine realistische Lageanalyse liefern, ist ungewiss. Der nachfolgende Text stützt sich sowohl auf eigene Eindrücke wie auch auf Berichte. Auf der Grundlage einer theoretischen Analyse stellt er aber vor allem ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dem man sich einem präziseren Bild annähern kann.
1. Reiseeindrücke
Der mit geruhsamen europäischen Verhältnissen vertraute Besucher Chinas zeigt sich überrascht von der Hektik, die ihn in den mehrere Millionen Einwohner zählenden Großstädten Chinas umgibt. Ständig vom Strom der Menschenmassen umgeben zu sein, verursacht beklemmende Gefühle und so gelassen wie Chinesen Bürgersteige zu benutzen, die mit Einkaufsständen, Fahrrädern, Elektrorollern und zahlreichen Autos zugestellt sind, übersteigt schnell sein Anpassungsvermögen und Wohlbefinden. Anders als für Einheimische gleicht für ihn das Überqueren der mehrspurigen und meist völlig verstopften Straßen einem gefährlichen Hindernislauf. Zudem pochen nach rechts abbiegende Verkehrsteilnehmer trotz Zebrastreifens auf ihrem Vorrang gegenüber Fußgängern. In der Rushhour in Bussen und Untergrundbahnen mit den übrigen Fahrgästen um jeden Zentimeter Freiraum kämpfen zu müssen, treibt sehr bald Schweiß auf die Stirn. Panik ergreift ihn, wenn er in der Schlange der Wartenden vor den Bahnhofseingängen der Fernbahnen von den nachdrängenden Fahrgästen unerbittlich zu den Durchleuchtungsapparaten geschoben wird, um dort sein Handgepäck auf gefährliche Gegenstände überprüfen zu lassen.
Erstaunt beobachtet der Besucher das teilweise hemmungslose Konsumverhalten zu Reichtum gelangter Chinesen, ihre Vorliebe für Luxuskarossen und ihr Bestreben, ihre Wohnkomplexe durch hohe Zäune und Mauern und Eingangskontrollen abzuschirmen. „Die Zahl der Milliardäre in China hat sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt.“(Sandy Group,© Süddeutsche.de, 7.9.2011). Angesichts der um sich greifenden Konsumorientierung der zahlungskräftig gewordenen Mittelschicht (Thomas Lindner, „Ohne China stagniert die Welt“, Schätzung: 140 Millionen Menschen , Tagesspiegel, 8. 9. 2011) muss er sich erst wieder in Erinnerung rufen, dass Chinesen noch vor wenig mehr als fünfzig Jahren landesweite Hungersnöte zu ertragen hatten. „Weiß heute noch jemand, wie sich Hunger anfühlt?“, zitierte Bernhard Bartsch einen älteren Chinesen (Frankfurter Rundschau, 27/28. 8. 2011). Heute stünden in seiner Wohnung ein Fernseher, eine Klimaanlage und eine große Tiefkühltruhe und selbst das zähle in den Augen seiner Kinder nicht als Wohlstand. Dass selbst Geringverdiener sich glücklich über das vielfältige Warenangebot in den Einkaufspassagen zeigen, obwohl sie es sich nicht leisten können, demonstriert den gesellschaftspolitisch hohen Stellenwert des Konsums in der Erhaltung des sozialen Friedens im heutigen China.
Blickt der Besucher an den zahllosen schmucklosen Fassaden der eng beieinander stehenden Hochhäuser empor, vermag er sich nur schwer vorzustellen, dass sich Chinesen trotz ihrer sehr berechtigten Klagen über hohe Wohnungspreise darauf freuen, ihre bisherige ohne eigene Toilette und Dusche ausgestattete Wohnung in einem Hutong (Gasse) oder in einem vollkommen abgewohnten vierstöckigen Gebäude der fünfziger und sechziger Jahre gegen eine bescheidenen Komfort bietende Wohnung beispielsweise im 13. Stock einzutauschen.
„… die Preisexplosion im letzten Jahr hat es besonders der wachsenden Mittelschicht schwer gemacht, sich den Traum von einer größeren Wohnung zu verwirklichen.“(Peer Junker, Träume aus Beton, Tagesspiegel, 18.6.2010). In Shanghai stiegen die Preise für Wohnraum im letzten Jahr um 50 Prozent (Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010). Mit Protest und tief enttäuscht reagieren jedoch Mieter von Wohnungen in Häusern, die gegen den Willen der Bewohner niedergerissen werden, um Bauland für Hochhäuser zu schaffen. Ganze Stadtteile werden platt gewalzt und in Neubaugebiete verwandelt. Die entwurzelten Bewohner suchen oftmals vergeblich eine neue Bleibe oder müssen weit außerhalb ihrer bisherigen Wohnquartiere eine neue Wohnung akzeptieren, während zu Wohlstand gelangte Chinesen gleich mehrere Wohnungen aufkaufen und auf höhere Preise spekulieren.
Mit Erstaunen reagiert der Besucher, wenn Chinesen bewundernd die zahlreichen Repräsentationsbauten in Beijing betrachten. Zweifellos verkörpert sich in ihnen international außergewöhnliche Architektur, aber als beziehungslos nebeneinander stehende Solitäre erzeugen sie keine harmonische Stadtlandschaft.
Fragt sich der Besucher bei aller spontan aufkommender Kritik jedoch, wie er die Bedürfnisse eines 1,3 Milliarden Volkes angemessen erfüllen würde, welche Infrastruktur zu errichten wäre, um den heutigen und künftigen Erfordernissen gerecht zu werden, auf welche Weise er die weit verbreiteten Sorgen um Wohnung, Arbeits- und Ausbildungsplätze stillen würde, überfällt ihn schnell Ratlosigkeit. Sein an viel kleineren Dimensionen orientierter europäischer Maßstab versagt angesichts der gesellschaftspolitisch brisanten Problematik von zunehmendem Reichtum weniger Chinesen und einer verarmten und massenhaft entwurzelten Landbevölkerung, die als Wanderarbeiter (mehr als 200 Millionen) in die wirtschaftlich prosperierenden Städte des Ostens strömen, dort unter menschenunwürdigen Verhältnissen (survive or be eaten up) leben und für ihre Kinder keinen Platz an öffentlichen Schulen zugewiesen bekommen. Diese ernüchternde Einsicht trifft auch auf das aus europäischer Sicht geringe Maß politischer Freiheiten zu, die den chinesischen Bürgern von der Führung ihres Landes zugestanden werden. Zwar ist er mit dem Verhältnis zwischen Eigennutz- und Gemeinwohlorientierung, das dem Freiheitsspielraum der Individuen in Europa zugrunde liegt, einigermaßen vertraut, aber welcher Maßstab ist für die in China gültigen Proportionen der angemessene?
So zeigt sich beispielsweise der Besucher aus europäischem Blickwinkel über Maßnahmen des Pekinger Kultusministeriums irritiert, das Internet von Songs säubern zu wollen, „die der Sicherheit der Staatskultur schaden“ (Frankfurter Rundschau, 26.8.2011). Woher nimmt die chinesische Obrigkeit den Maßstab, um sicher einschätzen zu können, was der „Staatskultur“ nutzt oder schadet, was beispielsweise unter „geistiger Verschmutzung“ zu verstehen ist? (Martina Meister, Keine Orte, nur noch Worte, Tagesspiegel 14.10.2009). Wie abgehoben sich die Führung vom Volk zu fühlen scheint, wird an einem Zirkular des chinesischen Staatsrats deutlich, in dem „increased openness in government affairs to ensure officials continue to work in a lawful and efficient manner“ gefordert wird (China Daily, August 3, 2011). Im Zirkular heißt es weiter: „We should stick to a lawful, scientific and democratic policy-making and increase the scope of publicity, especially for major reform plans, policies and projects that are directly related to the people’s interests”. Das Zirkular beklagt „lack of information, non-standardized publicity procedures, poorly designed information-sharing systems, problems regarding the distinction between classified and public information.” Es fordert, dass “local government departments must make more efforts to ensure transparency in government affairs in order to protect the people’s rights to know about and supervise the government”.
Aber aus europäischer Sicht betrachtet umfasst Mitverantwortung des „Volkes“ weit mehr als nur „supervise the government“. Sie beschränkt sich nicht auf die Beobachtung der Exekutive bei der Durchführung von Maßnahmen, die fern von ihm beschlossen wurden. Mitverantwortung heißt Teilhabe an der Formulierung der „Interessen des Volkes“. Im Zirkular besteht der Staatsrat darauf, im Namen des „Volkes“ die Interessen des Volkes zu definieren. Welche Befugnisse hat der Volkskongress in dieser Frage? Wer entscheidet darüber, welche Interessen des Volkes vor- und nachrangig zu erfüllen sind? Das Zirkular gibt darauf keine Antwort.
2. Herrschaftsausübung in China
2.1. Verfassungsregelungen
Der Bundesumweltminister der Koalition von CDU und FDP, Norbert Röttgen, erwähnte beim Energie-Dialog der Shell AG am 9. Juni 2010 in Berlin, dass er aus China mit einer neuen Erkenntnis heimgekehrt sei. Da die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur Chinas den demokratischen Diskurs als vermittelndes Element für den Dialog der Regierung mit der Bevölkerung nicht zur Verfügung stellen könne, müsse anders als in den europäischen Gesellschaftsstrukturen bei Umfang und Auswahl klimaschonender Techniken sehr beachtet werden, dass vor allem solche Techniken eingesetzt werden, die kaufkraftneutral oder sogar -steigernd wirkten. Die Reduzierung des Kohlendioxydausstoßes dürfe keinesfalls zu Lasten der Massenkaufkraft gehen, wenn man nicht Unruhen riskieren wolle.
Auf der Suche nach dem fehlenden demokratischen Diskurs in China führt der Weg als erstes zur chinesischen Verfassung. Art. 2 erklärt das “Volk“ zum Eigentümer aller Macht (Art. 2. Alle Macht in der Volksrepublik China gehört dem Volk.), aber bestimmt zugleich, dass das Volk seine Verfügung über die Macht an die führende „Arbeiterklasse“ abgetreten hat (Art. 1. Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht. [Verfassung der Volksrepublik China vom 17. Januar 1975]). Das „Volk als Ganzes“ bleibt ungeachtet seiner an die „Arbeiterklasse“ übertragenen Macht Bezugspunkt des von der „Arbeiterklasse“ geführten Staates, und ebenso wie das „Volk“ wird auch die „Arbeiterklasse“ nicht näher bestimmt. Die „Arbeiterklasse“ überträgt die eigene Macht zwar an das „Bündnis von Arbeitern und Bauern“, aber die staatliche Macht bezieht sich weiterhin auf das „Volk in seiner Gesamtheit“. Daraus folgt zum einen,
Anders als in parlamentarischen Demokratien ist in China die herrschende Staatsmacht bisher nicht in der Lage, die eigene allumfassende Gewaltbefugnis freiwillig in Selbstverpflichtung
einzuschränken. Für sie scheint es nicht unabdingbar, das Feld der Diskurse für verschiedene Denkansätze und Theorien offen zu halten und ihr ständiges Mit-, Gegen-, Unter- und Durcheinander zu gewährleisten, wodurch der formlose Gegenhalt in der chinesischen Gesellschaft ebenso erzeugt wird wie durch die vielfältigen Praxis der Unternehmen, Verbände, Parteien und Gemeinschaften. Aus ihrer Sicht zählt das bedingungslose Offenhalten des öffentlichen Raumes und darin des Feldes der Diskurse für die Aktivierung und Reaktivierung fluktuierender Elemente nicht zu den unabdingbaren Aufgaben des Staates. Ein Blick in die chinesische Philosophie erklärt, dass diese Verhaltensweise auf eine Jahrtausende alte Tradition zurück blicken kann.
2.2. Philosophie und Herrschaft
Wen Haiming vertritt in seinem Buch „Chinese Philosophy – Chinese Political Philosophy, Metaphysics, Epistemology and Comparative Philosophy“, Jan. 2010, die Auffassung, dass chinesische und westliche Philosophen die selben Fragen an Gesellschaft und Politik stellen und sich auf gleiche Weise mit Erkenntnis- und Weltanschauungsproblemen beschäftigen (ebd.S.1). Die chinesische Philosophie unterscheide sich nur von der westlichen durch ihre einzigartige „Chinese philosophical sensibility“. Was darunter für die Herrschaftsausübung in China zu verstehen ist, bedarf einer näheren Ausführung.
Haiming beginnt mit Konfuzius’ Betonung der Familie als Wurzel menschlichen Daseins („family reverence is the root of human beings“(ebd.S.3). „In short, Confucius thinks that a human being can only fulfill him or herself by beginning with family reverence, the starting point of all relationships (ebd.S.25). “Confucius claims that if a leader treats his family andfriends well, others will follow his example.”(ebd.S.26/27). Die Familie ist für Konfuzius der Ursprung und der Bezugspunkt seiner auf Humanität beruhenden politischer Philosophie; später vom Philosophen Menzius als „ruling states by humanity and love“ präzisiert (ebd.S.3).
Für Menzius hat die Familie sogar einen höheren Stellenwert als der Staat, und soziale Gerechtigkeit rangiert für ihn niedriger als enge Familienbeziehungen (ebd.S.32). Für Menzius steht das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder zwar höher als das Gesetz (ebd.S.32), aber die Bereitschaft zur Loyalität gegenüber der Familie bemisst er dennoch an der Einlösung der Moral und unterwirft damit Staat und Familie dem Primat der Moral (Heiner Roetz, Mit Konfuzius für die Demokratie, Frankfurter Rundschau, 10.12.2010).
Welchen hohen Stellenwert die Familie bis in die Gegenwart einnimmt, wird im folgenden Zitat deutlich: „Im kaiserlichen China ruhten die Erziehungsaufgaben fast restlos in den Händen der Familien, für deren Zusammenleben das Vater-Sohn-Verhältnis die tragende Säule war. Die Vater-Sohn-Beziehung, die in der chinesischen Kultur mit dem Begriff ‚Pietät’ (Xi-ao) bezeichnet wird, gilt als die höchste der Tugenden des Konfuzianismus sowie als spirituelle Generationenverbindung. Sie ist für die chinesische Familie bis heute von sehr großer Bedeutung.“ (KeYu, Chinesische Spitzenschüler, Frankfurter Rundschau, 1.2.2011).
Laozi knüpft an dem Grundgedanken der beiden Vorgänger teilweise an, lenkt den Blick aber auf „Dao“: „Dao is the road on which people walk, and the words people say.“( Wen Haiming, a.a.O.S.37). „Dao is not a name, it is the way-making that humans travel, linking them to the world as soon as they begin to walk and talk.“(ebd. S.37).
Laozi vergleicht den Weg des Lebens („Dao“) mit dem unaufhörlichen Hervorquellen des Wassers aus einer Quelle und seinem quirligen Suchlauf unmittelbar danach. Die Führung des Landes soll in ihrem Denken und Handeln ebenso flexibel und quirlig sein wie das Wasser („dao is like water“): wohlwollend gegenüber den Geführten und streng gegenüber sich selbst, „wandering at ease without oneself“, wie später Zhuangzi hinzufügt (ebd. S.3). Die Führung eines großen Staates sollte sich ein Beispiel nehmen an einem Koch, der einen kleinen Fisch nur vorsichtig brät und so wenig wie möglich wendet, damit er nicht ruiniert wird (ebd.S.41). Aber informieren sollte er das Volk möglichst nicht, meint Laozi. Er bezeichnet es ebenso wie Konfuzius sogar als idealen Weg des Regierens, die Bevölkerung nicht zu informieren: „Confucius shares a similar idea that people should be asked to do what they should, but there is no need to explain their purpose” (ebd.S.42). Der beste Weg des Regierens sei, die Bevölkerung so wenig an den Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen wie möglich, aber sicher zu stellen, dass sie ein gesundes und zufriedenes Leben führen kann. Aufbauend auf diesen Grundgedanken unterliegt die chinesische politische Philosophie in den folgenden Jahrhunderten unterschiedlichen Ausprägungen.
Der Philosoph Mozi empfiehlt der Führung des Landes die Ablehnung kriegerischer
Verhaltensweisen und betont statt dessen in der Nachfolge von Menzius eine auf universeller Liebe unter den Völkern beruhende friedliebende Politik. Xunzi hingegen vertritt im Gegensatz zu Menzius die Auffassung, dass der Mensch von Natur aus nicht gut sondern böse sei. Die Führung des Landes sollte deshalb die Menschen jederzeit kontrollieren und ihnen zur Selbstkontrolle ihres Handelns die Befolgung von Ritualen auferlegen. Unschwer zu erkennen ist hier eine Parallelität des Gegensatzes zwischen Thomas Hobbes und
Jean-Jacques Rousseau. Der Philosoph Hanfei preist die Kombination dreier Führungseigenschaften: Machtbewusstsein, Recht und Staatskunst (ebd.S.4).
Die Philosophie von Zhouyi interpretiert „Dao“ als Bewegung zwischen einem „yin“ and einem „yang“ (ebd.S.14): „Yin and Yang stand relative to one another… Zhouyi puts forth a ying-yang contextualizing paradigm quite different from Western models of separate opposing parts.” (ebd.S.15). Aus der Sichtweise europäischer Philosophie ist nach dem Unterschied zwischen Qualität und Quantität von Yin und Yang zu fragen. Wenn in der gegenseitigen Umschlingung von Yin und Yang, dargestellt im Symbol zweier in einem Kreis eng aneinander geschmiegter Fische, Yin nicht nur Yang als eigenständige Qualität gegenübersteht, sondern auch als Kern in Yang enthalten ist (in Gestalt eines kleinen Punktes), ergeben sich folgende zwei Interpretationsmöglichkeiten:
Entsprechend der ersten Interpretationsmöglichkeit empfiehlt der chinesische Philosoph Zhouyi den Menschen, ihr persönliches „Dao“ mit dem die Natur leitenden in Harmonie zu bringen: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world … ‚Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ebd.S.16/17). Diese Menschen seien in der Lage, “to manipulate the world” (ebd.S.18). Ob hierin die besondere Sensibilität der chinesischen Philosophie zum Ausdruck kommt, ist ungewiss, aber überdeutlich ist der Bezug zum hohen Stellenwert gebildeter Menschen bis in die Gegenwart hinein. „Im kaiserlichen China erfolgte die Rekrutierung der hohen Beamten, der Mandarine, bereits seit Ende des 6. Jahrhunderts über ein abgestuftes Prüfungssystem, das allen Männern ohne Klassenunterschied offen stand. Gegenstand dieser Prüfungen waren ausschließlich die konfuzianischen Schriften. Mit diesen Mandarinatsprüfungen … wurde Herrschaft gesichert und zugleich legitimiert“ (KeYu, ebd.).
In der Jahrtausende zurückreichenden Folge von chinesischen Dynastien haben Herrscher durchaus immer wieder die Nähe zu Philosophen ihrer Zeit gesucht, um mit ihrer Hilfe Macht zu begründen und zu festigen, aber nur selten zeigten sie sich fähig, Kritik an ihrem despotischem Verhalten zu erdulden. Wen Haiming schreibt dazu: „There were many other cases in which intellectuals had no control, for Chinese leaders lacked political tolerance for those who opposed them.“ (ebd.S.73). Nur die Tan-Dynastie mit der Hauptstadt Xi’an wird immer wieder als Ausnahme gewürdigt. Von der in dieser Dynastie herrschenden Toleranz legen die eindrucksvollen Figuren rund um alten Kaiserpalast noch immer ein Zeugnis ab. Sie sind bis in die Gegenwart ein begehrtes Fotoobjekt vieler Chinesen, die sich gerne, angelehnt an sie, mit ihnen fotografieren lassen. Zeigen sich darin versteckte Sehnsüchte?
Entgegengesetzt zu Wen Haiming kennzeichnet Jin Canrong in seinem Buch „Big Power’s Responsibility – China’s Perspective“ (China Renmin University Press 2011) sein Heimatland als “Harmonious China” (ebd.S.2), das zum Vorbild der Diplomaten aus aller Welt geworden sei. Mit Blick auf die Außenpolitik meint er, China habe es gar nicht nötig, eine Hegemonie zu errichten. Die vielgestaltige und mit geschichtlicher Erfahrung gesättigte chinesische Kultur biete der Führung des Landes einen idealen Maßstab für die Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn und den Mitspielern auf der globalen Bühne. „As the essence of traditional culture, the concept of harmony and collaboration has directly influenced Chinas’s foreign policy of peace and friendship and shaped the image of a responsible country.” (ebd.S.24). Jin Canrong erwähnt explizit die Vision von Laozi, nach der zwischen Mensch und Natur Harmonie herrscht. Der Mensch nimmt sich die Natur als Vorbild, die Natur richtet sich am Firmament aus, das Firmament beeinflusst maßgeblich den Weg des Lebens (Dao) und jener befindet sich wiederum in idealer Übereinstimmung mit der Natur (ebd.S.24). “Harmonious China” sei der perfekte Ausdruck dieses geschlossenen Kreislaufs, der sowohl für China selbst wie für seine Außenbeziehungen Gültigkeit besitze, postuliert Jin Canrong. Ob jedoch das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten in China als vollendete Harmonie zu bezeichnen ist und der Machtanspruch, der im Terminus „demokratische Diktatur des Volkes“ zum Ausdruck kommt, ganz darin verschwindet, bedarf einer weiteren Analyse.
2.3 Das ideale Über- und Unterordnungsverhältnis
Jede Herrschaft strebt ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis an. In einem solchen Verhältnis wird Macht unsichtbar. Zwischen den Herrschenden und den Beherrschten besteht vollkommene Harmonie. Wenn jedoch ein Herrscher wie Muhammad Abu Minyar al-Gaddafi 47 Jahre lang die Führer der verschiedenen Stämme gegeneinander ausgespielt hat und am Ende seiner Herrschaft behauptet, das „Volk“ liebe ihn doch, verwechselt er nicht nur die Stammesführer mit der Gesamtheit der libyschen Bevölkerung, sondern hält irrtümlich die ihn umgebenden Lakaien für das Volk. Oder wenn der ehemalige Minister für Staatssicherheit der DDR und Chef des Staatssicherheitsdienstes, Erich Mielke, kurz vor dem Untergang der DDR der Bevölkerung zurief, „Wir lieben Euch doch alle“, begriff er nicht, dass in einem Herrschaftsverhältnis die Liebe des Volkes zum Herrscher nicht zwangsweise verordnet werden kann und seine Liebe nur dann die Gegenliebe der Umworbenen hervorruft, wenn sie sich in der Liebe des Herrschers vollkommen anerkannt und aufgehoben fühlen.
Herrschaft beruht in einem idealen Über- und Unterordnungsverhältnis darauf, dass das Maß der geforderten Unterordnung stets mit dem Maß an Dienst(-bereitschaft) deckungsgleich ist. Hegel postuliert z.B. Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, a.a.O.153f). Nicht anders behandelt Niklas Luhmann die Verhaltensweise des Machtunterworfenen: „Der Machtunterworfene wird erwartet als jemand, der sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat,..“ (Luhmann, Niklas, 1988, 2.Aufl.: Macht, Stuttgart, S.21). Sein antizipatives Handeln „bezieht sich nicht nur auf die Reaktionen des Machthabers im Falle der Nichtbefolgung seiner Wünsche, also auf die Vermeidungsstrategien, sondern auch auf die Wünsche selbst. Der Machthaber braucht gar nicht erst zu befehlen, auch seine unbefohlenen Befehle werden schon befolgt. Sogar die Initiative zum Befehl kann auf den Unterworfenen verlagert werden; er fragt nach, wenn ihm unklar ist, was befohlen werden würde.“ (Luhmann,a.a.O.,S.36).
Damit Deckungsgleichheit zwischen Fürsorge des Über- und Dankbarkeit des Untergeordneten in “Harmonious China” besteht, müssten in der Bevölkerung Unterordnungsrituale so stark verankert sein, dass sie sogar in ihr Unterbewusstsein und ihr automatisiertes Verhalten herabgesunken sind. Die Befehle des Machthabers würden dann nicht nur bewusst und freiwillig eingehalten, sondern erzeugten im Machtunterworfenen zusätzlich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. In diese Richtung zielt KeYu: „Die Koppelung der Erzeugung von Staatstreue und von ‚Pietät’ durch Erziehung und Bildung auf der Grundlage der konfuzianischen Schriften reproduziert die strukturelle Einheit von Staat und Familie immer aufs neue“ (KeYu,ebd.). Verstärkend weist er darauf hin, dass das Wort „Staat“ (Guo-Jia) in der chinesischen Sprache aus den zwei Schriftzeichen für Staat (Guo) und dem für Familie (Jia) besteht.
Der Handlungsspielraum des Übergeordneten gegenüber dem Untergeordneten sprengt dann alle Grenzen, wenn im Untergeordneten bewusstes, unterbewusstes und automatisiertes Verhalten vollkommen ineinander greifen. Ein solches ideales Über- und Unterordnungsverhältnis kommt sicherlich der Wunschvorstellung aller Übergeordneter entgegen, aber realisieren lässt es sich meistens nicht, denn das von Unterwürfigkeit und Widerspenstigkeit gleichermaßen gekennzeichnete Bewusstsein des Machtunterworfenen vereitelt seine Realisierung.
2.3.1 Zwei Ausprägungen des Bewusstseins von Machtunterworfenen
In der grundlegenden Bestimmung des Bewusstseins Untergeordneter, hat das des Untergeordneten – hegelianisch ausgedrückt – sein Gegenteil (das Bewusstsein des Übergeordneten) unabänderlich als negative Beziehung an sich selbst und zugleich existiert jenes als Selbständiges außer ihm.
In dieser umfassenden Bestimmung sind vier Bestimmungen enthalten:
Beide selbständige Formen des untergeordneten Bewusstseins stellen ein absolutes Gegensatzpaar dar. Absolute Furcht schließt Widerstand/Widerspenstigkeit gänzlich aus und absoluter Widerstand kennt keine Furcht. Beide Formen zusammen konstituieren dennoch qualitativ und quantitativ das Bewusstsein des Untergeordneten. Der Grad des untergeordneten Bewusstseins wird bestimmt von dem mehr oder weniger des einen oder anderen. Überwiegt die Furcht gegenüber der Widerspenstigkeit/Widerstand, hat man es mit einem unterwürfigen Bewusstsein des Machtunterworfenen zu tun. Verhält es sich umgekehrt, spricht man von einem widerspenstigen untergeordneten Bewusstsein. Ein untergeordnetes Bewusstsein, in dem kein Gramm Widerstand enthalten ist, droht an Selbstaufopferung zu sterben; umgekehrt kündigt ein nur aus Widerstand bestehendes Bewusstsein des Machtunterworfenen das Verhältnis zur übergeordneten Seite auf und riskiert seinen Untergang. In der Regel gibt es fast immer ein Mischungsverhältnis zwischen beiden. Ein Über- und Unterordnungsverhältnis mit einer optimalen Ausrichtung für den Übergeordneten schließt beim Untergeordneten widerspenstiges Verhalten weitgehend aus, ist für den Übergeordneten fast kostenfrei, verleitet ihn jedoch auch zu maßlosem Verhalten gegenüber dem Untergeordneten. Sieht sich der Untergeordnete in einem für ihn idealem Verhältnis durch den Übergeordneten stets überreichlich belohnt, kann ihn das Übermaß an Belohnung dazu verleiten, seine Erwartungshaltung ins Unermessliche zu steigern und das Über- und Unterordnungsverhältnis ins Gegenteil zu verkehren.
2.3.2 Einschätzung des Mischungsverhältnisses in der chinesischen Bevölkerung
2.3.2.1 Dominanz der Unterwürfigkeit
Wenn zutrifft, dass Chinesen den Zusammenhalt der Familie und die in ihr obwaltende Hierarchie, aber nicht das Individuum sehr hoch einschätzen, dazu ein schwaches Ich-Bewusstsein und große Angst vor Gesichtsverlust haben, wäre das ein Indiz für ein Bewusstsein, in dem unterwürfiges Verhalten ungleich stärker als widerspenstiges verbreitet ist. Für diese These spricht beispielsweise, „dass Schüler schlechte Schulnoten und erst recht ein Durchfallen bei Prüfungen – … – eher als Gesichtsverlust vor den Eltern als ein Verspielen der eigenen Zukunft wahrnehmen. Die Familie ist die härteste und emotionsloseste Erziehungsanstalt, in der Eltern zu rigorosen und monströsen Lehrern mutieren“ (Ke Yu, ebd.).
He Weifang, ein in die Provinz verbannter Juraprofessor, antwortete auf die Frage, wie die Mehrheit der Bürger Chinas über die gegenwärtige Situation denkt: „Ich glaube, die Mehrheit findet, dass Chinas Situation derzeit nicht schlecht ist. Letztlich zählt für die meisten Menschen ja nur das, was in ihrem eigenen Leben eine Rolle spielt. Aber zugleich nehmen sie sehr deutlich ihre eigene Schwäche wahr und wissen, dass es ihnen schwer fallen würde, ihre Rechte zu schützen, wenn sie verletzt werden.“(Bernhard Bartsch, „China will vor allem Angst einflößen“, Frankfurter Rundschau, 17./18.7.2010).
Die Gründerin der Organisation „Tiananmen-Mütter“, Ding Zilin, hofft seit vielen Jahren auf ein erstes Eingeständnis der Partei, damals Fehler begangen zu haben. Sie kämpft unverdrossen weiter, aber muss hinnehmen, dass sie zunehmend auch von ihren ehemaligen Nachbarn und Kollegen gemieden wird: „Sie wechseln die Straßenseite, wenn sie mich sehen“, sagt Frau Ding (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel 4.6.2009).
Diese Verhaltensweise drückt ebenso unterwürfiges Unterordnungsbewusstsein aus wie die im Bericht über Chinas Öffnung für Kirchen von Birgit Wetzel (Tagesspiegel 24./25.4.2011) wiedergegebene Beobachtung des Seminarleiters Pater Daniel am Nationalen Priesterseminar in Daxing: „Unsere Herausforderung ist, die Schüler zu interessieren. Sie haben nicht gelernt, allein zu denken, aber sie können es. Sie machen sich Gedanken über Freunde, die Familie, vielleicht über ein Business und über Spiele. Aber nicht über die Geschichte, Philosophie, Literatur und Kunst.“ Der Pater erwähnt Verhaltensmerkmale seiner Seminaristen. Sie würden die ganze Woche zusammen verbringen, im Klassenraum, in der Kirche, im Speisesaal. Doch sie vertrauten einander nicht. „Jeder Mensch ist hier eine Insel. Es gibt eine Tendenz, sich zu isolieren, den eigenen Freiraum zu bewahren.“
„So unzufrieden die Chinesen bisweilen mit ihrer Führung sind“, berichtet Angela Köckritz, „es gibt keine alternative Institution zur Partei. Sie hält das Volk weiter mit dem Versprechen des Aufstiegs zusammen“ (Aus dem Rahmen, Die Zeit, 11. 8. 2011). So lange viele Chinesen mit diesem Versprechen auch den eigenen Aufstieg verknüpfen, wird unterwürfiges Unterordnungsbewusstsein noch häufig anzutreffen sein (Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010).
2.3.2.2 Dominanz der Widerspenstigkeit
Das folgende Beispiel hat widerspenstiges Unterordnungsbewusstsein zum Gegenstand. Als chinesische Studenten nach dem Besuch der Pekinger Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung“ meinten, dass in China bereits die Reformer der Qing-Dynastie die chinesische Aufklärung betrieben hätten und das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Chinas ganz anders als das des Westens sei (Angela Köckritz, Nachhilfe für Peking?, Die Zeit, 28.4.2011), lag nahe, ein solches Verhalten als unterwürfiges Bewusstsein zu diagnostizieren. Aber bei näherer Betrachtungsweise hingegen zeigt sich, dass in dieser distanzierten Sicht des Westens zugleich der Aspekt des widerspenstigen Unterordnungsbewusstseins zum Vorschein kommt.
Ein herausragender Protagonist eines solchen Bewusstseins ist der Literaturhistoriker Wang Hui. Er empfindet nicht die westliche Aufklärung als wegweisend für chinesisches Denken, sondern setzt auf ein modernes chinesisches Denken (Georg Blume‚ Mit Konfuzius in die Zukunft, Die Zeit, 10.1. 2009). Wang Hui publizierte bereits 1997 sein gegen den marktliberalen Ansatz der Radikalreformer in der Kommunistischen Partei Chinas gerichtetes Pamphlet über die ideelle Verfassung im heutigen China und die Frage der Modernität, warnte darin vor der kritiklosen Übernahme westlichen Denkens und setzte dieser Politik den Begriff der „Neuaufklärung“ entgegen. Ansatzpunkt war der Plan der Radikalreformer, das Bauernland zu privatisieren und landwirtschaftliche Großbetriebe zu schaffen. Auf einem Schlag wären 800 Millionen freigesetzte Bauern gezwungen gewesen, als Wanderarbeiter in den industriellen Regionen Chinas auf Arbeitssuche zu gehen. Die egalitäre Landreform des Jahres 2002 reduzierte die Anzahl der Wanderarbeiter um 600 Millionen. 200 Millionen mussten in den nächsten Jahren dennoch in die Städte ziehen, um dem knapper werdenden Nahrungsmittelangebot auf dem Lande zu entgehen. „Wir haben gerade so viel, dass wir nicht hungern“, klagte eine Bäuerin und ihr Sohn fügte hinzu: „Mit der Landwirtschaft verdienen wir fast nichts mehr“ (Harald Mass, Klassenkampf auf Chinesisch, Frankfurter Rundschau, 6.3.2004).
Wang unterstützte die Studentenrevolte von 1987, wurde mit der Verbannung aufs Land bestraft und verlor 2007 seine Arbeit als Herausgeber des kritischen Journals Dushu. Ihn widert der repressive Umgang mit Dissidenten an, aber zugleich widerspricht er der von Europa und den USA ausgehenden Menschenrechtspolitik gegen China. Sie sei politisch motiviert und verkenne die allgemeine Verbesserung der Menschenrechtslage in China während der vergangenen 30 Jahren und zeichne sich durch Überheblichkeit und fehlende Kenntnis aus.
In seinem 2004 publizierten Buch „Die Entstehung des modernen chinesischen Denkens“ versucht Wang, die konfuzianische Philosophie zu neuem Leben zu erwecken und den Fokus auf bislang vergessene Systemkritiker und frühe Demokraten vergangener Dynastien zu lenken. China sei „viel reichhaltiger, flexibler und multikulturell verträglicher, als bisher aufgezeigt wurde“, meint Wang. Er wendet sich dezidiert gegen die kritiklose Verehrung des rückwärtsgewandten und feudalen Strukturen verhafteten Lamaismus in westlichen Medien. Nicht Rückkehr zur Religion, sondern Säkularisierung bringe Tibet voran.
Auf ein weiteres Beispiel weist Angela Köckritz in ihrem Artikel „Sammeln was sonst untergeht“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 22. 9. 2011 hin. Der Millionär Fan Jianchuan will der Kommunistischen Partei Chinas nicht die Alleinbestimmung des kollektiven Gedächtnisses Chinas überlassen, indem er ein privates Geschichtsmuseum errichtet. Wer einmal die unteren Etagen des Nationalen Kunstmuseums in Peking durchwandert hat und dort den zahlreichen Gemälden mit Parteigrößen und heroischen Szenen aus der Zeit der Machtergreifung der Kommunistischen Partei sowie der Kulturrevolution unter Mao begegnet ist, erlebt ein anschauliches Beispiel für die Okkupierung des kollektiven Gedächtnisses durch die Partei. Zu Fan Jianchuans Widerspenstigkeit gehört es, neben die Reliquien der Kulturrevolution die Fotos der Gedemütigten und Verlachten – „die Fratze der Gewalt“ – zu stellen. „Oft bewegt sich Fan an der Grenze des Erlaubten“, schreibt Köckritz, „ohne sie überschreiten zu wollen. Manchmal tut er es doch, dann wird ein Teil seines Museums ‚harmonisiert’, also zensiert.“
Angela Köckritz berichtet noch über ein weiteres Beispiel widerspenstigen Bewusstseins. Kurz nach dem Auffahrunfall zweier Hochgeschwindigkeitszüge im Juli 2011 gab die chinesischen Regierung folgende Anweisung an Journalisten heraus: „Kein Journalist soll unabhängige Interviews führen. Schreiben Sie keine Reportagen, die mit der Entwicklung von Hochgeschwindigkeitszügen zu tun haben. Untersuchen Sie nicht die Gründe für den Unfall, verwenden Sie standardmäßig die Informationen der Behörden. Reflektieren oder kommentieren Sie nicht. Fragen Sie nicht, führen Sie nichts weiter aus, assoziieren Sie nichts!“ (Angela Köckritz, Aus dem Rahmen, Die Zeit 11.8. 2011). Die wenigsten Journalisten hielten sich an die Anweisungen. Viele Zeitungen ließen eine Stelle auf der Zeitungsseite frei. Die chinesische Wirtschaftszeitung schrieb unter das weiße Loch: „Lügen lassen deine Nase wachsen“. Die Pekinger Nachrichten berichteten scheinbar ganz unverfänglich von einer wertvollen Schale, die in sechs Stücke zerbrochen war. Genau so viel Zugteile waren beim Unglück entgleist.
Als Schlussfolgerung aus den Beispielen ergibt sich, dass in China keinesfalls ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis existiert, wie es Jin Canrong mit seiner Behauptung „Harmonious China“ postuliert hat und dass wohl eher von einem unausgeglichenen, nicht mehr ganz kostenfreien Über- und Unterordnungsverhältnis auszugehen ist.
2.4 Das unausgeglichene Über- und Unterordnungsverhältnis
In einem nicht austarierten Über- und Unterordnungsverhältnis akkumuliert die Unterordnung zwar Unmut auf der Seite des Machtunterworfenen und Anmaßung auf der Seite des Machtinhabers, aber wegen der fehlenden immanenten Infragestellung bleibt es solange lediglich durch potentielle Unterdrückung gekennzeichnet, wie keine dem Unterordnungsverhältnis äußerliche diskursive Formation den „positiven differentiellen Charakter“ der Formation untergräbt bzw. in Frage stellt. Andererseits verpufft jeder Versuch, die Unterordnung als „ungerecht“ darzustellen und dieser Darstellung zu allgemeiner Anerkennung zu verhelfen, wenn nicht bereits auf der Seite des Untergeordneten ein Mindestmaß an Unzufriedenheit herrscht.
Welche Merkmale deuten auf ein nicht austarierten Über- und Unterordnungsverhältnis in China hin?
In der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008, die auch die chinesische Exportindustrie entlang der Ostküste hart traf und schätzungsweise rund 20 Millionen Wanderarbeitern ihren Arbeitsplatz kostete, reagierten die Beschäftigten auf das Ausbleiben ihrer Löhne mit Protesten. Wanderarbeiter, Taxifahrer, Bauern, Lehrer oder Polizisten machten in Demonstrationen auf ihre prekäre Lage aufmerksam. Zeigte sich doch in der Krise, wie wenig abgesichert sie waren. „Es scheitert nicht an den Gesetzen, sondern an der Umsetzung“, sagte Han Dongfang von der Arbeiterrechtsorganisation China Labour Bulletin in Hongkong. „Außerdem gibt es keine Gewerkschaften oder Betriebsräte, die tatsächlich die Interessen der Arbeiter vertreten.“ Auf die Proteste von Taxifahrern antwortete ein örtlicher Parteivorsitzender mit dem Versprechen, mehr Subventionen zu gewähren. Ein Politbüromitglied forderte lokale Regierungen auf, soziale Probleme müssten „im Keim erstickt“ werden (Bernhard Bartsch, Chinas Massen proben den Aufstand, Frankfurter Rundschau 6./. 12. 2008).
Als 3000 Arbeiter mit einen Produktionsstopp auf die Privatisierung ihres Betriebes reagierten und der designierte neue Chef auf dem Betriebsgelände die baldige Entlassung von 30 000 verkündete, wurde er von den erzürnten Arbeitern zu Tode geprügelt (Bernhard Bartsch, Chinas neuer Klassenkampf, Frankfurter Rundschau, 26.7.2009). Erst nach diesem als „Massenvorfall“ bezeichneten Ereignissen stoppte die Provinzregierung die Privatisierung.
„Die Phase des schnellen Wirtschaftswachstums ist vorbei. Zum ersten Male droht der Regierung der Vertrauensverlust des breiten Volkes“, warnte der Pekinger KP-Vordenker Shang Dewen (Georg Blume/Angela Köckritz, Herr Lu, Herr Li und die Krise, Die Zeit, 5.2.2009). Betroffen von der Krise seien nicht nur die Wanderarbeiter, sondern auch der um seine Arbeitsplätze fürchtende Mittelstand und 1,5 Millionen Hochschulabsolventen, die bisher keine Anstellung gefunden hätten. Schließlich ist in China die Lohnquote in den letzten elf Jahren von 53 auf 39,7 Prozent gesunken, was nicht ohne Folgen für die Massenkaufkraft geblieben ist (Karl Grobe, Wachsendes Klassenbewusstsein, Frankfurter Rundschau, 26.7.2010).
Die Zentralregierung legte ein Konjunkturprogramm von 460 Milliarden Euro zum Ausbau der Infrastruktur auf, in dem insbesondere die Verbindungswege zwischen den Ostprovinzen und den noch weniger erschlossenen zentralen Regionen verbessert werden sollten. Diese Maßnahmen standen in enger Verbindung mit dem langfristigen Entwicklungsplan Chinas,
Der Konsumsteigerung diente auch eine Reform der staatlichen Krankenkasse. Horrende Krankenhauskosten für Operationen trieben selbst Großfamilien in finanzielle Engpässe. Nur 18 Prozent der chinesischen Bevölkerung waren 2009 Mitglieder der Krankenkasse, und private Versicherungen sind den meisten Chinesen zu teuer (Peter A. Fischer, Mehr Staatsgeld für Krankenhäuser sollen Chinesen entlasten, Frankfurter Rundschau, 10./11. 1. 2009). „Nur ein stabiles Sozialsystem kann schrittweise dazu beitragen, argumentierte der Wissenschaftler Bi, „dass die Menschen die Sicherheit verspüren, keine hohen Rücklagen bilden zu müssen. Das ist der beste Weg, den Konsum anzukurbeln.“(Frank Sieren, Was Herr Bi fordert, Die Zeit, 5.3.2009). Bi forderte außerdem den Ersatz des Flickenteppichs aus nicht transferierbaren städtischen, kommunalen und provinziellen Sicherungen durch ein nationales Netz.
Aufkommendem Unmut zu begegnen diente auch der von der Zentralregierung am 13. 4. 2009 erlassene Aktionsplan zum besseren Schutz bereits in der Verfassung garantierten Rechte des Individuums. „The two-year plan“, schrieb Keith Bradsher in der „Global Edition of the New York Times“ vom 14. 4. 2009, „promises the right to a fair trail, the right to participate in government decisions and the right to learn about and question government policies. It calls for measures to discourage torture, such as requiring interrogation rooms to be designed to physically separate interrogations from the accused, and for measures to protect detainees from other abuse, from inadequate sanitation to the denial of medical care.”
Die hohe Inflationsrate von 6,4 Prozent im Juli 2011 gegenüber Juli 2010 ist nachweislich ein Grund für steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung Chinas, zumal die Lebensmittelpreise im gleichen Zeitraum sogar um 14,4 Prozent gestiegen sind (Peer Junker, Chinas Führung bekommt die Inflation nicht in den Griff. Provinzen und Kommunen sind verschuldet, Tagesspiegel, 12. 7. 2011). Die Preissteigerung fühlt der Verbraucher unmittelbar in seinem Geldbeutel und wenn sie sogar den Zuwachs des Familieneinkommens übersteigt, erzeugt diese Entwicklung Unmut. Dass dies so ist, zeigt sich darin, dass die Regierung Chinas die Inflationsbekämpfung bereits zu ihrer obersten Aufgabe erklärt hat (Reuters, zit. in Frankfurter Rundschau,13.9.2011).
Die zusätzlichen Arbeitsplätze in Wachstumsindustrien stellen nur die dort zu Beschäftigenden zufrieden. Aber je stärker die Produktivität pro eingesetzter Arbeitskraft steigt, desto mehr Arbeitsplätze werden abgebaut. Verliert die Weltkonjunktur außerdem an Tempo und die Nachfrage nach chinesischen Exportgütern fällt, steigt der Unmut der entlassenen Arbeitskräfte. Zurückgekehrt in ihre ländlichen Herkunftsgebiete müssen sie vom weiterhin knappen Nahrungsmittelangebot leben, das schon für die ländliche Bevölkerung nicht ausreicht. Die überschüssigen Arbeitskräfte zusätzlich im landesweit bereits überbesetzten Dienstleistungsbereich zu beschäftigen, verringert die dort jetzt schon niedrige Arbeitsproduktivität und kann Lohneinbußen nach sich ziehen. Der Überschuss an Arbeitskräften wird bislang massiv durch den Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Autobahnen, Schienenwege, Produktion von Energie, Stromtrassen, Ausbau des Trinkwassernetzes und Beseitigung von Abwasser usw.) bekämpft, jedoch mit dem Negativeffekt, dass sich die Kommunal- und Regionalregierungen hoch verschulden und bei anderen Ausgaben sparen müssen und die Inflationsrate drastisch steigt.
Nun ist die Existenz von Unterordnungsverhältnissen in einer Gesellschaft nicht gleichzusetzen mit der Anwesenheit von struktureller Gewalt. Wenn Unterordnungsverhältnisse jedoch zu Orten von Antagonismen transformiert werden, ist entweder für die unterordnende Seite die Möglichkeit gegeben, mit einer das bestehende Unterordnungsverhältnis rechtfertigenden Argumentation zu antworten (und gleichzeitig den Grund der Unzufriedenheit unter den Untergeordneten abzumildern bzw. ganz zu beseitigen) oder strukturelle Gewalt zuzulassen. Letzteres kennzeichnet ein Herrschafts-Beherrschungsverhältnis.
3. Strukturelle Gewalt als Merkmal eines Herrschafts-Beherrschungsverhältnisses
3.1. Definitionen und Formen struktureller Gewalt
Wenn Untergeordnete als Gegner behandelt werden, d.h.
„Von struktureller Gewalt (sprechen wir immer dann), wenn Gesellschaftsordnungen derart organisiert sind, dass in ihnen soziale Ungerechtigkeit, ungleiche Lebenschancen und krasse Unterschiede in Machtpositionen und den damit verbundenen Einflusschancen zum gesellschaftlichen Ordnungs- und Existenzprinzip werden.“ (D. Senghaas, Gewalt-Konflikt-Frieden, Hamburg 1974, S.117).
3.2 Strukturelle Gewalt als Folge der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur
Der nach dem Ende der Kulturrevolution (1976) eingeleitete wirtschaftliche Transformationsprozess von einer staatssozialistischen Gesellschaftsordnung zu einer kapitalistischen Wirtschaft unter dem Kuratel einer Staatspartei hatte eine zunehmende Ungleichverteilung der Einkommen und eine soziale Destabilisierung zur Folge. Inzwischen werden die Preise fast ausnahmslos am Markt gebildet. Entstanden sind Formen struktureller Gewalt, die für eine kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur typisch sind:
Beispiele beider Formen struktureller Gewalt sind bereits im Kapitel 2.4 genannt worden: Ausbleiben von Löhnen und Entlassung von 20 Millionen Wanderarbeitern in der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008, keine gewerkschaftliche Interessenvertretung, überlange Arbeitszeiten bei kaum vorhandenen Arbeitsschutzmaßnahmen, drastische Senkung der Lohnquote, unzulängliche Versicherung gegen krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, unzulängliche Altersversorgung und Umweltverschmutzung.
Wenn Herrschende zum Mittel der Unterdrückung greifen und unter den Betroffenen ein nicht mehr kalkulierbares Ausmaß an Widerstand hervorgerufen, wird früher oder später der Punkt erreicht, an dem der formlose Gegenhalt zerbricht und nicht wieder repariert werden kann, den die herrschenden Formationen untereinander aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehens- und Vergehenszeiten sowie ihrer verschiedenartigen Lebenserwartungen herstellen. Eine solche Entwicklung ist auch für China nicht undenklich.
Da die versammelten und auf unterschiedlichen Feldern agierenden herrschenden Formationen aus sich heraus nicht in der Lage sind, eine solche Entwicklung zu vermeiden oder in andere Bahnen zu lenken, muss der Staat zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts eingreifen. Nach welchen Gerechtigkeitsvorstellungen der Staat seinen Eingriff vornimmt, spielt eine geringere Rolle. Entscheidend für sein Eingreifen ist die Erhaltung des formlosen Gegenhalts. Die Frage, ob er Gerechtigkeit herstellen kann oder sollte, bleibt einem besonderen Diskurs vorbehalten und hat mit der Erhaltung des formlosen Gegenhalts ursächlich nichts zu tun.
3.3 Bekämpfung struktureller Gewalt und Erhaltung des formlosen Gegenhalts durch den Staat
Zur umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zum Zwecke der Erhaltung des formlosen Gegenhalts zählen
Herrschende Formationen unterliegen stets der Versuchung, sich in der Erweiterung und Stabilisierung des Terrains, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat, zur Abwehr von korrigierenden Eingriffen des Staates mit anderen in sogenannten Äquivalenzketten zusammen zu schließen. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit erwecken sie wider besseren Wissens den Eindruck, dass der formlose Gegenhalt nicht auf ihren zeitlich versetzten endlichen Strukturen basiert, sondern behaupten, dass ihm eine sich selbst steuernde unendliche Struktur (Markt) eigentümlich sei, die des korrigierenden staatlichen Eingriffs zur Erhaltung des Gemeinwohls nicht bedürfe. Zu Opfern ihrer eigenen Propaganda geworden, wird ihnen die zunehmende Fragilität des formlosen Gegenhalt nicht bewusst, denn je erfolgreicher sie sich gegenüber neu gebildeten und aufstrebenden herrschenden Formationen abzuschotten vermögen, desto weniger von ihnen erzeugen schließlich den formlosen Gegenhalt. Oligopol- und Monopolbildungen können den Zerfallsprozess nur hinauszögern. Indem sie also dem Staat die Unterstützung noch junger aufsteigender Formationen verwehren, führen sie dank ihrer eigenen Abschottungsstrategie einen fortgesetzt fragileren Zustand des formlosen Gegenhalts herbei und treiben letztlich gegen die eigene erklärte Absicht den Zerfallsprozess sogar voran.
Den Maßstab zur Auslotung des ihnen verfügbaren Spielraums zur Unterdrückung der Beherrschten entnehmen sie nicht primär dem auf die Gesamtgesellschaft abzielenden Gemeinwohl, sondern vorrangig der Analyse des Vergleichs ihrer eigenen Situation mit derjenigen konkurrierender hegemonialer Formationen. Aus dieser wechselseitigen Beobachtung und Anpassung ihrer Konkurrenzsituation ergeben sich jedoch Folgen für die Ausgestaltung des Gemeinwohls. Empfinden beispielsweise Beherrschte die ihnen abgeforderte Unterordnung nicht mehr als notwendig, sondern als ungerechtfertigten Zwang und rebellieren dagegen, kann es zu Abwanderungen, Unruhen, Streiks, Aufständen kommen, in deren Verlauf nicht nur das Binnenverhältnis der unmittelbar betroffenen Formation berührt ist, sondern auch dasjenige der Übrigen.
Diese Beeinträchtigung des Gemeinwohls ist der Grund, warum der Staat sich zum Eingreifen genötigt sieht, um die Binnenverhältnisse einer Analyse zu unterziehen und gegebenenfalls in ihre Ausgestaltung einzugreifen. Das weit gefächerte Spektrum seines Handelns erstreckt sich von theoriegeleiteten Empfehlungen mit Unverbindlichkeitscharakter bis hin zu einschneidenden rechtlichen Maßnahmen wie beispielsweise Vorschriften zum Arbeitsschutz und der Gesunderhaltung, Anordnungen zur Einführung von Mindestlöhnen.
Die Schlichtertätigkeit des Staates erstreckt sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens und setzt auf freiwillige Übernahme der Schlichtungsergebnisse durch die Konfliktparteien. Wird der Staat aus seiner umfassenden Tätigkeit als Schlichter in gesellschaftlichen Konflikten von herrschenden Formationen hinausgedrängt und nicht als vertrauenswürdig angesehen, tritt oftmals rohe Gewalt an die Stelle der Schlichtung.
Öffentlichkeit im gesellschaftlichen Ensemble relativ stabiler sozialer Formen herzustellen und den öffentlichen Raum zu schützen ist eine weitere unverzichtbare Aufgabe des Staates, in die er im übrigen auch seine eigene Öffentlichkeitsarbeit einbeziehen muss. Dieser Anforderung vorgelagert ist der Schutz der Privatsphäre. Privatsphäre und Sphäre der Öffentlichkeit bedingen einander. Das Individuum lebt in beiden Sphären und benötigt beide zu seiner Entfaltung. Unterliegt die Privatsphäre einer ständigen Einengung und stößt der öffentliche Raum bis an die Grenzen des intimen Bereichs vor, fühlt sich das Individuum in seiner schützenden Aura verletzt und greift unwillkürlich zu Strategien, mit denen es den ihn bedrängenden Zugriff der Öffentlichkeit zurück zu drängen versucht. Die mannigfach in sich gegliederte Öffentlichkeit, die durch die Selbstdarstellung der Individuen entsteht, bedarf des staatlichen Schutzes vor der Zerstörung, die ihr durch die Praxen herrschender Formationen droht.
3.4 Behinderung staatlicher Erhaltung des formlosen Gegenhalts
Gehen – unter Verkennung des besonderen Verhältnisses des Staates zum formlosen Gegenhalt – hochrangige herrschende Formationen und Staat eine enge Bindung miteinander ein, wird entweder der Staat zu deren Anhängsel und treibt an vorderster Stelle deren Praxen voran, oder ein starker Staat bedient sich der Vor- und Mitarbeit der herrschenden Formationen, um seine eigenen Ziele und Aktivitäten voran zu bringen. Im ersten Fall verliert der Staat seine Fähigkeit, zum Zweck der Erhaltung des formlosen Gegenhalts einzugreifen, und im zweiten maßt er sich eine umfassende Steuerungskapazität an, die er aufgrund der auch ihm fehlenden Information über die künftigen Erfordernisse nicht hat. Kaderparteien mit ihrem streng hierarchischen Aufbau bilden die denkbar schlechteste Voraussetzung für die Entfaltung einer in komplexen Gesellschaften immer notwendiger werdenden Irrtumskultur (Wolf Singer). Die in Kaderparteien übliche Zentralisierung der Entscheidungsbefugnis behindert nicht nur die Durchreichung von Informationen von der Basis an die Spitze, sondern die Komplexität der zu entscheidenden Probleme überfordert auch die wenigen Entscheider an der Spitze so sehr, dass immer schlechtere Resultate erzielt werden. In der Verfassungswirklichkeit Chinas rangiert die hierarchisch strukturierte Kommunistische Partei Chinas über der Verfassung und über dem Volk. Aufgrund ihrer Machtposition und ihres Führungsanspruchs im Staat sichert sie zwar ihre umfangreichen Eingriffsrechte, aber ob sie über die Erhaltung ihrer eigenen Macht hinaus mit ihren Entscheidungen der Entfaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur auf optimale Weise dient, kann bezweifelt werden.
3.4.1 Die dauerhafte Unterbrechung des demokratischen Diskurses durch den Staat
Staatliche Gewaltausübung ergibt sich aus der Einschränkung des Artikels 35 der Verfassung Chinas (das Recht auf Meinungsfreiheit) durch den Artikel 51. Das Recht des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, heißt es da, darf nicht die Interessen des Staates, der Gesellschaft, des Kollektivs oder die gesetzlichen Freiheiten und Rechte anderer Bürger verletzen (Wu Hongbo, Botschafter Chinas in Deutschland in einem Interview mit Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 13.10.2009). Die in China existierende Gesellschafts- und Staatsstruktur überträgt dem Führungskader der Kommunistischen Partei die Macht über die Definition des Staatsinteresses. Welchen Umfang die freie Meinungsäußerung haben soll, bestimmt sie. Chinesische Behörden schrecken z.B. nicht davor zurück, in Einzelfällen Chinesen vor ihrem Auslandsbesuch zu verdeutlichen, was sie im Ausland sagen sollen und was nicht. Die Verfassung gilt zwar für jeden, wie der Botschafter Chinas betont, und vor dem Gesetz sind alle gleich, aber die Partei steht, was die Definitionsmacht anbelangt, zugleich über dem Gesetz. Han Dongfang, Gründer der ersten unabhängigen Gewerkschaft, ohne Gerichtsverfahren in Haft genommen und später des Landes verwiesen, kommentiert: „Gewalt ist in China schließlich immer das Gesetz gewesen.“ (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel, 4.6.2009)[2].
Ein gravierendes Merkmal gesetzlich verankerter staatlicher Gewalt ist die in China noch verhängte Todesstrafe. Derzeit werden in fünf Staaten mehr als 90 Prozent der Todesurteile gefällt: China, Iran, Saudi-Arabien, die USA und Pakistan (Pierre Simonitsch, Die Oppositions-Killer, Frankfurter Rundschau, 27./28.2.2010). Die Würde des Menschen setzt das Recht auf Leben voraus. Die Todesstrafe verletzt eben diese Würde. Fehlurteile der Justiz können außerdem nicht vollkommen ausgeschaltet werden. Die Todesstrafe nimmt dem
Mörder jede Wiedergutmachungsmöglichkeit für das von ihm begangene Verbrechen[3]. Ebenfalls im Bereich des Rechts angesiedelt sind folgende Formen staatlicher Gewaltausübung in China
3.4.2 Handlungsweisen zur Konservierung von Unterordnung
Der Besucher Beijings und anderer Großstädte Chinas stellt mit großem Erstaunen fest, wie sauber die Straßen und Plätze gehalten werden. Räumfahrzeuge fegen den Unrat von den Straßen, auf den Bürgersteigen sind ständig Putzkolonnen unterwegs, die achtlos weggeworfene Gegenstände aufsammeln. Des Nachts werden die weiß angestrichenen Straßenbarrieren zur Lenkung des Verkehrs von Anstreicherkolonnen frisch gestrichen.
In der stickigen Luft der Straßenschluchten fällt dem Besucher jedoch das Atmen schwer und die von einem Dunstschleier verdeckte Sonne sagt ihm, wie stark die Umwelt belastet sein muss. Nach starkem Regen ergießt sich eine tiefbraune Flut verdreckten Wassers in die Kanalisation und von dort nicht selten in die von Bewässerungssystemen ausgelaugten Flüsse und Seen. Der Besucher beherzigt die Warnungen, Wasser aus dem Hahn vor dem Trinken unbedingt abzukochen und wäscht das auf den Märkten angebotene Gemüse und Obst vor dem Verzehr. Mit wie viel Schadstoffen die Lebensmittel belastet sind, die mit hohen Kunstdüngergaben hochgezogen worden sind, erfährt er meistens nicht. Chinesen leiden unter der zunehmenden Umweltzerstörung noch mehr als Besucher. Mehr als 10 Millionen Menschen reichen jährlich Beschwerden ein[4].
In China existiert seit altershehr ein Petitionsrecht. Es „soll einerseits den Bürgern ermöglichen, sich mit ihren Sorgen direkt an die Zentralregierung zu wenden, und dieser andererseits Einblicke gewähren, die der Beamtenapparat nur selten nach Peking vordringen lässt.“ (Bernhard Bartsch, Wen hört Untertanen zu, Frankfurter Rundschau, 27.1.2011). „Häufige Klagegründe sind Korruption, Landenteignungen und nicht bezahlte Löhne. Der Umgang mit den Beschwerden ist für die Zentralregierung aber ziemlich heikel, denn jede Intervention zugunsten der Bürger bedeutet eine Konfrontation mit lokalen Behörden und Machtnetzwerken. Außerdem verfügen die Beschwerdesteller meist nicht über das nötige Geld und Wissen, um ihre Klagen in eine juristisch korrekte Form zubringen. Die Erfolgsaussichten für die Petitionäre sind daher gering. 2006 kam das oberste Gericht in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass zwar 80 Prozent der Beschwerden gerechtfertigt sind, aber nur zwei Prozent der Kläger tatsächlich Recht bekommen. Doch selbst dann übernehmen die Pekinger Justizbehörden nicht etwa selbst die Untersuchungen, sondern stellen dem Petitionär nur ein Formular aus, das von den lokalen Behörden eine Neuverhandlung des Falles verlangt. – Damit geht der oft genau an die Beamten zurück, gegen die sich die Beschwerde richtet. Die, von denen das Unrecht ausging, sollen es also beseitigen.“ (ebd.). Ein solches Beschwerdesystem erfüllt perfekt das Ziel einer Zentralregierung, Einblick in die gesellschaftliche Realität zu erhalten, obwohl sie einen freien Diskurs nicht zulässt und deshalb stets mit dem Problem zu kämpfen hat, genügend verlässliche und breit gestreute Informationen über die Beherrschten zu erlangen. Eine solche Führung kann nicht gutheißen, dass Provinzregierungen Polizisten nach Peking schicken, um Beschwerdeführer vor den Beschwerdestellen abzufangen und sie in sogenannte „schwarze Gefängnisse“ einzusperren. Wenn Chinas Premierminister Wen Jiabao also den Sorgen von Menschen zuhörte und versprach, „wir müssen die Macht in unseren Händen nutzen, um den Interessen des Volkes zu dienen und den Bürgern zu helfen, Schwierigkeiten verantwortungsvoll zu meistern“ (ebd.), ist sein Besuch in einer Beschwerdestelle nicht als besondere Zugewandtheit zum Volk zu bewerten, sondern stellt eine pure Notwendigkeit für die Zentralregierung dar, ohne Dazwischenschaltung lokaler oder regionaler Staatsorgane auf direktem Wege beweisbare Unterlagen über die Zustände im Lande zu erhalten.
Wie dringlich die Verbreiterung der Informationsbasis ist, zeigt die Antwort eines Leiters der führenden chinesischen Ausbildungsstätten für Regierungsbeamte, Professor Shi Yinhong, auf die Frage, was heutzutage Chinas Bedürfnisse seien: „Bisher liegen unsere großen Herausforderungen noch eindeutig im Inland: Wir haben gewaltige soziale Spannungen, riesige Umweltprobleme und eine sehr unausgewogene Entwicklung. Erst wenn wir das lösen können, werden wir das Land werden, das für den Rest der Welt wirklich attraktiv ist.“ (Interview: Bernhard Bartsch, Frankfurter Rundschau, 5.3.2010).
Je stärker Wirtschaftseinheiten werden, desto ausgeprägter sind ihre Eigeninteressen, die sie dem kleinen Kreis der führenden Kader in der Kommunistischen Partei Chinas als unbedingt zu erfüllende Gemeinwohlbelange andienen. Mangels eigener sicherer Prognosefähigkeiten der Partei werden die führenden Kader geneigt sein, die ihnen vorgetragenen Gemeinwohlbelange als gesetzlich zu verordnendes Gemeinwohl der Gesamtgesellschaft überzustülpen.
4. Schlussbetrachtung
Der chinesische Philosoph Zhouyi empfahl den Menschen, ihr persönliches „Dao“ mit dem die Natur leitenden Dao in Harmonie zu bringen: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world …, Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ebd.S.16/17). Für Agrargesellschaften vergangener Jahrhunderte, die in ihrer Struktur noch überschaubar waren, mag dieser Ratschlag des Philosophen Zhouyi noch brauchbar gewesen sein. Heutige Gesellschaften zeichnen sich durch einen so hohen Komplexitätsgrad aus, dass der von der Führung des Landes eingeschlagene Weg keinen Anspruch erheben kann, mit dem vorherrschenden Rhythmus der Welt in Einklang zu sein. Versuch und Irrtum begleiten den Weg (Dao) und die pure Machterhaltung der führenden Partei ist kein guter Ratgeber in der Bestimmung des Weges.
Ist der eingeschlagene Weg noch richtig, fragt Angela Köckritz in ihrem Artikel „War’s das, China? (Die Zeit, 6.10.2011). „30 Jahre lang folgte China einem Pfad, der große Erfolge versprach: Es setzte auf Exporte, einen Handelsüberschuss, um das gewonnene Kapital im Inneren zu investieren. Das funktionierte fantastisch, denn China war ein armes Land, es brauchte Straßen, Flughäfen, Krankenhäuser.“(ebd.). Nachdem China jedoch kein armes Land mehr sei, werde die Frage immer wichtiger, welche Investitionen wirklich sinnvoll seien, um den Herausforderungen der Zukunft zu bestehen? Nur wenn es gelänge, meint sie, die Binnennachfrage entscheidend zu erhöhen, werde die chinesische Wirtschaft weiter wachsen. Aber dazu bedürfte es einer drastischen Umverteilung des Reichtums von den wohlhabend Gewordenen zur Masse der arm gebliebenen Bevölkerung Chinas. Während sich nur 30 Prozent der zahlungskräftig gewordenen Chinesen den Kauf einer Wohnung leisten können, investieren die wirklich Wohlhabenden ihr Kapital zunehmend in Immobilien. Sie spekulieren darauf, dass es künftig noch genügend Wohnungssuchende geben wird, denen sie die zum Teil sogar lange Zeit leer stehenden Wohnungen verkaufen oder vermieten können.
Eine zu geringe Erhöhung der Binnennachfrage könnte jedoch zum Platzen der Immobilienblase führen und eine Abwärtsbewegung in der Wirtschaft einleiten, wird von vielen Experten prophezeit. Kämen nachlassende Exporte hinzu, weil in den bisherigen Abnehmerländern chinesische Waren auf eine geringere Kaufkraft stoßen, müssten Arbeitskräfte in einer so großen Zahl entlassen werden, dass viele von ihnen weder in der aufstrebenden Industrie der zentralen Provinzen noch in der Landwirtschaft ein ausreichendes Auskommen finden würden. Schon jetzt nimmt die landwirtschaftlich nutzbare Fläche stetig ab, die Versandung weiter Landstriche ist nicht endgültig gestoppt worden und die Zersiedelung des Landes um die großen Städte herum nimmt zu. China macht sich mit dem weiteren Aufkauf von Land in Südamerika und Afrika als Ersatz für die eigene zurückgehende Landwirtschaftsproduktion keine Freunde.
Solche und ähnliche Szenarien sind in der Tat nicht ganz von der Hand zu weisen. Die dringende Bitte der chinesischen Führung an die Europäer und US-Amerikaner, endlich ihre finanzielle Schieflage in den Griff zu bekommen, damit ihre Absatzmärkte für chinesische Exporte nicht dauerhaft ausfallen, zeigt die um sich greifende Besorgnis Chinas. Denn auf absehbare Zeit wird die Exportabhängigkeit Chinas noch bestehen bleiben. Der von der Führung angestrebte langfristige Entwicklungsplan Chinas benötigt viel Zeit zu seiner Umsetzung, und ob eines Tages die Binnennachfrage die Exportabhängigkeit völlig überflüssig machen wird, ist sehr ungewiss.
Bisher verknüpften viele Chinesen ihren persönlichen Aufstieg mit dem des gesamten Landes. Sollte China zwar weiterhin auf dem ansteigenden Wachstumspfad vorwärts schreiten, aber immer mehr Einzelne unversöhnt mit den eigenen Zukunftshoffnungen zurück lassen, werden selbst die größten Harmonieversprechungen nicht ausreichen, steigende Unzufriedenheit zu besänftigen. Stehen für solche schwierigen Zeiten keine politischen Foren zur Verfügung, in denen Chinesen miteinander um den besten Weg streiten können, wird der Ruf nach Unterdrückung der Unzufriedenen und nach Zulassung von mehr struktureller Gewalt gegen sie erschallen und damit die Gefahr des Niedergangs näher rücken.
„Die Kultur der Opposition braucht Zeit, um sich zu entfalten. Und Zeit ist bekanntlich knapp“, schreibt Jochen Hörisch in der Frankfurter Rundschau vom 10.10.2011. „Oppositionen stärken in aller Regel das System, in dem sie agieren, auch wenn sie sich gegen dessen Ausprägung richten … Opposition macht Systeme lernfähig und komplexer; Kritik stärkt fast automatisch das Kritisierte. Auch die Umkehrung dieses Motivs bewährt sich zumeist. Militante und bedingungslose Unterstützung ist das Schlimmste, was Institutionen, Systemen und Personen widerfahren kann.“(ebd.).
Noch ein Wort zu den Auslandsjournalisten, die unfreiwillig zum Ventil für oppositionelle Meinungen werden, die in der chinesischen Veröffentlichungspraxis keine Fürsprecher finden. Ihnen vorzuwerfen, dass sie nicht in jedem kritischen Artikel über China in einer weiteren Passsage zugleich die Doppelmoral europäischer und amerikanischer Journale zum Beispiel in der Beurteilung Saudi-Arabiens anklagen, ist so lange wohlfeil, wie jene Journalisten nicht auch die positiven Seiten Chinas würdigen und ihren Heimatredaktionen widersprechen, wenn ihnen von ihren Chefs verordnet wird, nur noch kritische Berichte über China zu verfassen.
Anmerkungen[1] Insofern besteht zwischen der Selbstrepräsentation der Staatsmacht in China und der Selbstrepräsentation des Staates in parlamentarischen Demokratien kein Unterschied. Versteht man das reale Volk – wie es z.B. in der Auslegung des Artikels 20 Abs.2 Satz 1 GG geschieht, nur als „politisch ideelle Einheit“ bzw. als „konkret geistige Ganzheit“, rangiert das reale Volk ebenfalls nur noch als begriffliche Chimäre. Indem der Staat sich nur auf dieses Abstraktum „Volk“ bezieht und diesen handlungsunfähigen „Träger der Macht“ zu seinem Referenzobjekt erklärt, ist erkennbar, dass er sich auf sich selbst bezieht und nur sich selbst gegenüber verantwortlich zeichnet. Als auf sich selbst bezogener, sich selbst repräsentierender Staat steht ihm aber frei, seine allumfassende Gewaltbefugnis freiwillig in Selbstverpflichtung einzuschränken, was er in den übrigen Artikeln des Grundgesetzes auch macht.
Auf drastische Weise beschrieb einmal ein Abgeordneter des französischen Parlaments das Verhältnis zwischen dem französischen Volk und dem Staat. Mit dem Verweis auf Thomas Hobbes’ Staatsvertragstheorie meinte er, dass das Volk doch alle Macht an den Staat abgetreten habe, also solle es sich nicht beschweren, wenn es jetzt von ihm beherrscht werde. Verantwortlich sei der Staat jetzt nur noch gegenüber sich selbst.
[2] Als Rechtfertigung für die Einschränkung der Meinungsfreiheit in China kann nicht die Begrenzung der Meinungsfreiheit in den USA herangezogen werden. Das vom Botschafter genannte Beispiel der Entlassung des Direktors und der anderen zuständigen Personen im Radiosender „Voice of America“ weist lediglich auch auf die in den USA begrenzte Meinungsfreiheit hin. Kurz nach dem 11. September 2001 hatte „Voice of America“ ein Interview mit El-Kaida-Vertretern gesendet. Das Beispiel demonstriert den in westlichen Medien oftmals anzutreffenden doppelten Standard: streng in der Diagnose anderer und beschwichtigend in der Beurteilung der eigenen Begrenzungen.
[3] Der Unterschied zwischen den USA und China besteht darin, dass es in den USA eine Menschenrechtskommission gibt, die sich ein Urteil über andere Länder zumisst, die in den USA praktizierte Todesstrafe jedoch hinnimmt.
[4] Die Zerstörung der Umwelt stellt eine besonders heimtückische Form der Gewalt dar. Peer Junker erzählt in seinem Artikel über „Chinas Sonnenkönig“ Huang Ming, wie ihn das Schicksal seiner Tochter dazu gebracht hat, aus dem Ölgeschäft auszusteigen, ein eigenes Unternehmen zu gründen und China mit „Solarwasserbereitern“ auszustatten (Tagesspiegel, 30.9.2011).
15. Oktober 2011
Reinhard Hildebrandt
Chinesische Anstrengungen zur Vermeidung eines neuen
Ost-West-Konflikts: USA/EU/Japan – China/Russland
1. Premier Li Keqiangs erster Auslandsbesuch führt nach Indien
Anlässlich des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang in New Delhi publizierte die führende Zeitung Indiens, The Hindu, am 5. Juni 2013 Srinath Raghavans Kommentar „When the dragon comes calling – The new Chinese leadership wants to reach out to India and New Delhi should make the most of the opportunity to move forward on the strategic and economic fronts”. China sehe sich gegenwärtig mit einer unkomfortablen internationalen Situation konfrontiert, deren schädlichen Folgen durch die Entwicklung guter Beziehungen zu Indien begegnet werden solle. Srinath Raghavan, Senior Fellow at the Centre for Policy Research, New Delhi, forderte die indische Regierung auf, diesen Wunsch Chinas nicht leichtfertig zurück zu weisen, sondern sorgfältig die Chancen Indiens auszuloten. Er ermahnte die indische Politik jedoch, in ihrer Annäherung an China der Einsicht Rechnung zu tragen, dass China im nächsten Jahrzehnt gegenüber Indien die führende Rolle behalten werde.
Die strategische Konzentration der USA auf den westlichen Pazifik und damit zusammen-hängend die Neuausrichtung Japans auf die ASEAN-Staaten und Indien bezeichnete Srinath Raghavan als Antrieb chinesischer Besorgnis. „The U.S. is promoting a Trans-Pacific Partnership (TPP). Signed in 2005 by Brunei, Chile, New Zealand and Singapore, the TPP has drawn the interest of five other countries: Australia, Malaysia, Peru, Vietnam and Japan.” Ziel der TPP sei der Abschluss von Freihandelsabkommen, in denen investorfreundliche Rahmenbedingungen das geistige Eigentum der privaten Investoren schützen sollen und deren Wettbewerbschancen gegenüber staatseigenen Unternehmen garantieren. Raghavan meinte, die chinesische Führung befürchte, „that a successful TPP eventually compel China to come to terms with it – just as China had to do with APEC and WTO.”
Raghavan bezeichnete Indien als “swing” power in der gegenwärtigen strategischen Konstellation und wies darauf hin, dass diese Rolle Indiens der chinesischen Führung sehr bewusst sei. Der chinesische Ministerpräsident habe sich deshalb öffentlich zu folgender Einsicht bekannt: „We are not a threat to each other, nor will we ever contain each other“. Zusätzlich habe er den auch für Indien negativen Aspekt der TPP hervorgehoben und für die Expansion des chinesisch-indischen Handelsaustausches auf der Grundlage eines noch zu verhandelnden „China-India Regional Trading Arrangement (RTA)“ plädiert.
Die indische Führung, schlug Raghavanm vor, solle sich angesichts der derzeitig günstigen Konstellation nicht nur darauf beschränken, Hindernisse im indisch-chinesischen Verhältnis abzubauen, sondern
2. Chinas Suche nach einem Kompromiss im Handelsstreit mit der EU
Weitere Beispiele unterstreichen die Anstrengung der chinesischen Führung, einem neuen von den USA initiierten und gegen China und Russland gerichteten Ost-West-Konflikt auszuweichen. Das erste Beispiel hat die Stärkung der Handelsbeziehungen mit der EU zum Inhalt. Die für China negativen Effekte eines künftigen Freihandelsabkommens der EU mit den USA soll damit frühzeitig entgegengewirkt werden.
Angesichts der weltweiten Nachfrage nach Solarzellen zur Produktion von Elektrizität durch Sonnenenergie sind nicht nur neue Technologien zur Anwendung gebracht worden, sondern zugleich ist eine globale Überkapazität geschaffen worden, unter der insbesondere die europäischen Solarunternehmen leiden, aber auch die chinesischen Produzenten enorme Absatzeinbußen einstecken mussten (Frank Thomas Wenzel, Strafzölle gegen China, Frankfurter Rundschau, 5. 6. 2013). Nach einer Aussage des EU-Handelskommissars Karel De Gucht hat China eine „riesige Überproduktion erzeugt“. Die Chinesen produzieren „heute anderthalbmal so viel Solarmodule, wie weltweit überhaupt gebraucht werden“ (Die Zeit, 13.6.2013). Regierungen versuchen, die nationalen Produzenten durch Exportsubventionen zu schützen und ausländischen Konkurrenten zu unterstellen, dass sie unzulässige staatliche Subventionen erhalten haben und Preisdumping betreiben. Karel De Gucht verweist auf den Fünfjahresplan Chinas, in dem China die Industriezweige nennt, in denen man eine Führungsrolle anstrebt. China habe das Recht dazu, aber nur dann, wenn es die Spielregeln beachte. Auf die Verhängung von Strafzöllen für Niedrigpreis-Importe von Solarpanelen durch die EU – und vorher bereits durch die USA – reagiert die chinesische Regierung mit der Drohung, europäische Weinexporte und Stahlrohre mit Strafzöllen zu belegen (Simon Frost, Rotwein gegen Solarzellen, Tagesspiegel, 6. Juni 2013, Frankfurter Rundschau, AFP, 14.6.2013). Deutsche Maschinenbauer wiederum, deren Technologie chinesische Solarmodul-Produzenten verwenden, befürchteten Exporteinbußen für ihre Produkte (Frankfurter Rundschau, 25.6.2013). Nur Innovationen könnten den Firmen in Europa helfen, wettbewerbsfähig zu bleiben, d.h. mehr Anstrengungen bei Forschung und Entwicklung zu unternehmen. Die Strafzölle gegen China, meint Rolf Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, würden „der EU mehr Schaden als nutzen“(Katja Scherer, Raus mit den Rivalen, Die Zeit, 13.6.2013). „Immer wenn es auf dem Weltmarkt bergab geht“, beobachte der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser, „versuchen die Länder sich abzuschotten“ (ebd.). Einem drohenden Handelskrieg versucht die chinesische Regierung entgegen zu wirken, indem sie die gleichermaßen von der Überproduktion betroffenen europäischen und chinesischen Produzenten zur Zusammenarbeit auf außereuropäischen Märkten auffordert, auf denen die Nachfrage – entgegen der Äußerung De Guchts – noch weit von einer Sättigung entfernt sei.
Die chinesische Führung befürchtet, dass ein Handelskrieg einzelne EU-Länder ermuntern könnte, sich stärker den USA zuzuwenden und mit ihnen in einem erneuten Ost-West-Konflikt zu kooperieren. Aus der gleichen Befürchtung hat die chinesische Regierung den von ihr geschaffenen 14köpfigen „Global CEO Advisory Council“ zum ersten Mal einberufen, dem führende Chefs transnationaler Unternehmen wie z.B. der VW-Chef Martin Winterkorn und der General-Electric-Chef Jeffrey Immelt angehören, um über Fragen von Chinas Entwicklungsstrategie zur Förderung rückständiger Regionen in Zentral- und Westchina zu sprechen (Volkswagen wächst an China-Geschäft – Autoverkäufe im Reich der Mitte bewahren den Autobauer vor einem Absatzrückgang, DPA in Frankfurter Rundschau, 15.6.2013) (Bernhard Bartsch, VW-Chef berät Chinas Premier, Frankfurter Rundschau 7.6.2013).
Die chinesischen Bestrebungen, den schwelenden Handelskonflikt mit der EU beizulegen, stehen im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Drängen zur baldigen Errichtung einer transatlantischen Freihandelszone. Im Feihandelsabkommen geht es nicht so sehr um die Reduzierung von Zöllen, meint Pierre-Christian Fink in seinem Artikel „Lasst uns tauschen“ (Die Zeit, 13.6.2013), sondern sehr viel stärker um die Angleichung bzw. Abschaffung von tarifären Handelshemmnissen. Wenn solche Handelshemmnisse in einem größeren Umfang abgebaut werden, würde laut ifo-Institut das Pro-Kopf-Einkommen der US-Bürger langfristig um 13,4 Prozent steigen, während die EU-Bürger nur mit 4,7 bis 5 Prozent rechnen könnten. Das Londoner Centre for Economic Policy Research hingegen prognostiziert 119 Milliarden Euro Ersparnis im Jahr, mit denen die Europäer stärker als die USA rechnen könnten (Christopher Ziedler, Gewinn aus dem Nichts, Tagespiegel, 18.6.2013).
Dan Hamilton, Leiter des ‚Centers for Transatlantic Relations’ an der John Hopkins University der USA, beschränkt die US-amerikanische Zielsetzung eines solchen Freihandelsabkommens jedoch nicht auf die Reduzierung von Handelshemmnissen. Er schreibt: „Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit sind eine Mahnung, dass sich die transatlantische Führung in der Welt nur dann fortsetzen lässt, wenn wachsame Demokratien auch wirtschaftlich stark sind. Damit unser westliches Modell attraktiv für andere bleibt, muss es zu Hause funktionieren.“ (Tagesspiegel, 13.6.2013). EU-Kommissarchef Manuel Barroso attestiert: „Unsere Partnerschaft wird die Karten in der Weltwirtschaft neu mischen“ (Tagespiegel, 18.6.2013).
Auf die Entwicklungsländer ausgreifend formuliert Ska Keller von der Partei der Grünen im EU-Parlament: „So stärken die EU und die USA ihre dominante Rolle in der Welt und geben Entwicklungsländern keine Chance, Handelsstrukturen zu ihren Gunsten zu verändern“ (Peter Riesbeck, Rote Linien für den Freihandel, Frankfurter Rundschau, 14.6.2013). Unter den sich industriell entwickelnden Ländern zählen im südostasiatischen Raum fast alle ASEAN-Staaten, mit der Ausnahme von Singapur und Taiwan. Die von den USA ebenfalls angestrebte pazifische Freihandelszone (Pazifisches Freihandelsabkommen (TPP) umfasst neben den ASEAN-Staaten auch Japan und Südkorea und richtet sich ebenfalls gegen China und Russland).
3. Die Totalüberwachung der globalen Datenströme als neues Operationsfeld der USA in einem neuen Ost-West-Konflikt
Die chinesische Regierung sah sich in der Vergangenheit oftmals dem Vorwurf der USA ausgesetzt, unerlaubter weise in US-amerikanische Rechner einzudringen und die Datennetze nach für China nützlichen Informationen auszuspähen. Insbesondere das chinesische Militär sei an diesen Operationen beteiligt. Die USA drohten der chinesischen Führung Konsequenzen an, wenn die Ausspähaktionen nicht eingestellt würden. Sie schreckten nicht vor der Androhung ökonomischer Strafmaßnahmen zurück und schränkten z.B. die Zusammenarbeit mit chinesischen Informations-Technologie-Firmen erheblich ein. Nach der Enthüllung vielfältiger Aktivitäten US-amerikanischer Geheimdienste gegen China und die übrige Welt durch ihren ehemaligen Mitarbeiter Snowden haben sich die Vorwürfe der USA gegen China als scheinheilig erwiesen. Die USA unterhalten weltweit agierende Geheimdienste und nehmen keinerlei Rücksicht auf die Souveränität anderer Staaten. Warum ist das so und warum wehrt sich China dagegen?
Die Machtelite der USA erhebt weiterhin den Anspruch auf globale Ausdehnung der US-Hegemonie und arbeitet in der Erreichung des Ziels, Kontrolle über die Hegemonisierten auszuüben, eng mit Großbritannien zusammen. Vornehmliches Überwachungsinstrument ist die Kontrolle der globalen Datenströme. Der Anspruch der Machteliten beider Länder in der Totalüberwachung der Beherrschten unterscheidet nicht zwischen USA freundlich oder feindlich gesinnten Hegemonisierten. Die Bundesrepublik Deutschland als befreundetes Land und China als misstrauter Rivale der USA nehmen beide einen der vorderen Plätze in der Überwachung ein. „Der US-Geheimdienst NSA soll sich in mindestens 61 000 Fällen Zugang zu chinesischen Computern verschafft und Daten abgesaugt haben … Ziel der Angriffe seien Regierungsserver, Systeme von Hochschulen und Privatrechner in der Volksrepublik und in Hongkong gewesen“ (Bernhard Bartsch, Zwei aus dem Glashaus, Frankfurter Rundschau, 14.6.2013).
Laut Heinrich Wefing speichert die Nationale Sicherheitsagentur der USA (NSA) „hunderte Milliarden Daten“ jeden Monat. „Sie kann abhören, wen sie will, rund um den Globus“ und greift hierbei auf die „gewaltigen Datensammlungen“ der US-amerikanischen „Digital-Giganten“ Google, Microsoft, Facebook, Amazon u.a. zu, die sich in der Herausgabe von Daten der Anweisung eines einzigen, geheim tagenden und völlig überforderten Gerichts in Washington fügen müssen (Heinrich Wefing, Wehe dem Mutigen, Die Zeit, 13.6.2013). Das Echolon-Spionage-Netzwerk überwacht seit langem mit riesigen Antennen die Satelliten-gestützte Kommunikation, Spionage-U-Boote zapfen Untersee Glasfaserleitungen an und der britische Geheimdienst GCHQ „kopiert aus den Nervensträngen des Internets sämtliche Datenströme, speichert sie und scannt auf verdächtige Muster“ (Marin Majica, Die Kontrollgesellschaft, Frankfurter Rundschau, 25.6.2013). Die britische Regierung macht noch nicht einmal halt vor dem systematischen Abhören von Gipfeltreffen, die auf britischem Boden stattfinden, um den erzielten Informationsvorsprung in Verhandlungen für sich auszunutzen ((Matthias Thibaut, London ließ Regierungen abhören – Agenten spionierten bei G-20-Gipfel, Tagesspiegel, 18.6.2013). Die Abschöpfung des Datenstroms misshandelt die Bürgerrechte großer Teile der Weltbevölkerung und macht auch nicht vor Wirtschaftsspionage halt (ebd.). Gerechtfertigt wird das Grundrechte missachtende Überwachungssystem mit der Abwehr terroristischer Angriffe auf Gesellschaften, die sich der Freiheit des Individuums besonders verpflichtet fühlen. In den USA wurde mit den Patriot Act eine Sicherheitsarchitektur geschaffen, „die jeden Bürger als Verdächtigen, seine Privatsphäre als Refugium eines potentiellen Kriminellen und persönliche Daten als kriminalistische Spuren bewertet“ (Christian Bommarius, Obamas totalitäre Wende, Frankfurter Rundschau, 12.6.2013). Wer die heimliche Ausforschung aller Geheimnisse zum obersten Staatswohl erhebt und als schützenswertes Gut bezeichnet, untergräbt im Namen der nationalen Sicherheit die Freiheit der demokratischen Gesellschaftsordnung und verfällt dem Totalitarismus (ebd.). Das Streben nach totaler Sicherheit vor Terrorangriffen zerstört die Freiheitsrechte der Bürger und verfälscht das Prinzip der Repräsentation zum Instrument der Unterdrückung. Der sogenannte Krieg gegen den Terror wird zum obersten Ziel der Erhaltung anglo-amerikanischer Hegemonie über Rivalen wie China und die gesamte übrige Staatengemeinschaft.
Weiterführende Literatur: Reinhard Hildebrandt, Globale und regionale Machtstrukturen – Globale oder duale Hegemonie, Multipolarität oder Ko-Evolution, Peter Lang Edition, Juni 2013.
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1 Mit einer negativen Unterstellung kommentierte hingegen Bernhard Bartsch am 23. Mai 2013 in der Frankfurter Rundschau den Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in Indien. „Wenn Lis Auftritt in Indien etwas darüber aussagt, wie Peking sich in der Region zu positionieren versucht, dann das: Die Volksrepublik will die Rolle des asiatischen Patriarchen spielen, der gütig zu all jenen ist, die seine Macht nicht herausfordern und seine Motive nicht hinterfragen.“
Gegensätzlich zu Raghavans positiver Sichtweise hatte im April 2013 auch Luba v. Hauff unter dem Titel „A Stabilizing Neighbor?“ die chinesische Politik in der gesamten zentralasiatischen Region negativ beurteilt. Der Untertitel ihres Artikels lautete: „Auswirkungen des chinesischen Engagements in Zentralasien auf die regionale Sicherheit“ (DGAP-Analyse (Nr. 3, Hrsg. Eberhard Sandschneider). Sie beklagte mit vielen ausführlichen Zitaten, dass sich die Beziehung zwischen autoritär regiertem Staat und Gesellschaft in den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan und deren wachsender Verflechtung mit der Volksrepublik China zu einem „akuten Unsicherheitsfaktor“ in der gesamten zentralasiatischen Region entwickelt habe. „Diese Entwicklung“, fügte sie an, „hat das Potential, die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um die Schaffung von Sicherheit und den Aufbau eines funktionierenden Staates in Afghanistan zu beeinträchtigen.“ (ebd.S.1). Hiermit legte sie dem Leser nahe, dass weder Fehleinschätzungen der Nato noch gegen die Zivilbevölkerung Afghanistans gerichtete Kampfeinsätze der Nato-Streitkräfte für das Scheitern der NATO ursächlich seien. Sie suggerierte stattdessen: Der „wahre“ Schuldige am Versagen der Befriedungsaktion „des Westens“ sei die chinesische Nachbarschaftspolitik in der zentralasiatischen Region. China habe an einer demokratischen Entwicklung Afghanistans keinerlei Interesse. Chinas Politik müsse deshalb für die Niederlage „des Westens“ in Afghanistan verantwortlich gemacht werden.
29. Juni 2013
Reinhard Hildebrandt
China – An Attempt at Understanding a Complex Power Structure
1. Travel impressions
Visitors to China familiar with Europe’s unhurried pace are taken aback at the hectic pace of China’s metropolises, with populations of several million apiece. Having milling crowds around make one feel hemmed in, and negotiating pavements crammed with stalls, bicycles, electric scooters and numerous vehicles as calmly as the Chinese is, one soon finds, beyond one’s adaptability and sense of well-being. Just crossing one of the multi-lane and, for the most part, hopelessly jammed roads, seems to the visitor – unlike for the locals – a dangerous obstacle course. What is more, pedestrian crossings do not seem to make any difference to drivers turning right, who insist on their right of way over pedestrians. Having to fight for every centimeter of space in jam-packed buses and metros during peak hours very quickly sends one into a sweat. And panic grips the visitor when, while queuing at entrances to railway stations, he finds himself relentlessly pushed towards the x-ray machines by fellow-passengers from behind, to have his hand baggage checked for dangerous objects.
It is with surprise that the visitor notes the – at times – unrestrained consumerist behavior on the part of those Chinese who have grown rich, their predilection for luxury cars and their tendency to insulate their residential complexes by erecting high fences, walls and security checks at the entrance. “The number of billionaires has doubled in the last two years.” (Sandy Group, © süddeutsche.de, 7.9.2011). Face to face with growing consumerism among the newly affluent middle classes (Thomas Lindner, “Ohne China stagniert die Welt”, Schätzung: 140 Millionen Menschen, Tagesspiegel, 8.9.2011), the visitor has to remind himself that until a little over fifty years ago, the Chinese had to suffer famine across the country. “Does anyone today know what hunger feels like”, asks an elderly Chinese, quoted by Bernhard Barsch (Frankfurter Rundschau, 27/28.8.2011). Today he has standing in his home a TV, an AC and a large deep-freeze, and even this does not make him wealthy in the eyes of his children. The fact that even people from low-income groups are happy about the wide range of items on sale in shopping arcades, even if they cannot afford to buy them, is a pointer to the high social value that consumption enjoys for preserving social peace in present-day China.
Were the visitor to glance up at the innumerable bare facades of high-rise buildings standing cheek by jowl, he would find it difficult to imagine how the Chinese – despite their very legitimate complaints about the high cost of accommodation – welcome the prospect of swapping what had hitherto been their homes in a hutong (street) – homes with neither a toilette nor a bath of their own – or in a hopelessly run-down four-storied building of the fifties and sixties for a home, for instance, on the 13th floor, offering modest comfort. “…the explosion in prices last year made it particularly difficult for the growing middle class to realize its dream of owning a larger home.” (Peer Junker, Träume aus beton, Tagesspiegel, 18.6.2010). In Shanghai, the prices for residential accommodation rose by 50% last year (Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010). But those who had rented flats in buildings that had been demolished against the will of the occupants to make way for the construction of high-rise structures reacted with protests and with deep disappointment. Entire localities in the urban areas have been flattened and turned into new settlements. Often, those uprooted search in vain for new accommodation or are forced to accept something far from the area they had resided in until then. By contrast, Chinese who have come into wealth buy up several flats at one go and speculate on them.
The visitor is amazed to see the Chinese looking at the numerous representative buildings with admiration. No doubt they reflect an architecture that is unique in the world, but as isolated buildings standing on their own without in any way connected with each other, they do not form a harmonious urban landscape.
But, spontaneous criticism apart, if the visitor were to ask himself how he would satisfactorily meet the needs of a population of 1.3 billion; what kind of infrastructure would be required to meet the demands of the present and the future; in what way he would placate fears relating to accommodation, jobs and placements for training, he would quickly find himself at a loss. His European yardstick, meant for far smaller dimensions, fails in the face of the socially explosive problem of growing wealth among a few Chinese and the impoverishment and mass alienation of the rural population, which pours into the economically prosperous cities of the east as migrant labor (more than 200 million of them), to then live there in inhuman conditions (survive or be eaten up!) and find their children left without seats in state-run schools. This sobering picture is also true of the political liberties conceded by the country’s leaders to its people – liberties that are truly modest by European standards. The visitor may be somewhat familiar with the relationship between self-interest and public welfare that underlies the scope for individual freedom in Europe, but which yardstick would be suitable for the dimensions that apply to China?
Thus, for instance, the visitor who views the situation from the European perspective is irritated by the measures adopted by the Ministry of Culture in Beijing to purge the Internet of songs deemed „harmful to national cultural security“ (Frankfurter Rundschau, 26.8.2011). From where do the Chinese authorites obtain their yardstick to judge with certitude what is beneficial to „national culture“ and what is damaging, and what for instance is „intellectually corrupting“? (Martina Meister, Keine Orte, nur noch Worte, Tagesspiegel 14.10.2009). A circular of the State Council of China clearly shows the extent to which the Chinese leadership appears to be divorced from the people. The Circular calls for „increased openness in government affairs to ensure officials continue to work in a lawful and efficient manner“ (China Daily, August 3, 2011). The Circular further decrees: “We should stick to a lawful, scientific and democratic policy-making and increase the scope of publicity, especially for major reform plans, policies and projects that are directly related to the people’s interests”. The Circular also complains of a „lack of information, non-standardized publicity procedures, poorly designed information-sharing systems, problems regarding the distinction between classified and public information.” It further demands that “local government departments must make more efforts to ensure transparency in government affairs in order to protect the people’s rights to know about and supervise the government”.
But from the European point of view, the joint responsibility of the people “extends far beyond merely “supervising” the government. It is not just confined to watching over the executive implement measures decided in organs far removed from the people. Joint responsibility means participating in the process of formulating the “interests of the people”. In the Circular, the State Council insists on the interests of the people being defined on behalf of the “people”. What are the powers that the People’s Congress has in this matter? Who decides which of the people’s interests have priority and which of them are but secondary? The Circular provides no answers to these questions.
2. The Exercise of Power in China
2.1 Constitutional Provisions
During the Energy Dialogue with Shell AG on 9th June 2010 in Berlin, Norbert Röttgen, the Federal Environment Minister of the CDU-FDP coalition, mentioned that he had returned from China with a new understanding of the situation there: Since the social structure prevailing in China is – unlike in the case of European societies – unable to offer democratic discourse as a mediating element in the dialogue between the government and the people, argues Röttgen, great care must be taken while deciding on the scale of climate-friendly technologies and while selecting them, that primarily such technologies are deployed that have no negative impact on purchasing power, or that actually even enhance it. The reduction in carbon dioxide emissions should on no account be at the expense of mass purchasing power, if unrest is to be avoided, Röttgen further argues.
Inquiring into the absence of democratic discourse in China leads one first and foremost to the Chinese constitution. Art. 2 declares the “people” to be holders of all power (Art. 2: All power in the People’s Republic of China belongs to the people) while at the same time declaring that the people had ceded their hold on power to the dominant “proletarian class “ (Art. 1: The People’s Republic of China is a socialist state under the democratic dictatorship of the people, which is led by the proletariat and rests on the alliance between the proletariat and the peasants (the Constitution of the People’s Republic of China of 17th January 1975). Despite its ceding power to the “proletariat”, the “people as a whole” remain the reference point of the proletariat-led state and, like the “people”, the “proletarian class” is also not defined in more precise terms. Though the “proletarian class” hands over its own power to the “alliance of workers and peasants”, state power continues to refer to the “people as a whole”. From this we infer, on the one hand, that
Unlike in parliamentary democracies, the ruling state power in China has so far lacked the capacity to voluntarily curtail its all-encompassing powers and turn them into a self-commitment. Keeping discourse open to a range of theories and approaches, and assuring it an existence with, against, among and through each other at all times (through which formless counterbalance is established in Chinese society – in just the same way as through the diverse practices of companies, associations, parties and communities) does not seem to be indispensable to this state power. From the perspective of the state, the unconditional opening up of public space, and the realm of discourse therein, to the activation and reactivation of fluctuating elements do not form part of the vital duties of the state. A closer look at Chinese philosophy reveals that such a reaction could hark back to a millennia-old tradition.
2.2 Philosophy and Power
In his book “Chinese Philosophy – Chinese Political Philosophy, Metaphysics, Epistemology and Comparative Philosophy” published in January 2010, Wen Haiming is of the view that both Chinese and Western philosophy pose the same questions to society and politics, and address problems related to epistemology and weltanschauung in much the same fashion (ibid. p.1). Chinese philosophy is distinct from Western philosophy only by virtue of its unique “Chinese philosophical sensibility”. What this means for the exercise of power will be examined more closely below.
Haiming starts out with the Confucian emphasis on the family as the root of human existence (“Family reverence is the root of human beings” (ibid. p.3). “ In short, Confucius thinks that a human being can only fulfill him or herself by beginning with family reverence, the starting point of all relationships (ibid. p.25). “Confucius claims that if a leader treats his family and friends well, others will follow his example.”(ibid. p.26/27). For Confucius, the family is the source and reference point of his political philosophy which is rooted in humanity; later, this was to be defined by the philosopher Menzius in precise terms as “ruling states by humanity and love” (ibid. p.3). For Menzius, the family had a higher standing than the state, with even social justice being ranked lower than close family ties (ibid. p. 32). But although for Menzius, solidarity among family members takes precedence over the law (ibid. p.32), willingness to show loyalty towards the family is measured by upholding morality. In doing so, Menzius subjects both the state and the family to the primacy of morality (Heiner Roetz, Mit Konfuzius für die Demokratie, Frankfurter Rundschau, 10.12.2010).
The high standing enjoyed by the family right up to the present is evident in the following quotation: “In Imperial China, the upbringing of the child rested almost entirely in the hands of the family, whose coexistence depended on the father-son relationship. Described by the term “reverence” (Xi-ao) in Chinese culture, the father-son relationship is regarded as the highest virtue in Confucianism and as the spiritual link between generations. Even today, it is of great importance to the Chinese family” (KeYu, Chinesische Spitzenschüler, Frankfurter Rundschau, 1.2.2011).
Laozi to an extent carries forward the basic ideas of his two predecessors, while at the same time drawing attention to “dao”: “Dao is the road on which people walk, and the words people say.” (Wen Haiming, loc.cit. p.37). „Dao is not a name, it is the way-making that humans travel, linking them to the world as soon as they begin to walk and talk.“(ibid. p.37)
Laozi compares the path of life („dao“) with the incessant spurting of water from a spring and its exuberant search for a course immediately thereafter. The country’s leadership should be just as flexible and agile as water in thought and deed („Dao is like water“): benevolent towards its subjects and strict with itself, „wandering at ease without oneself“, as Zhuangzi was to later add (ibid, p.3). The leadership of a large state should follow the example of a cook who fries a small fish carefully, turning it as little as possible in order not to ruin it (ibid. P. 41). But the state should, as far as possible, not inform the people, says Laozi. Like Confucius, he describes as being ideal a manner of governing where the people are not informed: „Confucius shares a similar idea that people should be asked to do what they should, but there is no need to explain their purpose“ (ibid. p. 42). „The best way to govern“, argues Laozi, is to allow the people to participate in the decision-making processes as little as possible, but at the same time to ensure that they are able to lead a healthy and contented life. Based on this fundamental idea, Chinese political philosophy assumed a variety of forms in the centuries that followed.
The philosopher Mozi advises the country’s leaders to reject all war-like behavior and instead lay emphasis on a peace-loving policy based on universal love between all people – an idea that harks back to Menzius. Xunzi, on the other hand, represents a thinking that is opposed to Menzius’: Man is by nature not good but evil. Hence, the country’s leaders must control the people at all times, and make it mandatory for them to observe rituals as a way of exercising self-control over their actions. Here, a parallel to the contrast between Thomas Hobbes and Jean-Jacques Rousseau is not difficult to define. The philosopher Hanfei praises the combination of three leadership qualities: a sense of power, justice and statecraft (ibid. p. 4).
The philosophy of Zhouyi interprets „dao“ as movement between „yin“ and „yang“ (ibid. p. 14): „Yin and Yang stand relative to one another…Zhouyi puts forth a yin-yang contextualizing paradigm quite different from Western models of separate opposing parts.” (ibid. p. 15) From the perspective of European philosophy, the difference between the quality and quantity of yin and yang should be investigated into. If yin and yang in their mutual embrace – represented by the symbol of two closely intertwined fish within a circle – have yin not only facing yang as an independent entity but also being present in yang as its core (in the form of a tiny dot), then the following two avenues of interpretation result there from:
In line with the first mode of interpretation, the Chinese philosopher Zhouyi advises people to bring their personal “dao” in tune with that underlying Nature: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world … ‚Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ibid. p.16/17). These people, Zhouyi maintains, are in a position, “to manipulate the world” (ibid. p.18). Whether the special sensibility that characterizes Chinese philosophy is expressed therein is uncertain; what is amply clear is the reference to the high standing that educated people enjoy until today. “From as early as the end of the 6th century, the recruitment of higher officials – mandarins – in Imperial China was conducted through a tiered system of examination open to all men without class discrimination. These examinations revolved exclusively around the works of Confucius. With these examinations for the post of mandarin, power was secured and at the same time legitimized“ (Ke Yu, ibid.).
In the succession of Chinese dynasties that held sway over millennia, rulers time and again sought out the philosophers of their time to legitimize and consolidate power with their help, but only rarely did they show themselves capable of tolerating any criticism of their despotic ways. On this Wen Haiming was to write: There were many other cases in which intellectuals had no control, for Chinese leaders lacked political tolerance for those who opposed them.“ (ibid. p. 73). In this respect, the Tan Dynasty with Xi’an as capital is time and again praised as the only exception. Even today, the impressive figures standing around the old imperial palace are testimony to the tolerance that prevailed in this dynasty. Till today, they are a favorite motif for photographs in China; the Chinese love to be photographed leaning on the figures. Is this a sign of secret longings?
In his book “Big Power’s Responsibility – China’s Perspective“ (China Renmin University Press 2011), Jin Canrong projects a picture that is opposed to Wen Haiming’s: Canrong refers to his country as „harmonious China“ (ibid. p. 2), which diplomats from all over the world look up to as the ideal country. In its foreign policy, China, Canrong believes, does not need to establish hegemony at all. Further, the multifarious nature of Chinese culture, saturated with historical experience, provides the country’s leadership an ideal benchmark for China’s relations with its neighbors and fellow-players on the global stage. „As the essence of traditional culture, the concept of harmony and collaboration has directly influenced China’s foreign policy of peace and friendship and shaped the image of a responsible country. „ (ibid. p. 24). Jin Canrong makes a specific mention of Laozi’s vision, which has harmony reigning between Man and Nature. Man adopts Nature as his model; Nature unfurls itself on the firmament; the firmament has a significant impact on the path of life (dao) and every man is in perfect harmony with Nature (ibid. p. 24). Jin Canrong postulates that „ harmonious China“ is the perfect manifestation of this closed loop, which is valid both for China as well as for its relations with other countries. Whether the relationship between the ruler and the ruled in China can be characterized as complete harmony and whether the claim to power manifest in the term „democratic dictatorship of the people“ gets completely dissolved therein calls for further analysis.
2.3 The Ideal Superordinate-Subordinate Relationship
Every ruler aims for an ideal superordinate-subordinate relationship. In a relationship of this kind, power is invisible. Absolute harmony prevails between the power-holder and the power-subject. But if a ruler like Muhammed Abu Minyar al-Gaddafi had played off the chiefs of the various clans against each other for 42 years, and insists at the end of his rule that the „people“ love him, he not only mistakes the chieftains of the tribes for the people of Libya as a whole but also mistakenly takes minions around him to be the people. Or when the former Minister of State Security of the GDR and head of the state security service, Erich Mielke, declared to the people shortly before the fall of the GDR: „We do really love you all“, he did not understand that, in a power relationship, the love of the people for the ruler cannot be arbitrarily demanded, and that his love evokes reciprocal feelings in the wooed subjects only when the latter feel fully recognized and secure in the love felt by their ruler.
In an ideal superordinate-subordinate relationship, power rests on the measure of subordination demanded always corresponding with the measure of willingness to serve. Hegel, for instance, postulates an absolute congruence between the measure of solicitude shown by the master towards his servant and the servant’s desire for recognition, protection and gratitude from the master (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, loc. cit. 153f). Niklas Luhmann treats the behavior of the power-subject in just the same manner: „ The power-subject is expected to be someone who chooses his own action, which offers him the possibility of self-determination…“ (Luhmann, Niklas, 1988, 2nd reprit: Macht, Stuttgart, p.21. His anticipative behavior „is linked not only to the reactions of the power-holder in the event of his wishes not being complied with, that is, to prevention strategies, but also to the wishes themselves. The power-holder does not need to command in the first place; even his uncommanded commands will be followed. Even the initiative to command can be shifted to the power-subject; the latter will enquire if he is not clear as to what the command would entail.“ (Luhmann,loc. cit., p.36).1
For the care and ministration provided by the superordinate to be on a par with the gratitude of the subordinate in „harmonious China“, subordination rituals must be so deeply ingrained in the population that they even seep into the people’s subconsciousness and instinctive behavior. In this case, the orders of the power-holder would not only be carried out consciously and voluntarily but would, in addition, also evoke in the subordinate a deep feeling of gratitude. This is also the direction of Ke Yu’s thinking: “In linking together the creation of state allegiance and ‚reverence’ through education and upbringing on the basis of Confucian writings, the structural unit of state and family is time and again reproduced.“ (Ke Yu, ibid.). To bolster his argument, Ke Yu points out that the word „state“ (guo-jia) in Chinese is made up of the two characters for state (guo) and family (jia).
The scope of action open to the superordinate vis-a-vis the subordinate knows no bounds when conscious, subconscious and reflex behavior get completely enmeshed. An ideal superordinate-subordinate relationship of this kind would no doubt satisfy every superordinate’s wishful thinking, but it does not materialize for the most part because the consciousness of the power-subject, characterized both by servility and recalcitrance, thwarts its realization.
2.3.1 Two Manifestations of the Consciousness of the Power-Subject
The basic aspect determining the consciousness of the subordinate identifies this consciousness – in Hegelian terms – as inevitably having its counterpart (that is, the consciousness of the superordinate) as a negative part of itself and at the same time as an independent entity outside of itself.
This comprehensive definition contains four narrower ones:
1.The consciousness of the power-subject is defined by the consciousness of the superordinate existing outside of it and
acting for it, and bows down in a combination of self-sacrificing and grudging obedience.
2. In order to not just put up with the behavior of the superordinate without comprehending it, but to recognize its claim to superiority and adequately respond to it, the consciousness of the subordinate must be capable of perceiving the consciousness of the superordinate in itself – as a part of itself. This occurs in two ways. It may be brought to mind that subordinates are not born as such but only become so in the course of a painful process riddled with setbacks and reverses. This painful experience of what superordination can inflict on the subordinate gets ingrained in the latter’s consciousness as a fear-beset „superego“, and becomes a point of orientation for the subordinate’s future behavior – a measure of his self-sacrificing service. The consciousness of the superordinate that suffuses the subordinate helps him identify that consciousness outside of himself and acting for him, and acknowledge it as such. Fear constitutes an integral phenomenon in the development of subordinate consciousness. Its extends to its very roots, starts with a feeling of insecurity in the one who feels inferior, his moorings – believed to be firm until then – coming untethered. Servility, good faith, self-delusion, voluntary adjustment, patient endurance, silence and mimicry are oft-encountered patterns of behavior in individuals with subordinate consciousness.
3. The possibilty of resistance emerges from the third characterization of subordinate consciousness. The individual who
expends his labour goes through the experience of externalizing a part of himself in a creative and formative way, identifies with the product of his activity and, with the pride he feels in the work he has performed, gains in self- esteem. It is this self-esteem that enables him face up to the superordinate side with confidence and expect from it in return recognition in material and immaterial form. If this is not forthcoming, or granted merely in inadequate measure, then the prick of distance and alienation is felt.
4. Where the superordinate-subordinate relationship comes to an end, the fourth characteristic of subordinate consciousness comes to the fore: the appropriation by the superordinate of the work performed by the subordinate
If, of the four distinctive characteristics of subordinate consciousness, the second (the self-sacrificing service of the superego) dominates, there emerges a fear-stricken individual with the tendency to be introverted. If, on the other hand, the third characteristic of subordinate consciousness – namely the individual who finds himself reflected in his various actions and is proud of the work he has performed – dominates, there emerges an individual who is ready to defy fear, maintain an inner and outer distance towards the superior side, protest, boycott, rebel, strike and even take isolation and ostracism in his stride.
Both independent forms of subordinate consciousness represent a pair of absolute contrasts. Absolute fear completely rules out resistance, and absolute resistance knows no fear. Nevertheless, both forms together constitute the consciousness of the subordinate, both qualitatively and quantitatively. The level of subordination in consciousness is determined by how much or how little of the one or the other is present. Should fear dominate over resistance, then the consciousness of the power-subject will be marked by servility. If resistance dominates over fear, we have a subordinate consciousness that is rebellious. A subordinate consciousness containing not an iota of resistance runs the risk of being snuffed out by self-sacrifice. Conversely, a subordinate consciousness made up of resistance alone terminates the relationship with the superior side, thereby risking its fall. Generally, there is almost always a mix of both. A superordinate-subordinate relationship with an optimal tilt towards the superordinate largely rules out rebellious behavior on the part of the subordinate, makes practically no demands on the superordinate, though inducing in him unrestrained behavior towards the subordinate. If in a relationship that is ideal for him the subordinate always feels amply remunerated by the superordinate, this excessive remuneration can make his expectations soar, turning the superordinate-subordinate relationship on its head.
2.3.2 An Assessment of the Ratio of Mix among the Chinese
2.3.2.1 The Dominance of Servility
If it is true that the Chinese attach great importance to cohesiveness within the family and to the hierarchy reigning therein, without considering the individual to be important, and if in addition they have a weak I-consciousness and are very afraid of losing face, this would be indicative of a consciousness in which servile behavior is far more predominant than the rebellious. This is borne out by the „students regarding low marks, not to speak of failing in exams, more as a loss of face before their parents than as a squandering away of their own future. The family is the strictest and coldest of institutions in which parents mutate into rigorous, even monstrous, teachers“ (Ke Yu, ibid.).
He Weifang, a Professor of Law banished to the countryside, has this to say when asked what the majority of the Chinese think about the present situation: „I think the majority would not find China’s present situation all that bad. For, ultimately, what matters to the majority of the people is only that which plays a role in their own lives. But at the same time they are very conscious of their own weakness and know that it will be difficult for them to protect their rights should they be violated.“ (Bernhard Bartsch, „China will vor allem Angst einflößen“, Frankfurter Rundschau, 17./18.7.2010).
The founder of the organization „Tiananmen Mothers“, Ding Zilin, has been hoping since many years that the Party will admit for the first time to having made mistakes in Tiananmen. She continues with her undaunted struggle, but is forced to accept that even her former neighbors and colleagues are increasingly avoiding her: „They cross the road when they see me“, says Ms. Ding (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel 4.6.2009).
Behavior of this kind reflects a servile, subordinated consciousness of the kind described in the report on China opening its doors to churches (Tagesspiegel 24./25.4.2011) in which Birgit Wetzel records her observations of the seminar conductor, Father Daniel, at the National Seminar for Priests in Daxing: “Our challenge is to get the students interested. They have not learnt to think on their own but they can do it. They think about their friends, families, perhaps about business or games. But not about history, philosophy, literature and art.“ Reverend Daniel mentions the behavioral characteristics of his seminary student participants. They would spend the entire week together, in the classroom, in church, in the dining hall. Yet they did not trust each other. „Every person here is an island. There is a tendency for each one to isolate himself, to preserve his own space.“
„Unhappy though the Chinese at times are with their leadership“, writes Angela Köckritz, „there is no alternative institution to the party, which succeeds in holding the people together with the promise of growth and advancement“ ((Aus dem Rahmen, Die Zeit, 11. 8. 2011). As long as there are many among the Chinese who link up this promise with their own rise, servile subordinate consciousness will often be in evidence ((Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010).
2.3.2.2 The Dominance of Rebelliousness
The example cited below is illustrative of rebellious subservient consciousness. When, following a visit to the „Art of the Enlightenment“ exhibition in Beijing, Chinese students held that Chinese enlightenment had been driven by the reformers of the Qing Dynasty, and that the economic and social system of China was quite different from that of the West (Angela Köckritz, Nachhilfe für Peking?, Die Zeit, 28.4.2011), their reaction appeared suggestive of a subservient consciousness. But a closer look reveals that this distanced view of the West also mirrors the aspect of rebellious subordinate consciousness.
An outstanding representative of such a consciousness is the literary historian Wang Hui. He does not deem the Enlightenment of the West to be a signpost in the evolution of Chinese thinking, but is convinced of a modern Chinese mode of thinking (Georg Blume‚ Mit Konfuzius in die Zukunft, Die Zeit, 10.1. 2009). As early as in 1997, Wang Hui published his pamphlet on the ideational constitution in present-day China and the question of modernity – a pamphlet that was directed against the liberal market approach of radical reformers in the Communist Party of China. Warning therein against the uncritical adoption of Western thinking, Wang Hui used the term „neo-Enlightenment“ to counter this policy approach. The starting point was the plan initiated by the radical reformers to privatize farmland and create large agricultural units. With one sweep, some 800 million farmers, now landless, were compelled to seek work as migrant labor in the industrial regions of China. The egalitarian land reform of 2002 brought down the number of migrant laborers to 600 million. Nonetheless, in the years that followed, 200 million of them were forced to migrate to the towns to escape the growing shortage of food in the countryside. „We have just about enough not to starve“, complained a farmer. Her son added, „We earn almost nothing from agriculture.“ (Harald Mass, Klassenkampf auf Chinesisch, Frankfurter Rundschau, 6.3.2004).
Wang supported the student revolt of 1987, was penalized by being banned to the countryside in 2007 and lost his job as editor of the socially critical journal Dushu. The repressive treatment meted out to dissidents is abhorrent to him; yet at the same time he opposes the human rights policy pursued by Europe and the US against China. Such a policy, Wang argues, is politically motivated and overlooks the overall improvement in the human rights situation in China over the last 30 years. It also smacks of superiority and a lack of information.
In his book „Xiandai Zhongguo sixiang de xingqi” (The Rise of Modern Chinese Thought), published in 2004, Wang attempts to infuse fresh life into Confucian philosophy and turn the spotlight on hitherto forgotten system critics and early democrats from past dynasties. China, feels Wang, is “far more diverse, flexible and multiculturally accommodating than has hitherto been revealed.” He resolutely opposes the uncritical reverence in the Western media for Lamaism, with its regressive character and feudal structures. It is not the return to religion but secularization which will bring progress to Tibet, Wang believes.
In her article “Sammeln was sonst untergeht” that appeared in the weekly “Die Zeit” on 22.9.2011, Angela Köckritz points to yet another example. In setting up a private history museum, the millionaire Fan Jianchuan indicates that he does not want to leave the Communist Party of China in sole charge of mapping China’s collective memory. For, whoever has wandered through the lower floors of the National Art Museum in Beijing and seen the numerous portraits of party leaders, the heroic scenes from the time when the Communist Party had seized power and the Cultural Revolution was unleashed under Mao, is witness to a telling example of the Party seizing possession of collective memory. Fan Jianchuan’s rebelliousness also extends to photos of the humiliated and the mocked – the ugly face of power – being displayed alongside the relics of the Cultural Revolution. Köckritz writes: “Often, Fan operates at the very limits of the permissible without any intention of crossing these limits. At times, however, he does cross them; in such an instance, a part of his museum is ‘harmonized’, in other words, “censured”.
Angela Köckritz cites yet another example of rebellious consciousness. Shortly after the collision of two high-speed trains in July 2011, the Chinese government issued the following instruction to journalists: “No journalist may give independent interviews. Do not write any reports on the development of high-speed trains. Do not analyze the reasons for the accident. Use the information provided by the authorities as standard information. Do not reflect or comment on the matter. Do not question or give further explanations or make associations!” (Angela Köckritz, Aus dem Rahmen, Die Zeit 11.8. 2011). Very few journalists heeded these instructions. Many newspapers left a blank space on one of the news pages. The Chinese business paper had the following printed beneath the gaping white space. “Lies make your nose grow long”. The Beijing news reported – in a seemingly innocuous manner – on a precious bowl that has broken into six pieces. Which was precisely the number of wagons that had derailed during the accident.
From the above examples we may conclude that China by no means enjoys an ideal relationship between superordinates and subordinates as Jin Canrong had postulated with his ”Harmonious China”. Rather, we should assume that the superordinate-subordinate relationship is not balanced and no longer entirely without implications.
2.4 The Imbalanced Superordinate-Subordinate Relationship
In an imbalanced superordinate-subordinate relationship, subordination does build up anger and resentment in the power-subject and arrogance in the power-holder. But the absence of an immanent questioning means that suppression only remains a potential threat as long as no external discursive formation that characterizes the relationship of subservience undermines the “positive differential character” of the formation or challenges it. If not, any attempt to represent subordination as being “unfair” and get this generally recognized would fizzle out if there were not at least a trace of discontentment in the one subordinated.
What are the characteristics that point to an imbalanced superordinate-subordinate relationship in China?
During the global financial crisis of 2008, which also seriously impacted the Chinese export industry along the East coast and left an estimated 20 million migrant laborers jobless, employees reacted to the non-payment of salaries with protests. Migrant laborers, taxi drivers, farmers, teachers and policemen drew attention to their precarious position in demonstrations. And indeed, the extent to which they were left unprotected was amply evident during the crisis. “We are not lacking in laws but in implementation”, said Han Dongfang from the labor law organization China Labour Bulletin in Hongkong. “Further, there are no trade unions or works councils that actually represent the workers’ interests. “In response to the protests of taxi drivers, a local party chairman promised to provide higher subsidies. A member of the politburo called upon local governments to “nip (social problems) in the bud” ((Bernhard Bartsch, Chinas Massen proben den Aufstand, Frankfurter Rundschau 6./. 12. 2008).
When some 3000 workers responded to the privatization of their factory by bringing production to a halt and the designated chief of plant operations announced the retrenchment of 30,000 workers which was to follow shortly thereafter, he was beaten to death by incensed workers (Bernhard Bartsch, Chinas neuer Klassenkampf, Frankfurter Rundschau, 26.7.2009). It was only after this incident, described as a “mob episode”, that the provincial government brought privatization to a halt. “The phase of rapid economic growth has passed. For the first time the government is faced with the loss of confidence of the masses”, warned the thought leader of the Communist Party of Beijing, Shang Dewen (Georg Blume/Angela Köckritz, Herr Lu, Herr Li und die Krise, Die Zeit, 5.2.2009). The crisis affected not only the migrant workers but the middle classes as well, who feared for their jobs, and the 1.5 million university graduates who had not succeeded in finding employment until then. For it must be pointed out that over the last 11 years, the wage share dropped from 53% to 39.7% – a development that necessarily had implications for the purchasing power of the masses (Karl Grobe, Wachsendes Klassenbewusstsein, Frankfurter Rundschau, 26.7.2010).
The central government invested 460 billion euros in an economic stimulus plan for infrastructure expansion, in which the focus lay on improving connections between the eastern provinces and the less developed central regions. These measures were closely linked to China’s long-term development plan
The reform of the state-run health insurance led to a rise in consumption. Exorbitant hospital costs for operations sent even extended families into financial difficulties. A mere 18% of the Chinese population was covered by health insurance in 2009, with private health cover being too expensive for the majority (Peter A. Fischer, Mehr Staatsgeld für Krankenhäuser sollen Chinesen entlasten, Frankfurter Rundschau, 10./11. 1. 2009). “Only a stable social security system can gradually leave the people feeling secure enough not to feel the need to build up large savings. That is the best way to step up consumption“ , argues the academic Bi (.“(Frank Sieren, Was Herr Bi fordert, Die Zeit, 5.3.2009). Bi further calls for the patchwork of non-transferable urban, local and regional insurances to be replaced by a single national network.
The action plan for the better protection of the rights of the individual guaranteed by the Constitution, promulgated on 13.4.2009 by the central government, was one of the measures conceived to address rising public anger. “The two-year plan”, wrote Keith Bradsher in the Global Edition of the New York Times of 14.4.2009, “promises the right to a fair trial, the right to participate in government decisions and the right to learn about and question government policies. It calls for measures to discourage torture, such as requiring interrogation rooms to be designed to physically separate interrogations from the accused, and for measures to protect detainees from other abuse, from inadequate sanitation to the denial of medical care.” The high rate of inflation – 6.4% in July 2011 as against July 2010 – has proved to be the cause for growing discontentment among the Chinese, especially since the price of foodstuffs rose by 14.4% over the same period (Peer Junker, Chinas Führung bekommt die Inflation nicht in den Griff. Provinzen und Kommunen sind verschuldet, Tagesspiegel, 12. 7. 2011). The consumer feels the pinch of the price rise directly, and when it exceeds the increase in family income, the situation sparks off public anger. That this is a reality is reflected by the fact that the Chinese government declared the fight against inflation to be its topmost priority (Reuters, cited in the Frankfurter Rundschau, 13.9.2011).
Additional jobs in the growth-oriented industries only make those employed there happy. However, the greater the increase in productivity per worker deployed, the greater the number of workers retrenched. Further, if there is a slowdown in the global economy and a fall in demand for Chinese exports, there will be growing anger among the retrenched workers. Once back in their rural homes, they will have to face continuing scarcity in food supply, which does not even meet the requirements of the rural population. Employing surplus labor in the already overstaffed services sector would mean lowering the – as it is – low labor productivity, which could result in lower wages. Up to now, surplus labor had been absorbed on a massive scale through infrastructure expansion (roads, highways, railways, energy production, power lines, expansion of the drinking water supply network, wastewater disposal etc. This however had the negative effect of trapping the local and regional governments in a state of severe indebtedness, forcing them to curtail expenditure elsewhere and resulting in a drastic rise in the rate of inflation.
The prevalence of subordinate relations in a society cannot be equated with the presence of structural force. If, however, subservient relationships are transformed into pools of antagonism, then the subordinating side either has the option of responding with an argument that justifies the existing condition of subordination (in the process mitigating or altogether eliminating the cause of discontentment among the subordinates) or it can permit structural force. The latter characterizes power-control relations.
3. Structural Force as the Characteristic of Power-Control Relations
3.1 Definitions and Forms of Structural Force
Where subordinates are treated as adversaries, that is, where
We may speak of structural force „when social orders are organized in such a way that social injustice, unequal life opportunities and glaring discrepancies in power positions and the avenues of influence linked thereto become the social principle of order and existence“ (D. Senghaas, Gewalt-Konflikt-Frieden, Hamburg 1974, p.117).
3.2 Structural Force as the Outcome of the Capitalist Economic and Social Structure
The economic process of transformation ushered in after the Cultural Revolution (1976), whereby the state-socialist social order was transformed into a capitalist economy under the control of a state party, led to growing disparities in income distribution and to social destabilization. Today, price formation almost always takes place in the market. This has resulted in forms of structural force typical of a capitalist economic and social system.
Examples for both forms of structural force have already been provided in Chapter 2.4: non-payment of wages and retrenchment of 20 million migrant workers during the global financial crisis of 2008; lack of representation of trade union interests; overly long working hours with hardly any occupational safety measures in place; a drastic reduction in labor income share; insufficient insurance cover for work incapacity due to sickness; inadequate old age benefits and environmental pollution.
When power-holders resort to suppression, thereby provoking an incalculable measure of resistance in the suppressed, the point will be reached earlier or later at which the formless counterbalance snaps and can no longer be restored – this counterbalance having been created by the power formations among themselves on the basis of their varying periods of rise and fall, and their varying life expectancies. Such a development is not inconceivable for China either.
The assemblage of power formations active in different fields are by themselves not in a position to avoid such a development or divert it to other channels. Consequently, the state must intervene to preserve the formless counterbalance. Here the idea of justice on which the state proceeds in its intervention is but of secondary importance. Rather, it is the preservation of the formless counterbalance that is crucial to its intervention. The question as to whether the state can or should create justice is a matter to be discussed separately and has no causative linkage with the preservation of the formless counterbalance.
3.3 The Combating of Structural Force and the Preservation of Formless Counterbalance by the State
The vast range of state interventions for preserving the formless counterbalance include:
In their endeavor to expand and stabilize the ground that gave them the opportunity to develop and to ward off corrective intervention on the part of the state, power formations are perpetually tempted to join forces with others in the so-called chains of equivalence. In their public relations work, for lack of better information, these power formations create the impression that formless counterbalance does not rest on their time-staggered finite structures. Rather, they contend that a self-regulating infinite structure (market) is characteristic of this formless counterbalance and does not require corrective state intervention for maintaining public welfare. Victim to their own propaganda, these power formations are not aware of the growing fragility of formless counterbalance; for, the more successful they are in isolating themselves from newly created, emerging power formations, the fewer among them actually produce formless counterbalance. Oligopolistic and monopolistic formations can only delay the process of disintegration. In denying the state the support of still nascent emerging formations, they create increasing fragility in the formless counterbalance thanks to their strategy of isolation, thereby even accelerating the process of disintegration against their own professed intention.
Further, it is not predominantly from the concept of public welfare that aims at society as a whole that power formations derive the benchmark for exploring their leeway to suppress subordinates, but primarily from the analysis of a comparison between their situation and that of rival hegemonial formations. However, this mutual observation and adjustment of the situation of rival formations has consequences for shaping the public good. If, for instance, subordinates no longer consider the subordination they are subjected to as necessary but as an unjustified imposition and rebel against it, this could result in migration, unrest, strikes and rebellions, affecting not only the internal equations of the formation concerned but also those of the others.
This impairment of the public good is the reason why the state feels obliged to intervene in order to subject internal conditions to an analysis and, if need be, intervene in giving them final shape. The range and scope of state action is wide, extending from theory-based recommendations, which are non-binding in nature, to far-reaching legal measures such as provisions for occupational safety and the maintenance of conditions conducive to health, as well as directives for the introduction of the minimum wage.
Mediation by the state extends to all areas of social coexistence and banks on the rival parties voluntarily accepting the outcome of mediation. If the state is ousted by power formations from its extensive role as arbiter in social conflicts and is not considered trustworthy, brute force often takes the place of mediation.
Yet another indispensable task that falls to the state is the creation of public space in the social ensemble of relatively stable social forms, and the protection of this public space – a realm of activity into which it should incidentally also incorporate its own public relations work. A precondition for this is the protection of the private sphere. The public and private spheres are contingent on each other. The individual lives in both spheres and needs both to develop. If the private sphere is constantly intruded into, and if the public sphere extends up to the very boundaries of the private, the individual feels violated in his protective realm and involuntarily reaches out for strategies with which he tries to fend off the oppressive intrusion of the public sphere. The variously structured public sphere, which emerges through the self-representation of individuals, needs to be protected by the state to save it from the threat of destruction posed by the practices of power formations.
3.4 The Obstruction of the State Preservation of Formless Counterbalance
If in their misapprehension of the special relationship of the state with the formless counterbalance, highly placed power formations enter into a close alliance with the state, then either the state becomes their appendage, first and foremost furthering their practices, or a powerful state makes use of the preparatory and collaborative work of these power formations to further its own goals and activities. In the first case, the state loses its ability to intervene to preserve the formless counterbalance, and in the second, it believes it has an extensive steering capacity which it actually does not, due to the information it lacks on future requirements. Cadre-based parties with their rigid hierarchical structures provide the worst possible precondition for the development of a culture of errors, which is becoming increasingly important in complex societies (Wolf Singer). The centralization of decision-making powers typical of cadre-based parties not only encumbers the flow of information from the bottom to the top, but the complexity of the problems to be addressed prove well beyond the capacity of the few decision-makers at the top, leading to increasingly poor results. In the reality of China’s constitution, the hierarchically structured Communist Party of China is placed above the constitution and the people. Its position of power and its claim to supremacy in the state no doubt assure the Party its extensive rights of intervention, but whether it goes beyond preserving its own power to promote the development of the present social structure with its decisions, is a matter of doubt.
3.4.1 The Constant Disruption of the Democratic Discourse by the State
The use of force by the state results from Article 35 of China’s constitution (the right to freedom of opinion) being circumscribed by Article 51. This Article states that the right of the individual to freedom of expression may not harm the interests of the state, society, community, or the rights and liberties of his fellow-citizens granted by the law (Wu Hongbo, China’s Ambassador to Germany in an interview with Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 13.10.2009). The social and state structure that prevails in China assigns to the leadership cadres of the Communist Party the power to define the interests of the state. It lays down the extent to which freedom of expression shall be permitted. Thus, in individual cases, Chinese authorities have no qualms about making it clear to Chinese travelling abroad what they may say there and what not. As China’s Ambassador underlines: The Constitution has to be abided by one and all, and everyone is equal before the law, but as far as the power of definition goes, the Party is above the law. Han Dongfang, the founder of the first independent trade union, who was arrested without trial and later expelled from the country, observes: “Violence in China has ultimately always been the law.” (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel, 4.6.2009).2
An extreme feature of state violence sanctioned by law is the death penalty still prevalent in China. Presently, five countries account for more than 90% of the death sentences pronounced worldwide, these being: China, Iran, Saudi Arabia, USA and Pakistan (Pierre Simonitsch, Die Oppositions-Killer, Frankfurter Rundschau, 27./28.2.2010). Human dignity is rooted in the right to life; the death penalty violates this dignity. Moreover, wrong judgments cannot be completely ruled out. The death penalty deprives the murderer of every opportunity to make up for the crime committed by him.3 Also falling within the realm of the law are the following forms of state violence in China:
3.4.2 Ways and Means of Preserving Subordination
The visitor to Beijing and other Chinese metropolitan cities is surprised to see how clean the roads and squares are. Bulldozers sweep up the garbage from the roads; battalions of cleaners are constantly clearing the pavements of articles thrown around carelessly. At night, the road dividers, painted white to guide the traffic, are given a fresh coat of paint by whole groups of painters.
But the sticky air of the urban canyon makes it difficult for the visitor to breathe, and the veil of smog screening the sun is an indicator of how heavily polluted the environment must be. After a downpour, a stream of dirty brown water flows into the sewers and, often enough, from there into the rivers and lakes which are drained dry by irrigation systems. The visitor heeds the advisory to boil tap water before drinking without fail, and he washes the fruits and vegetables he buys in the market before consuming them. But for the most part, he never learns what the toxic content of the foodstuffs is, which have been raised with high doses of artificial manure. The growing measure of environmental destruction affects the Chinese even more than it does the visitor. More than 10 million people put in complaints every year.4
China has traditionally enjoyed the right of petition, which on the one hand „is to provide the citizens with an opportunity to turn directly to the central government with their concerns, while at the same time offering the government insights which the local bureaucratic apparatus only seldom allows to be carried all the way up to Beijing“(Bernhard Bartsch, Wen hört Untertanen zu, Frankfurter Rundschau, 27.1.2011). „Frequent reasons for complaint are corruption, land expropriation and non-payment of wages. Handling these complaints is, however, a rather delicate business for the central government, for every intervention on behalf of the citizens means a confrontation with the local authorities and power networks. Moreover, the petitioners do not for the most part have the requisite funds and knowledge at their disposal to put forth their complaints in a legally correct form. Consequently, their prospects of success are slim. In an investigation conducted in 2006, the Supreme Court reached the conclusion that although 80% of the petitions are justified, only 2% of them actually get justice. But even in these cases, the judicial authorities of Beijing do not undertake investigations themselves but merely issue a form to the petitioner that demands a re-handling of the case by the local authorities. Which means that the petitioner invariably goes back to the very officials against whom he had lodged a complaint: those who were the source of the grievance were now supposed to redress it.“ (ibid.) Such a system of handling complaints perfectly serves the aim of the central government to gain an insight into social reality, although it does not permit free discourse and, consequently, is perpetually faced with the problem of obtaining sufficiently reliable, wide-ranging information on the concerned subjects. Such a government cannot endorse the idea of provincial governments sending policemen to Beijing to intercept petitioners in front of the complaints offices, to then lock them up in so-called „black prisons“. If China’s Prime Minister Wen Jiabao listened to the people’s grievances to then promise – „we must utilize the power in our hands to serve the interests of the people and help the citizens overcome difficulties in a responsible manner“ (ibid.), then his visit to a grievance centre cannot be interpreted as particular concern for the people but as a sheer necessity for the central government to directly obtain evidence of the realities of the country, without having to turn to local or regional state organs.
The urgency of widening the information base is amply reflected in the answer provided by Prof. Shi Yinhong, head of the premier Chinese training academies for government civil servants, to the question as to what China’s present-day needs were: „Until now, our greatest challenges are clearly within the country: we have massive social tensions, huge environmental problems and an extremely skewed development. Only when we can resolve these, will we become the country that is really attractive to the rest of the world.“ (Interview: Bernhard Bartsch, Frankfurter Rundschau, 5.3.2010).
The more powerful economic entities grow, the more conspicuous their vested interests, which they project to the small circle of leading cadres in the Communist Party of China as issues relating to public welfare that definitely need to be addressed. In the absence of a firm capacity for prognosis within the party, the leading cadres are inclined to turn the public welfare concerns brought before them into legally enforceable welfare measures for society as a whole.
4. Concluding Remarks
The Chinese philosopher Zhouyi recommended that every man bring his personal „dao“ in harmony with that guiding Nature: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world… ‚Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ibid. p.16/17).This advice from the philosopher Zhouyi may have been useful to agrarian societies of previous centuries, which were still readily comprehensible in their structures. Present-day societies, on the other hand, are characterized by such a high degree of complexity that the country’s leadership cannot claim that the course it has adopted is in harmony with the rhythm that prevails in the universe. Attempts and mistakes accompany the chosen way (dao), and the sheer preservation of power on the part of the ruling party does not serve as a good guide for determining the way.
Is the way that has been embarked upon really the right one, asks Angela Köckritz in her article „War’s das, China?“ (Die Zeit, 6.10.2011). „For 30 years, China followed a path that promised great success: It relied on exports and a trade surplus to invest the capital earned within the country. That worked extremely well, for China was a poor country which needed roads, airports, hospitals.“ (ibid.) But, continues Köckritz, once China ceased to be a poor country, the question as to which investments are actually expedient to address the challenges of the future grow increasingly important. Köckritz further argues that only if domestic demand can be significantly increased can the Chinese economy grow further. But this would require a drastic redistribution of wealth from those who have grown wealthy to the mass of China’s population which has remained poor. Whilst only 30% of the Chinese who have come to acquire high purchasing power can afford to buy a flat, those who are truly affluent increasingly invest in real estate. They speculate that there will be a sufficient number of people looking for accommodation in future, to whom they could sell or rent out their flats, some of which have even been lying vacant for a long time.
However, several experts have prophesied that an insufficient rise in domestic demand could result in the real estate bubble bursting and a downturn setting in the economy. If, in addition to this, there should be a slowdown in exports due to Chinese goods encountering lower purchasing power in the countries they had hitherto been exported to, then a situation would arise where workers would have to be laid off in such large numbers that many of them would neither find an adequate income in the emergent industries of the Central Provinces nor in the agricultural sector. Even now, there is a steady decrease in agrarian land, the silting up of broad expanses of land has not been brought to a permanent halt, while the urban sprawl around the large cities is on the rise. By buying up increasing amounts of land in South America as a substitute for its declining agricultural production, China has not made itself exactly endearing.
Scenarios of this kind cannot really be dismissed outright. The Chinese leadership’s urgent appeal to the Europeans and Americans to get their difficult financial situation once and for all under control so that their markets are not permanently shut to Chinese exports is an indication of China’s growing concern. For, in the foreseeable future, China will continue to remain dependent on exports. The long-term development plan pursued by the Chinese leadership for China requires a considerable amount of time to be successfully implemented, and whether domestic demand would one day make export dependency completely redundant, is still very uncertain.
Until now, many Chinese linked up their personal advancement to that of the entire country. If China were to continue to advance on the growth path, but if an ever-increasing number of individuals were to be left behind with their hopes for the future remaining unfulfilled, even the biggest promises of harmony will not suffice to appease growing discontentment. If there are no political forums in which the Chinese could debate the best way forward in such difficult times, the call for the suppression of the discontented and the deployment of greater structural force against them would resound, making the risk of a downfall more likely.
„The culture of opposition needs time to evolve. And time, as one well knows, is scarce“, writes Jochen Hörisch in the Frankfurter Rundschau on 10.10.2011. „Generally, oppositions strengthen the system in which they operate, even if they are opposed to the form and manifestation of the system… Opposition renders systems more complex, and imparts to them the ability to learn; criticism almost automatically strengthens the one who is criticized. This motif stands the test, even when reversed. Militant, unconditional support is the worst that can happen to institutions, systems and persons.“ (ibid.)
A word about foreign journalists who, without opting to, become an outlet for oppositions’ opinions, which do not find any takers in the Chinese publishing world. To accuse them of failing to condemn – in a passage added on to every critical article on China – the double standards of European and American journals in their perspective on Saudi Arabia, for instance, would be hackneyed as long as these journalists do not commend China’s positive sides and resist instructions from their editors-in-chief back home to only report critically on China.
Notes and References
1. To this extent there is no difference between the self-projection of state power in China and the self-projection of the state in parliamentary democracy. If one were to understand the real public only as a „political idea of unity“ or as a concrete intellectual whole“ – as is the case with the interpretation of Article 20 Para 2 Sentence 1 of the Basic Law – this real public would be reduced to just the chimera of a concept. In referring to this abstract entity called „people“ and declaring this effete „holder of power“ to be its object of reference, the state reveals that it is turned unto itself and is only answerable to itself. Representing itself as its sole point of reference, the state is free to voluntarily curtail its all-encompassing powers to self-commitment, which is what actually occurs in the remaining articles of the Basic Law.
A member of the French Parliament once described the relationship between the French people and the state in drastic terms. Drawing upon Thomas Hobbes’ state contract theory, he argued that since the people had ceded all power to the state, they should not complain if they are now controlled by the same state. The state, he continued, was now only answerable to itself.
2. The restriction of freedom of opinion in China cannot be justified by referring to the restriction of freedom of opinion in the USA. The example, cited by the Ambassador, of the Director and other concerned persons in Voice of America being dismissed, merely points to restrictions on freedom of opinion in the USA. Shortly after 9/11, Voice of America had broadcast an interview with El-Qaida representatives. This example demonstrates the double standards often encountered in the Western media: severe in finding fault with others and lax while judging its own limitations.
3. The difference between the USA and China lies in the existence of a human rights commission in the USA, which ventures to pass judgment over other countries while accepting the death penalty existing in the USA.
4. The destruction of the environment represents a particularly insidious form of violence. In an article on “China’s Sun King” Huang Ming, Peer Junker relates how the fate of his daughter led Huang Ming to withdraw from the oil business, set up his own company and supply China with “solar water heaters” (Tagesspiegel 30.9.2011).
Translated by Madhulika Reddy, Bangalore (India)
10. Februar 2012
Reinhard Hildebrandt
Industrielle Entwicklung und Verortung Russlands in der globalen Machtstruktur
1. Vision einer Eurasischen Union
1.1 Die wirtschaftliche Situation Russlands
Russland empfindet sich als Teil Europas und Asiens. Es ist eines der beiden führenden Mitglieder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Hauptsitz in Peking (China, Russland, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan). Es gehört zu den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, China, Indien, Südafrikanische Union), die ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen untereinander ausbauen, sich schrittweise von der Dominanz des US-Dollars lösen und diese Währung nicht mehr als Transferwährung in ihrem Handelsaustausch untereinander verwenden (wie übrigens auch schon im Handel zwischen China und Japan sowie China und Iran geschehen).
Russland fördert und exportiert viele Rohstoffe (vor allem aber Erdöl, Erdgas) nach Europa und Ostasien und baut im Transportsektor seine Scharnierfunktion zwischen der EU und China aus. Ansätze zur Re-Industrialisierung sind erkennbar, aber auf absehbare Zeit wird die Förderung und der Export von Rohstoffen noch die Haupteinnahmequelle Russlands bleiben. “Basically”, notiert Piotr Dutkiewicz, “the 1990s were a period of rapid de-industrialization and ‘resourcialization’ of the Russian economy; the growth world fuel prices since 1999 seems to have reinforced this trend. The share of output increased from about 25 percent to over 50 percent by the mid 1990s and has stayed at that level since.” (Piotr Dutkiewicz, Missing in Translation: Re-conceptualizing Russia’s Development State, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin „Russia – The Challenges of Transformation“, New York 2011, S.9-40, S.11).
Aber nicht nur Erdöl und Erdgas verzeichneten einen steigenden Anteil am Export, sondern auch andere Rohstoffe, wohingegen der Anteil von Maschinen und Ausrüstung sank sowie die Ausgaben für Forschung und Entwicklung drastisch schrumpften: Gemäß Dutkiewicz wuchs der Anteil der mineralischen Produkte, Metalle und Diamanten von 52 Prozent im Jahr 1990 (Sowjetunion) auf 67 Prozent 1995 und auf 81 Prozent im Jahre 2007, wohingegen der Anteil der Maschinen und Ausrüstungsgüter am Export von 18 Prozent im Jahre 1990 auf 10 Prozent 1995 und unter 6 Prozent im Jahr 2007 sank. Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben verzeichneten in den späten achtziger Jahren noch einen Anteil von 3,5 Prozent am Bruttosozialprodukt und fielen auf 1,3 Prozent im Jahre 2010 (ebd.).
Als bedeutender Verursacher der De-Industrialisierung wird nicht nur der Niedergang des Militärisch-Industriellen Komplexes angesehen (Lev Gudkov, Russland in der Sackgasse – Stagnation, Apathie, Niedergang, Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.21-46, S.22), sondern auch das destruktive Verhalten der nach dem Ende der Sowjetunion zu privatem Reichtum gelangten Oligarchen: “After a wrenching transformation from communism to capitalism, Russia’s economy is extremely uneven; massive profits haven’t translated into either widespread economic opportunity or enough investment in new technology and other long-term sources of growth.”(Craig Calhorn, Forword of Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S. XI). Gefragt, warum die von ihm propagierte schnelle Transformation Russlands nicht die erwünschten Ergebnisse erbrachte, antwortete Jeffry Sachs: „Ich wollte, dass der Westen Russland mit einem Großprogramm aus der Krise hilft. Dass George Bush senior und später Bill Clinton und der Westen das ablehnten, ist deren Problem, nicht meins. Dass sie zuließen, dass die Korruption sich in Russland festsetzt, obwohl ich die Gefahr offen aussprach, als ich vom Beraterteam zurücktrat, ist auch deren Problem, nicht meins.“ („Amerika ist unzivilisiert“, Jeffrey Sachs im Gespräch mit Steven Geyer, Frankfurter Rundschau, 19.3.2012). Indirekt legte Sachs nahe, dass der Verfall Russlands zum Rohstoff- und Energielieferanten im Interesse der amerikanischen Führung lag: „Bush senior und Richard Cheney, Bill Clinton und Larry Summers erst als Weltbank-Chefökonom und dann als Vize-Finanzminister – und um das auch klar zu sagen: vor allem die russischen Eliten. Denn eines der Hauptprobleme im Land war die endemische Korruption.“(ebd.).
Es verwundert nicht, dass laut Valdimir Popov das Bruttosozialprodukt Russlands im Jahre 2009 als Folge der Finanzkapitalkrise um 8 Prozent fiel (Vladimir Popov, The Long Road to Normalcy: Where Russia Now Stands, in: Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.41-71, S.69). Die russische Börse verlor mehr als 70 Prozent an Wert (Florian Hassel, Für Putin sputen sich die Parlamente, Frankfurter Rundschau, 22./23.11.2008). Der weltweit größte Aluminiumproduzent des Oligarchen Deripaskas stand mit 16.3 Mrd. Dollar im Obligo. Sieben ausländische Banken waren die größten Gläubiger (Stefan Scholl, „Am dreckigsten geht es den Gierigen“, Frankfurter Rundschau, 4.2.2009). Das statt in der Erneuerung der russischen Industrie auf dem globalen Finanzmarkt investierte Kapital der Oligarchen erwies sich als Fehlinvestition und die stark sinkende globale Nachfrage nach Energie und Rohstoffen sowie nach industriell produzierten Waren traf die extraktive Produktion und die veraltete russische Industrie ganz besonders hart.
Mikhail K. Gorshkov analysierte die eingetretene Entwicklung. Er verschwieg nicht die negative Entwicklung der ersten zwanzig Jahre, aber erwähnte auch eine inzwischen eingetretene positive Entwicklung: „We should not deny the obvious problems: the Russian economy’s reliance on raw materials; the way Russia ignores the needs of consumers; the fact that its manufactured goods are extremely uncompetitive; the decline in production during the current crisis, which was relatively large in comparison with other national economies; those problems that limit Russia’s enormous potential for influencing global economic processes; its weak democracy and feeble civil society; negative democratic tendencies and ‘neo-Soviet’ social sectors; the existence of corruption leading to abuse of power; and, finally, the lack of freedom and justice … Nevertheless, we see that modern Russia ‘is no longer the semi-paralyzed semi-state it was ten years ago’” (Mikhail K. Gorshkov, „The Sociology of Postreform Russia, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O., S.145-189, S.152).
1.2 Bildung von Nationalbewusstsein in einem Vielvölkerstaat
Nach dem Zerfall der Sowjetunion trat an die Stelle des vorherigen imperialen Bewusstseins das russische Nationalbewusstsein. Der Anteil der russischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung betrug nunmehr 79,8 Prozent.“ (Dmitrij Fuhrman, Russlands Entwicklungspfad – Vom Imperium zum Nationalstaat, Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.3-20, S.14). Unberücksichtigt in der neuen Identität blieb jedoch, dass auch das territorial geschrumpfte Russland ein Vielvölkerstaat war und ein nur auf die russische Identität bezogenes Nationalbewusstsein von den vielen kleinen Völkern mit außereuropäischer Herkunft abgelehnt wurde. Auf der Suche nach einem für alle Völker adäquaten Nationalbewusstsein Russlands verständigte man sich zunächst auf den ebenfalls ungenauen Begriff „Russländer“. Schließlich mündete die Diskussion in den Begriff „eurasisches Nationalbewusstsein“. In diesem geopolitisch ausgerichteten Begriff kam stärker zum Ausdruck, dass Russland territorial ein eurasisches Land ist und europäischstämmigen wie asiatischen Völkern mit christlich-orthodoxem Glaubensbekenntnis sowie Anhängern des moslemischen und buddhistischen Glaubens eine Heimat bietet.
Vom eurasischen Nationalbewusstsein zur Bezeichnung Eurasische Union für ein Dreierbündnis Russland, Weißrussland und Kasachstan war der Weg nicht mehr weit. Der russische Präsident Putin propagierte schon seit längerer Zeit die Gründung einer Eurasischen Union. Aufbauend auf der Zollunion (in Kraft getreten Anfang Januar 2012) zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan wurde im November 2011 die Eurasische Union ins Leben gerufen. Bis 2015 ist ein barrierefreier Markt für den Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr geplant. „Sollte es gelingen, die Union als Bindeglied zwischen der EU und den asiatischen Märkten zu etablieren, könnte die russische Wirtschaft enorm von diesem Projekt profitieren.“ (Bericht des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft vom April 2012, in: http://www.ost-ausschuss.de).
Am 16. Dezember 2011 trat Russland der Welthandelsorganisation (WTO) nach 18 Jahren mit Hindernissen gespickter Verhandlungen als letzte der großen Volkswirtschaften bei. Für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Abkommens im Sommer 2012 werden positive Folgen für die russische Wirtschaft erwartet. Der Beitritt Russlands schafft die Grundlage für die Einrichtung einer Freihandelszone mit der EU. Die Weltbank schätzt die dadurch entstehenden Wachstumsimpulse auf elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2021.(ebd.).
Ob sich die nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig gewordenen zentralasiatischen Staaten Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan einer Eurasischen Union anschließen, ist zwar mehr als zweifelhaft, aber weniger fremdartig als beispielsweise die Auswahl des Namens „Russische Union“ klingt diese Bezeichnung in ihren Ohren schon. Prinzipiell könnte auch die Ukraine Mitglied der Eurasischen Union werden, zumal die Ostukraine und die Krim mehrheitlich von Russen besiedelt ist und sowohl dort wie anderswo “the overwhelming majority of Russians continue to regard the events and achievements of the Soviet era as major sources of national pride, ruling out any possibility of Russian society being divided in terms of value.” (Mikhail K. Gorshkov, ebd. S.174).
Wie groß der Widerstand in der West- und Zentralukraine gegen eine Mitgliedschaft jedoch ist, zeigte sich an der handgreiflichen Auseinandersetzung von Abgeordneten im ukrainischen Parlament, als die Einführung der russischen Sprache als zweite Amtssprache in der Ukraine zur Debatte stand. Russland bietet der Ukraine bisher die Mitgliedschaft in der Zollunion an. Die Ukraine hingegen hat bereits ein Freihandelsabkommen mit der EU unterschriftsreif ausgehandelt. Sollte es eines Tages in Kraft treten und Russland nach Vollzug seines Eintritt in die WTO ebenfalls ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließen, würde die Differenz der beiden Freihandelsabkommen darüber entscheiden, ob für die Ukraine eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der Zollunion möglich ist.
1.3 Die Eurasische Union als Schutz gegen die Infiltration fremder Interessen
Darunter versteht die russische Führung vornehmlich das Bestreben der USA, durch den Abschluss bilateraler Verträge mit den einzelnen Staaten Zentralasiens Einfluss auf deren Förderung von Rohstoffen und Energie zu gewinnen und durch die langfristige Stationierung von US-Truppen in Afghanistan den Weitertransport durch afghanisches und pakistanisches Territorium zum Indischen Ozean militärisch abzusichern (Valdai Discussion Club, Reconfiguration, Not Just a Reset: Russia’s Interests in Relations with the United States of America, Moskow, June 2009, p. 9/10). In der Verhinderung us-amerikanischen Vordringens nach Zentralasien existiert zwischen der russischen und chinesischen Führung Übereinstimmung, was nicht zugleich bedeutet, dass über die Aufteilung der Ressourcen Zentralasiens stets Einigkeit zwischen beiden Mächten besteht.
Für die Versuche der Europäischen Union, in Zentralasien Fuß zu fassen, hat sich bisher das EU-Bestreben, Russland in der Versorgung von Öl und Gas südlich zu umgehen (durch Georgien, Aserbaidschan und das Kaspische Meer nach Turkmenistan und Kasachstan) als Hinderungsgrund herausgestellt. Ohne die Zustimmung Russlands ist eine Durchquerung des Kaspischen Meeres von Aserbaidschan nach Turkmenistan oder Kasachstan nicht realisierbar. Der seit langem bestehende Vertrag zwischen den Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres über dessen Nutzung gewährt der russischen Führung ein Einspruchsrecht. Zudem haben sich Turkmenistan und Kasachstan bereits 2007 an Gasprom gebunden. Im Dezember 2007 beschlossen die drei Staaten den Bau einer Erdgasleitung am Ostufer des Kaspischen Meeres (Fertigstellung in vier Jahren) und damit den Anschluss dieser Leitung an das russische Pipelinenetz (Karl Grobe, Russlands Pipeline-Pakt klemmt Europa ab, Frankfurter Rundschau, 24./25.12. 2007). Nachdem Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan bereits zum Nabucco-Projekt auf Distanz gingen, zeigte auch der Iran kaum noch Interesse. Der Iran konnte die Beteiligung von Gasprom an der im Mai 2009 beschlossenen Iran-Pakistan-Indien-Gaspipeline gewinnen (Elke Windisch/Kevin P. Hoffmann, Russen kooperieren mit Iran (Tagesspiegel, 30.5.2009).
Nichtsdestoweniger hielt die EU im Verein mit den USA in den folgenden Jahren an der Umgehung Russlands fest. Westliche Konzerne wollten, wie Karl Grobe berichtet, insbesondere Turkmenistan für ihren Weltmarkt öffnen. „Das Nabucco-Projekt dient diesem Ziel. So wurde Georgien zum Teilnehmer im Gasröhrenpoker; die Rosenrevolution und der russisch-georgische Krieg haben Einiges damit zu tun.“ (Karl Grobe, Joschka Fischer inszeniert „Nabucco“, Frankfurter Rundschau, 27./28.6.2009). Während die von den USA vergeblich durch Druck auf Schweden hintertriebene Gaspipeline durch die Ostsee realisiert wurde, verringerten sich die Verwirklichungschancen für Nabucco immer mehr (USA wollen Ostseepipeline verhindern, Tagesspiegel, 13.9.2008). Trotzdem hielt die EU für den Fall eines Regimewechsels im Iran weiter an dem Projekt fest. Sobald jedoch die EU den Rohstoffförderländern zur Realisierung des Nabucco-Projekts konkrete Verhandlungen anbot, mussten jene Länder vor Verhandlungsbeginn entscheiden, ob die Nachteile, die ihnen in ihren umfangreichen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland entstehen würden, die Vorteile aus dem Geschäft mit Öl und Gas überwogen. Aserbaidschan musste sich bereits seit Eröffnung der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline mit der Frage befassen, ob im Falle eines kriegerischen Konflikts um Berg-Karabach russische Truppen die armenischen Streitkräfte unterstützen und ob dieser Nachteil die Vorteile aus dem Transport aserbaidschanischen Erdöls durch Georgien und die Türkei zum Mittelmeer überwiegt. Die Aufrüstung für einen Krieg gegen Armenien zur Rückeroberung von Berg-Karabach belastet die Finanzen des kleines Landes Aserbaidschan in einem hohen Maße. Je kostspieliger sie wird, desto weniger Geld steht für die Hebung des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung zur Verfügung.
In der Mitte des Jahres 2012 verschlechterten sich die Chancen für den Bau der Nabucco-Pipeline in der ursprünglich vorgesehenen Länge immer mehr, nachdem Ungarn als eines der Transitländer das Projekt aus Kostengründen gänzlich in Frage stellte. Schließlich gab das Konsortium für das Nabucco-Projekt Ende Juni 2012 bekannt, dass nur noch der Bau der Pipeline von Bulgarien nach Österreich und Tschechien von ihm finanziert wird. Am 26. Juni 2012 unterzeichneten die Türkei und Aserbaidschan ein Abkommen zum Bau der Transanatolischen Gas-Pipeline (TANAP), die das östliche Stück der ehemaligen Nabucco-Pipeline ist und vor allem die Türkei mit der von ihr gewünschten Gasmenge versorgt. Vergleicht man die vorgesehene Transportleistung von Nabucco (23 Mrd. Kubikmeter) und die jetzige von North Stream (55 Mrd.) sowie die geplante Verlegung eines oder sogar zweier weiterer Stränge entlang der bereits vorhandenen (82,5 Kubikmeter bis maximal 110 Kubikmeter), wird sich an der Versorgung Mittel- und Westeuropas durch russisches Erdgas wendig ändern (Kevin P. Hoffmann, An Russland vorbei, Tagesspiegel, 29.6.2012).
1.4 Die Eurasische Union als Instrument zur stärkeren Interessenwahrnehmung in Verhandlungen mit China
Die Versorgung Kasachstans mit Wasser ist abhängig von guten Beziehungen mit China. Rustem Zhangozha schreibt über das Staudammprojekt Chinas: “Since the late 1990s China has begun to take water from the Cherny Irtysh and Ili rivers, thereby threatening not just Kazakhstan but the whole ecosystem of that geopolitical region, of which Russia is part, with an environmental catastrophe. If one adds to that the fact that over the last few decades Kazakhstans’s water resources have fallen by twenty billion cubic meters and that this process is gaining pace, then the threat of reduced amounts of fresh water reaching Kazakhstan becomes increasingly immediate.” („Russia and the Newly Independent States of Central Asia: Relations Transformed“ in: „Russia – The Challenges of Transformation, edited by Piotr Dutkiewicz and Dmitri Trenin, New York University Press, 2011, 383-405, S.391).
Für China ist die Bewässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen in der nördlichen Dsungarei für die Nahrungsversorgung und die Elektrizitätsgewinnung von großer Bedeutung. Um einen fairen Interessenausgleich in der Aufteilung des Wassers zwischen dem Giganten China und dem bevölkerungsarmen Kasachstan zu erzielen, wäre für die kasachische Führung die Einbindung Russlands von Vorteil, zumal auch Russland von der Wasserknappheit mittelbar betroffen ist. Würde in die Vertragsverhandlungen auch die Belieferung Chinas mit Erdöl und Ergas aus Kasachstan, Russland und Turkmenistan einbezogen, stünden sich die Eurasische Union und China als fast ebenbürtige Vertragspartner gegenüber. Für ein beide Seiten befriedigendes Verhandlungsergebnis wäre das von Vorteil.
1.5 Die Eurasische Union als Scharnier zwischen der Europäischen Union und ChinaNach dem Zerfall der Sowjetunion drohte der Zusammenbruch der sowjetischen Infrastruktur. Verkehrswege verloren ihre ursprüngliche Funktion, weil sie jetzt von nationalen Grenzen durchschnitten wurden. Verkehrsströme änderten ihre Richtung und folgten der Herausbildung neuer nationaler Zirkulationssphären. Nationale Zollgrenzen behinderten den Transfer von einer zur anderen Zirkulationssphäre. Kaliningrad degenerierte zur Exklave Russlands und den Baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen drohte der Funktionsverlust ihrer Ostseehäfen für den Handel Russlands mit den EU-Staaten. Die vormals durch Weißrussland verlaufenden Verkehrsströme litten unter der zunehmenden Isolation des Landes. Die jetzt zur Ukraine gehörenden Schwarzmeerhäfen verloren für den Außenhandel Russlands an Bedeutung, wohingegen mit dem Staatsgebiet Russlands direkt verbundene Häfen an Bedeutung gewannen. Der zu Sowjetzeiten intensive Binnenhandel zwischen dem Zentrum und der Kaukasusregion erlitt erhebliche Einbußen und zu den selbständig gewordenen Südkaukasusstaaten Georgien, Aserbaidschan brach der Handelsaustausch teilweise völlig zusammen. Selbst zwischen dem europäischen Teil Russlands und den Regionen hinter dem Ural, aber ganz besonders zur Pazifikregion Sibiriens verringerte sich das Verkehrsaufkommen erheblich. Für kurze Zeit schien das gesamte russische Territorium in voneinander isolierte Einzelteile zu zerfallen. Gravierend wirkte sich für den Zusammenbruch des Personen- und Güterverkehrs das Ende der subventionierten Luft- und Eisenbahntarife aus. Empfand es zu Zeiten der Sowjetunion der Durchschnittsbürger als Normalität, mit dem Flugzeug oder der Eisenbahn zu verreisen, musste er jetzt aus Kostengründen auf den Besuch seiner Verwandten in weit entfernten Gebieten verzichten. Zwar verkehrte selbst in der Periode fast völligen Zusammenbruchs die transsibirische Eisenbahn und die Luftkorridore über Russland blieben funktionsfähig, aber Russlands Scharnierfunktion zwischen den Staaten der Europäischen Union und China erreichte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen Tiefpunkt.
Seit dem Ende der Jelzin-Ära hat sich die Situation verbessert. Jetzt verkehren z.B. regelmäßig Güterzüge zwischen Deutschland und China und erste Schritte sind in Vorbereitung, den Schienenstrang mit einem weiteren Gleis auszustatten. Der Transportweg ist sicherer und die benötigte Zeit ist sehr viel kürzer als der Schiffstransport. Selbst der Transport auf der im Sommer eisfrei gewordenen Schiffspassage durch das Nordpolarmeer kann damit nicht konkurrieren. In absehbarer Zeit wird ein durchgehendes Straßennetz vom europäischen Teil Russlands bis an den Pazifik führen und an der Grenze zwischen China und Kasachstan entstehen neue Übergänge. Der Personen- und Güterverkehr auf dem Luftweg von Europa nach China hat zugenommen.
Der Ausbau der Verkehrswege und ein verzweigtes Pipelinenetz für Rohöl und Gas bilden jedoch nur die Grundlage für die Scharnierfunktion Russlands. Hinzu treten müssten Bereiche der Veredelung von Rohstoffen und der Wiederaufbau einer industriellen Produktion, die wettbewerbsstark und in der Lage sind, den Eigenbedarf und auch die Nachfrage aus der EU und China zu befriedigen. Welche Probleme auf diesem Gebiet und insgesamt in der Transformation Russlands noch zu bewältigen sind, beschreiben die Autoren des von Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin herausgegebenen Sammelbandes „Russia – The Challenges of Transformation“, New York 2011.
2. Stand der Transformation Russlands
Georgi Derluguian gelangt in seiner Beurteilung des unter Jelzin begonnenen und durch Putin fortgesetzten Transformationsprozesses zu folgendem negativen Schluss: “In a fundamental sense, Putin’s restoration brought back the old Soviet dilemmas. If the enormous geopolitical costs of the Cold War and the external empire are now gone, the costs of bureaucratic self-serving inefficiency, paternalistic consumerism, and perverse class bargaining leading to subterfuge and corruption stand as huge as ever. Besides its sheer ongoing material and moral cost, bureaucratic arbitrariness renders futile any innovative economic initiative or an enormous class organization. This is now the major obstacle to the next technological modernization.” (Georgi Derluguian, The Soviet Bureaucracy in Russia’s Modernization, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.73-86, S.84). Auch der russische Unternehmer Alexander Lebedjew beklagte die Herrschaft der Bürokratie: “Überall sitzen Beamte, an denen man nicht vorbeikommt. Sie lassen den Unternehmen keine Freiheit, weil wir ihnen Konkurrenz machen. Der eine Vize-Premierminister hat eine Bank, der andere besitzt eine Fluggesellschaft, und der Gouverneur trägt ein Grundstück auf seinen Namen ins Grundbuch ein. Sie gehen ihren Geschäften nach, und wir sind für sie Konkurrenten.“ (Alexander Lebedjew im Interview mit Johannes Voswinkel, „Kein Plan, nur Taktik“, Die Zeit, 13.8.2009).
Derluguian und Lebedjew scheinen eine klare Vorstellung über gesellschaftliche, politische und rechtliche Bedingungen zu haben, unter denen technologische Erneuerung optimal stattfindet. Aus Derluguians Sicht zählen
Nun ist die Idealvorstellung einer Gesellschaft ohne Selbsttäuschung und Korruption nirgendwo auf Erden verwirklicht. Im weiten Spektrum zwischen den Extremen
Analysen des Transformationsprozesses kommen ohne Beurteilungsmaßstab nicht aus. Als ein Beispiel unter vielen ist der Transformationsindex BTI 2012 der Bertelsmann-Stiftung zu nennen. Unter der Hand avancieren in ihm die etablierten Demokratien Europas zum Vorbild. Als Vorbild erhalten sie den Status des Ideals, das scheinbar jeder Kritik stand hält und nicht mehr hinterfragt werden muss. In Korrespondentenberichten werden sehr oft die politischen und ökonomischen Verhältnisse Russlands scharf verurteilt, ohne zugleich den eigenen Beurteilungsmaßstab einer Kritik zu unterziehen. Das Ausmaß an Ignoranz über die oftmals fragile und dem offiziösen Anschein widersprechende Gesellschaftsstruktur ihrer Herkunftsländer und die Arroganz in der Verurteilung Russlands ist schon erstaunlich. Wie wenig Souveränität dem Volk z.B. im Grundgesetz zugemessen wird, scheint weitgehend unbekannt zu sein (Reinhard Hildebrandt, Öffnung des Staates zur Zivilgesellschaft – Abkehr von der Vorstellung der staatlichen Administration als heilige Ordnung (Hierarchie) und Aufbrechen der Hierarchie, in: ders., Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2011, S.153-202). Wie groß inzwischen die Selbstversorgermentalität der Parteien geworden ist, wird ebenfalls kaum wahrgenommen (Hans Herbert von Arnim, Die Selbstversorger – Die Parteien umgehen die Regeln der Parteienfinanzierung, indem sie ihren Stiftungen, Fraktionen und Stäben Gelder zuschanzen. Dadurch entfernen sie sich vom Bürger und verletzen die Chancengleichheit, Tagesspiegel, 1.7.2012).
Auch der geschichtliche Hintergrund darf, wie Georgi Derluguian betont, niemals außer acht gelassen werden und ebenso nicht die Divergenz zwischen dem glaubhaften Veränderungswillen politischer Persönlichkeiten und deren vergeblichen Kampf gegen überaus starke widerspenstige Institutionen: „Having re-centralized power, Putin and his successor Medvedev now face the question of what can be done with this power, or even how much power they can effectively deploy for any purposes besides the routine reproduction of bureaucratic privileges. … In the past, concentrations of power at the top served as prologues to great leaps forward. … In the present, such concentration by itself appears useless unless supported by the alternative charisma of a publicly trusted politician and the institutional strength of a modern publicly accountable state. The state is now back there, but will it move?” (Derluguian, S.84).
In diese Richtung zielt z.B. Richard Sakwa in seiner Abhandlung über “The Changing Dynamics of Russian Politics, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.87-113). Richard Sakwa unterscheidet zwischen “administrative regime” und “constitutional state”: “The tension between the transformative and the adaptive elements has still not been overcome and has imbued post-communist Russian politics with an acute developmental crisis, as the forces for change are stymied by conservative and nativist constituencies and sentiments.” (ebd. S.87/88). Die Pattsituation habe den zweigeteilte Staat hervorgebracht. “Entrenched social interests (notable, the bureaucracy and the security apparatus) are expressed in the form of an administrative regime, while the attempt to institutionalize the normative values of the post-communist experiment in liberal democracy is represented by the constitutional state. (ebd. S.87/88). Sakwa postuliert, dass die von ihm so bezeichneten “adaptiven Elemente” lediglich eine formelle Anpassung vornehmen, aber tatsächlich jegliche Transformation in Richtung Modernisierung hintertreiben. Er unterstellt, dass jene Kräfte rücksichtslos ihre eigene Machterhaltung im Blick haben, übersieht jedoch, dass sowohl die erwünschten Resultate der zur Erhaltung der Macht ergriffenen Instrumente wie die Maßnahmen zur Modernisierung in keiner Gesellschaftsordnung exakt prognostizierbar sind.
Der Transformationsprozess in Russland ist zu komplex, um den Machthabern im Vorhinein eine vollständige Übersicht über kurz- wie langfristig durchsetzbare Resultate zu gewähren. Sakwas Behauptung, es hätte sich eine Patt-Situation zwischen Administration und konstitutionellem Staat ergeben, ist und bleibt eine unbewiesene Unterstellung. Weder kann eine Politik, die ausschließlich die Erhaltung der Machtelite zum Ziel hat, den sicheren Weg zum Ziel bestimmen, noch zeigt sich eine vollkommen auf Modernisierung ausgerichtete Politik in der Lage, unerwünschte Resultate bereits im Vorgriff sicher zu vermeiden und den erwünschten Entwicklungspfad stets exakt zu treffen.
Nichtsdestoweniger trifft die folgende Aussage Sakwas über den „dualen Staat“ zu: „The two pillars of the dual state give rise to a distinctive type of hybrid regime, in which a type of ‘mixed constitution’ has emerged, combining two types of governmentality: the legal-rational proceduralism, and open political contestation and pluralism of the constitutional state, balanced by the shadow and arbitrary factional politics based on informal networks in the administrative regime.”(Richard Sakwa, ebd. S.87/88). Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Komponenten bezeichnet Richard Sakwa als entscheidendes Merkmal russischer Politik: “In the dual state, the normative/legal system based on constitutional order is challenged by the shadowy arbitrary arrangements of the administrative regime, populated by various conflicting factions. The tension between the two is the defining feature of contemporary Russian politics.” (Richard Sakwa, ebd. S.92).
Eine solche Zweiteilung der Macht verursacht zweifellos Reibungsverluste. Sakwa unterstellt jedoch, dass “legal-rational proceduralism“ per se bessere Resultate erzielt und vergisst, dass in Staaten, in denen die absolute Priorität des gesetzgebenden Regelwerks in der Verfassung festgelegt worden ist, dennoch meist unter der Hand Parallelsysteme der Machtausübung entstehen, was ebenfalls nicht nur Reibungsverluste erzeugt, sondern auch zu erheblichen Verzerrungen des Gemeinwohls führen kann. Die Belange hegemonialer Formationen umgehen oder durchkreuzen auch in etablierten Demokratien oftmals die Prozeduren des Gesetzgebungsprozesses.
Eine einseitige Konzentration der Analyse auf das Spannungsverhältnis zwischen dem administrativen Regime und dem konstitutionellen Staat sucht die Ursache für Fehlentwicklungen nur dort und nicht auch in Anlässen, die eine solche Zweiteilung erst ermöglichen und das Ausmaß an Willkürherrschaft legitimieren. Sakwa verweist selbst bereits auf Verhaltensweisen im politischen Bewusstsein der Bevölkerung, die eine solche Zweiteilung in der Machtausübung befördern. So äußerten im Jahre 2005 51 Prozent der Bevölkerung, dass “Russia needs a president to exert a ‘firm hand’ to govern the country”, wohingegen 44 Prozent die Meinung vertraten, dass der Präsident die Verfassung stets strikt beachten sollte (Richard Sakwa, ebd. S.95).
Wenn sich die Machtvertikale Putins auf die Zustimmung von 51 Prozent der Bevölkerung stützt und Putin unterstellt werden kann, dass er selbst für Modernisierung eintritt und keinesfalls bewusst die Restauration des Sowjetsystems befördert, werden seine einseitig auf bloße Machterhaltung pochenden Widersacher in der Politik auf seinen massiven Widerstand stoßen. “The presidency is at the heart of the administrative regime but is not limited to it. These forces come together in formal factions, notable in the form of two meta-groups conventionally labeled the ‘siloviki’ and the ‘liberal-technocrats’, which than can be subdivided into at least six other identifiable spheres of interest, if not into interest groups in the traditional meaning of the term.” (Richard Sakwa, ebd. S.95). Piotr Dutkiewicz stützt diese These, wenn er schreibt: “The current rulers in the Kremlin are convinced that they needed to restore, at the core, what was a traditional and central engine of social development in Russian history: the state.” (Piotr Dutkiewicz, Missing in Translation: Re-conceptualizing Russia’s Developmental State, ebd. S.20).
Schließlich muss daran erinnert werden, unter welchen Vorzeichen Putin die Ära Jelzin abgelöst hat. “Operation ‘Privatizing the State’ was well underway by the time of the financial collapse in 1998.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.21). “This means that most Russians expect the government to implement a model of state capitalism appropriate for an economically developed country.”(Mikhail K. Gorshkov, ebd. S.181). Offensichtlich hatte die Privatisierung des Staates unter Jelzin so gravierende Folgen für die Masse der russischen Bevölkerung, dass in ihr gegenwärtig die Meinung vorherrscht: “One of the most important objects of public attention for Russians – in a sense of indicative of the way they perceive the world – is the place and role of the state in the economy and society. Russians mainly support state domination of the economy and administration of property.”(ebd. S.181). Hierbei handelt es sich laut Mikhail K. Gorshkov vor allem um die Meinung der Unterprivilegierten bzw. völlig mittellos gewordenen Teile der russischen Bevölkerung: “The poor, particularly those who have become destitute, suffer not only from a lack of money but also from an inability to meet their own most basic human needs – adequate food, clothing, and housing. Moreover, research shows that the poor lose hope and resign themselves to living without many of the essentials they can no longer afford.”(ebd. S.158).
Mikhail K. Gorshkov nennt einige Gründe für ihre Unzufriedenheit: “Overall, many social groups are underprivileged as an indirect result of the institutional conditions of Russians’ lives, as well as of mistakes in health care reform and pension-fund policy. Inadequate provision for the elderly and restrictions on certain sectors in particular, are reflections of these mistakes.”(ebd. S.164). “Russian’ greatest dissatisfaction”, notiert er, “is caused by the extreme inequality in the distribution of property and income.” (ebd. S.170). Viele Russen tendieren deshalb für einen Rückzug in die private Nische: “Russians believe that the best policy in life is the organization of social and economic niches within their own immediate circles – niches in which people feel at home.” (ebd. S.181).
Tiefer reichend als Richard Sakwas Analyse eines dualen Systems ist die von Piotr Dutkiewiczs zur gegenwärtigen Situation Russlands: “The Kremlin, even though it fosters an aura of omniscience, continues to base its politics on what might be termed as a timid trial-and-error approach. Russia has a market system (as recognized by the EU and WTO), but the system of accumulation is to a large extent based on nonmarket political access.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.13).
Angesichts der oftmals unübersichtlichen Entscheidungssituationen bleibt als Vorgehensweise nur das Prinzip von Versuch und Irrtum übrig. Hinzu kommt, dass wenn die Medien zwar nicht per se frei sind, aber auch nicht unter der totalen Kontrolle des Staates stehen (mit der Ausnahme des Fernsehens), in der widersprüchlichen Gesamtberichterstattung sehr leicht der Eindruck entsteht, dass die Regierung zwar stark erscheint, aber die staatlichen Institutionen als ziemlich schwach angesehen werden (“The government’s rule is seen as strong, but the state’s institutions remain fairly weak [as evidenced by the existing corruption and noteworthy lack of accountability and transparency]).”(ebd.). Daraus folgt laut Dutkiewicz: “While the decisions of the Kremlin’s elite are seen by many as systemic manipulation – or just a massive PR exercise – many of them are real responses to the needs of the Russian people: strength and weakness in one. Russian politics is becoming increasingly assertive, but its implementation is anything but that. At the moment, there is neither stability nor change.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.13).
In die Zukunft weisend gelangt Mikhail K. Gorshkov zu folgendem Schluss: “Analysis of the dynamics of the public national consciousness shows that post-reform Russia is not only on its feet but indeed capable of self-determination and self-affirmation. Over the past seven or eight years, Russia has succeeded in taking control of itself and has turned into a country with an independent destiny and its own plans for the future.”(ebd. S.183/184). Gorshkov fordert die russische Führung zu folgender Politik auf: “Evidently, the way out of this situation should not just be an economic one, envisaging an ‘intelligent’ solution, capable of producing proprietary knowledge, importing the newest technology, and results of innovatory economic activity, but also modernization of the social system as a whole. This would, albeit gradually, resolve many of the most difficult questions – including such as how to withstand the global crisis and the challenges of competition, modernize the army, and govern a country that is both enormous and complicated in its national and cultural makeup. In the process, the country’s democratic institutions would be strengthened and its stability ensured.”(ebd. S.185).
2.1 Ablehnung der Machtvertikale Putins von Teilen der aufstrebenden Mittelschicht
Nach Mikhail K. Gorshkov hat sich in Russland eine erfolgsorientierte Mittelschicht gebildet: “A large middle class has developed in Russia over the reform years, which, though similar to the general population in terms of its principal features, places particular emphasis on achievement. This means that all resources are devoted to continuing professional development, leading ultimately to professional success. Sociologically speaking, the modern Russian middle class is made up of those who have been able to adapt successfully to the new social reality, are rightful proud of this, and, unlike then lower classes, feel in charge of their own destinies.” (Mikhail K. Gorshkov, S.164).
Es ist anzunehmen, dass diese neue Mittelschicht zu den 44 Prozent der Bevölkerung zählt, in der die Meinung verbreitet ist, der Präsident sollte die Verfassung stets strikt beachten. Dieser Teil der Bevölkerung, notiert Richard Sakwa, “began to be emancipated from state tutelage”, aber anders als in der Zeit der “anarcho-democracy” der 1990er Jahre “this time in a democratic guise, accompanied by the suffocation of independent civic self-organization of society and the stunt development of the individual as an autonomous citizen.”(Richard Sakwa, The Changing Dynamics of Russian Politics, S.87-113, S.95). Sakwa meint, dass der Staat die spektakuläre Entwicklung des Individuums zu einem autonomen, selbstverantwortlichen Bürger nicht nur behindert, sondern dass er die vielfältigen Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und Institutionen sogar erstickt. Ausländische NGOs müssen sich jedoch gefallen lassen, gegenüber dem russischen Staat Rechenschaftsberichte über die ins Land eingeführten Geldsummen und deren Verwendung zu liefern, allein schon aus dem Grund, nicht als Agenten ausländischer Dienst und Staaten abgestempelt zu werden.
Die aufstrebende Mittelschicht lebt vor allem in den zwei Hauptstädten Russlands (Moskau und St. Petersburg) und in den Städten mit mehr als einer Million Einwohnern. Laut Lev Gudkov beträgt der Anteil der Bevölkerung, der in Millionenstädten lebt – dreizehn insgesamt –, 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Sozial-, Kauf- und Freizeitverhalten, Lebensstil, der Zugang zu Informationen, Bedürfnisse und kulturelle wie politische Orientierung und damit auch der Charakter der sozialen Beziehungen würden sich zwischen Zentrum und Peripherie unterscheiden. Dies habe mit dem Einkommensgefälle wenig zu tun. (Lev Gudkov, in Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.21-46, ebd. S.22).
Sofern Putin auf das Produktivpotential der Mittelschicht aus den Metropolen für den Wiederaufbau der industriellen Basis Russlands angewiesen sein sollte, muss er, um Passivität aus Enttäuschung und Auswanderung aus Frustration zu vermeiden, deren Wünsche nach mehr Teilhabe und Teilnahme am politischen Prozess selbst dann berücksichtigen, wenn die Anzahl der Protestierenden kleiner als von der Presse behauptet sein sollte. „Das eigentliche Protestpotential“, registriert Lev Gudkov, „ist gering, deutlich geringer als die engagierte Presse und die Opposition, die damit ihre Hoffnung auf politische Veränderung verbindet, es darstellen.“ (Lev Gudkov, ebd. S.42). „Mittlerweile“, notiert Elke Windisch, „zweifeln sogar einige ihrer Anführer am Potential der Protestbewegung. Der Machtwechsel in Russland werde sich sehr langsam vollziehen, meint der Schriftsteller Boris Akunin. Die Zivilgesellschaft sei derzeit zu schwach, um Verantwortung übernehmen zu können.“ (Elke Windisch, Putins Getreue schlagen zurück, Tagesspiegel, 4.2.2012). Laut Jens Mühling dämmert es der Opposition, „dass sie weder konsensfähige Führungsfiguren noch inneren Zusammenhalt noch konkrete Ziele hat, die sich kurzfristig durchsetzen ließen – und der für ein langfristiges Engagement möglicherweise der Atem fehlt.“(Jens Mühling, Der Zar ist nackt, Tagesspiegel, 19.2.2012). Der Slogan „Für ein Russland ohne Putin“ sei der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bewegung, schreibt Claudia von Salzen, in „Für ein Russland ohne Putin“, Tagesspiegel, 13.6.2012. Niels Kreitmeier stellt fest: „Alte Liberale wie Nemzow können wenig mit dem offen zur Schau getragenen Patriotismus der jüngeren Generation um Nawalny anfangen. Und die wiederum hält den 52-jährigen Nemzow oder den Chef der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, für Politiker von gestern, die mit der neuen Art des Widerstands nicht mehr zurecht kommen.“ (Niels Kreitmeier, Moskauer Spaltpilze, Financial Times Deutschland, 22.12.2011).
Nach den Massendemonstrationen zeigte die Regierung erste Anzeichen für einen Dialog. Es solle einen Dialog geben, aber man könne mit keinem reden. Es gäbe keine einheitliche Plattform. Erstmals durfte jedoch auch der Chefredakteur des kritisches Radiosenders „Echo Moskau“ Fragen an Putin stellen. „Die Regierung reagierte mit der Ankündigung politischer Reformen. Die Direktwahl der Gouverneure soll wieder eingeführt und ein unabhängiges, öffentlich-rechtliches Fernsehen geschaffen werden. Im April 2012 wurde bereits die Zulassung von Parteien erleichtert. Zum anderen hat der neu gewählte russische Präsident Wladimir Putin in einem programmatischen Zeitungsartikel im Februar 2012 umfangreiche wirtschaftliche Veränderungen sowie die Privatisierung großer Staatsunternehmen in Aussicht gestellt. Bis 2020 soll eine diversifizierte, mittelstandsorientierte und global wettbewerbsfähige Wirtschaftstruktur mit einem höheren Anteil an modernen Technologien entstehen. Die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 unterstreichen diese positive Entwicklung ebenso wie der Beitritt zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung im Februar 2012.“ (Bericht des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, a.a.O.).
Denn einseitig auf Angst und Duldsamkeit der Mehrheit der Bevölkerung Russlands in der Provinz zu setzen und darüber die Unzufriedenen zu vernachlässigen, könnte ebenso fatale Folgen für die Vollendung des Modernisierungsprozesses haben wie die ausschließliche Orientierung an den Bedürfnissen der aufstrebenden Mittelschicht. Die russische Führung, ob Putin oder einer seiner Nachfolger, muss beide gesellschaftliche Bewegungen bedienen.
„Etwa zwei Drittel der Bevölkerung leben in Dörfern, Siedlungen sowie Städten mit bis zu 250 000 Einwohnern. Das Leben ist hier ganz anders als in den Megapolen und Großstädten.“ (Lev Gudkov, ebd. S.42.). Dieser Teil der Bevölkerung Russlands kann in seinem Beharrungsverhalten von der Führung des Landes nicht ignoriert werden. Ihn in den Modernisierungsprozess einzubeziehen, verlangt andere Vorgehensweisen als die Berücksichtigung und Einbeziehung der Mittelschichten. Andreas Schockenhoff bemerkt, dass „eine Mehrheit von Unzufriedenen ihr Land auf einem falsch Weg“ sieht, und ebenfalls eine Mehrheit wünscht „keine Veränderungen“ (Andreas Schockenhoff, Annäherung durch Wandel, Tagesspiegel, 27.11.2011).
Mehr Aufschluss über verbreitete Meinungen und Verhaltensweisen der russischen Bevölkerung vermittelt eine empirische Umfrage, die Mikhail K. Gorshkov, Direktor des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, erst vor kurzem durchgeführt und zuerst am 11. Juni 2012 in Berlin präsentiert hat.
2.2 Meinungsspektrum Russlands auf der Grundlage empirischer Befragungen – „Der russische Traum“
2.2.1 Traum und Wirklichkeit – Was ist ein erfülltes Leben ?
Vorab gesagt, die in der russischen Bevölkerung anzutreffenden Meinungen unterscheiden sich nur in wenigen Punkten erheblich vom Meinungsspektrum, das in mittel- und westeuropäischen Bevölkerungen vorherrschend ist. Gefragt, welche Träume bzw. Lebensperspektiven sie für sich erfüllt sehen möchten, nennen die Befragten jeweils ein Märchen, in dem sie ihre Lebenswünsche am ehesten interpretiert sehen.
40 Prozent der Interviewten heben das Märchen von Aschenputtel hervor. Offenbar identifiziert sich dieser Teil der Bevölkerung mit dem Mädchen, das von der Stiefmutter schäbig behandelt wird, alle Mägdedienste im Hause leisten muss, von ihren Stiefschwestern verspottet dennoch immer höflich und zuvorkommend alle aufgetragenen Arbeiten verrichtet. Sie entgeht ihrem traurigen Schicksal durch die Heirat mit dem Prinzen. Opfer- und Arbeitsbereitschaft sowie Hoffnung und geduldiges Erwarten eines glücklicheren Lebens sind die bestimmenden Faktoren für diese Gruppe von Menschen.
Im Leben der britischen Prinzessin Diana sehen 60 Prozent der russischen Frauen und 16 Prozent der Männer ihren Lebenstraum erfüllt. Wenn Frauen zu einem hohen Prozentsatz Anteil an der vom Ehemann lieblos behandelten Prinzessin Diana und ihren Selbstbefreiungskämpfen aus den gesellschaftlichen Verstrickungen nehmen, verweist diese Sympathie auf erfahrenes Leid in unglücklichen Ehen, den Wunsch auf ein glückliches Familienleben und die Befreiung von familienfeindlichen gesellschaftlichen Zuständen. Die 16 Prozent der Männer zieht offenbar die publizistisch vermarktete scheinbare oder tatsächliche Freizügigkeit im Leben Dianas an.
Das Märchen von Hans im Glück bezeichnen 25 Prozent der Bevölkerung als Erfüllung all ihrer Wünsche. Sie vertrauen vor allem dem Zufall und sehen kaum realisierbare Chancen, ihren Lebensumständen bewusst und durch eigene Tatkraft entgehen zu können.
20 Prozent der Befragten fühlen im Märchen von den drei Recken ihren Lebenstraum erfüllt. Arbeitsbereitschaft, Tapferkeit, Intelligenz und unbedingte Wahrheitsliebe zeichnen die drei Recken aus. Sie werden dafür auch vom Herrscher belohnt.
Eng mit den „Traumdeutungen“ verbunden sind folgende vier Wünsche in der russischen Bevölkerung:
2.2.2 Orientierungsmerkmale
Anders als in west- und mitteleuropäischen Gesellschaften existiert in 50 Prozent der russischen Bevölkerung der Hang zu einem messianischen Glauben, der entweder durch einzelne Führungspersönlichkeiten repräsentiert wird oder auf abstrakte Ziele ausgerichtet ist. Die andere Hälfte lehnt einen solchen Glauben ab. 25 Prozent der Bevölkerung sehen ihren Glauben durch Breschnew verwirklicht, als die Sowjetunion neben den USA zu einer anerkannten Weltmacht aufstieg und die global gültigen inner- wie intergesellschaftlichen Wertmaßstäbe entscheidend mitzubestimmen hoffte. In der Zeit davor, als Chruschtschow den baldigen Gleichstand mit USA verkündete und die Überholung des Konkurrenten versprach, erträumte die Mehrheit der Russen, bald den „kommunistischen Morgen“ zu erleben. Heutzutage glaubt ein Drittel an die Fähigkeit Putins, den früheren Weltmachtstatus wieder herstellen zu können.
Hinter dem Postulat der Gleichberechtigung stehen alle Bürger. Der Anspruch auf Gleichberechtigung drückt sich insbesondere in der Forderung nach gleicher medizinischer Versorgung für alle Bürger aus.
Unter Freiheit versteht ein Drittel der Russen, dass jeder seine angeborenen und zusätzlich durch gute Bildung und gute Arbeit erworbenen Fähigkeiten ausleben kann. Diese Lebensperspektive ist unter den bereits etablierten Bürgern ganz besonders stark verbreitet. 60 Prozent der Russen verhalten sich ich-orientiert und glauben an die Realisierung ihrer Träume, 50 Prozent setzen auf eigene Anstrengung und 50 Prozent auf das Eintreffen von Wundern. Für Mikhail K. Gorshkov wirft dieser Befund kein gutes Licht auf die Opposition. Die entstandene soziale Ungerechtigkeit wird anerkannt, aber zugleich vom Staat gefordert, dass er Maßnahmen zur Vermeidung von Exzessen ergreift. Vom Staat wird erwartet, dass er sowohl den Selbstverwirklichungswillen der Individuen tatkräftig unterstützt und zugleichgerechte Bedingungen für alle bereitstellt.
In welchen Widerspruch er gerät, wird daran deutlich, dass 79 Prozent der Bevölkerung für die Schaffung und Erhaltung sozialer Errungenschaften eintreten und die übrigen 21 Prozent eine solche Politik strikt ablehnen. Der Elite in Staat und Politik reichen bereits freie Wahlen zur Herstellung des sozialen Friedens aus, wohingegen von der Mehrheit der Bevölkerung vor allem funktionierende Institutionen und sozialstaatliche Einrichtungen gefordert werden. Festzuhalten bleibt, dass obwohl sozialkonservativ ausgerichtete Russen eine andere Vorstellung über die Zukunft Russlands hegen als liberal denkende, wird Putin in beiden Lagern akzeptiert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Meinungsspektrum widersprüchliche Erwartungen aufeinander stoßen. Auf welche Weise ein starker Staat für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit aller Bürger sorgen und zugleich die Freiheit des Einzelnen auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen garantieren soll, sprengt alle bisher praktizierten Maßnahmenkataloge von Staaten.
Dem widersprüchlichen Vorschlag von Thomas Hobbes zum Staatsvertrag kann als Antwort auf dieses Problem nirgendwo gefolgt werden. „Hobbes zerreißt die dem Selbsterhaltungsstreben der Individuen unzertrennlich zugrunde liegenden beiden Momente von Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz. Beide Momente konstituieren zusammen die Selbsterhaltung der Individuen. Ihre Selbsterhaltung geschieht weder ausschließlich in der Verfolgung von Eigennutz noch als reine Ausführung von selbstgesetzlichem Denken und Handeln.“ (Reinhard Hildebrandt, Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2009, S.18/19). Hobbes deformiert die realen Menschen zu Kunstfiguren. „Wenn Hobbes … den Individuen in willkürlicher Weise unterstellt, dass sie im Falle ihrer drohenden Selbstzerfleischung das Moment der Selbstgesetzlichkeit auf den absoluten Souverän übertragen und für sich selbst nur noch das Moment des Eigennutzes reservieren wollen, entzieht er sowohl dem absolut herrschenden Souverän wie den von ihm beherrschten Individuen einen unveräußerlichen Teil ihrer Selbsterhaltung. Weder kann der Souverän ausschließlich selbstgesetzlich handeln noch können die ihm unterworfenen Individuen nur nach Eigennutz streben und das Moment der Selbstgesetzlichkeit gänzlich vernachlässigen.“ (ebd.). Die gesellschaftliche Praxis Russlands wird zeigen, ob man schließlich einen, den Traditionen Russlands adäquaten Kompromiss findet.
3. Russland auf dem Weg vom Rohstofflieferanten zum Produzenten von hochwertigen Industrie- und Dienstleistungsprodukten – Eine Illusion?
3.1 Russlands gegenwärtige Wirtschaftsstruktur
Laut des Berichts des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft vom April 2012 konnte sich „die russische Wirtschaft … nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise dank anziehender Rohstoffpreise deutlich erholen. Auf ein negatives Wirtschaftswachstum von 7,9 Prozent im Jahr 2009 folgten 2010 und 2011 wieder Zuwachsraten von jeweils 4,3 Prozent. Auch für 2012 rechnen IWF, EBRD und Weltbank mit einem soliden Wachstum von 3,3 bis 4 Prozent. Die Staatsverschuldung in Russland bleibt mit rund 10 Prozent des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar.“(Bericht des Ost-Ausschusses, a.a.O.).
Im Bericht heißt es weiter: „Strukturell ist die russische Wirtschaft jedoch immer noch in hohem Maße von der Entwicklung der Öl- und Gaspreise abhängig. Rohstoffe stehen für ca. 80 Prozent der russischen Exporte und finanzieren zu rund 50 Prozent den Staatshaushalt.“ (ebd.). Z.B. bezieht seit 2009 der europäische Flugzeugbauer Airbus russische Titanerzeugnisse im Wert von 3,1 Milliarden Euros. Die russischen Titananteile werden für die Produktion des Airbus A 350 XWB benötigt (Tagesspiegel, 21.4.2009). An der Rohstoffausrichtung hat der angekündigte Modernisierungskurs des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew wenig geändert. Medwedew hatte im September 2009 für sein Land eine komplett neue Wirtschaftsstruktur und die Überwindung der Rohstoffabhängigkeit gefordert (Bericht des Ost-Ausschusses, ebd.).
Auch der in diesem Jahr wieder gewählte Präsident Wladimir Putin sieht in der verbreiteten Korruption eine größere Gefahr als im Auf und Ab der Öl- und Gaspreise. Im Bericht des Ostausschusses ist zu lesen: „Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung des größten Flächenstaates der Welt aus. Im Doing-Business-Index der Weltbank rangiert Russland im hinteren Mittelfeld (2012: Platz 120 von 183). Die russische Länderrisikoprämie ist höher als in allen anderen BRICS-Staaten. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer vergleichsweise niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. So hat sich Russlands Nettokapitalabfluss im Jahr 2011 von 27 auf rund 60 Milliarden Euro mehr als verdoppelt.“(ebd. )1.
Bereits in seinem Wahlprogramm hatte Wladimir Putin auf diese Entwicklung reagiert und den Schwerpunkt auf die Stimulierung von Investitionen, Schaffung neuer Produktionskapazitäten, umfassende Anwendung von Innovationen, Steigerung der Energieeffektivität und Entwicklung moderner Branchen gelegt. Dies solle unter anderem durch eine Herabsetzung der Zinssätze geschehen. Er kündigte außerdem eine Abkehr vom Modell des Wirtschaftswachstums an, „dem hohe Ölpreise bei der Nutzung von aus der UdSSR stammenden Produktionskapazitäten zu Grunde lagen.“ Stattdessen forderte er: „Die Entwicklung der Energiewirtschaft, der Industrie und der Agrarwirtschaft müsse auf ein neues technologisches Niveau angehoben werden. Außerdem versprach er: „Wir werden alle Bedingungen für die Förderung der Privatinitiative schaffen. Wir werden dem Unternehmertum helfen, indem wir den Kampf gegen bürokratische Barrieren fortsetzen.“ (Jana Lapikowa in RIA Novosti, 15:34 12/01/2012).
Nicht nur deutsche Unternehmen zogen erste Konsequenzen aus dem WTO-Beitritt Russlands und den sich dadurch ergebenden Investitionsmöglichkeiten. Auf der Webseite der US-Zeitung „The Wall Street Journal“ veröffentlichte die US-Außenamtschefin Hillary Clinton einen Artikel, in dem sie den WTO-Beitritt Russlands als eine „gute Nachricht“ für die US-Unternehmen und deren Angestellte bewertete, weil damit der Zugang zu einem der sich am schnellsten entwickelnden Märkte der Welt erweitert werde. „Der bilaterale russisch-amerikanische Handel hat sein ganzes Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft“, so Clinton. „Der US-Export nach Russland macht weiterhin weniger als ein Prozent unseres globalen Exports aus.“ (Moskau, 20. Juni 2012 (RIA Novosti).
Den US-Kongress forderte sie auf, das Jackson-Vanik-Amendment2außer Kraft zu setzen und damit die Prozedur des jährlich zu erneuernden Moratoriums zu beenden: „Jetzt ist es an der Zeit, dass diese Klausel endgültig Vergangenheit wird. Vier Jahrzehnte nach ihrer Annahme wird die Abstimmung über die Herstellung dauerhafter normaler Handelsbeziehungen mit Russland zu einer Abstimmung über die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Amerika.“ (ebd.). Der Valdai-Report vom Juni 2009 hatte diese Forderung schon angemahnt. Darin hieß es: „The key prerequisites for developing their economic cooperation should be the full cancellation of the Jackson-Vanik Amendment and all other limitations on Russian exports and on the development of trade and economic relations with Russia in general, and resumption of the bilateral agreement on peaceful nuclear cooperation” (ebd.S.22).
Hillary Clinton kündigte in ihrem Brief sogar eine umfassendere Neuorientierung des Verhältnisses der USA zu Russland an, indem sie schrieb: „Die WTO-Mitgliedschaft allein bringt nicht auf einmal die Veränderungen, nach denen das russische Volk strebt. In unserem langfristigen strategischen Interesse wäre es, die Zusammenarbeit mit Russland in den Bereichen fortzusetzen, in denen unsere Interessen identisch sind.“ (ebd.). Zur gleichen Zeit wurde bekannt, dass General Motors seine PKW-Produktion in Russland zu Lasten von Opel in Deutschland drastisch erhöht. Die Vorbehalte von General Motors beim Verkauf der Hälfte von Opel an das österreichisch-kanadische Unternehmen Magna (20%) und die russische Investorengruppe aus Gas und Sberbank (30%) im Jahre 2009 sowie die Verzögerungstaktik des damaligen bundesdeutschen Wirtschaftsministers von Guttenberg lassen sich erst jetzt aus dem aufgeschobenen Eigeninteresse General Motors erklären, dass zum damaligen Zeitpunkt wegen des in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Autokonzerns nicht realisierbar war (Marc Brost, Dietmar H. Lamparter, Johannes Voswinkel, Die Russen ziehen mit, Die Zeit, 30.4.2009 und James Kilner, As Russian car industry slips, fears of unrest rise, International Herald Tribune May 12, 2009).
3.2 Russlands Platz zwischen der EU und China
Wenn ein ausgewiesener Russland-Experte für sein Buch den Titel „Der kalte Freund“ wählt, stehen Besorgnisse sowohl über innerrussische Entwicklungen wie über gestörte Beziehungen mit Russland im Vordergrund (Alexander Rahr, Der kalte Freund, München 2011). Aus Alexander Rahrs Botschaft, jetzt eine umfassende Partnerschaft mit Russland anzustreben und nicht so lange zu warten, bis in Russland eine Demokratie entstanden ist, lässt sich entnehmen, dass der Autor das Zuwarten der Europäischen Union für kurzsichtig und nur ideologisch begründet ansieht und als strategische Fehlentscheidung kritisiert. Die Verweigerung einer weit über enge wirtschaftliche Beziehungen hinausgehenden Partnerschaft betrachtet er als gefährlich für Europas Anspruch, im Chor der globalen Mächte der eigenen Stimme Gewicht zu verleihen und langfristig ernst genommen zu werden. Die EU sollte Nutzen und Nachteile besserer Beziehungen zu Russland sorgfältig abwägen.
Rahr verurteilt sowohl den oftmals zu beobachtenden Rückfall in das im Kalten Krieg vorherrschende angstbesetzte Denken vieler Europäer wie auch die in der Amtszeit des russischen Präsidenten Jelzin dominierende Überheblichkeit gegenüber dem geschwächten Russland. Für die Wahrung europäischer Interessen seien weder Rücksichten auf strategische Befürchtungen des Militärs der USA vor einem europäisch-russischen Schulterschluss noch übertriebene Rücksichtnahme auf verständliche Rachegefühle der ehemals unter sowjetischer Herrschaft stehenden Osteuropäer zielführend. Allein ausschlaggebend sollte die Antwort auf die Frage sein, auf welche Weise Europas Position in einer veränderten Weltordnung am besten gewahrt wird.
Auf dem Hintergrund eines in der Zukunft immer härter werdenden Wettbewerbs der Weltmächte um den Zugang zu unentbehrlichen Rohstoffen und Energie ist zu verstehen, dass Rahr größten Wert auf den engen Verbund zwischen dem rohstoffarmen Europa und dem an Rohstoffen und Energie reichen Land Russland legt. Von den „Metallen der Zukunft“, die insbesondere von der High-Tech-Industrie benötigt werden, werden in Russland Tantal (Coltan), Germanium, Kobalt, Platin und Neodyn gefördert (Dirk Asendorpf, Die Metalle der Zukunft, Die Zeit, 22.10.2009). Zu bedenken gibt er, dass die Europäische Union ohne gute Beziehungen zu Russland weder in der Energieversorgung noch im Zugang zu seltenen Metallen auf langfristig sichere Quellen in der übrigen Welt zurückgreifen kann. Will die europäische Industrie also weiterhin technologisch führend in der Welt bleiben, muss sie ihre Beziehungen zu Russland ausbauen. Seiner Ansicht nach haben die global aufgestellten europäischen Unternehmen diese Herausforderung bereits begriffen und investieren in Russland. So hat Siemens mit dem russischen Unternehmen Power Machines OJSC im Sommer 2011 ein Gemeinschaftsunternehmen zum Bau von Gasturbinen gegründet und will mit der Produktion den Markt für Gasturbinen, Gaskraftwerke und kombinierte Gas- und Dampfkraftwerke bedienen (Tagesspiegel, 2.8.2011). Siemens engagiert sich im von Russland geplanten Innovationszentrum Skolkowo mit Biologie- und Energieforschung (Stefan Scholl, Partner sind keine Freunde, Frankfurter Rundschau, 16.7.2010). Außerdem unterzeichnete Siemens bereits 2010 Verträge von mehreren Milliarden Euro, in denen die russischen Staatsbahnen die Lieferung von 240 Regionalzügen und 200 Güterzügen orderten. Darüber hinaus sollte 2011 bereits die Auslieferung des Airport-Zubringers des Typs „Desiro“ beginnen (Tagesspiegel, 16.7.2010). Schon im Jahre 2006 beschloss Volkswagen in Kaluga südlich von Moskau den Bau eines Autowerkes für eine halbe Milliarde Euro und 3000 Arbeitskräfte. Es folgten Samsung, Volvo, Peugeot, Berlin-Chemie und Continental (Moritz Gathmann, Die Machtvertikale, Tagesspiegel, 4.12.2011). Deutsche Unternehmen erwarten im Jahre 2012 sogar noch bessere Geschäfte. „Während der Export deutscher Unternehmen im vergangenen Jahr weltweit um rund 13 Prozent zulegte, stieg er im Falle Russlands sogar um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr und dürfte nun ein Volumen von bis zu 74 Milliarden Euro erreicht haben“, sagte Cordes (Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Industrie). Da Russland von der Euro-Krise kaum so gut wie nicht berührt sei und im Sommer 2012 der WTO beitrete, seien die Aussichten für eine weitere positive Entwicklung gegeben (Tagesspiegel, 7.2.2012). Deutschland ist nach China der wichtigste Handelspartner Russlands (Elke Windisch, Zweierlei, Tagesspiegel, 18.7.2011).
Woran es mangelt ist die Unterstützung durch die Politik, die immer noch rückwärtsgewandt oder unverständlich zaudernd einen Schlingerkurs fährt zwischen einerseits realpolitisch begründeter Zuwendung zu Russland und andererseits einer werteorientierten bzw. auf die Erfüllung von „Good Governance“ pochenden Aufforderung an Russland, sich dem Modell der demokratisch strukturierten Gesellschaften Europas anzupassen. Am eigenen Gesellschaftsmodell festzuhalten, es in einem stetigen Prozess zu vervollkommnen und es anderen Gesellschaften als Möglichkeit des Zusammenlebens anzupreisen, ist eine auch von Rahr unterstützte Politik. Jedoch dieses Modell, das unter spezifischen Bedingungen entstanden ist, anderen Völkern oktroyieren zu wollen, bezeichnet man üblicherweise als Hybris.
Mit seiner Auffassung stimmt er mit der Sichtweise Vladimir I. Yakunis überein, der in seinem Nachwort „Russia and the West: Toward Understanding“ im von Dutkiewicz und Dmitri Trenin herausgegebenen Buch „Russia – The Challenges of Transformation“, S.433-458) schreibt: „Nations, states, and civilizations have developed for centuries under their unique conditions. They either survived or disappeared from history. Ways and means of survival were reinforced in memory, skills, traditions, and approaches; in ways of Life, culture, and law; in the structure of the state, the organization of labor, government, the rules of community life. That is how different (with the operative word being ‘different’) civilizations were born. But what was shared was the fact that the experience they accrued and reinforced as part of their identity was of the same kind: it was the experience of success. It is clear that nations and civilizations maximize their success only when they use their own formulae for success.“ (ebd.S.437). Jede Gesellschaft hat im Lauf ihrer Entwicklung ihr eigenes Profil geschaffen, das nicht einfach „schockartig“ ausgewechselt werden kann, wie es beispielsweise in der Jelzin-Zeit unter dem Ministerpräsidenten Jegor Gaidar mit Russland versucht wurde und von übereifrigen Vertretern der Global Governance Theorie immer noch gefordert wird (Tagesspiegel, 17.12.2009).
Nicht rundweg abzulehnen, sondern kritisch zu begleiten ist beispielsweise die Auseinandersetzung der russischen Führung mit den Demonstranten für mehr Demokratie in Russland. Es ist daran zu erinnern, dass die Entmachtung des russischen Parlaments bereits unter dem Premierminister Ryschkow im Jahre 2004 geschah. Als Folge des Terroranschlags in Beslan wurde das Konzept der „Machtvertikale“ durchgesetzt (Christian Esch, Teure Bühne, Frankfurter Rundschau, 1.12.2011). Schon zur Zeit der Auflösung des Obersten Sowjets im Oktober 1993 mit Panzern und schwerer Artillerie lieferten sich die Kontrahenten einen Richtungsstreit: „In Wahrheit war es eine gewaltsame Lösung für einen Richtungsstreit: Chasbulatow wollte eine soziale Marktwirtschaft, Jelzin deren Reinkultur (Elke Windisch, Die unvollendete Revolution, Tagesspiegel, 19.8. 2011).
Auf dem Petersburger Wirtschaftsforum im Juni 2012 griff Putin die Forderung nach mehr Demokratie in folgenden Sätzen auf: „Der Hunger nach Reformen treibt die Entwicklung des Landes natürlich voran, aber er wird kontraproduktiv und sogar gefährlich sein, wenn er zum Zusammenbruch der Bürgergesellschaft und des Staates führt. Jeder, der sich mit Politik beschäftigen will, jeder, der sich für einen Politiker hält, muss seine Position ausschließlich im Rahmen des Gesetzes zum Ausdruck bringen.“ (RIANovosti,22.06.2012 in http://de.rian.ru/ world/201220622/263850602.html).
Russland ist nicht mehr nur der Rohstoff- und Energielieferant sowie der Absatzmarkt der Europäischen Union, sondern unternimmt den Versuch, mit der Hilfe ausländischer Unternehmen die veraltete eigene Industrie zu erneuern und die Weiterverarbeitung von Rohstoffen und Energie in die eigene Hand zu nehmen. Die russische Führung, schreibt Elke Windisch, „hat es satt, stets nur die Rolle des Rohstofflieferanten zu geben, will daher bei deutschen Unternehmen als Investor einsteigen und erhofft sich so Zugriff auf Spitzentechnologien und Bares beim lukrativen Geschäft mit den westlichen Kunden“ (Zweierlei, Tagesspiegel, 18.7.2011).
Wladimir Putin stellte z.B. in einem Zeitungsartikel vom April 2012 wirtschaftliche Veränderungen sowie die nun anstehende Privatisierung großer Staatsunternehmen in Aussicht. Angekündigt war die Zusammenstellung der Liste bereits im Jahre 2010 (Frankfurter Rundschau, 27.7.2010). Eingeleitet würde eine diversifizierte, mittelstandsorientierte und global wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur mit einem höheren Anteil an modernen Technologien (Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, a.a.O.). Auf welche Unzulänglichkeiten die angestrebte Modernisierung stößt, benannte Johannes Voswinkel bereits 2010 in seinem Zeit-Artikel „Runderneuerung auf Russisch“ vom 6.5.2010. In Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft, Staat mangele es an Grundlagen für die innovative Wende. Die jüngere Generation fehle in den Hochschulen. Sie sei ausgewandert oder in die vor einigen Jahren boomenden Banken- und Investmentfirmen gewechselt. Die Bürokratie sei ein stark hemmender Faktor. Innovative Produkte kämen erst nach einem „Lizenzmarathon von bis zu 16 Behörden auf den Markt“ (ebd.).
Ruslan Grinberg, Leiter des Wirtschaftsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaft, fasste die Probleme in seinem Artikel „Wir brauchen den Dollar“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 9. 6. 2011 in folgenden Worten zusammen: „Deshalb ist für Russland eine eigene Industriepolitik existentiell. … Der Finanzkapitalismus hat Russland sehr geschadet. Manager denken heute nicht an eine langfristige Produktion, sondern ans schnelle Geld. Zudem haben wir in der Reformzeit unsren Markt zu früh geöffnet und damit den eigenen Produzenten geschadet. Dann wurden auch noch die staatlichen Subventionen abgeschafft – auf Rat von außen. Der Westen vertrat damals sinngemäß die Position: Macht, was wir sagen, aber macht nicht, was wir tun. Denn weder die Amerikaner noch die Chinesen oder die Deutschen sind an einem neuen Konkurrenten Russland interessiert.’ Gebt uns Öl, Gas, Metalle und Dünger’, sagen sie, ‚und wir liefern dafür alles, von der Wurst bis zum Computer’“. In bezug auf die Chinesen fügte er noch hinzu: „Die Amerikaner machen zwar manchen Unfug, aber man kann sie immerhin verstehen und ihre Handlungen vorhersehen. Im Gegensatz dazu wissen wir nicht, wie eine Pax China aussähe. Im Moment verfolgt China eine vernünftige und anständige Politik. Aber bleibt das so?“(ebd.). Damit es noch länger so bleibt, lässt Russland zu, dass China in Sibirien Betriebe errichtet, in denen Chinesen als Arbeitskräfte arbeiten. Außerdem liefert Russland nach Fertigstellung von Pipelines Öl und Gas zur dortigen Weiterverarbeitung (Karl Grobe, Das chinesisch-russische Tandem, Frankfurter Rundschau, 19.10.2009).
4. Russlands Einordnung in die globale Machtstruktur
Russland, merkte Boho Lo an, “has a messianic vision of Russia as an ‚independent’ pole in a multi-polar order, an Eurasian bridge between East and West, and a fully signed-up member of the Asian community.”(Boho Lo, Russia: The Eastern Dimension, in Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O., S.353-402, S.360).
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts maßen die selbsternannten „Sieger“ dem geschrumpften Russland jedoch eine sehr viel bescheidenere Rolle zu (mit der Ausnahme der deutschen Regierungen) und im Kampf gegen seine Degradierung isolierte sich Russland strategisch immer mehr (Dmitri Trenin, Die einsame Weltmacht, Die Zeit, 5.2.2009).
Als Zeuge für diese us-amerikanische Strategie gegen Russland eignet sich auf ganz besondere Weise Zbigniew Brzezinski. „Den strategischen Ausblick, den er vor 15 Jahren skizzierte, sah das Vordringen der USA und ihrer europäischen Verbündeten bis nach Zentralasien vor. Indem die EU sich nach Osten ausdehnen sollte, die Nato gleichfalls Richtung Georgien und Ukraine expandieren würde und Pipelinerouten durch verbündete Staaten bis ins kaspische Becken hineinverlegt werden sollten, hoffte Brzezinski eine Art neue Seidenstraße bis nach China etablieren zu können. Die entscheidende Bedeutung dieser neuen Handelsroute bestand für ihn darin, dass sie dem Westen erlauben würde, seinen Einfluss bis in das Zentrum des mit Abstand wichtigsten Kontinents der Welt – Eurasien – auszudehnen. Gelänge es, eine geopolitische Ordnung Eurasiens zu gestalten, so würde diese automatisch auch für andere Teile der Welt Verbindlichkeit erlangen. Zugleich würde dieses Vorgehen Russland – die größte Landmacht auf dem eurasischen Kontinent – an seiner Südflanke umgehen und so die ehemalige Supermacht zum Randstaat einer zukünftigen Weltordnung degradieren.“ (Hauke Ritz, Warum der Westen Russland braucht – Die erstaunliche Wandlung des Zbigniew Brzezinski, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7, 2012, S. 89-98, S.91).
Brzezinski propagierte lange Zeit im Verein mit den Neokonservativen die Vorstellung von Russland als einem gescheiterten Staat bzw. failed state (Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S.180). Er setzte sich für die Teilung Russlands in eine europäische, sibirische und fernöstliche Republik ein, um leichter Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten aufnehmen zu können. Die Einbeziehung Russlands in die westlich dominierte Weltordnung lehnte er ab und meinte: „Russland war eindeutig zu rückständig und durch den Kommunismus zu heruntergewirtschaftet, um ein brauchbarer demokratischer Partner der Vereinigten Staaten zu sein.“ (ebd. S.153)3. Die Einbindung Chinas in die von den USA vorangetriebene Globalisierung von Produktion und Handelsverkehr sah Brzezinski durch das von multinationalen Korporationen und Organisationen eng geknüpfte Netz gewährleistet (ebd. S.307).
Wie abwegig und der Lächerlichkeit preisgegeben mutete dagegen der neunjährige Versuch Jelzins an, Russland in den Westen zu integrieren. Auch Putins frühere Versuche, von den USA als gleichwertiger Partner anerkannt zu werden, um mit ihnen Geschäfte auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu tätigen (Rede Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007), musste an der Intransigenz der USA scheitern (Katrin Bennhold, Putin urges West and Russia to cooperate, International Herald Tribune, January 29, 2009). Dmitri Trenin schilderte die Reaktion der russischen Machtelite auf diese Zurückweisungen: „Weil Russland sich dem Westen nicht zu dessen Bedingungen anschließen wollte und weil es unfähig war, dem Westen die russischen Bedingungen zu diktieren, hat es sich für eine Position entschieden, die es eigentlich schon immer inne hatte: Es will einen Block postsowjetischer Staaten unter der Führung des Kremls schaffen.“ (Dmitri Trenin, ebd.). Dennoch unternahm auch der Nachfolger Putins im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, einen erneuten Anlauf zu einem Sicherheitsdialog in Europa mit dem Ziel, eine neue transatlantische Sicherheitsarchitektur zu errichten (Elke Windisch, Medwedew will euro-asiatische Sicherheitspartnerschaft, Tagesspiegel, 1.12.2009). „A new comprehensive European (Collective) Security Treaty would be the best option. It might include all states and the key international organizations (the EU, Nato, the CIS, and CSTO), operating in the Euro-Atlantc space, although it might be open for all the interested states.”(Valdai-Report, December, 2009, a.a.O. S.17).
Aber auch er scheiterte nicht nur am Unwillen der us-amerikanischen Machtelite, die eine weitere Hinwendung der EU zu Russland mit allen Mitteln zu verhindern suchte. (FAZ-Net, EU-Russland-Gipfel – Gegensätze unter „europäischen Freunden“, 22.5.2009). Dmitri Trenin sah den Fehler der russischen Sicherheitspolitik in der Fixierung auf die Vereinigten Staaten: „Amerika als Hauptfeind – diese Perspektive verdreht Moskaus strategische Weltanschauung. Sie führt dazu, dass Ressourcen verschwendet werden, und produziert Enttäuschung über das immense Ungleichgewicht zwischen den ehemaligen Rivalen des Kalten Krieges.“ (ebd.).
Aus der Einsicht, von den USA keinerlei Entgegenkommen erwarten zu dürfen, konzentrierte sich im nächsten Schritt die russische Führung zunächst auf die Bereinigung des Verhältnisses zu den vormals unter russischem Einfluss stehenden osteuropäischen Staaten. Wenn es gelang, insbesondere zu Polen und Tschechien ein besseres Verhältnis aufzubauen, konnten die USA jene Länder nicht mehr in ihrer Kampagne gegen ein engeres Verhältnis zwischen der EU und Russland instrumentalisieren, um insbesondere Deutschland daran zu hindern, über die Rohstoff- und Energiezusammenarbeit hinaus ein stärker partnerschaftliches Verhältnis zu Russland zu entwickeln. Seit langem fordert die Deutsche Energie-Agentur GmbH „Kooperation durch Verflechtung“, d.h. über den Rohstoff- und Energiehandel hinaus eine intensivere Zusammenarbeit in Industrie und Dienstleistung (Stephan Kohler, Kalter Krieg und Energie, Tagesspiegel, 24.9.2008, Walther Stützle, Russland muss an den Tisch, Frankfurter Rundschau, 2.4.2009). Selbst der ehemalige russische Präsident Gorbatschow erinnerte die EU nochmals an die notwendige stärkere Einbindung Russlands: „Europa kann nur dann zu einem starken Global Player werden, wenn es wirklich allen Europäern, im Osten und Westen, eine gemeinsame Heimat wird.“ (Frankfurter Rundschau, 6.11.2009). Im Zusammenhang mit der Raketenabwehr erinnerte auch Gernot Erler im Jahre 2012 nochmals an die Versäumnisse der Vergangenheit, als er fragte: „Warum hat der Westen das Angebot von Medwedew, in einen umfassenden Dialog über eine Euroatlantische Sicherheitsarchitektur einzutreten, ins Leere laufen lassen, um jetzt tatenlos zuzusehen, wie schon zum zweiten Male das Thema Raketenabwehr zu einem ernsthaften Konflikt zwischen USA, Nato und Moskau heranwächst? Warum wird die Bundesregierung hier nicht aktiv, obwohl Deutschland mit der Kommandozentrale in Rammstein bei diesem Konflikt in der vordersten Frontlinie stehen wird?“ (Frankfurter Rundschau, 7.5.2012). Erler erwähnte nicht die alleinige Souveränität der USA über Rammstein als Folge des weiterhin existierenden Truppenvertrages mit den USA, der Teile des Besatzungsstatut aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unbefristet verlängert. Was das jedoch für den Aufbau des Raketenabwehrsystems (Kommandozentrale in Rammstein und Stationierung der Raketen in Polen, Rumänien und auf Schiffen im Mittelmeer) bedeutet, zeigte bereits Christopher Ziedler auf, als er über die Machtvertikale innerhalb der Nato schrieb: „Entweder die europäischen Nato-Staaten machen mit oder bekommen ein US-System vorgesetzt.“ (Tagesspiegel, 23.4.2010).
Einsichtsfähiger als zuvor zeigte sich die amerikanische Führung erstmals, nachdem der Transport von militärischen und zivilen Gütern nach Afghanistan über pakistanisches Territorium immer unsicherer wurde und zentralasiatische Staaten für die Errichtung von Stützpunkten gewonnen werden mussten. Zum Stützpunkt in Kirgisistan konnte man jedoch zu Lande nur über Russland und das angrenzende Kasachstan gelangen. Zur Versorgung der Nato-Truppen öffnete das direkt an Afghanistan angrenzende Nachbarland Kirgisistans, Tadschikistan, im Januar 2009 einen Transitweg. „US-Kommandeur David Petraeus hatte zuvor gesagt, die Nato habe mit Kasachstan und Russland bereits eine Einigung erzielt.“ (Frankfurter Rundschau, 22.1.2009). Deren Zustimmung erreichte man jedoch nur mit Gegenleistungen, wozu unter anderem z.B. der Abschluss des Start-Abkommens über strategische Abrüstung zwischen den USA und Russland zählte (Klaus-Dieter Frankenberger, Was Russland braucht, Frankfurter Allgemeine, 17.9. 2010).
Bezogen auf die der iranischen Führung von den USA unterstellte Entwicklung von Atomwaffen, der man mit einem erzwungenen oder von außen unterstützten Regimewechsel begegnen möchte, und auf den immer mehr in einen Bürgerkrieg ausartenden Konflikt in Syrien wurde deutlich, dass die USA bis in die Gegenwart an einem Containment Russlands wie Chinas arbeiten und die Europäische Union mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln (militärisch, ökonomisch und finanziell) ins gemeinsame Boot holen wollen. Warum lassen sich die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU immer wieder von den USA in eine Konfrontation mit Russland und China hinein manövrieren? Gelingt ein Regimewechsel in Syrien, muss Russland wahrscheinlich seinen letzten am Mittelmeer liegenden militärischen Stützpunkt aufgeben.
Für das Assad-Regime gilt jedoch wie für alle diktatorisch regierenden Machthaber im Nahen Osten (Saudi-Arabien, Bahrain, Iran, Sudan, einige Emirate): in ihrem Allmachtsglauben unterschätzen sie den massiven Einfluss der heutzutage verfügbaren Kommunikationsmöglichkeiten, die dank technologischer Entwicklungen alle Grenzen leicht überwinden. Durch diktatorische Maßnahmen erzeugte Unzufriedenheit in der Bevölkerung kann zusätzlich von außen entflammt und kanalisiert werden.
Der Irak könnte künftig sowohl von der Türkei wie von Syrien aus in die Zange genommen werden und gezwungen sein, die Bindungen an den Iran zu kappen. Die Einkreisung des Irans wäre mit den drei Ausnahmen an den Grenzen zu Armenien, Turkmenistan und (über das Kaspische Meer) zu Russland perfekt. In der Versorgung mit Öl weist die us-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton die bisherigen Abnehmer iranischen Öls darauf hin, dass Saudi-Arabien und die Emirate ihre Förderungsmenge erhöhen können. Das feudale und demokratiefeindliche Regime Saudi-Arabiens stand noch nie im Blickpunkt us-amerikanischer Menschenrechts- und Demokratiepolitik und der Einmarsch saudischer Truppen in Bahrain wurde zwar nicht gerechtfertigt, aber weitgehend von den im Falle Syriens so stark um die Menschenrechte besorgten USA und Europäern mit Stillschweigen übergangen. Ob und wie viele Menschen in Syrien schon oder künftig noch durch Waffen getötet werden, die von Saudi-Arabien und den Emiraten finanziert und mit Hilfe der CIA nach Syrien über die Türkei eingeschleust werden, zählt in der medialen Öffentlichkeit weit weniger als die Menschen, die von der syrischen Armee und Milizen bereits jetzt und in den weiter aufflammenden Gefechten noch dem Tod ins Auge sehen müssen. Sollte es den USA gelingen, den ölreichen Nahen Osten wieder völlig zu kontrollieren, wird der Druck auf die zentralasiatischen Republiken, sich dem Einfluss der USA zu öffnen, wieder zunehmen. Die dauerhafte Stationierung us-amerikanischer Truppen in Afghanistan dient – wie schon erwähnt – auch diesem strategischen Ziel. Wenn Menschenrechtspolitik und Empörung über Gräueltaten der Durchsetzung von Interessen dienen, ist Vorsicht angesagt.
Die Eindämmung Chinas wird aller Wahrscheinlichkeit nach am Konflikt im südchinesischen Meer ansetzen und könnte zu einem späteren Zeitpunkt dazu führen, dass europäische und japanische Unternehmen ultimativ von den USA aufgefordert werden, wie im Falle Irans ihre Geschäftsbeziehungen mit China einzuschränken und später ganz aufzugeben. Als schwachen Ersatz für die ausfallenden Exportmärkte würde man womöglich den vielleicht dann wieder etwas aufnahmefähigeren US-Markt anbieten.
Der Druck auf den Euro und die Verschärfung der Schuldenkrise südeuropäischer Euro-Länder bewirkt eine Schwächung Kontinentaleuropas und könnte, wenn keine Lösungen gefunden werden, den USA und Großbritannien zur Wiedererlangung der Dominanz ihrer anglo-amerikanischen Hegemonie verhelfen, einschließlich erneuter vom Finanzkapital erzeugter globaler Krisen und einer noch mächtigeren Position des militärisch-industriellen Komplexes der USA.
Dieser – insgesamt für die kontinentalen Staaten Europas – abträglichen Entwicklung kann wirksam begegnet werden, wenn die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU ihre Selbständigkeit stärker als bisher erkennen, die strategische Partnerschaft mit Russland durch eine industrielle Verflechtung ergänzen, zugleich chinesischen Investitionen im Euroraum keine Steine in den Weg legen und mit allen verfügbaren Mitteln darum kämpfen, die Banken- und Staatsschuldenkrise in den Griff zu bekommen. Denn eines ist klar: Der nordamerikanische Kontinent und die als „Flugzeugträger“ der USA dienende Insel Großbritannien verlieren an Stärke, wenn sich die Staaten Kontinentaleuropas und Asiens auf ihre gemeinsamen Interessen verständigen und Russland als Rohstoff- und Energielieferanten sowie als industriell potentes Scharnier voll einbinden. Die russische Führung ist sich der Brisanz der Entwicklung übrigens bewusst. Sie hat sich dafür ausgesprochen, den prozentualen Anteil des Euros an ihren Devisenreserven, der nach Putin ungefähr 50 Prozent ausmacht, beizubehalten.
Sollten allerdings Machteliten einiger westeuropäischer Staaten immer noch – wie vor dem ersten Weltkrieg und in den darauf folgenden zwanziger Jahren – stillschweigend eine Politik der Eingrenzung Deutschlands favorisieren (Aufforderung des französischen Präsidenten Mitterrand an die USA im Jahre 1990, zur Sicherheit Frankreichs weiterhin Truppen in Deutschland zu stationieren), würden sie dazu beitragen, dass Europa in der multipolaren Machtstruktur der Zukunft eine immer unbedeutendere Position einnimmt. Sehr erfreulich wäre, wenn sich diese Annahme als unbegründet erweisen sollte.
Endnoten1Darauf verweist auch Roland Götz in „Kapitalflucht aus Russland – Eine Gefahr für die Volkswirtschaft, in Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.83-94): „Kapitalflucht ist ein schneller Abzug von Kapital aus einem Land, in dem es gefährdet ist, in andere Länder, wo die Gefährdung geringer ist.“(ebd.S.86). Jedoch wird bei der simplen Gleichsetzung von Nettokapitalabfluss und Kapitalflucht übersehen, dass Russland als Rohstoffexporteur zugleich ein Kapitalexportland sein muss. Nicht jeder Kapitalabfluss ist mit Kapitalflucht gleichzusetzen. Verzeichnet ein Land z.B. positive Investitionsanreize, können inländische Banken normalerweise genügend Kapital zur Verfügung stellen.
2„Mit der Jackson-Vanik-Klausel waren 1974 Einschränkungen für den Handel mit der UdSSR eingeführt worden. Die Ursache für deren Billigung war das Fehlen der Reisefreiheit in der Sowjetunion. Seit 1989 beschließt der US-Kongress jährlich ein Moratorium über die Wirkung der Klausel, offiziell bleibt sie allerdings weiterhin in Kraft.“(ebd.).
3Nicht ganz so prononciert aber dennoch in die gleichen Richtung weisend erschallte es auf deutscher Seite in politikwissenschaftlichen Instituten der Universitäten (z.B. der Freien Universität Berlin), in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) (ausgenommen Alexander Rahr, der inzwischen die DGAP frustriert verlassen hat), dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), und wissenschaftlichen Beraterstäben in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ganz zu schweigen von der letztlich kontraproduktiven Einseitigkeit in der Berichterstattung führender Zeitungen und Journale.
16. Juli 2012
Reinhard Hildebrandt
Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten –
eine Konferenz in Berlin
„Coping with Transatlantic Divergence – Exploring Common Solutions: Missile Defense, Russia, and the Middle East“ (zu deutsch etwa „Leben mit der transatlantischen Divergenz − Suche nach gemeinsamen Lösungen: Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten“) − so lautete der komplizierte Titel der dritten Transatlantischen Konferenz, die von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt sowie der Friedrich Ebert Stiftung Berlin organisiert war. Die Tagung fand am 24./25.Juni in Berlin − parallel zur Nahost-Konferenz des Außenministeriums − in den Räumen der Hessischen Landesvertretung statt. Unter dem nüchternen Thema kamen höchst brisante Themen zur Sprache, die im folgenden Artikel zusammengefasst und kommentiert werden.
1. Einleitende Bemerkungen
Die zweitägige Konferenz beschäftigte sich mit der Frage, auf welche Weise Raketen zur Verteidigung eines Landes eingesetzt werden und wie wirksam die dadurch gewonnene Sicherheit ist. Zur Debatte stand, welche zusätzliche Sicherheit für die USA und Europa durch die Stationierung von Abfangraketen in Polen gewonnen werden kann und gegen wen die Raketen gerichtet sind. Diskutiert wurden außerdem die dadurch in Fragen der Sicherheit innerhalb des transatlantischen Verhältnisses entstehenden Differenzen und wie man sie bewältigt.
Die vier programmatischen Reden und die ihnen folgenden Diskussionsrunden basierten auf dem Erfahrungshintergrund der raketengestützten Angriffs- und Verteidigungssysteme des Ost-West-Konflikts. Daraus leiteten die Redner ihre Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Raketendebatte ab. Eine Detailanalyse des Ost-West-Konflikts fand jedoch nicht statt. Sie wäre notwendig gewesen, um die mit der gegenwärtigen Neuauflage des Konflikts verknüpften Probleme besser in den Griff zu bekommen. Zusätzlich zur Konferenzdiskussion wird deshalb im hier folgenden kommentierenden Bericht zunächst der Aktions- und Reaktionsmechanismus beschrieben, der im Ost-West-Konflikt das Sicherheitsdenken dominierte.
2. Raketengestütztes Sicherheitsdenken im Ost-West-Konflikt
Bis zum Verlust der atomaren Unverwundbarkeit im Jahre 1959 besaßen die USA eine gesicherte Erst- und Zweitschlagkapazität, während die Sowjetunion mit der Entwicklung von Interkontinentalraketen erstmals zu einem Angriff auf die USA ausholen konnte. Bis zum Beginn der amerikanischen Satellitenaufklärung im September 1961 stand der Sowjetunion sogar kurzzeitig eine geringe Zweitschlagkapazität zur Verfügung. Nach der Versenkung ihrer Raketen in Silos und dem Übergang zu Feststoffraketen gewann sie diese Kapazität im Jahre 1963 zurück.
In den folgenden Jahrzehnten kämpften die Kontrahenten stets um die Beibehaltung ihrer gesicherten Zweitschlagkapazität, wobei im Wettrennen um die höchstmögliche Zerstörungsfähigkeit mit dem Ziel eines Entwaffnungsschlags und verknüpft mit dem Versuch, die Zerstörung des eigenen Territoriums durch gegnerische Waffen möglichst gering zu halten, waren die USA immer darauf bedacht, ihren Vorsprung zu bewahren. Den nächsten Schritt im Aktions- und Reaktionsmechanismus leiteten deshalb zumeist die USA als erste ein. Im Rüstungswettlauf trieben sich beide Seiten mit zunehmender Zielgenauigkeit ihrer Raketen, dem Einsatz von Mehrfachsprengköpfen, der unverwundbaren Stationierung von Raketen zu Lande und auf dem Wasser, der Entdeckung von Überraschungsangriffen durch Beobachtungssatelliten und dem Streben nach kürzeren Vorwarnzeiten durch den Einsatz von Mittel- und Kurzstreckenraketen sowie Cruise Missiles und der Zerstörung des Angreifers durch zielgenaue Abfangraketen auf die jeweils nächsthöhere Stufe des Aktions- und Reaktionsmechanismus voran. In ihrem Ringen um die wirksamste Erst- und Zweitschlagkapazität bis hin zum Entwaffnungsschlag ging es immer darum, das Vernichtungsrisiko des Gegners gravierend zu erhöhen, so dass er vom Einsatz seiner eigenen Raketenstreitmacht Abstand nahm und − spieltheoretisch betrachtet − in Konfliktkonstellationen lieber einen für ihn ungünstigen Kompromiss akzeptierte als auf der Eskalationsleiter mit ungewissem Ausgang immer weiter voranschreiten zu müssen.
Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte jedoch eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Diese für eine duale Hegemonie ausschlaggebende Konstellation steht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht − nur durch den eigenen Willen begrenzt. In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren demnach beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potenzial an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. Da beide Seiten zu keinem Zeitpunkt exakt einschätzen konnten, welcher Handlungsspielraum für einen selbst und dem Kontrahenten tatsächlich zur Verfügung stand, führte das hohe Maß an Unsicherheit dazu, dass sie trotz härtester Konkurrenz zugleich ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der fragilen geopolitischen Stabilität und damit ihrer dualen Hegemonie entwickelten. Dieses Interesse trat insbesondere an geopolitischen Orten zutage, an denen unbedachte Schritte zu unkontrollierbaren Folgen führen konnten, wie z.B. zwischen West- und Ostberlin oder auf den Transitrouten durch die DDR, oder wenn nachgeordnete Mächte beabsichtigten, kurzzeitig in der etablierten Sicherheitsarchitektur des Ost-West-Konflikts auftretende ungeklärte Schwebezustände zum eigenen Vorteil zu nutzen (z.B. Emanzipationsbestrebungen vorwiegend der Westeuropäer im Gefolge des für die USA ungünstig ausgehenden Vietnamkrieges).
Im Widerspruch zum immer vorhandenen gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der geopolitischen Stabilität (Sicherheitsarchitektur) handelten beide Mächte zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen. Die USA betrachteten ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivalen, während sie sich selbst als obersten Verteidiger der Freiheit dekorierten. Die Sowjetunion trat als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse auf und unterstellte den USA feindlichste Absichten gegen den Rest der Menschheit. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, handelten sie im Sinne eines Nullsummenspiels. Sie kümmerten sie sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwendige Erhaltung der geopolitischen Stabilität und verschoben statt dessen − gedankenlos − die Grenzlinie zwischen den für beide Seiten verfügbaren Handlungsoptionen zuungunsten des jeweils anderen. Die Sowjetunion war kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts mit der Situation konfrontiert, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration. Jedoch auch die USA mussten − wenn auch erst einige Jahre später − akzeptieren, dass das Ende der dualen Hegemonie zugleich auch ihren hegemonialen Anspruch untergraben hatte.
2.1. Rüstungs- und Abrüstungsintentionen
Stellt man nach dieser notwendigen Erinnerung zum Verlauf des Ost-West-Konflikts die Frage nach der positiven oder negativen Einschätzung des Einsatzes von Raketen, fällt die Antwort zwiespältig aus. Die Freude der US-amerikanischen und sowjetischen Rüstungsindustrie fiel überschwänglich aus. Fast vierzig Jahre lang war es beiden gelungen, mit dem warnenden Hinweis auf den bereits nahezu uneinholbaren Vorsprung des Gegners die jeweils eigene Regierung zu Erhöhung des „Verteidigungs“haushalts zu bewegen.
2.2. Sinnlosigkeit des Aktions- und Reaktionsmechanismus
Die mit der Installation von Raketen und Antiraketen intendierte Abschreckung bzw. Einschüchterung des Gegners erfüllte immer nur vorübergehend die ihr zugedachte Rolle, denn nach jeder Aktion der einen Seite folgte die Reaktion der anderen. Sowjetische Aufholeffekte vernichteten regelmäßig die zunächst herausgeholten Vorsprünge der USA. Verteidigungsanstrengungen auf der Basis des Einsatzes von Raketen waren insofern immer nur vorläufiger Natur und erzielten nicht die insgesamt mit ihnen verknüpften Hoffnungen. Dieser einfachen Abfolge von Aktion und Reaktion das Etikett der „Notwendigkeit“ umzuhängen, wie es die früheren zwei Außenminister der USA Henry Kissinger und George Shultz zusammen mit dem früheren US-Verteidigungsminister Bill Perry und dem ehemaligen US-Senator Sam Nunn propagiert haben, ist Unsinn. Im umfassenden Sinn war nukleare Abschreckung niemals „rational und notwendig“, weder als Nullsummenspiel und schon gar nicht als Handlungsweise der Kontrahenten innerhalb einer dualen Hegemonie.
Der Rüstungswettlauf zwang zwar die Sowjetunion zuerst ökonomisch in die Knie, aber den USA blieb der Niedergang ihrer Hegemonialposition ebenfalls nicht erspart. Er ereilte sie jedoch erst, nachdem viele Jahre später Präsident George W. Bush im Krieg gegen den Terror die Ressourcen der USA nachhaltig geplündert hatte und die Finanzkrise den bereits eingetretenen Glaubwürdigkeitsverlust noch verstärkte. Wie soll man den Widerspruch zwischen dem späten Eingeständnis der vier für den Rüstungs- und Abschreckungswettlauf des Ost-West-Konflikts auf amerikanischer Seite Mitverantwortung Tragenden aufklären, dass sie jetzt die Vision einer von nuklearen Waffen freien Welt als bessere Alternative zur Abschreckung propagieren und zugleich darauf beharren, dass der damals von ihnen entscheidend vorangetriebene Aktions- und Reaktionsmechanismus „rational“ und „notwendig“ gewesen sei? Welcher eigenartigen Vorstellung von Rationalität folgen sie und wie sieht ihre Begründung für notwendiges Handeln aus?
2.3. „Abrüstungserfolge“
Angesichts des für die Kontrahenten des Ost-West-Konflikts niederschmetternden Ausgangs der Raketenüberrüstung sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass der Rüstungswettlauf für beide Seiten noch kostspieliger geworden wäre, wenn es zuweilen − trotz des Klimas der irrationalen Konfrontation − nicht gelungen wäre, in Abrüstungsverhandlungen einige offensichtliche rüstungstechnische Fehlentwicklungen von vornherein zu vermeiden. Der beiderseitige völlig sinnlose „overkill“ konnte so wenigstens in Grenzen gehalten werden.
Unerreichbar blieb jedoch ein weiteres Minimalziel. Die Begrenzung atomar gerüsteter Mächte auf fünf Staaten, zugrunde gelegt und verankert im
3. „Missile Defense“ als Mittel des globalen Hegemonieanspruchs der USA
Adj. Prof. Dr. Bernd W. Kubbig, Direktor des Internetprojekts „Ballistic Missile Defense Research“ der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, bezog sich in seinem Vortrag zur Eröffnung der Konferenz auf den globalen Hegemonieanspruch der USA und das daraus resultierende unilaterale Handeln, wie er insbesondere unter George W. Bush zu Beginn des Irakkrieges als ultimative Aufforderung zur Teilnahme an der Seite der USA („coalition of the able and willing“) formuliert worden ist.
Der Anspruch basierte technologisch auf einer Raketenabwehr, die zu einem hohen Grad jedoch noch unerprobt und nicht ausreichend getestet war. Das amerikanische „antiballistic missile system“ sollte die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten vor einer begrenzten Anzahl anfliegender Angriffsraketen aus sogenannten Schurkenstaaten wie Nordkorea oder Iran schützen, aber nach Aussage einiger Experten war und ist es auch gegen China und Russland gerichtet.
3.1. Vorgetäuschte Effektivität von US-Abfangsystemen
Kubbig unterzog sich der Aufgabe, acht Jahre nach einer entsprechenden Behauptung des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers William Cohen (vom 26. April 2000) und sechs Jahre nach der einseitigen Aufkündigung des Vertrages über Anti-Ballistic Missiles (ABM) durch die Bush-Administration, die Wirksamkeit von Abfangsystemen zu untersuchen. Cohen hatte damals erklärt: „We have a retaliatory capability that if anyone should ever be foolhardy enough to launch a missile attack of a limited or expanded nature against the Unites States, they would be destroyed in the process. That ordinarily should be a sufficient deterrent for the North Koreans, Iran, Iraq or any other country that would seek to acquire this capability.“ (ibid. S. 15). Nachdem sieben Jahre später Daniel Fried vor einem Ausschuss des amerikanischen Kongresses als Begründung für die Aufstellung von Abfangraketen in Polen anführte, die USA wollten Europa von einer atomaren Bedrohung durch Iran beschützen, fragte sich Kubbig, ob Cohen im Jahre 2000 mit seiner Behauptung wider besseres Wissen von einem umfassenden Schutz für die USA und die Verbündeten ausgegangen sei und warum der Iran ausgerechnet seinen größten Handelspartner, die Europäische Union, mit Raketen bedrohen sollte? (ibid.)
Wie brüchig die amerikanische Argumentation damals war und bis heute ist, zeigte Kubbig an einem weiteren Zitat aus dem Entwurf des Pentagons „Doctrine for Joint Nuclear Operations“ aus dem Jahre 2005 auf. Darin beschränkte sich die Abwehr von Raketen nur noch auf die Ansammlung von Streitkräften (S.17). Am 23. April 2008 mussten die USA selbst bekennen, wie unzulänglich ihre bisherigen Systeme sind. Daniel Fried sagte vor dem Unterausschuss Europa des amerikanischen Kongresses: „Preemption has its downsides, rather serious ones. So does retaliation. When I think 25 years into the future, a modest missile defense system can be deeply stabilizing. A massive defense system is probably unachievable technologically. That is, if you’re trying to defend against the Russian strategic arsenal, can’t do it. So don’t try. Against smaller threats, there’s a strong strategic argument.“ (ibid. S.18). [zu Deutsch etwa: Das Angriffsvorrecht hat seine Nachteile, sogar sehr gewichtige, wie auch ein Gegenschlag. Wenn ich 25 Jahre in die Zukunft blicke, dann sehe ich, dass eine gemäßigte Raketenabwehr sehr stabilisierend wirken kann. Ein vollständiges Verteidigungssystem ist aber wohl technologisch unereichbar. So z.B. wenn man gegen das russische strategische Arsenal sich schützen wollte; das geht so nicht. Also sollte man es nicht versuchen. Für Verteidigung gegen kleinere Bedrohungen hingegen gibt es starke strategische Argumente.]
Kubbig schlussfolgerte, die Befürworter von Antiraketensystemen könnten ihre vollmundigen Versprechen nicht bis in die Gegenwart einhalten. Er überließ es der sich anschließenden Podiumsdiskussion zwischen amerikanischen und deutschen Teilnehmern, die Unterschiede in der Beurteilung dieser Systeme aufzuzeigen.
3.2. Technische Machbarkeit und Motivation der Aufstellung von Raketenabwehrsystemen?
3.2.1. Technische Machbarkeit
Im ersten Panel zur Frage der technischen Machbarkeit eines amerikanischen Raketenabwehrsystems für Europa (Teilnehmer: Dr. George Lewis, Cornell University, Ithaca, N.Y, Dr. Timur Kadyshev, Moscow Institute of Physics and Technology, Moskau, Dr. Jürgen Altmann, Technische Universität Dortmund) wurde insbesondere von Jürgen Altmann am Beispiel der möglicherweise vom Iran auf Europa abgefeuerten Raketen veranschaulicht, welche Probleme bei der rechtzeitigen Erkennung und beim Abschuss durch Antiraketen auftauchen. In der kurzen Phase, in der Antriebsmotoren die Raketen auf ihre ballistische Bahn in Richtung Europa schießen würden, könnten deren heiße Abgase sichere Orientierungsdaten liefern. Die Stationierungsorte der Antiraketen müssten jedoch nahe genug am iranischen Territorium liegen, damit sie ihr Ziel noch in der Brennphase der Angriffsraketen aufspüren und treffen können. Ideal wäre ihre Stationierung in Aserbaidschan, wie es die russische Regierung vorgeschlagen hat. Sind erst einmal die Raketenmotoren ausgeschaltet, fliegen die Raketen auf ihrer ballistischen Bahn in großer Höhe antriebslos und deshalb kaum zu orten weiter und können erst nach ihrem Wiedereintritt in den erdnahen Luftraum von in Polen startenden Antiraketen zerstört werden. Wenn sie bereits auf ihrer ballistischen Anflugbahn Richtung Europa mehrere, selbständig Ziele ansteuernde Sprengköpfe ausgestoßen haben, sind die ihnen entgegengeschickten Antiraketen nicht in der Lage, zwischen einer Vielzahl von Attrappen und den wenigen scharfen Sprengköpfen zu unterscheiden. Es müssten also schon sehr viele, mit hoher Geschwindigkeit fliegende Antiraketen bereitgestellt werden, um das in dem Beispiel unterstellte iranische Angriffspotential wirksam auszuschalten.
Ganz anders sähe laut Altmann die Situation aus, wenn die im Osten Polens stationierten Raketen nicht gegen anfliegende iranische Raketen eingesetzt würden, sondern gegen die gegenwärtig durch keinerlei Informationen zu begründendende Unterstellung, dass Russland Angriffsraketen gegen seinen wichtigsten Handelspartner, die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und darunter insbesondere Deutschland, in Stellung gebracht hat und auch mit ihrem Einsatz droht. Nebenbei bemerkt steuern russische Angriffsraketen, die auf amerikanisches Territorium zielen, über das Nordpolargebiet und nicht über Europa hinweg ihr Ziel an. Die russische Regierung sähe sich also im Falle der amerikanischen Antwort auf die Russland unterstellte Vermutung genötigt, in Vereinbarungen mit der weißrussischen Regierung gleich hinter der polnischen Grenze ebenfalls Antiraketen zu stationieren, um die kurze Brennphase der amerikanischen Antriebsmotoren für ihre Früherkennung und sichere Vernichtung zu nutzen. Außerdem wüsste sie nicht, ob den anfänglich stationierten Abfangsystemen nicht still und heimlich die Stationierung zielgenauer, bunkerbrechender amerikanischer Angriffsraketen folgt. Ob es sich zunächst um amerikanische Antiraketen handelt oder später um Angriffsraketen, der Luftkampf würde sich über polnischem Territorium abspielen und hätte unter Umständen verheerende Folgen für die dort ansässige Bevölkerung. Selbst eine polnische Regierung unter der Regie der beiden Kaczyński-Brüder wäre wahrscheinlich nicht in der Lage, die negativen Auswirkungen zu akzeptieren, sie der bedrohten Bevölkerung zu erklären und ihr plausibel zu machen, dass sie mit ihrem Leben für die ausschließlich im Interesse der USA in ihrer Nähe stationierten Raketen bezahlen soll. Keine von amerikanischer Seite angebotene Vergünstigung in der Ausstattung der polnischen Armee mit amerikanischen Waffensystemen würde wahrscheinlich lukrativ genug erscheinen, um der bedrohten Bevölkerung als Ausgleich für ihre potenzielle Vernichtung dienen zu können. Sie ist ja auch mehrheitlich gegen eine Stationierung. Ebenso dürfte die Europäische Union einen eventuellen Alleingang Polens als unfreundlichen Akt ansehen, durch den ihr Verhältnis zu Russland ohne ausreichenden Grund massiv beeinträchtigt wird. Die bereits erfolgte Zustimmung der tschechischen Regierung für die Stationierung eines amerikanischen Radarsystems ist unter dem gleichen Blickwinkel zu betrachten. Sie läuft ebenfalls Gefahr, das Gesamtinteresse der EU zu missachten und dient letztlich auch nicht dem wohlverstandenen nationalen Interesse Tschechiens. Auch hier lehnt eine Mehrheit der Tschechen das amerikanische Radarsystem ab.
3.2.2. Motive der USA
Naheliegend erscheint dem Berichterstatter folgende Schlussfolgerung: Die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Antiraketen in Polen (oder wie angedeutet in Litauen, für den Fall, dass Polen sich verweigert) ist Teil der Gesamtstrategie der USA zur Wiederbelebung des Ost-West-Konflikts und verletzt die grundlegenden Interessen Europas. Die anlässlich der Unterzeichnung des US-amerikanisch-tschechischen Vertrages zur Errichtung einer US-Raketenabwehranlage am 8. Juli 2008 in Prag von der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice gewählten Worte sind ein deutliches Zeichen. Sie unterstellte Russland, in Abchasien als Aggressor gegen Georgien vorzugehen und unterschlug sowohl die bisher − nach der Zeugenaussage eines deutschen Beobachters vor Ort − sehr zurückhaltende russische Verhaltensweise und vor allem das bereits zur Zeit der Sowjetunion gespannte Verhältnis der moslemischen Bevölkerung Abchasiens zum christlichen Georgien (dazu auch Karl Grobe, Radar gegen Papiertiger, Frankfurter Rundschau 9. Juli 2008). Schon in den achtziger Jahren betonten offizielle Vertreter Abchasiens gegenüber Gästen ihre exklusiven Beziehungen zu Moskau und deuteten damit an, dass die Zugehörigkeit Abchasien zu Georgien sehr unbeliebt sei.
Die amerikanische Vorgehensweise demonstriert beispielhaft, wie schwach und teilbar die EU von der Bush-Administration eingeschätzt wird und in welcher abfälligen Weise sie Europa zum Exerzierfeld ihrer globalen Interessen machen will. Nach der bitteren Erfahrung, welche die gesamte europäische Bevölkerung im vergangenen Ost-West-Konflikt gemacht hat, verdient eine solche Politik die Ablehnung aller Europäer (einschließlich der Bevölkerung Polens und Tschechiens) und fordert das Vereinigte Königreich (U.K.) auf, deutlicher als bisher zwischen seinen atlantischen und europäischen Interessen zu unterscheiden. Keine noch so große, obgleich unbegründete, Angst vor dem wiedervereinten Deutschland und einem engen deutsch-russischen Verhältnis, das von manchen als Last für die übrigen Europäer eingeschätzt wird, rechtfertigt die Auslieferung an globale Interessen der Bush-Administration. Wer diese Ängste pflegt, hat die Architektur des alten Ost-West-Konflikts nicht verstanden und trägt zur Entfaltung einer Entwicklung bei, die Europa einer Neuauflage des alten Konflikts näher bringt.
3.3. Zurückweisung des US-amerikanischen Hegemonieanspruchs
Das zweite Panel fragte nach der militärischen Notwendigkeit einer weltumspannenden Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika, den ihr zugrunde liegenden Motiven und der Beschreibung von Bedrohungen, die danach vom Iran, Russland und China ausgehen. Nachdem der Vertreter der USA, Prof. Dr. Kenneth Moss von der National Defense University Washington D.C., alle möglichen Arten von Bedrohungen aufgezählt und erläutert hatte, denen sich die USA ausgesetzt sähen und fortgesetzt erwehren müssten, entgegneten ihm die Diskutanten auf dem Podium einhellig, dass die den Bedrohungsanalysen zugrunde liegenden Hegemonievorstellungen der USA realitätsfern seien. Die USA sollten davon abrücken und zu einer realistischen Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage gelangen. Prof. Dr. Khalid Al-Dakhil von der King Saud University forderte die USA auf, Gespräche mit dem Iran aufzunehmen und nicht in Bedrohungsszenarien zu verharren, Dr. Alexander Pikayev vom Institute for World Economy and International Relations in Moskau bezog sich in seinem Diskussionsbeitrag vor allem auf die der Raketenstationierung in Polen zugrunde liegenden Bedrohungsanalysen, aber wies sie energisch zurück. Russland bedrohe die USA nicht, sondern wünsche gute Beziehungen mit den USA. Prof. Dr. Xia Liping vom Shanghai Institute for International Studies hob ebenfalls hervor, dass China für die USA keine Bedrohung darstelle und die USA sich endlich von nicht mehr aktuellen Hegemonievorstellungen lösen sollten. China müsse wenigstens sicherstellen, dass für den Fall eines amerikanischen Entwaffnungsschlages noch eine bzw. einige Raketen unversehrt übrig bleiben. Nicht mehr und nicht weniger strebe China an. Daraus könne keine Bedrohung der USA abgeleitet werden. Paul Schäfer von der Fraktion der Linken im Bundestag erzählte von seinen Begegnungen mit iranischen Politikern anlässlich seines Aufenthalts in Teheran. Er hätte den Eindruck gewonnen, dass iranische Politiker zwar sehr selbstbewusst, aber keinesfalls selbstgerecht und selbstmörderisch seien. Der Westen sollte mit ihnen ernsthaft verhandeln und die Sicherheitslage, so wie sie sich dem Iran darstelle, in seinen strategischen Überlegungen berücksichtigen und in die Verhandlungen mit dem Iran einbeziehen.
3.4. Erhöhen US-Raketenabwehrsysteme die internationale Sicherheit?
Das dritte Panel hatte die Konsequenzen der gegenwärtigen amerikanischen Pläne für Rüstungskontrolle und internationale Stabilität zum Inhalt. Ungeachtet der vorherigen Diskussionen über die Machbarkeit eines amerikanischen Raketenabwehrsystems und der disfunktionalen Stationierung von Antiraketen in Polen gegen iranische Raketen vertrat der eine Teil der Diskutanten die Meinung, dass die Stationierung von Antiraketen in Polen in jedem Fall der Rüstungskontrolle und internationalen Stabilität diene, während der andere Teil seine Zweifel an der Richtigkeit der Raketenstationierung äußerte. Zu den Befürwortern zählte Dr. Oliver Thränert von German Institute for International Politics and Security in Berlin und Dr. Uzi Rubin, Fmr. Sen. Director for Proliferation and Technology, Israeli National Security Council, Tel Aviv. Beide betonten, dass Verhandlungen über Rüstungskontrolle an der Stationierung von Antiraketen in Polen nicht scheitern müssten. Nicht nur Wirtschaftssanktionen gegen den Iran seien geeignet, der iranischen Führung vor Augen zu führen, wie risikoreich die Pläne der (dem Iran unterstellten) atomaren Aufrüstung seien. Zwar unausgesprochen, aber dennoch im Hintergrund präsent war die Mahnung an die russische Führung, angesichts der Stationierung von Antiraketen in Polen und der daraus folgenden negativen Implikationen für Russland den westlichen Sanktionen gegen den Iran nicht mehr nur verbal zuzustimmen, sondern Taten folgen zu lassen.
Juri Schneider vom Prague Security Studies Institute in Prag gehörte zur zweiten Fraktion. Er sprach sich vehement gegen den Bau von Radaranlagen in Tschechien und die Stationierung von Antiraketen in Polen aus, befürwortete aber Rüstungskontrollverhandlungen und die Einhaltung des Nichtweiterverbreitungsvertrages für Atomwaffen.
3.5. Wie wirksam sind Antiraketensysteme gegen den Katjuscha-Raketenwerfer und Mittelstreckenraketen?
Das vierte Panel beschäftigte sich mit der Sicherheitsproblematik auf regionaler Ebene (Iran, Hamas und Hezbollah) und suchte nach Antworten auf die Frage, ob Antiraketen gegen Kurzstreckenraketen wirksam eingesetzt werden können. Uzi Rubin, vielleicht bereits in Kenntnis israelischer Tests zur Raketenabwehr von primitiven Kurzstreckenraketen (Katjuscha-Raketenwerfer) und Mittelstreckeraketen mit Mehrfachsprengköpfen, vertrat die Auffassung, dass man Raketenangriffen aus dem Gazastreifen oder von Libanon und dem Raketenbeschuss aus dem Iran künftig wirksam begegnen könne, während sein israelischer Kollege Pedatzur die Entwicklung solcher Abwehrsysteme als nicht realisierbar ansah. Pedatzur hielt Rubin die primitive Machart von Katjuschas entgegen, die in sehr großer Anzahl hergestellt und von Gaza oder dem Libanon aus auf die Grenzgebiete Israels abgeschossen werden könnten. Werde Israel mit Mittelstreckenraketen angegriffen, die kurz vor ihrem Wiedereintritt in die erdnahe Luftschicht eine Vielzahl von Attrappen und scharfen Sprengköpfen ausstoßen könnten, gäbe es dagegen keine wirksame Verteidigung. Die aus diesen unterschiedlichen Betrachtungsweisen resultierenden Antworten auf Raketenangriffe waren eindeutig. Der eine befürwortete eine harte Haltung gegenüber Iran, Hamas und Hezbollah, während der andere den Verständigungsfrieden mit den Nachbarn Israels suchte. Ob Israel in der Zwischenzeit tatsächlich ein wirksames Abwehrsystem gegen Raketenangriffe entwickelt hat, wird erst die Zukunft zeigen. Die bloße Ankündigung zielt entweder auf Einschüchterung oder erwünscht sich vielleicht eine panikartige Reaktion, in der die Führer von Hamas den momentanen Waffenstillstand nicht mehr gegen Untergruppen durchsetzen können.
4. Keynote Speeches
Vor und zwischen den Panels hielten Dr. Hans Blix, Fmr. Director General, IAEA, und Frm. Minister for Foreign Affairs, Kingdom of Schweden, Stockholm, H.H. Prince Torki M. Saud Al-Kabeer, PhD., Deputy Minister for Multilateral Relations, Kingdom of Saudi Arabia, Riyadh, und Dr. Mohammed Javad A. Larijani, Fmr. Debuty Foreign Minister of the Islamic Republic of Iran und Director of the Institute for Studies in Theoretical Physics and Mathematics, Keynote Speeches.
4.1. Hans Blix: Abrüstungsvisionen und die Aussicht auf eine von Massenvernichtungswaffen freie Zone im Nahen Osten
Blix betonte die positiven Effekte der zunehmenden Interdependenz und ökonomischen Integration zwischen Japan und China, Europa und Russland. Dadurch werde die Versuchung, in den gegenseitigen Beziehungen auf Bedrohungsszenarien und den Einsatz militärischer Mittel zurückzugreifen, reduziert. Die beteiligten Mächte hätten begriffen, dass militärische Konfrontation nicht förderlich ist für ihr weiteres Zusammenwachsen. Mit nachdrücklichem Verweis auf die Sicherheitsdoktrin der USA erwähnte er jedoch pessimistische Stimmen, die insbesondere in Ministerien der Verteidigung beheimatet seien und aus deren Sicht die Entsendung von Kriegsschiffen und Flugzeugen immer als Option zur Bekämpfung von Konflikten vorgehalten werden müsse. Auf indirekte Weise sprach Blix damit die hegemonialen Bestrebungen der USA an, mittels einer neuen Containmentstrategie die Strukturen des vormaligen Ost-West-Konflikts wieder zu beleben und Russland und China aus der sogenannten Liga der Demokratien auszuschließen. Im Gegensatz dazu strebte Blix eine Politik der aktiven Kooperation an, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts für einige Jahre betrieben wurde (z.B. beim Verbot chemischer Waffen im Jahre 1993). Nach dem ersten Dämpfer im Jahre 1998 durch die Zurückweisung des Atomteststopp-Abkommens im amerikanischen Senat sei sie nach dem 11.9.2001 ganz aufgegeben und von einer Politik der Überlegenheit US-amerikanischer militärischer Macht abgelöst worden, die ihren prägnanten Ausdruck im − internationales Recht verletzenden und ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats begonnenen − gegen den Irak geführten Krieg gefunden hätte. Inzwischen sei jedoch das Vertrauen in die militärische Überlegenheit sowohl im Irak wie im Libanon verloren gegangen und die Vereinten Nationen seien gestärkt aus der Entwicklung hervorgegangen. Als Beispiele führte er die Verhandlungen mit Nordkorea und dem Iran an, setzte jedoch im Falle des Irans ein vorsichtiges „Bisher“ hinzu.
Blix gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass mit den vorbereitenden Verhandlungen zur Verlängerung des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) im Jahre 2010 erneut eine Periode der aktiven Kooperation beginnen könne. Voraussetzung sei, dass die auf Bush folgende neue amerikanische Administration sich aufgeschlossener zeige, bereit sei, die gegenwärtig vergifteten amerikanisch-russischen Beziehungen zu verbessern und die Verhandlungen mit Nordkorea und dem Iran erfolgreich abgeschlossen werden können. Noch viel wichtiger sei, dass die atomar gerüsteten Staaten endlich mit der Reduzierung ihrer Waffenarsenale begäinen. Nur dann gingen sie mit gutem Beispiel für den Besitz von Atomwaffen voran.
Als Ratschlag gab er den Politikern auf den Weg, die europäische Strategie gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen aus dem Jahre 2003 zu beherzigen. Darin heiße es: „The best solution to the problem of proliferation of WMD is that countries should no longer feel they need them. If possible, political solutions should be found to the problems, which lead them to seek WMD. The more secure countries feel, the more likely they are to abandon programs …“. [zu Deutsch etwa: Die beste Lösung des Problems der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist, wenn Länder nicht mehr meinen, dass sie diese bräuchten. Wenn möglich, sollten politische Lösungen für die Probleme gefunden werden, welche Länder dazu bringen, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Je sicherer sich die Länder fühlen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Abrüstungsprogrammen zustimmen.]
In diesem Sinne solle man, so Blix, den israelisch-arabisch/iranischen, den nordkoreanisch-amerikanischen und den indisch-pakistanischen Konflikt entschärfen. Im Falle Israels könne man Israel als Gegenleistung für die Abschaffung israelischer Atomwaffen die Nato-Mitgliedschaft anbieten, so dass der gesamte Nahe Osten atomwaffenfrei und der Iran alle eventuellen Bestrebungen nach Atomwaffen aufgeben könne.
Blix kam abschließend zu folgenden Schussfolgerungen:
Wenn man vom Iran nicht mehr das Ende der Urananreicherung fordere, bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen, die Belieferung mit angereichertem Uran für die zivile Atomwirtschaft garantiere, seine Unterstützung für den Beitritt des Irans zur WTO verspreche, Investitionen im Iran vornehme und die bestehenden Sanktionen aufhebe, sei man einer friedlichen Lösung des Konflikts näher gekommen. Blix wunderte sich darüber, dass man gegenüber dem Iran bisher als Gegenleistung für den Verzicht auf nukleare Anreicherung keine Garantie abgegeben habe, ihn künftig nicht anzugreifen und keinen Regimewechsel herbeizuführen. Genau jene Garantien hätte man Nordkorea gegeben, um Nordkorea von der Produktion von Atomwaffen abzubringen. Blix beendete seine Ansprache mit der Feststellung, er verstehe nicht, dass man alle diplomatischen Bemühungen als bereits ausgeschöpft erklären könne, bevor man nicht auch diese Garantien auf den Verhandlungstisch gelegt habe. So naheliegend seine Forderung auch ist, scheint Blix hier zu übersehen, dass die geographische Lage Nordkoreas nicht vergleichbar ist mit derjenigen des Iran. China kann außerdem gegenüber dem nordkoreanischen Regime auf eine erhebliche Zahl von Druckmitteln zurückgreifen.
Das Ende aller amerikanischer Bestrebungen nach einem Regimewechsel im Iran würde bedeuten, darauf zu verzichten, im Iran ein USA-freundliches Regime nach dem Muster des Schahs zu etablieren, das den USA den Zugriff auf die iranischen Erdöl- und Erdgasvorkommen offeriert (wie jetzt bereits von der irakischen Regierung gefordert). Außerdem wäre es das Ende für alle amerikanische Versuche, über iranisches Territorium Zugang zu den zentralasiatischen Öl- und Gaslagerstätten zu erhalten. Blix scheint den bisher trotz aller Niederlagen ungebrochenen Anspruch der Bush-Administration auf Aufrechterhaltung einer hegemonialen Position zu unterschätzen.
4.2. H.H. Prince Torki M. Saud Al-Kabeer: Eine gemeinsame Sicherheitsstrategie für den und im Nahen Osten bzw. in der Golfregion
Bereits vor dem Vortrag verdeutlichten anwesende Vertreter Saudi Arabiens die arabische Grundposition im arabisch-israelischen Konflikt. Ihrer Ansicht nach wäre es möglich, den Teufelskreis von „Vertreibung der Vertreiber, der Vertriebenen durch die Vertriebenen“ mit einer gemeinsamen arabisch-israelischen Sicherheitsstrategie zu durchbrechen. Die Grundposition lässt sich in folgenden Sätzen zusammenfassen:
Nach der Jahrhunderte zurückliegenden Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat und der Besiedelung der entleerten Gebiete durch Araber, deren Nachgeborene nicht für die Vertreibung der Juden verantwortlich gemacht werden können, rechtfertige auch das entsetzliche Verbrechen an den Juden in Nazideutschland (Holocaust) nicht die Errichtung eines rein jüdischen Staates, aus dem Teile der angestammten Bevölkerung unter Zwang vertrieben wurden, andere freiwillig gingen und einige des im Lande verbliebenen Teils über einen minderen gesellschaftlichen Status klagen. Akzeptabel und human wäre es gewesen, ein Zusammenleben der angestammten mit der zugewanderten Bevölkerung in einem Staat zu organisieren, der von beiden Gruppen gemeinsam und einvernehmlich getragen wurde und Jerusalem zur Hauptstadt erklärte.
(Das dies möglich gewesen wäre, beglaubigten noch im britischen Protektorat Palästina geborene Juden. Zum Beispiel zeigten sich einige unter ihnen unmittelbar nach dem Sechstagekrieg im Jahre 1967 entsetzt über die nunmehr Platz greifende Auffassung unter ihren Mitbürgern, dass ein Zusammenleben mit den Arabern niemals mehr möglich sein werde. Für sie war damit der Weg eines andauernden Zerwürfnisses mit bitteren Folgen für Israelis und Araber vorgezeichnet.)
Vor dem Hintergrund der arabischen Grundposition entwarf Prince Torki M. Saud Al-Kabeer eine Sicherheitsstrategie, die Israelis und Palästinenser über ein Nebeneinander zum Miteinander führt. Aus einem friedlichen Nebeneinander von Israel und Palästinensischem Staat könne jedoch nur dann ein gemeinsamer Staat werden, wenn der noch zu gründende palästinensische Staat lebensfähig sei und Israel seine Siedlungspolitik bis zu den Grenzen von 1947 zurücknehme. Die fortdauernde Einverleibung palästinensischen Gebietes in das Stadtgebiet von Jerusalem sei der Todesstoß für jede gemeinsame Sicherheit. Für Prince Torki M. Saud Al-Kabeer hätte eine dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts Signalcharakter für die gesamte Golfregion.
4.3. Mohammed Javad A. Larijani: Wege zu einer sinnvollen Interaktion zwischen dem Iran und dem Westen
Larijani bezog sich während seiner umfangreichen Ausführungen über die iranische Politik, die auf den fünf Grundwerten der Pancasila
Das Existenzrecht der israelischen Bevölkerung darf danach nicht verwechselt werden mit dem beanspruchten Existenzrecht eines israelischen Staates. Der Holocaust kann nach dieser Grundposition nicht als Rechtfertigung für die Aufteilung von Israelis und Palästinenser in zwei unterschiedliche Staaten genommen werden. Als Irans Präsident Ahmadinedschad das Ende des israelischen Staates gefordert habe, habe er nicht den Holocaust geleugnet.
Der Newsletter der israelischen Botschaft sah in den Ausführungen Larijanis „eine Iranische Hetze gegen Israel“ (Yedioth Ahronot, 26.06.08). Die Konferenz habe ein Forum für antiisraelische Hetze geboten. Wörtlich hieß es: „Ein wirklich schlimmer Skandal… und das in der Hessischen Landesvertretung in Berlin!!!!!!!!!!“. Laut Yedioth Ahronot hätte der frühere stellvertretende Außenminister des Iran, Mohammad Javad Ardashir Larijani, „zur Annullierung des ‚zionistischen Projekts‘ aufgerufen, das in den vergangenen 60 Jahren … zu einem „fehlgeschlagenen Plan“ geworden sei, das „nur Gewalt und Grausamkeiten“ geschaffen habe.“1
Auf wen diese harsche israelische Reaktion zielte, nahm Larijani bereits in seinen Ausführungen indirekt voraus, als er seinen Eindruck nach Gesprächen mit europäischen Politikern schilderte. Wenn er mit ihnen über Konfliktlösungen spreche, hätte er jedes Mal den Eindruck, dass in ihren Hinterköpfen trotz aller Bereitschaft zum Zuhören und Durchdenken von Lösungsmöglichkeiten immer die bange Frage zirkuliere, was werden die Israelis dazu sagen? Larijani fragte sich, mit welcher Berechtigung sich Israel zum Vordenker der Europäer mache und aus welchen nicht unmittelbar einsichtigen Gründen die Europäer den Israelis diesen Status zubilligen?
Larijani forderte dazu auf, „wenigstens für eine Weile“ den paranoiden Umgang mit dem Iran auszusetzen. „Wir sind offen für Verhandlungen, aber nicht offen für Befehle“.
5. Abschlussbetrachtung
Die Konferenz zeichnete sich durch die Präsentation eines bemerkenswert hohen Maßes an Expertenwissen und den toleranten Dialog zwischen den Vortragenden untereinander sowie zwischen den Panellisten und dem Publikum aus. Im Unterschied zur Regierungskonferenz im Auswärtigen Amt nahmen an ihr auch Vertreter Syriens und des Irans teil.
Der gesamte Diskussionsverlauf war weder durch Antiamerikanismus noch durch Antisemitismus bestimmt, es sei denn, Diskussionsteilnehmer verwechselten Kritik an US-amerikanischen und israelischen Positionen mit solchen Geisteshaltungen. Zustimmung und Kritik begleitete alle vorgetragenen Positionen in der gleichen Weise. Dennoch bleibt ganz allgemein festzuhalten: Es fällt offenbar einer auf Hegemonie pochenden Macht schwerer als einer allseits Anerkannten, kritische Äußerungen nicht nur zu dulden, sondern als in sich berechtigt anzuerkennen und mit gewichtigen Gegenargumenten zu kontern. Noch schwerer fällt es offenbar Vertretern Israels, zwischen der von ihnen beabsichtigten und der durch ihre Intervention tatsächlich erzielten Resonanz zu differenzieren. Wenn es der vom französischen Präsidenten Sarkozy geförderten Mittelmeerunion gelänge, das israelisch-arabische Verhältnis zu entkrampfen und beide Seiten in konstruktiver Weise miteinander ins Gespräch zu bringen, könnten Maximalforderungen zurückgenommen werden und ganz nebenbei fiele auch von Europa eine niederdrückende Last ab.
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1 Die Hessische Stiftung verwahrte sich gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus und betonte, dass sie vergeblich versucht habe, als Gegengewicht zu Larijani Minister der israelischen Regierung als Vortragende für die Konferenz zu gewinnen. Nur der ehemalige hohe Regierungsbeamte Dr. Uzi Rubin und Dr. Reuven Pedatzur von der Universität Tel Aviv vertraten die israelische Position, beide Israelis offensichtlich wegen der israelischen Absagen gleich auf zwei Panels. Rubin betonte ausdrücklich, dass er seine private Meinung vortrage.
17. Juli 2008
Reinhard Hildebrandt
Die EU – eine Ellipse mit zwei Brennpunkten
Vorliegender Text wurde am Tag der Europawahlen als Kommentar aus deutscher Sicht in einem französischen Online-Magazin veröffentlicht. Die europäische Entwicklung von der Gründung der Montanunion bis zur EU wird dabei in den größeren weltpolitischen Kontext eingeordnet.
1. Etappen der räumlichen Entfaltung
Die Entstehung der Europäischen Union hat zwei Geburtshelfer. Nach dem Ende des II. Weltkrieges sollte die Kohle- und Stahlindustrie Deutschlands eng mit der westeuropäischen verschmolzen werden, um nicht wieder wie nach dem ersten Weltkrieg als Nukleus einer erneuten deutschen Aufrüstung zu dienen. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bzw. Montanunion entstand ein enger Verbund der westeuropäischen Schwerindustrie mit weitreichenden Folgen für die verarbeitende Industrie, den Handel und den gesamten Dienstleistungsbereich. Die Zukunft Deutschlands war fortan unabänderlich mit der ganz Westeuropas verkettet.
Der zweite Geburtshelfer waren die USA. Sie wollten sich künftig auf dem europäischen Kontinent fest verankern und benötigten dafür einen einheitlichen und durch keine Grenzen zerschnittenen Wirtschaftsraum. Nur ein solcher Raum bot us-amerikanischen Unternehmen längerfristig geeignete Absatz- und Investitionschancen.
Der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) lag ein Interessenausgleich zwischen Frankreich und Deutschland zugrunde: Die EWG öffnete der wieder aufstrebenden deutschen Industrie einen zollfreien Absatzmarkt und im Ausgleich dafür wurde die französische Agrarwirtschaft durch hohe Agrarsubventionen gestützt; wobei anzumerken ist, dass Frankreich seinen Widerstand gegen die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EWG erst aufgab, nachdem die französische Wirtschaft allein als Gegengewicht zur gewachsenen deutschen Wirtschaftskraft zu schwach geworden war.
Der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks im Jahre 1973 eröffnete den Reigen der stufenförmigen Ausdehnung der EWG. Die Erweiterung ging zunächst in südliche Richtung (Griechenland 1981) und dann in südwestliche Richtung (1986: Spanien, Portugal). Diese beiden Erweiterungen geschahen in der Absicht, diktatorisch geprägte Gesellschaften aus ihrer Rückständigkeit zu befreien und sie beschleunigt ökonomisch und politisch an Europa anzubinden.
Nach Gründung der Europäischen Union (1992) traten die zuvor in der EFTA (Europäische Freihandelsassoziation) versammelten und der Neutralität verpflichteten Länder Österreich und Schweden der Union bei (1995). Im gleichen Jahr wurde auch das bis dahin ökonomisch auf die Sowjetunion orientierte und jetzt nach neuen Absatzmärkten und Sicherheit ausschauende Finnland Mitglied der EU.
2004 begann mit Slowenien die schrittweise Angliederung der Konkursmasse des zerfallenen Jugoslawiens an die EU. Die Aufnahme Zyperns und Maltas im gleichen Jahr (2004) demonstrierte das stärker werdende Bestreben der EU, künftig im gesamten Mittelmeerraum präsent zu sein.
Mit dem ebenfalls 2004 erfolgenden Beitritt der Länder aus dem vormaligen Staats- und Einflussgebiet der Sowjetunion (Baltische Länder, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) überwand die EU die jahrzehntelange Teilung Europas in ein sowjetisch geprägtes Mittel- und Osteuropa und ein auf die USA orientiertes Westeuropa.
Die bis 2007 verschobene Aufnahme von Rumänien und Bulgarien arrondierte diese Entwicklung und versetzte die noch nicht zur EU gehörigen westlichen Balkanstaaten in eine Binnenlage innerhalb des von der EU umschlossenen Territoriums.
Als Schlussfolgerung ergibt sich folgendes Bild:
Die Ost- und Südostausdehnung der Europäischen Union hat die Geographie der EU entscheidend verändert. Ihr Schwergewicht wurde in Richtung Osten verschoben. Aus der EU mit Frankreich als Herz und dem Mittelpunkt Paris ist eine Ellipse mit Deutschland als zweitem Standbein der EU und Berlin als zweitem Brennpunkt geworden. In den beiden Brennpunkten Paris und Berlin konzentriert sich seit einigen Jahren das Kräftefeld der neuen EU.
2. Folgen der Vertiefung der Europäischen Union – am Beispiel der Einführung des Euros als Gemeinschaftswährung
Bereits lange vor der Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 empfanden andere Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Geldpolitik der deutschen Bundesbank als stark einschränkende Kraft für ihre eigene Konjunktur- und Fiskalpolitik. Die Deutsche Währung war zur faktischen Leitwährung Europas aufgestiegen und die Bundesbank nahm zunehmend inoffiziell die Rolle einer europäischen Zentralbank ein. Der Unwillen der übrigen Mitgliedsländer verstärkte sich erheblich, als dann auch noch die Vereinigung Deutschlands vorwiegend mit geldpolitischen Mitteln betrieben wurde.
Die von Frankreich gewünschte Einführung des Euro als neue europäische Gemeinschaftswährung – im Jahre 1999 zunächst als Buchgeld und ab 2002 als gesetzliches Zahlungsmittel – sollte diesen unbefriedigenden Zustand definitiv beenden. Als Gegenleistung erklärten sich alle Gründungsländer der neuen Währung lediglich damit einverstanden, dass die Ausgestaltung der Europäischen Zentralbank (EZB) nach dem Muster der Bundesbank erfolgen sollte und künftig vorwiegend der Bekämpfung inflationärer Entwicklungen zu dienen hatte.
Auf die Einschränkung ihres geldpolitischen Handlungsspielraums reagierte nun die deutsche Seite mit dem Instrument der Lohnstückkostensenkung. Im Verein mit der deutschen Wirtschaft und unter stillschweigender bzw. teilweise unter öffentlichem Druck erfolgenden Duldung der deutschen Gewerkschaften unterlief sie die von den übrigen Mitgliedsländern beabsichtigte Reduzierung traditioneller deutscher Wettbewerbsvorteile. Der Ausbau eines Niedriglohnsektors und die frühzeitige Verlagerung lohnintensiver Produktionsbereiche in die künftig zur EU gehörigen ost- und südosteuropäischen Länder senkte die Lohnstückkosten unter das Niveau der Nachbarländer. Dank der neu gewonnenen Wettbewerbsvorteile eroberte die bundesdeutsche Wirtschaft immer mehr Bereiche des EU-Binnenmarktes und avancierte schließlich sogar global zum „Exportweltmeister“. Dabei verlor der Euro seine abschreckende Wirkung und entwickelte sich sogar umgekehrt zur Stütze des bundesdeutschen Exportmotors auf dem Weltmarkt. Für lange Zeit verhallten kritische Stimmen völlig wirkungslos, von denen die einseitige Ausrichtung der bundesdeutschen Wirtschaft auf den Export beanstandet und als drückende Last für die deutschen Lohnempfänger beklagt wurde. Selbst mahnende Worte der Nachbarländer, ob etwa die deutsche Wirtschaft noch nachträglich das Ziel des ersten Weltkriegs – die wirtschaftliche Dominanz im ost- und südosteuropäischen Raum – anstreben wolle, verklangen ohne ausreichenden Widerhall. Angesichts der von den USA ausgehenden Globalisierung der Finanz- und Realwirtschaft sei man zum Handeln gezwungen und müsse die eigene Wettbewerbsposition unter allen Umständen stärken – so die Kommentare von Vertretern der Wirtschaft und Politik.
3. Bestrebungen zur Schaffung einer sicheren und diversifizierten Versorgung mit Energie für die expandierende EU
Hatte schon die Einbeziehung des Baltikums in die EU den Argwohn Russlands hervorgerufen, verstärkte sich das russische Misstrauen noch mehr, als Pläne zur Umgehung Russlands in der Versorgung der EU mit Erdöl und Erdgas publik wurden.
Anstatt die bestehenden Pipelines auszubauen und Russland als sichere Versorgungsquelle zu nutzen, unterstützte die EU den von den USA geförderten Bau von Pipelines für den Transport von Erdöl und Erdgas vom Kaspischen Meer durch Aserbeidschan, Georgien zum Schwarzen Meer (Supsa) und die Türkei zum Mittelmeer (Ceyhan) und projektierte außerdem eine weitere Gaspipeline (Nabucco), die ebenfalls vom Kaspischen Meer durch Georgien, die Türkei und Bulgarien bis nach Ungarn führen sollte. Damit wurde russischen Territorium gezielt umgangen. Als ein deutsch-russisches Konsortium die Verlegung einer Gaspipeline durch die Ostsee von Russland nach Deutschland plante, stieß es auf vorwiegend politisch motivierten Widerstand vor allem in den Baltischen Staaten und Polen und darüber hinaus zusätzlich auf ökologische Bedenken in Finnland und Schweden.
Die Ostausdehnung der EU auf das vormals zur Sowjetunion gehörende Baltikum und das damals im sowjetischen Einflussbereich liegende Polen behinderte die EU in der Aufnahme gut nachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland. Mit der Ostausdehnung nahm die EU Länder auf, die nicht in der EU-Mitgliedschaft, sondern in der Aufnahme enger Beziehungen zu den USA ihre Sicherheit gewährleistet sahen. Die Mitgliedschaft in der Nato war für sie der Garant ihrer Unabhängigkeit und selbst bevorzugte deutsch-russische Beziehungen stießen auf ihren massiven Widerstand. Als Folge beider Entwicklungen,
Den USA unter der Führung des Präsidenten Bush Jr. gelang sogar die Herabstufung einiger Mitglieder der EU zum Erfüllungsgehilfen us-amerikanischer Hegemonialbestrebungen. Die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Antiraketen in Polen war Teil der Gesamtstrategie der USA zur Wiederbelebung des Ost-West-Konflikts und verletzte die grundlegenden Interessen Europas. Die USA avancierten außerdem zum Beschützer einiger Balkanstaaten und schwächten damit die Präsenz der EU auch in diesem Gebiet. Ihre Vorgehensweise demonstrierte beispielhaft, wie schwach und teilbar die EU von der Bush-Administration eingeschätzt wurde und in welcher abfälligen Weise sie Europa zum Exerzierfeld ihrer globalen Interessen zu machen versuchte. Zur Zersplitterung der EU trug auch die lange Zeit verfolgte Strategie bundesdeutscher Regierungen bei, eine Mittlerposition zwischen Frankreich und den USA einnehmen zu wollen. Berlin als neuer östlicher Brennpunkt der EU verlor in dieser Zeit drastisch an Wirksamkeit. Erst die von den USA ausgehende Finanzkrise bewirkte eine Umkehr zugunsten der EU.
4. Stärkung der EU als Resultat der Schwächung des Finanzplatzes London
Eine mit den USA gleichwertige Position erlangte die EU zu einem Zeitpunkt, als das anglo-amerikanische Finanzimperium erste Schwächeerscheinungen zeigte und neben der Wall Street auch der Finanzplatz London an Bedeutung verlor. Britische Regierungen hatten in der Vergangenheit ausschließlich die Stärkung des Finanzplatzes London vor Augen. So lange z.B. die City von London der Labourregierung genügend Steuereinnahmen einbrachte, um ihre Sozialprogramme zu finanzieren, beharrte sie auf ihrer Sonderstellung zu den USA und übernahm jede Maßnahme – sinnvoll oder nicht -, die über den Atlantik herüberschwappte. Britische Regierungen unterschieden nie deutlich zwischen ihren Interessen, die ihnen aus ihrer Mitgliedschaft in der EU erwuchsen, und ihren transatlantischen Interessen, die sie als Teil der anglo-amerikanischen Hegemonie formulierten. In Konfliktfällen saß ihnen das „transatlantische Hemd“ immer näher als der „europäische Rock“. Bei der Aufrechterhaltung von Steueroasen, die unter britischer Oberhoheit standen, und in der Deregulierung von Finanzoperationen transnationaler Unternehmen und weltweit agierender Investmentbanken vertraten sie stets deren Interessen. Die von den USA ausgehende Globalisierungsstrategie fand ihr volle Unterstützung. Bisher ist nicht absehbar, wann und unter welchen Bedingungen Großbritannien den Interessen der EU Vorrang einräumen wird. Eine Rückkehr zum Neuaufbau von Industrien wäre eine der zu erfüllenden Bedingungen. Eine andere bestünde in der Einbettung der Londoner Finanzwelt in die Geld- und Handelsgeschäfte Kontinentaleuropas, z.B. durch eine enge Kooperation zwischen den Börsen von London, Paris und Frankfurt. Voraussetzung dafür wäre die Abkehr vom Euro-Dollar und die Hinwendung zum Euro, ob mit oder ohne Beibehaltung des Pfund Sterling.
5. Wechselbeziehung zwischen europäischer Identität und kollektivem Gedächtnis
Es wäre vermessen zu behaupten, heutzutage bestünde bereits eine ausgeprägte europäische Identität auf der Grundlage eines allen Europäern gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses. Das britische Beispiel zeugt geradewegs vom Gegenteil. Es wird noch sehr lange dauern, bis das Beispiel eines deutsch-französischen Geschichtsbuchs durch ein englisch-französisches oder englisch-deutsches ergänzt sein wird. Es wird noch sehr viel länger dauern, bis ein solches gemeinsames Geschichtsbuch seinen Weg in die Schulen findet und die national begrenzten kollektiven Gedächtnisse zusammenführt. In den gegenwärtig existierenden kollektiven Gedächtnissen dominiert noch die Ausgrenzung der anderen und in nicht wenigen Fällen sogar die Schuldübertragung für gesamteuropäische Fehlleistungen auf die jeweils anderen. Trotz vieler gemeinsamer Werte, die den Europäern erst dann richtig bewusst werden, wenn sie sich in anderen Kulturen begegnen und mit der Andersheit anderer Kulturen auseinandersetzen müssen, scheitert die Entfaltung einer gemeinsamen Identität immer noch an den unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Bei der Erzeugung eines gemeinsamen europäischen kollektiven Gedächtnisses kommt den beiden Brennpunkten der europäischen Ellipse eine herausragende Bedeutung zu. Paris und Berlin haben hier ihre ureigene Aufgabe noch nicht voll erkannt, aber der Anfang ist bereits gemacht.
11. Juni 2009
Reinhard Hildebrandt
Die EU zwischen transatlantischer Partnerschaft und engeren
Beziehungen zu Indien-Russland-China
Die deutsche Politik ist gegenwärtig hinsichtlich der langfristigen strategischen Ausrichtung in der Außenpolitik von grundsätzlich divergierenden Positionen zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen Amt geprägt. Um es zugespitzt zu formulieren: Während Angela Merkel die deutsche und europäische Position eher innerhalb eines revitalisierten Dreiecks USA-EU-Japan sucht, strebt Frank-Walter Steinmeier die engere Verflechtung Europas mit dem strategischen Dreieck Russland-Indien-China an. Dieser Artikel beleuchtet diese Divergenzen vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung seit dem II.Weltkrieg und wirft die Frage auf, wie lange es sich Europa noch leisten kann, keine eigenständige Rolle in der neuen weltpolitischen Lage zwischen einem „atlantischen und eurasischen Dreieck“ zu entwerfen, und stattdessen entweder unentschieden zwischen den Fronten zu schaukeln oder sich sogar einer möglichen neuen Containment-Politik der USA gegenüber Russland und China anzuschließen. Diese Frage wird insbesondere vor dem Hintergrund der ökonomischen Schwächung der USA und dem gleichzeitigen ökonomischen Aufstieg Asiens virulent.
1. Einleitung: Steht ein Strategiewechsel der EU an?
Günter Hofmann erkundigte sich in der Wochenzeitung Die Zeit vom 11. Oktober 2007 nach der Stellungnahme der Bundesregierung zu der Frage, ob ein neues Containment der USA gegenüber Russland und China bevorstehe und wie sich die schwarz-rote Koalition dazu verhalten werde. „In den USA jedenfalls“, schrieb Hofmann, „ist häufig bereits nicht nur von ‚Werten’ und ‚Demokratie’ die Rede, sondern zugespitzt auch von einer neuen Containmentpolitik gegenüber Moskau und insbesondere Peking.“ „Geht es insgeheim“, fragte Hofmann, „auch hierzulande hinter der Formel von der stärkeren ‚Werteorientierung’ um eine neue Containmentpolitik, eine unausgesprochene Eindämmungspolitik gegenüber Russland und China?“ Hofmann forderte zwar nur direkt die Bundesregierung, aber letztlich auch die gesamte Europäische Union dazu auf, bei dem Bemühen um ein gleichberechtigtes Kooperationsverhältnis zu den USA auch die Beziehungen zu anderen Mächten wie China und Russland im Blick zu behalten.
Eng mit der Klärung der Containmentfrage verknüpft ist in der Tat die seit dem Irak-Krieg immer drängender gewordene europäische Antwort auf den weiterhin bestehenden hegemonialen Anspruch der USA. Hat die Bush-Administration gegenüber der EU bzw. ihren einzelnen EU-Mitgliedern Sanktionsmechanismen in der Hand, um ihre hegemoniale Ambition durchzusetzen oder kann sie nur noch auf das den Europäern vertraute transatlantische Bewusstsein setzen, aus dessen Sicht die USA als eine wohlwollende informelle Hegemonie erscheint? Lange Zeit vorherrschendes abhängiges Bewusstsein reicht in der Regel in seiner Wirkungsmacht über veränderte reale Verhältnisse hinaus und verfälscht den Blick auf die neuen Realitäten. Berater der rot-grünen Regierung hielten beispielsweise dem damaligen Bundeskanzler Schröder entgegen, er überschätze den gegenüber den USA gewonnenen bundesdeutschen Spielraum. Für die Proklamierung einer gleichgewichtigen Partnerschaft der EU mit den USA sei es noch zu früh und erst recht verbiete sich eine scharfe deutsche Distanzierung von der amerikanischen Irakpolitik.
In der Tat entsprachen die hinter dem Vorhang der offiziellen Politik erfolgenden außenpolitischen Aktionen der Schröder/ Fischer-Regierung nicht immer der demonstrativ gegenüber den USA zur Schau gestellten Eigenständigkeit. Teilweise waren sie das genaue Gegenteil davon (vgl. z.B. die Gefangenentransporte). Dabei wurde niemals klar benannt, warum man sich beugte oder ob man aus inzwischen obsolet gewordenem Bewusstsein, gleichsam im vorauseilenden Gehorsam, handelte.
Mit dem Antritt der schwarz-roten Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel verabschiedete sich die Regierung vom offiziell engen Zusammenspiel mit dem französischen Partner und schickte sich an, die traditionelle Vermittlerrolle zwischen den USA und Frankreich wieder stärker aufzunehmen, darauf vertrauend, dass auch Präsident Nicolas Sarkozy die antiamerikanische Karte spielen würde. Außerdem spekulierte man auf eine weitere Vermittlerrolle im Konflikt um die nukleare Aufrüstung des Iran zwischen der scharfen antiiranischen Position der USA und den sehr zurückhaltenden Stellungnahmen Russlands und Chinas.
Beide Vermittlerrollen stellten sich sehr bald als Fata Morgana heraus. Sarkozy wird zwar nie wie Blair der Pudel Bushs werden, aber um freundschaftliche Beziehungen zu den USA ist er mindestens ebenso bemüht wie Bundeskanzlerin Merkel. Die Positionen Russlands, Chinas und der USA gegenüber dem Iran lassen zur Zeit auch keine deutsche Vermittlerrolle zu. Diplomatie lebt zwar vom Glauben, prinzipiell Unverereinbares zu einer einvernehmlichen Lösung zusammen zu schweißen, aber manchmal reicht es eben noch nicht einmal für einen sogenannten „Formelkompromiss“. Während der russische Präsident Putin und die chinesische Führung darauf bestehen, dass der Iran das verbriefte Recht zu nuklearer Forschung und Energieversorgung hat, sieht Bush in der iranischen Anreicherung von Uran bereits die Vorboten nuklearer Bewaffnung. Der Verhandlungsspielraum ist denkbar gering, wenn die eine Seite jede weitere Stufe in der Anreicherung von Uran durch immer stärkere Sanktionen verhindern will und die andere Seite erst den klaren Beweis für den Bau einer Atombombe zum Anlass nimmt, dem Iran das Vertrauen zu entziehen und auf Sanktionen umzuschalten.
Günter Hofmann fragt also mit Recht nach der Substanz einer eigenständigen Außenpolitik der Bundesregierung. Welche Position bezieht man, wenn die Bush-Administration das Beharren des Iran auf Atomenergie dazu benutzen sollte, gegenüber China und Russland eine neue Containmentpolitik einzuleiten, um die Handelsbeziehungen Europas und Japans wieder stärker auf die USA zu konzentrieren und die starke ökonomische Verflechtung Europas mit Russland und China aufzubrechen. Als Muster dient hier die ultimativ geforderte Beteiligung der Europäer an der Durchsetzung von Exportverboten für strategisch relevante Technologie im Jahre 1949 als Gegenleistung für Marshallplangelder und Warenlieferungen aus den USA, die ab 1946/47 trotz Überflusses an Kapital vom zunehmend florierenden Tauschhandel zwischen den west- und osteuropäischen Staaten wegen des Devisenmangels der europäischen Volkswirtschaften ausgeschlossen blieben.1
Zum heutigen Zeitpunktwürde man selbstverständlich nicht mehr mit Exportverboten für Technologie drohen können, aber mit Ausschlussdrohungen für den Zutritt zum großen amerikanischen Markt, wie es jetzt bereits für den europäischen Handelsaustausch mit sogenannten Schurkenstaaten geschieht, ist allemal zu rechnen. Angesichts der fortschreitenden Entindustrialisierung der USA,(nicht immer durch eine adäquate Ausdehnung des Dienstleistungsbereichs kompensiert), der begrenzten Aufnahmefähigkeit des amerikanischen Marktes für Exportprodukte, der keinesfalls kurzfristig beizulegenden Krise am Finanzmarkt und der damit eng zusammenhängenden uferlosen Verschuldung stellt sich die Frage, welchen Nutzen man sich von einer Wiederbelebung des innerwestlichen Dreiecks USA, Japan, Europa verspricht?
Den Europäern und Japanern als Ersatz für den chinesischen und russischen Markt engere Handelsverflechtungen mit einem scheinbar prowestlichen Indien „vorzugaukeln“, erweist sich bereits jetzt als dritte Fata Morgana. Indien hat sich längst – seine ureigenen Interessen erkennend – auf intensive Handelsbeziehungen des interregionalen Dreiecks Indien-China-Russland sowie mit den ASEAN-Staaten eingestellt und ergänzt gerade seinen intensiven Import von russischer Energie (Erdöl und -gas) und Militärgütern durch eine enge Zusammenarbeit in hochtechnologischen Sektoren (Produktion von Transportflugzeugen und Entwicklung einer gemeinsamen Raumfahrt). In den Zeiten einer Neuauflage des Ost-West-Konflikts kann Indien nicht damit rechnen, gerade im sicherheitsempfindlichen IT-Bereich, seiner eigentlichen Stärke, der bevorzugte Partner des Westens zu bleiben. Dazu dürfte bei den Machteliten des Westens gegenüber Indien als ehemals führendem blockfreien Land die Vertrauensbasis fehlen.
Im Verhältnis zu den USA müssten sich die Europäer bei nüchterner Betrachtung folgende Fragen stellen:
2. Vierzig Jahre innerwestliches Dreieck USA-Japan-Westeuropa und der Ost-West-Konflikt als Basis US-amerikanischer Hegemonie
2.1 Geopolitische, ökonomische und militärische Ziele
2.1.1 Das innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan
Die Grundzüge einer langfristigen Aussenpolitik der Vereinigten Staaten reichen zurück bis in die Monroe-Doktrin vom 3. Dezember 1823. Unter dem Schlagwort „Amerika den Amerikanern“ proklamierte sie die Existenz zweier politischer Sphären (two-spheres), forderte ein Ende aller Kolonialisierungsbestrebungen in der westlichen Hemisphäre (non-colonization) und kündigte ein Eingreifen der USA für den Fall an, dass die europäischen Kolonialmächte diese politischen Grundsätze ignorieren sollten. Der geopolitischen Verortung Lateinamerikas als amerikanisches Hinterland folgte die allmähliche Umorientierung der Handelsbeziehungen der süd- und mittelamerikanischer Staaten auf die USA und zu Beginn des Zweiten Weltkrieg auch deren militärische Absicherung. Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatten die USA ihren Markt für die vom kolonia-len Mutterland kriegsbedingt getrennten afrikanischen und asiatischen Kolonien geöffnet und Entkolonialisierungsbestrebungen unterstützt. Im Namen der Befreiung vom Kolonialismus entzogen sie den europäischen Kolonialstaaten das ihnen bis dahin verbliebene Hinterland, begrenzten die ökonomischen und militärischen Aktionsmöglichkeiten der europäischen Mutterländer immer stärker auf Europa und reihten sie zusammen mit den geschlagenen Kriegsgegnern Deutschland und Japan in die unter amerikanische Vorherrschaft gestellten Küstenregionen von Atlantik und Pazifik ein. Das innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan als einer der beiden künf-tigen Pfeiler amerikanischer Hegemonie nahm Gestalt an, als mit Hilfe des Marshall-plans, der Exportverbote für militärisch nutzbare Technologie und privater US-ameri-kanischer Kapitalexporte die Industrie und der Handel jener Regionen immer stärker auf die Zentralmacht USA ausgerichtet wurden. Die Vollendung dieses Eckpfeilers amerikanischer Hegemonie wäre jedoch nicht so reibungslos verlaufen, wenn nicht ein zweiter Pfeiler den ersten ergänzt und gestärkt hätte. Als dieser zweite Pfeiler diente den USA der Ost-West-Konflikt.
2.1.2 Der Ost-West-Konflikt als zweiter Pfeiler amerikanischer Hegemonie
Bereits im Herbst 1944 sahen sich die USA von einem gemeinsamen britisch-sowjeti-schen Aufteilungsplan für den Balkan in ihren Nachkriegsplänen herausgefordert, der Rumänien und Bulgarien größtenteils zum sowjetischen Einflussbereich schlug und Griechenland vornehmlich zum britischen erklärte, während in Jugoslawien und Ungarn beide Seiten die Hälfte des Einflusses für sich beanspruchten. Dieser Aufteilungsplan zeigte den USA, dass sie es in der Nachkriegszeit mit zwei anderen Sie-germächten zu tun haben würden, die nicht nur auf ihre Autonomie pochten, sondern ebenfalls Hegemonieansprüche stellten. Zur Erreichung ihres Ziels demonstrierte die Armee der Sowjetunion z.B. ihre Fähigkeit, bis in die Mitte Deutschlands vorzudringen und kurz vor Kriegsende auch noch in den Krieg gegen Japan einzutreten.
Im Falle Großbritanniens standen den USA neben der längerfristig wirkenden Ent-kolonialisierungspolitik noch drei weitere Instrumente zur Verfügung, um das bereits stark geschwächte einstige britische Imperium weiter zu entkräften. Die britische Re-gierung hatte erhebliche Kriegskredite in den USA aufgenommen. Ihre Rückzahlung durch Guthaben der britischen Kolonialgebiete in den USA (entstanden aufgrund von Exportüberschüssen) verhinderten die USA. Aus der Weiterentwicklung von Atom-bomben und Raketen schlossen sie Großbritannien aus, obwohl die Briten die Initiative für die atomare Bewaffnung ergriffen und lediglich 1940 wegen befürchteter Kriegseinwirkungen die Verlegung ihrer Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen in die USA beschlossen hatten. In Bretton Woods setzten sie gegen John Maynard Keynes durch, dass der US-Dollar zur Weltreservewährung gegen das Pfund Sterling aufstieg. Bei der CIA-inszenierten Inthronisation des Schahs von Persien gegen den demokratisch gewählten Präsidenten M. Mossadegh im Jahre 1953 beseitigten sie nicht nur die Demokratie im Iran, sondern zugleich auch den britischen Zugriff auf die iranischen Ölquellen und im Suezkanalkonflikt des Jahres 1956 demütigten sie die britische Regierung durch ihre Weigerung, die Verstaatlichung des Kanals mittels militärischer Mittel rückgängig zu machen.
Im Falle der Sowjetunion konnten die USA nicht mit einer baldigen Aufgabe des hegemonialen Anspruchs rechnen. Napoleon und Hitler hatten erfahren müssen, dass die Sowjetunion aufgrund ihrer großen Landmasse ein nur sehr schwer zu eroberndes und dauerhaft zu besetzendes Land ist. Mit einem heißen Krieg war der sowjetischen Führung also nicht zu drohen. Andere Mittel schienen erforderlich, um sie von ihrem Hegemonieanspruch abzubringen und sich dem amerikanischen unterzuordnen.
Vorteilhaft für die nähere Zukunft fiel für die USA gegenüber der Sowjetunion ins Gewicht, dass deutsche Truppen auf ihrem Rückzug sämtliche Restbestände russischer Industrie und ein Großteil der Infrastruktur bis auf die in aller Eile im und hinter dem Ural errichteten Produktionsstätten zerstört hatten, während die USA ihre Industrie fernab von jeder Kriegsfront ungestört und auf höchstem technologischen Niveau entfalten konnten. Bei ihrem Vormarsch auf Gebiete, die später zur sowjetischen Besatzungszone gehören würden, waren der US-Armee zudem die deutschen Raketenexperten (u.a. Wernher von Braun) und sämtliche Produktionsanlagen von V-2 Raketen im Südharz in die Hände gefallen. Auf der Grundlage ihres Wissens kalkulierte die amerikanische Militärführung für die atomare Bewaffnung der sowjetischen Armee mit einer Dauer von mindestens zehn Jahren und für den Aufbau einer eigenen sowjetischen Raketenstreitmacht mit mehr als zwanzig Jahren. Kurz- bis mittelfristig würde also das Atomwaffenmonopol und die sofortige Einsatzfähigkeit von Langstreckenbombern den USA einen von der sowjetischen Seite nur mühsam auf-zuholenden Vorsprung garantieren; längerfristig könnte man außerdem noch zur Erhaltung des eigenen Vorsprungs auf die rechtzeitige Entwicklung von Langstreckenraketen zurückgreifen. Angesichts des gesicherten Polsters schien es sogar sinnvoll zu sein, die US-Armee drastisch zu verringern und die entlassenen Soldaten zum Ausbau der wirtschaftlichen Dominanz zu nutzen.
Bis zur Mitte des Jahres 1949 hatten es die USA also mit einer Sowjetunion zu tun, die krampfhaft bemüht war, die von ihr besetzten Gebiete Ost- und Mitteleuropas auch gegen massiven Widerstand der Bevölkerungen zu halten. Entsprechend unbeliebt machte sie sich auch bei der gesamten europäischen Bevölkerung. Die Blockade der Westsektoren von Berlin verdeutlichte zwar einerseits ihre Schwäche, erzeugte jedoch andererseits durch ihr Vorgehen gegenüber den Westberlinern bei allen Europäern Angst und Schrecken.
Die USA dagegen stiegen zur Schutzmacht nicht nur der Bevölkerung der Westsektoren von Berlin auf, sondern konnten sich in fast ganz Europa als Beschützer der Freiheit gegenüber sowjetischem Eroberungsstreben etablieren. Mit dem Ende der Berlin-Blockade war der Ost-West-Konflikt als zweiter Pfeiler amerikanischer Hege-monie im Bewusstsein der amerikanischen und europäischen Bevölkerung fest ver-ankert worden. Beides zusammen, wirtschaftliche und militärische Überlegenheit, sorgten dafür, dass die USA die ihnen gegenüberliegende Küstenregion des Atlantik erfolgreich ihrem Herrschaftsbereich zuordnen konnten.
Nach der Machtergreifung der kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1949 und der Annäherung Chinas an die Sowjetunion gelang gleiches im pazifischen Raum. Um den Kern des besetzten und ökonomisch auf die USA ausgerichteten Japans und die seit 1898 von den USA beherrschten und später in die formale Selbständig-keit entlassenen Philippinien herum gruppierten die USA die von ihnen kontrollierte pazifische Küstenregion, die sie in den nachfolgenden Jahren noch erweitern konnten:
2.2 Entfaltung einer dualen Hegemonie zwischen den USA und der Sowjetunion
Die Explosion der ersten sowjetischen Atombombe im Jahre 1949 durchbrach das amerikanische Atomwaffenmonopol überraschend früh und zwang die USA zu einer Neueinschätzung ihres Verhältnisses zur Sowjetunion. Bisher musste die US-Militärführung in ihren Planspielen lediglich auf die Option verzichten, sowjetisches Territorium zu besetzen. Die schiere Größe des Landes verbot ein solche Vorgehensweise. Jetzt war außerdem damit zu rechnen, dass im Falle eines Konfliktes der sowjetischen Militärführung auch die Option des Abwurfs einer Atombombe auf amerikanische Ziele zur Verfügung stand, die sich nicht allzu weit vom sowjetischen Einflussbereich befanden. Das amerikanische Kernland (außer Alaska) lag zwar weiterhin außerhalb der Reichweite atomarer Angriffe des sowjetischen Militärs. Jedoch nach der Zündung der ersten sowjetischen Mittelstreckenrakete im Jahre 1955 war absehbar, wann sowjetische Interkontinentalraketen der sowjetischen Führung dieses Drohpotential in die Hände legen würden. 1959 verloren die USA ihre bis dahin vorhandene atomare Unverwundbarkeit und erlangten dieses Status nie wieder. Fortan rangen die USA und die Sowjetunion immer nur um die Beibehaltung ihrer gesicherten Zweitschlagkapazität, wobei im Wettrennen um die höchstmögliche Zerstörungsfähigkeit, verknüpft mit dem Versuch, die Zerstörung des eigenen Territoriums durch gegnerische Waffen möglichst gering zu halten, die USA immer darauf bedacht waren, ihren Vorsprung zu bewahren und deshalb den nächsten Schritt meistens als erste taten.
Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Dies steht eigentlich im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht – nur durch den eigenen Willen begrenzt. In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren jedoch beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potential an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. In jedem Falle war die jeweilige Kraftentfaltung – militärischer, geopolitischer oder ökonomischer Art – entscheidend.
Auf dem Hintergrund einer so gearteten strategischen Situation signalisierten die USA (zusammen mit Großbritannien und Frankreich) im August 1961 fünf Tage vor dem Bau der Mauer durch Berlin der Sowjetunion, „dass der Flüchtlingsstrom die größte unmittelbare Gefahr für den Frieden darstellt“. Jede Lösung des Problems würden die westlichen Regierungen „mit Eifer und Dankbarkeit begrüßen“ (Kurt L. Shell, Bedrohung und Bewährung, Westdeutscher Verlag Berlin 1965, S. 36). Da bis zum August 1961 bereits drei Millionen von 17 Millionen Einwohner der DDR geflohen waren, drohte ihr totaler Zusammenbruch und damit eine drastische Veränderung der Europa bestimmenden Sicherheitsarchitektur zwischen den USA und der Sowjetunion. Bezogen auf Europa entwickelten beide hegemonialen Mächte ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der strategischen Architektur.2
Dieses gemeinsame Interesse des amerikanisch-sowjetischen Hegemoniegespanns zeigte sich auch in den 1972er Verhandlungen zur Beilegung des Berlinkonflikts und der darin zum Ausdruck kommenden Formulierung, dass beide Seiten darin übereinstimmten, in der rechtlichen Regelung des Status von Berlin nicht überein zu stimmen (to agree to disagree). Es war die passende Zustandsbeschreibung für die Sicherheitsarchitektur einer duale Hegemonie, in der die Westeuropäer am höheren Lebensstandard der USA und die Osteuropäer am niedrigeren der Sowjetunion Anteil hatten und beide zusammen auf der Grundlage des geteilten Berlins und Deutschlands die geopolitische Stabilität garantierten.
Beide Mächte empfanden die duale Hegemonie jedoch nicht als Dauerzustand. Im Widerspruch zu ihrem momentanen gemeinsamen Interesse handelten sie zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts, in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen und die USA beispielsweise ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivale betrachtete und sich selbst als oberster Verteidiger der Freiheit. Die Sowjetunion hingegen begriff sich als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse und unterstellte den USA ebenfalls feindlichste Absichten. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, handelten sie im Sinne eines Nullsummenspiels. Sie kümmerten sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwen-dige Erhaltung der geopolitischen Stabilität und verschoben statt dessen gedankenlos die Grenzlinie zwischen verfügbaren und verwendbaren Handlungsoptionen zugunsten des jeweils anderen. Die Sowjetunion war kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts mit der Situation konfrontiert, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration.
Jedoch auch die USA mussten – wenn auch erst einige Jahre später – akzeptieren, dass das Ende der dualen Hegemonie zugleich auch ihren auf zwei Pfeilern beruhenden hegemonialen Anspruch untergraben hatte.
3. Wirtschaftliche und militärische Globalisierung sowie die Ausnutzung von Konflikten als Instrumente der USA zur Entfaltung ihrer global ausgerichteten Hegemonie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
3.1 Schwächung der Partner des innerwestlichen Dreiecks
In ihrem Siegerbewusstsein nahmen die USA zunächst nicht mehr wahr, dass ihr hegemonialer Anspruch auf beiden Pfeilern, dem innerwestlichen Dreieck USA-West-europa-Japan und dem Ost-West-Konflikt, beruht hatte. Brach einer der beiden weg, war auch der andere in seiner Substanz angegriffen, unabhängig davon, ob die USA den Ost-West-Konflikt als Sieger oder als Verlierer verließen. Mit der Zerschlagung der Sowjetunion verflüchtigte sich auch die Angst der Europäer und der Japaner vor der „roten Gefahr“. Hatten sie bis dahin Zuflucht bei den USA gesucht, forderten sie jetzt von ihnen ein kooperatives Verhalten im Rahmen eines gleichgewichtigen partnerschaftlichen Beziehungsverhältnisses.
Diese Forderung beantworteten die USA mit dem Versuch, die Europäer und Japa-ner zu schwächen. Sie nutzten die Uneinigkeit der europäischen Staaten in der Be-friedung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens und verstärkten durch entsprechende Abkommen (Aufteilung nach Ethnien) das bereits bestehende Konfliktpotential. Das Streben Nordkoreas nach Atomwaffen und die scharfe Reaktion der USA darauf beschäftigte die Japaner mit einem Konflikt direkt vor ihrer Haustür.
Gleichzeitig propagierten die USA wieder die Schaffung der „Einen Welt“, – ein Konzept, das sie erstmals unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet hatten, diesmal jedoch in der Gestalt der Globalisierung formuliert. „Globalisierung“ bedeutete für die USA die Ausbreitung amerikanischer Wirtschaftsmethoden über den gesamten Globus, d.h. Globalisierung wurde mit Amerikanisierung gleichgesetzt. Die weltweite Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftsmethoden und des damit verknüpften Gesellschaftsmodels zielte auf
Unter Präsident Clinton diente die Menschenrechtspolitik als zusätzlicher und sehr wirksamer Begleiter der amerikanischen Globalisierungsbestrebungen. Sie wurde jedoch sehr selektiv eingesetzt, beispielsweise nicht gegen Saudi-Arabien.
Die Einführung der militärischen Komponente amerikanischer Globalisierungspolitik erfolgte jedoch erst unter seinem Nachfolger im Präsidentenamt – George W. Bush – und firmierte als Neokonservatismus. Entsprechend jahrzehntelanger amerikanischer Überzeugung schafft erst die militärische Interventionsmacht die Voraussetzung für die wirtschaftliche Dominanz der USA. Beide Komponenten werden immer als Einheit betrachtet.
Die Globalisierungsstrategie, in die frühzeitig Transnationale Unternehmen und das weltweit nach Anlagemöglichkeiten suchende Finanzkapital eingebunden waren, endete nicht vor den Toren Chinas und Indiens, den beiden größten asiatischen Staaten, und konfrontierte die Hochlohnökonomien der alten Industriestaaten mit Wettbewerbsbedingungen, unter denen ihre tradierten sozialstaatsorientierten Modelle nicht mehr finanzierbar erschienen. Für die Europäische Union bedeutete der Globalisierungstrend außerdem die neoliberale Ausformung des europäischen Binnenmarktes und die noch stärkere Ausrichtung der osteuropäischen Beitrittsstaaten im neoliberalen Sinne.
3.2 Ungeplante Effekte der Globalisierungsstrategie
Die Formel „Globalisierung gleich Amerikanisierung“ hatte jedoch nicht zur Folge, dass die USA-Ökonomie vom schärfer werdenden Wettbewerb um niedrigere Löhne und geringere Soziallasten verschont blieb. Erstmals war nicht mehr gültig, was Jahrzehnte lang für einen unumstößlichen Glaubenssatz angesehen wurde: Was gut ist für General Motors ist gut für Amerika! Die tiefgreifenden Auswirkungen der Öffnung des amerikanischen Binnenmarktes für Mexiko, China, Indien und Vietnam demonstrierte der US-amerikanischen Bevölkerung die negative Seite der Globalisierungsstrategie. Als besonders gravierend stellte sich heraus, dass Transnationale Unternehmen keine Rücksicht auf ihre Herkunfts- bzw. Stammländer nahmen und im scharfen Wettbewerb untereinander um die günstigsten Produktionsbedingungen kämpften. Der amerikanische Binnenmarkt wurde – anders als ursprünglich erwartet – voll und ganz in den Globalisierungstrend einbezogen. Globalisierung, ursprünglich als elegante Stärkung der USA gegenüber allen anderen Konkurrenten gedacht, hatte nicht zur Folge, dass nach dem siegreichen Ende des Ost-West-Konflikts die Fesseln der dualen Hegemonie abgestreift und durch eine auf die Bedürfnisse der Zentralmacht USA zugeschnittene globale Hegemonie der USA ersetzt werden konnten. Aus der aufkeimenden Einsicht über die fehlgeschlagene Globalisierungs-strategie, parallel zur Einsicht über die Begrenztheit militärischer Interventionen am Beispiel des Irakkriegs, entstand der Versuch, den vormals zweiten Pfeiler amerika-nischer Hegemoniebestrebungen wieder zu beleben und einen neuen Ost-West-Konflikt in Gang zu bringen, – nur diesmal mit China als Gegenmacht.
4. Die Wiederauflage des Ost-West-Konflikts in neuer Form
4.1 Der nicht gewinnbare Krieg gegen den „Terror“
Nach der Zerstörung der Zwillingstürme des World Centers am 11. September 2001 schien die „Krake des Terrors“ ihre Fangarme um die USA zu schlingen. Das absolut Böse in Gestalt der Terroristen, hatte den USA – so propagierten es Bush und die Neokonservativen – den Krieg erklärt. Das Gute, die USA, musste zurückschlagen und das Böse vernichten. Krieg gegen Terroristen kann man aber nur führen, wenn sie auf einem spezifischen Territorium zu greifen sind. Treten sie als kleine und über den gesamten Globus verstreute Gruppen auf, müsste man konsequenter-weise allen Ländern, die ihnen freiwillig oder fahrlässigerweise Unterschlupf gewähren, den Krieg erklären oder zumindest damit drohen. Da die Zerstörer des World Trade Centers für länger Zeit unerkannt in Hamburg gelebt hatten, wäre der Vorwurf der Fahrlässigkeit und die Drohung mit antiterroristischen Maßnahmen an Deutschland zu richten gewesen.
Statt dessen bot sich Afghanistan für den Krieg gegen den Terror an. Die Taliban, von den USA und Saudi-Arabien großgezogen und finanziell indirekt über Pakistan fi-nanziert, hatten Afghanistan inzwischen fest im Griff und gewährten terroristischen Zellen und ihren Anführern wie Bin Laden freiwillig Unterschlupf. Außerdem hatten sie sich ostentativ dem US-amerikanischen Wunsch verweigert, auf afghanischem Territorium den Bau von Pipelines von Zentralasien nach Pakistan zu dulden. Die USA konnten ihren Einfluss auf die zentralasiatischen Staaten nur dann ausdehnen, wenn es ihnen gelang, die dortigen Gas- und Erdölquellen anzuzapfen und den Ab-transport von Erdgas und -öl nach Süden sicherzustellen.
Nach der Zerschlagung der Talibanherrschaft in Afghanistan hätte man deren Rückzugsgebiete in Pakistan angreifen müssen. Pakistan war aber einer der engsten Verbündeten der USA. Über Druckausübung hinaus verbot sich ein militärischer Zugriff auf das pakistanische Territorium; nicht jedoch auf den von Saddam Hussein diktatorisch regierten und als Schurkenstaat disqualifizierten Irak, der zwar keine Terroristen beherbergte, aber dem man gefahrlos eine solche Unterstützung unterstellen konnte. Ein militärischer Angriff auf den Irak verstärkte die These, dass prinzipiell alle Schurkenstaaten Terroristen Unterschlupf gewähren würden. Außerdem lagerten unter irakischem Territorium große Erdöl- und Gasreserven, die man für amerikanische Erdölgesellschaften erschließen konnte. Ein militärischer Angriff auf den Irak ließ sich darüber hinaus auch als willkommene Verbreitung der Demokratie plaka-tieren und ganz nebenbei hatte eine schnelle Eroberung des Irak den Effekt, der übrigen Welt zu demonstrieren, dass die USA zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort in der Lage sein würden, einen Krieg erfolgreich zu beginnen, durchzuführen und das besetzte Territorium und die besiegte Bevölkerung danach wieder zu befrieden. Alle bereits genannten Argumente wurden außerdem von der Behauptung übertroffen, dass mit der Vernichtung Saddam Husseins der maßgebliche Widerstand gegen eine Lösung der Palästinafrage im amerikanisch-israelischen Sinne aus dem Weg ge-räumt werde. Gegen diese Vielzahl von Begründungen mit dem Argument ankämpfen zu wollen, Terroristen seien Kriminelle, gegen die man keinen Krieg führe, sondern nach ihrer Ergreifung zu Gericht sitze, war ein vergebliches Unterfangen.
Entgegen vor allem amerikanischer, aber auch teilweise britischer Erwartungen, empfing die irakische Bevölkerung die amerikanischen Invasoren nicht mit Blumen- sträußen, sondern abwartend und skeptisch. Ihre Haltung schlug letztendlich in Ablehnung um, nachdem die Besatzungspolitik der USA ihr zwiespältiges Gesicht gezeigt hatte. Zum heutigen Zeitpunkt löst sich der Irak innerhalb eines Bürger-krieges in seine drei ethnisch unterschiedlichen Teile auf und sein Territorium ist tatsächlich zum Experimentierfeld von Terroristen geworden. Aus dieser verfahrenen Situation, die sich bereits seit 2004 deutlich abgezeichnet und Bushs Krieg gegen den Terror zu einem nicht gewinnbaren Krieg gemacht hat, bietet sich als Befreiungsschlag ein neuer Ost-West-Konflikt an, – nur diesmal nicht mit dem zwar an Energie reichen aber ansonsten schwachen Russland, sondern mit China und erst in dessen Schlepptau auch mit Russland.
4.2 Eine neue duale Hegemonie zwischen den USA und China?
Gefragt, welche Herausforderung China für die USA darstellt, antwortete die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice im Juli 2005: „I really do believe the U.S. – Japan relationship, the U.S. – South Korean relationship, the U.S. – Indian relationship, all are important in creating an environment in which China is more likely to play a positive role than a negative role. These alliances are not against China; they are alliances … that put China [on] a different path to development than if [it] were simply untethered, simply operating without that strategic context.” (Siddharth Vardarajan, America, India and Outsourcing Imperial Overreach, The Hindu, July 13, 2005). In dieser Antwort steckt der Versuch der USA, gegenüber China nach dem Muster der ehemaligen Containmentpolitik des Ost-West-Konflikts eine Eindämmungspolitik einzuleiten, an der sich möglichst alle Anrainerstaaten Chinas und insbesondere auch Indien beteiligen. Hintergrund der neuen Strategie ist die Erkenntnis der Bush-Administration, dass sich unter der Ägide der Globalisierung China zwar dem Weltmarkt gegenüber geöffnet hat, aber nicht – wie angenommen – daran ökonomisch zerbrochen ist, sondern in schnellen Schritten seine zurückgebliebene Wirtschaft wettbewerbsfähig gestaltet hat und nach geraumer Zeit mehr Produkte in die USA exportierte als von den USA nach China importiert wurden. Transnationale Unternehmen haben die Öffnung des chinesischen Marktes zur drastischen Kostenreduzierung benutzt und legen jetzt größten Wert auf die enge Verzahnung Chinas mit den Absatzmärkten für chinesische Produkte. Der ständig in Meilenstiefeln wachsende chinesische Außenhandel beschert der chinesischen Zentralbank einen enorm steigenden Devisenzufluss insbesondere in US-Dollar. Die Bush-Administration kommt nicht umhin, Chinas ökonomische Herausforderung als sehr ernst anzunehmen. Die chinesischen Führer vermeiden jedoch, in die Fußstapfen der Sowjetunion zu steigen und das gleiche Schicksal wie jene zu erleiden. Sie lassen sich nicht auf einen militärischen Kräftevergleich ein. Offensichtlich trauen sie amerikanischen Politikern und Strategen nicht zu, zwischen den Erfordernissen einer dualen Hegemonie und der Verfolgung eines kräfteverschleißenden neuen Ost-West-Konflikts unterscheiden zu können, in dem jede Seite vornehmlich die jeweils andere zu schwächen sucht, um schließlich als Sieger das Feld der Auseinandersetzung verlassen zu können. Die chinesischen Führer sandten schon frühzeitig Signale nach Indien, sich nicht in eine Eindämmungsstrategie der USA einbinden zu lassen und erhielten letztlich von Indien eine positive Antwort.
4.3 Indien in der Zwickmühle
Als einer der Führer der Blockfreienbewegung wurde der politischen Elite Indiens schon sehr früh bewusst, welche Art von Hegemonie die USA und die Sowjetunion im Ost-West-Konflikt miteinander gebildet hatten. Sie erkannten die drei Aspekte der dualen Hegemonie – ideologische Feindschaft, Kooperation vorwiegend in Europa und Rivalität in anderen Teilen der Welt -, unternahmen jede Anstrengung, nicht in das Räderwerk der Rivalität der beiden um neue Einflussgebiete zu geraten und waren letztlich auch erfolgreich in der Bewahrung ihrer Souveränität. Indische Strategen haben auch frühzeitig den Versuch der USA entdeckt, mit und gegen China einen neuen Ost-West-Konflikt zu erzeugen. Als die Bush-Administration Indien einlud, auf der Seite der USA daran teilzuhaben, schien zunächst die Versuchung sehr groß zu sein, aber die bessere Einsicht in die Gesamtzusammenhänge haben die indische Führung letztlich davor bewahrt, der amerikanischen Einladung zu folgen, obwohl bis in die Gegenwart immer wieder Angebote gemacht werden.
In der Tat konnten die USA den Indern ein sehr lukratives Angebot offerieren. Sie würden trotz indischer Nichtunterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages für Atomwaffen die Nuklearmacht Indien anerkennen und das seit der Zündung der ersten indischen Atombombe bestehende weltweit angewandte Embargo gegen Indien in der Belieferung mit nuklearem Brennstoff aufheben. In den unverzüglich beginnenden Verhandlungen zu einem zivilen Nuklearabkommen zeichnete sich auch eine Einigung ab. Die USA schienen Indien tatsächlich als gleichwertigen Partner anzuerkennen, aber in der Ausformulierung des sogenannten Kleingedruckten („Hyde Act“) ließen die USA dennoch erkennen, dass im Falle von Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen des Vertrages einseitig auf Indien erhebliche Strafmaßnahmen zukommen würden.
Außerdem sprachen sich die USA strikt gegen den Bau einer Gaspipeline von Iran über Pakistan nach Indien aus und gefährdeten damit die indischen Pläne nach mehr Versorgungssicherheit mit Energie. Würden sie unter den bestehenden Gegebenheiten mit den USA für eine Eindämmungspolitik gegen China votieren, hätten sie nicht nur China zum Feind, sondern gefährdeten auch die bis dahin guten Beziehungen zu Russland. Russland als traditioneller Waffenlieferant Indiens könnte künftig sehr viel weniger Rüstungsgüter nach Indien liefern, wenn die USA zum bevorzugten Waffenlieferanten Indiens aufstiegen. Im Falle des Wirksamwerdens einer amerikanisch-indischen Eindämmungspolitik gegenüber China würden die Chinesen außerdem engere Beziehungen mit Russland anstreben, was zur Folge hätte, dass Indien weder über eine Gaspipeline mit billigem iranischen Gas versorgt werden könnte, noch mit Flüssiggas aus Russland und weiterhin einseitig von Gas-lieferungen aus dem unter amerikanischen Einfluss stehenden arabischen Raum abhinge. Sich mit China in eine kräftezehrende Eindämmungspolitik zu begeben, ohne von den USA adäquate Gegenleistungen zu erhalten, war für die indische Führung unakzeptabel. In einem neuen Ost-West-Konflikt würden die USA und China eine neue duale Hegemonie bilden und ihre jeweiligen Verbündeten dieser Hegemo-nie auf der einen oder anderen Seite zuordnen. Aus der gleichgewichtigen strategi-schen Partnerschaft mit den USA würde bestenfalls ein Über- und Unterordnungs-verhältnis, schlimmstenfalls ein Herrschafts- und Beherrschungsverhältnis zu Lasten Indiens entstehen.
5. Indiens Triangelstrategie (Indien, China, Russland)
5.1 Strategische Partnerschaft zwischen Indien und China
Chinas strategische Berater haben Indien schon seit geraumer Zeit zur Bildung einer strategischen Partnerschaft eingeladen. Beide Großmächte Asiens, Nachbarn mit einer gemeinsamen Landgrenze, sollten sich mit Respekt für die jeweils andere Position im freundschaftlichen Wettbewerb miteinander messen, ihren bilateralen Handelsaustausch auch über Land verstärken (Grenzübergang Sikkim/Tibet), in Streitfäl-len Kompromisse schließen und gemeinsam eine interregionale Asienpolitik initiieren. Bei ihrem Vorschlag konnten sie sich auf gelegentliche indische Signale stützen, die immer wieder einmal in Richtung China ausgesandt wurden und nicht nur den Handelsaustausch betrafen, sondern auch Grenzstreitigkeiten ansprachen. Eine strategische Partnerschaft bedeutete, dass beide Seiten auf jegliche Hegemonie verzich-teten und in ihrem Verhältnis zueinander ihre jeweiligen Optionen stets zum Aus-gleich brachten. Sie mussten sich insbesondere über ihre strategischen Ziele im Indi-schen Ozean, im südchinesischen Meer und im Pazifik einig werden, um nicht von den USA gegeneinander ausgespielt zu werden.
Von großer Wichtigkeit war auch ein Einverständnis in der Behandlung der Transnationalen Unternehmen und des Finanzkapitals, die beide den chinesischen und indischen Markt zu durchdringen trachten, und hierbei nicht zimperlich vorgehen.
Regierungen gegeneinander auszuspielen, indem man die gewährten Vorteile der einen gegen die angebotenen Vorteile der anderen ausspielt, um letztlich beide Regierungen zu schwächen, gehört zum Alltagsgeschäft global tätiger Unternehmen. Auch der größte Binnenmarkt schützt nicht vor solchen Methoden.
5.2 Russlands Beitritt zur strategischen Partnerschaft Indien-China
Für geraume Zeit hatte die russische Führung eine enge Anlehnung an die Europäische Union favorisiert, ohne selbst Mitglied sein zu wollen. Voraussetzung für eine solche Partnerschaft war die Anerkennung der engen Anbindung der ehemals zur Sowjetunion gehörigen Staaten Ukraine und Weißrussland an Russland und die europäische Zurückweisung amerikanischer Versuche, der Ukraine sowie Georgien die Mitgliedschaft in der NATO anzubieten. Mit dem Beitritt der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zur Europäischen Union (und zur NATO) war man bereit sich abzufinden, wenn die EU mäßigend auf die Außenbeziehungen der drei Staaten zu Russland einwirkte.
Die russische Führung veränderte jedoch ihre strategische Ausrichtung angesichts folgender Entwicklungen:
Russland hat in China und Indien sichere Abnehmer seiner Gas- und Ölproduktion gewonnen und ist dabei, die Transportwege auf der Schiene, durch Pipelines und auf dem Schiffswege zu erweitern. Indien bezieht beispielsweise aus Sachalin verflüssigtes Erdgas, nachdem zuvor die Förderrechte westlicher Ölgesellschaften drastisch beschnitten wurden. Indien und China sind außerdem Abnehmer russischer militärischer Produkte. Russland verzichtet sehr bald auf den kasachischen Abschussplatz Baikonur und wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Vereinbarungen mit Frankreich über die künftige Benutzung des südamerikanischen Abschlussplatzes im fran-zösischen Cayenne nicht Realität werden lassen. Statt dessen ist Russland bereits mit Indien über die gemeinsame Benutzung eines äquatornahen Abschussplatzes für Weltraumraketen sowie die Produktion von Transportflugzeugen handelseinig geworden. Indien schließt sich den russischen GPS-System an.
Nachdem die Gaspipeline durch die Ostsee von Estland, Finnland und Schweden zunehmend in Frage gestellt wird, verteuert Russland die Überflugrechte über russisches Territorium nach China und Afghanistan. Sollte außerdem die deutsche Regierung ihren Druck auf den Iran erhöhen, müsste Lufthansa Cargo den weiten Umweg über den Indischen Ozean nehmen und Bundeswehrtransporte nach Usbe-kistan wären unbezahlbar. Ihr Stützpunkt im Süden Usbekistans wäre sinnlos geworden.
5.3 Perspektiven der Dreierallianz Indien-China-Russland
Vorübergehend sprach man in westlichen Kommentaren fälschlicherweise von einem Wiederaufleben der Blockfreienbewegung und vergaß völlig, dass weder China noch Russland je dazu gehört haben. Die Dreierallianz führt die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Erde China und Indien mit dem Energieriesen Russland zusammen. Der Handelsaustausch zwischen diesen drei strategischen Partnern wird selbst dann erheblich zunehmen, wenn sich Transnationale Unternehmen amerikanischen, japanischen und europäischen Ursprungs aus dem Markt zurückziehen und auf die Wiedererstarkung des innerwestlichen Dreiecks USA-Europa-Japan konzentrieren sollten. In ihrer Produktpalette ergänzen sich die drei Länder hervorragend und treten deshalb nicht als Konkurrenten auf dem Weltmarkt auf. Mit dem Iran als zusätzlichem Energieversorger, Australien als weiteren Rohstoffproduzenten und den ASEAN-Staaten als weiterer Handelspartner für Fertigprodukte würde der interregio-nale asiatische Markt komplettiert. Investitionen zum Ausbau der Infrastruktur aller Regionen sind in Hunderten von Milliarden Euro notwendig. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die in Europa und Japan beheimateten TNCs aus diesem zukunftsträchtigen Markt zurückziehen werden, der inzwischen prozentual denjenigen der USA weit übertrifft (z.B. USA = 9% des deutschen Exports, China = 10%, zusätzlich die Exportanteile Russlands, Indiens und der ASEAN-Staaten).
5.4 Isolation der USA
Auch unabhängig von der Neustrukturierung des Mit- und Gegeneinanders der globalen Mitspieler droht den USA wegen ihrer internen ökonomischen Schwierigkeiten und der uferlosen Verschuldung tatsächlich eine Isolation. Sie drängen deshalb mit allen erdenklichen Mitteln die Europäer dazu, die von ihnen programmierte Eindämmungsstrategie gegenüber Russland und China mitzutragen und scheinen bei der Bundeskanzlerin Merkel auch Erfolg zu haben, nicht jedoch beim Außenminister. Im Außenministerium sieht man die Lage völlig anders und ist mit der deutschen Wirtschaft der Meinung, die Kontakte zur Dreiländerallianz Indien, China, Russland keinesfalls zu verringern.
Die USA drängen Indien mit allen verfügbaren Mitteln dazu, aus der Allianz mit Russ-land und China auszusteigen und statt dessen mit den USA, der EU und Japan engere Beziehungen aufzunehmen. Wenn selbst Henry Kissinger nach Bengalen aufbricht, um mit der dortigen kommunistischen Regionalregierung über die bisher verweigerte Unterschrift unter das amerikanisch-indische Nuklearabkommen zu verhandeln, zeigt dieser Vorgang, wie ernst es den USA schon unter den Nägeln brennt. Inszenierte Unruhen in Bengalen, die den Rückhalt der mit großer Mehrheit gewählten kommunistischen Regierung bei der bengalischen Bevölkerung untermi-nieren sollen, zeigen an, mit welchen Methoden die Zentralregierung Indiens unter Druck gesetzt wird. Kann sie nicht mehr auf die Abstinenz ihres kommunistischen Koalitionspartners verweisen, muss sie den fertig ausgehandelten Nuklearvertrag mit den USA unterschreiben, der bisher zu ihren Lasten geht.
6. Schlussfolgerungen
Als ursprünglich britische Kolonie und zugleich freie Siedlerrepublik strebten die USA in ihren Anfängen nach Unabhängigkeit ihres eigenen Territoriums und des gesam-ten amerikanischen Kontinents, um schließlich sogar darüber hinaus auch die den USA gegenüberliegenden Küstenregionen von Atlantik und Pazifik in ihren Einfluss-bereich zu bringen. Trotz dieses Strebens nach Erweiterung ihres Herrschaftsbereichs waren die USA nie in der Lage, ein Imperium zu bilden. Sie wurden frühzeitig gezwungen, mit der Sowjetunion eine duale Hegemonie einzugehen und diese auf zwei Pfeiler zu gründen: das innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan als ersten Pfeiler sowie den Ost-West-Konflikt als zweiten. Die Einschränkungen in ihrer Handlungsfreiheit, die den USA vor allem durch den Ost-West-Konflikt auferlegt wurden, glaubten sie nach der Zerschlagung der Sowjetunion im Zeichen der Globalisierung abschütteln zu können. Da die Globalisierung jedoch nicht zugleich auf eine Amerikanisierung des gesamten Globus hinauslief und sie selbst als Zentralmacht voll unter deren negative Auswirkungen zu leiden hatten, versuchten sie als Ausweg einen neuen Ost-West-Konflikt zu initiieren. Nachdem die chinesische Führung sich nicht verleiten ließ, mit den USA eine duale Hegemonie zu errichten, trugen die USA der indischen Führung an, ihnen bei der Eindämmung Chinas behilflich zu sein und dafür entsprechende Gegenleistungen empfangen zu dürfen. Nach reiflicher Überlegung schlug Indien das Angebot der USA aus und bildete statt dessen zusammen mit China eine strategische Partnerschaft, der sich Russland inzwischen angeschlossen hat. Gegen dieses indisch-chinesisch-russische Dreieck versuchen die USA jetzt das „alte“ innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan in Stellung zu bringen. Ihre Ausgangsposition ist jedoch denkbar schlecht, weil sie sich in einer kritischen ökonomischen Phase befinden und gegenwärtig nicht besonders attraktiv für die transnationalen Unternehmen und das global agierende Finanzkapital sind. Weder letztere noch die hofierten Partner von einst (Westeuropa und Japan) wollen sich von sicheren Energiequellen und reichen Produktions- und Absatzmärkten sowie lukrativen Finanzplätzen trennen. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. die jetzige Bundeskanzlerin Merkel und die britische Regierung) streben sie danach, den Vorstellungen der USA nicht zu folgen. Gegen die drohende Isolierung wird die amerikanische Administration mit allen verfügbaren Mitteln ankämpfen und sich trotz Guantanamo und Foltervorwürfen als der Hort der Freiheit und der Demokratie präsentieren.
Anmerkungen1. Zu diesem Zweck wurde ein in Paris angesiedeltes Koordinationskomitee (COCOM) gebildet, das bis nach dem Ende des Ost-West-Konflikts funktionierte.
2. Großbritannien und Frankreich signalisierten durch ihre Teilnahme, dass sie ihre inzwischen fort-geschrittene Abhängigkeit von den USA (Suezkanalniederlage 1956) als weniger gravierend betrachteten als eine eventuelle Vereinigung Deutschlands.
8. Dezember 2007
Reinhard Hildebrandt
What unites the European Union and Ukraine? –
The search for identity!
Although a comparison between the European Union and Ukraine does not appear compelling at first glance, there is one thing they have in common: their marginal position within larger groupings. The EU forms part of the Transatlantic-Pacific alliance, and extends to its easternmost borders, while the U.S. still perceives itself as the center of the triangle. The ever-declining importance of the inner-western triangle compels the EU to develop its own identity. Ukraine also finds itself in the position of a border state vis-à-vis the EU and Russia, alternately inclining more towards Russia or the EU, or at times being co-opted more heavily by the one or the other side.
1. The EU: A marginal position in the inner-western triangle
During the East-West conflict, the Western European states generally toed the US line without major dissent. When the Soviet Union disintegrated in 1991, they certainly felt liberated from their fear of the Soviets, and increasingly dwelt upon their nation-state identities; yet – initially at least – they made no attempts to leave the inner-western triangle comprising the USA – Japan – EU. Although these West European states demanded a greater say vis-à-vis the United States, they continued to perceive themselves as an integral part of the „West“, secure in the community of values they shared with the US.
During the Clinton era, the West European members of the EU complained more frequently about Britain’s special position, with Britain perceiving itself as a part of the Anglo-American hegemony, often operating as an agent of U.S. interests in the EU. But it was not until the following two periods of Bush Jr.’s presidency – which were marked by the unilateral nature of his politics – that the EU became more involved in the formation of a pan-European identity, without this aspect becoming relevant to the political practice of the day. Many EU members still viewed themselves and assessed the rest of the world predominantly from the perspective of the Transatlantic partnership, holding a privileged relationship with the United States to still be indispensable. This attitude only changed gradually, when the EU came under the full impact of the severe repercussions of the financial crisis emanating from the U.S. The member states of the EU had – in fact still have – to realize that their continued behavior as subordinates of the United States weakens the role and status of the EU on the international stage. What sparked off this realization was the declining importance of the inner-western triangle and the rise of India and China, whose ruling elites treated the EU with nothing short of disdain.
Some select examples – among many:When Wang Xi, Professor of History at Peking University, was asked at the February 8th 2010 event on „The relationship between the U.S., China and the European Union“, organized by the Berlin John F. Kennedy Institute, why the EU was rated so low as a global player by the international community, he replied by pointing to the EU’s lack of identity to date. Since the EU does not appear to be a player acting independently of the US, China prefers to turn directly to the latter and would rather contact individual members of the EU for day-to-day business. At the „Indo-European Dialogue“ organized in Brussels and Paris by the Brussels Foundation for European Progressive Studies in November 2009, India’s response to the EU was unabashedly similar. When Banning Garrett, Director of the Asia Program of the Atlantic Council, condescendingly remarked at the said event organized by the John F. Kennedy Institute that a strong EU is obviously much better for the United States than a weak one, the other members of the panel (Eberhard Sandschneider, Professor at the Free University of Berlin and Director of the German Society for Foreign Policy; Moritz Schularick, Professor of Economics at the Free University of Berlin; Andreas Etges, Professor of History at the John F. Kennedy Institute, Free University of Berlin) as well as the audience reacted with an embarrassed silence. Banning Garrett seemed to be unaware that the U.S. cannot have both: a strong EU and a debilitated one – debilitated by the close cooperation between Wall Street and the City of London, and the strategy of playing off the so-called „old“ (Western) and „new“ (Eastern) Europe against each other. Surprisingly, no panelist drew Banning Garrett’s attention to his contradictory stand; neither did anyone counter him with an independent EU standpoint. Consequently, the impression created was that the panelists wholly concurred with Banning Garrett in holding the EU solely responsible for the weak position it was said to be in. At any rate, even after this critical juncture, the panelists continued to affectionately refer to Banning Garrett as „Banni“.
The behavior of American banks like Goldman Sachs and JPMorgan Chase also contributed to the weakening of the EU. These banks helped Greek and Italian politicians cover up the growing indebtedness of both countries by allocating real, but obviously also dubious, derivatives. In return for the cash infusions, the two governments pledged their future revenue, in the case of Greece revenue from airport taxes and lotteries. As early as in 2001, Goldman Sachs had helped the Greek government cover up its deficit. Shortly after Greece’s entry into the euro area, Goldman Sachs lent Greece several billions of dollars against hefty fees. This was simply recorded as a currency transaction (swap) rather than a loan (Newspaper article: Wall Street, “Athens helped conceal the crisis”, in: Zeit Online – DPA News ticker, 14.2.2010/Mark Schieritz, “Chasing the Fortune-Hunters”, in: Die Zeit, 25.2.2010).
Robert von Heusinger is no doubt right when he accuses the former German Finance Minister, Theo Waigel, of resorting to the same tricks. Like the Greek government, Waigel also sought to meet the debt criterion of the monetary union by selling telecom and postal shares to the state-owned bank KfW, „(Frankfurter Rundschau, 16. 2. 2010). What is more, one of his successors, Hans Eichel, used the same trick again in 2005. But unlike Greece and Italy, Waigel and Eichel did not bring the U.S. banks into the picture. Unlike their two southern European counterparts, they did not provide the American investment banks and hedge funds with massive leverage which these banks could then use while betting against the solvency of the EU members, the stability of the euro or against unpalatable EU recommendations for regulating financial transactions.
Some approaches to a solution: The European Union can effectively overcome its marginal situation vis-à-vis the US only if it
2. The need for identity in Ukraine
In Ukrainian history, periods of strengthened national independence alternated with periods of a total loss of sovereignty, periods of expansion with periods of a drastic loss of territory. Just the name Ukraine signals that it is a classic peripheral state, perpetually subjected to the territorial ambitions of neighboring states.
Over the centuries, the Mongols, Poles, Lithuanians, Russians, Ottomans as well as the Habsburgs and the Germans preyed upon Ukraine. After occupation by German troops in 1941, the Ukraine was even controlled by the Reich Ministry for Occupied Eastern Territories (RMfdbO) for three years. But in 1945 the country was again incorporated into the Soviet Union as Ukrainian SSR. Nikita Khrushchev, a Ukrainian himself and therefore aware of Ukraine’s attempts to gain independence, bequeathed the peninsula of Crimea to the Ukrainian SSR in 1954, to mark the 300th anniversary of Russian-Ukrainian unity.
After the collapse of the Soviet Union Ukraine proclaimed itself an independent state on 24th August 1991. With this declaration of independence, Ukraine once again repeated the act it had taken recourse to at the end of Czarist rule. However, at that time, its aspirations for independence had been trampled upon by a revolutionary Soviet Union which soon reasserted its claims over Ukraine by once again annexing it.
The Ukraine’s tumultuous history saw the Russians, Poles, Romanians, Tatars, Belarusians, Bulgarians, Hungarians, Armenians, Jews and Germans – apart from the Ukrainians themselves – settle on Ukrainian soil. Following the extermination of Jews in German concentration camps and the expulsion of Germans and Poles after the Second World War, the population of Ukraine was mainly made up of Ukrainians and Russians. Although statistics put down 74.4 percent of the Ukrainian people as having mastery over the Russian language and Russian is the dominant language in both the east and the south, it is not accorded equal status. Ukraine’s identity problem gets reflected in the „language debate“ as well as in its varying religious affiliations. The two hostile Orthodox churches come under the Kiev and Moscow Patriarchate, while the Greek Catholic Church recognizes the pope as its head.
The post-independence period sees the representatives of West-leaning parties and the proponents of close cooperation with Russia standing bitterly opposed in politics. In the wake of the international financial crisis and the gas dispute with Russia, the NAK Naftohaz Ukrainy ran up 3.2 billion euros of debt, and by mid-February 2009 was even threatened by insolvency. The threat of financial bankruptcy jeopardized the transportation of Russian gas to the EU countries. The pro-Western parties put the blame for the conflict on Russia, while the pro-Russian side diagnosed failure on the part of Ukraine’s pro-West president.
As a result of persisting internal divisions, Ukrainian foreign policy has been working towards very different objectives since 1991. The pro-Western parties are in favor of early EU and NATO membership; the representatives of people living in the southern and eastern parts of Ukraine are for moving closer to Russia. After the privatization of the former socialist but actually state-owned enterprises, and the rise of some of the new owners as influential oligarchs, an additional phenomenon was discernible alongside the existing two: the division of the population into the mass of the impoverished landless and the wealthy few.
Under President Leonid Kravchuk (1991-94) and Leonid Kuchma (since 1994, re-elected 1999) Ukraine passed the first decade of its independence battling numerous setbacks. The initially high expectations of the people vis-à-vis the nation’s sovereignty were not met. The East Ukrainian population even suffered a double disappointment. Double-digit inflation, mass unemployment and a high external debt of almost 13 billion U.S. dollars (late 1990s) shattered all hopes of prosperity. Besides, they realized that their own Russian-oriented lifestyle was sidelined by the increasing dominance of the Ukrainian culture and language.
Their grievances, though understandable, were part of a long tradition of mutual contempt. Thus, under the Czarist regime, the Ukrainian-speaking population was subjected to the policy of Russification. By contrast, during the first twenty years of its existence, the Soviet Union promoted the culture and language of the Ukrainians. This policy was reversed again after the Hitler-Stalin Pact (1939-1941) by an increasingly aggressive strategy in favor of the Russian language, particularly in the former Eastern Polish region of Ukraine. This was followed by Khrushchev’s ambivalent tactic to increase the proportion of ethnic Russians in the Ukrainian SSR, with the aim of using them as an effective counterweight to the Ukrainian population.
After the elections in the beginning of 2010 it was only to be expected that the pro-West-oriented social forces would try to advance the Ukrainization of the entire country and push for a Western orientation of the Ukraine. When this policy did not yield the desired results, it was clear that the pro-Russian forces in Ukrainian society would unleash a countermovement. The dynamic of movement and countermovement continued to have an impact even after the presidential election of 2004 (Orange Revolution). More vigorously than ever before, the pro-Western forces under President Viktor Yushchenko of Ukraine sought closer ties with NATO and the EU, whilst the pro-Russian side waited for an opportunity to turn the tables again, following the elections in the beginning of 2010, hoping to build better relations with Russia under the new President Viktor Yanukovych.
Some approaches to a solution:This tussle between pro-Western and pro-Russian orientation will not come to an end until the Ukraine has found a distinct identity for itself. Despite the common origins it shares with Russia as part of the 10th century Kingdom of Kiev, the Ukraine is not a severed part of Russia; neither does Russia or Ukraine form part of the core area of Europe. Ukraine’s own identity rests on
3. Prerequisites for the development of good neighborly relations between the EU and Ukraine
3.1. Scenarios on the EU side
The first condition for good neighborly relations with Ukraine is for the EU to clarify its relations with the United States. If the EU as a whole, or some individual members, allow the US to control their policies, there is the danger of the EU’s relationship with Ukraine being subordinated to U.S. relations with Russia. President Bush’s desire to pave the way for Ukraine’s membership in the North Atlantic Treaty, at the NATO meeting in Bucharest in July 2008, is indicative of the pressure which the EU could come under if its priorities are not demarcated in time. The majority of the EU-members feared that their relations with Russia would drastically deteriorate if they acquiesced to the American plan to throw open NATO’s doors to Ukraine (and Georgia).
It was clear to one and all that it would be unthinkable for Russia to station the Russian Black Sea Fleet in a NATO country: for, once Ukraine joined NATO, the Black Sea port of Sevastopol in Crimea would be on NATO territory. It was feared that in the event of EU approval of Ukraine’s NATO entry, Russia would use all available means to prevent this materializing, for instance by estabilizing the country with the help of the Russian-speaking populations in the eastern and southern parts. Civil war in Ukraine would not only inflict severe damage on relations between EU and Russia, but also create conflicts within the EU between members who fully support the U.S. position and those who do not agree with the USA’s anti-Russia strategy. The long unclear position of the European NATO members led the Bush administration to hastily assume that the consent of the Europeans could be induced through massive pressure and surprise tactics.
Apart from the contentious issue of Ukraine’s candidature for NATO membership at a later date, the EU had since 1994 given the impression that Ukraine could become an EU member one day. In 1994, the EU negotiated an agreement on partnership and cooperation with Ukraine, with the intention of bringing Ukraine closer to the EU. In early 2005 a plan of action followed, which envisaged the convergence of the Ukrainian legal system with EU law, respect for human rights, creation of a market economy, stable political development and the creation of an FTA between the EU and Ukraine.
After Bush’s plan had been rejected, the EU negotiated an Association Agreement aiming at the gradual economic integration of Ukraine into the EU, and the deepening of political cooperation between both partners. One significant economic factor that propelled this agreement was the prospect of a large market of 46 million inhabitants. On 7 May 2009 the EU also invited Ukraine to take part in its „Eastern Partnership“ program with the intention of establishing Western democratic practices in Ukraine and expanding EU influence in Eastern Europe. Some commentaries on the treaty saw not only greater influence for the EU in Eastern Europe but also a positive impact on Russia. That this could lead to a further alienation of Russia was a possibility that was widely ignored in official commentaries.
If the EU were to even go so far as to accept Ukraine as an EU member and refuse Russia entry, relations with Russia would deteriorate significantly. This apart, if the EU were to also try to circumvent Russian territory in supplying oil and gas to the EU countries (Nabucco pipeline), and exclude Russia altogether while doing business with the Central Asian states, relations with Russia would be irreparably damaged. By pursuing an anti-Russia policy of this kind, the EU would be completely playing into the hands of the U.S, which under Bush Jr. sought to contain Russia. Besides, the EU would forfeit the advantage of achieving lower costs by using Russian transit routes to reach China and India. The fact that NATO failed to secure permission to fly its reconnaissance aircraft AWACS from Turkey via Georgia, Azerbaijan and Turkmenistan to Afghanistan, for deployment there against the Taliban, is testimony to the extent to which relations with Russia have deteriorated. Neither Azerbaijan nor Turkmenistan was willing to permit use of its air space. Quite obviously, they bowed to Russian pressure.
The EU will only be able to maintain good neighborly relations with Ukraine if it acts independently of the US and conducts itself as a global player, while ensuring that its policy towards Ukraine does not damage its relationship with Russia. Lending support to Ukraine in its search for a separate identity, and involving it in the process of developing a common Eurasian economic area would no doubt be beneficial to good neighborly relations.
3.2. Scenarios on the Ukrainian side
As a state bordering both Russia and the EU, close affiliation with either the EU or Russia would prevent Ukraine from developing its own identity. As long as the pro-Western forces in Ukraine look to the United States for protection against Russia and regard it as the guarantor of Ukrainian security, they will continue to support a policy of confrontation towards Russia while constantly trying to get the EU involved in this policy. If the very same social forces also look upon the EU as a source of financing urgently needed reforms in the Ukrainian state and society, they will by no means be closer to developing good neighborly relations with the EU. If, on the other hand, the pro-Russian forces seek close affiliation with Russia, they will only create fear and apprehension among the eastern and central European members of the EU and further alienation between the EU and Russia. Without developing an independent identity, Ukraine -while remaining a much sought-after border state -cannot contend with real support for overcoming its domestic crises or staving off external dangers. The development of a Ukrainian identity would – as stated above strengthen social cohesion and see the country evolve into a reliable partner for the EU and Russia.
4. Concluding Remarks
If the EU and Ukraine are successful in the search for an identity and the development of an independent strategy, they will proceed with confidence and the EU may be well on its way to becoming a Eurasian grouping. Ukraine will then be able to assume the role of a strong, stable bridge. However, if the EU remains passive in its peripheral transatlantic role and Ukraine fails to find its identity, then both face the threat of ruin. There is an urgent need to expand the policy of information regarding Ukraine, and not just report on the difficulties posed by the transportation of natural gas from Russia.
22. März 2010
Reinhard Hildebrandt
Was verbindet die Europäische Union und die Ukraine? –
Die Suche nach Identität!
Obwohl sich ein Vergleich zwischen der Europäischen Union und der Ukraine nicht auf den ersten Blick aufdrängt, haben beide eine Gemeinsamkeit: ihre Randsituation innerhalb größerer Zusammenschlüsse. Die EU existiert im transatlantisch-pazifischen Verbund am östlichen Rand und die USA nehmen sich nach wie vor als Zentrum dieses Dreiecks wahr. Die weiter abnehmende Bedeutung des innerwestlichen Dreiecks zwingt die EU zur Entfaltung einer eigenen Identität. Die Ukraine steht gegenüber der EU und Russland ebenfalls in einer Randstaatenposition, abwechselnd mehr Russland oder der EU zuneigend bzw. mal mehr von der einen oder der anderen Seite vereinnahmt.
1. Die EU am Rande des innerwestlichen Dreiecks
Zur Zeit des Ost-West-Konflikts ordneten sich die Staaten des westlichen Europas den Vorgaben aus den USA in der Regel ohne große Einwände unter. Nach dessen Ende (1990) fühlten sie sich von der Furcht vor der Sowjetunion zwar befreit und erinnerten sich verstärkt ihrer nationalstaatlichen Identität, aber unternahmen zunächst keine Versuche, aus dem innerwestlichen Dreieck USA – Japan – EU auszuscheren. Sie begriffen sich weiterhin als integraler Teil des „Westens“, aufgehoben in der Wertegemeinschaft mit den USA; allerdings begannen sie gegenüber den USA eine stärkere Mitsprache einzufordern.
So beklagten die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU in der Ära Clintons häufiger die Sonderstellung Großbritanniens, das sich selbst als Bestandteil der anglo-amerikanischen Hegemonie empfand und gegenüber den übrigen Mitgliedern der EU die Interessen der USA vertrat. Aber erst in den zwei folgenden unilateral bestimmten Amtsperioden von Bush Junior bemühten sie sich stärker um die Herausbildung einer gesamteuropäischen Identität, ohne dass ihr Anliegen bereits für die politische Praxis relevant wurde. Viele Mitglieder der EU betrachteten sich und ihre Einschätzung der übrigen Welt immer noch vorwiegend aus dem Blickwinkel der transatlantischen Partnerschaft und hielten privilegierte Beziehungen zu den USA weiterhin für unverzichtbar. Diese Haltung änderte sich erst allmählich, nachdem die einschneidenden Effekte der von den USA ausgehenden Finanzkrise die EU voll erfasst hatten. Die Mitgliedsstaaten der EU mussten und müssen schrittweise erkennen, dass ihr fortgesetztes vasallenhaftes Verhalten zu den USA den Stellenwert der EU auf dem globalen Parkett schwächt. Auslösend waren hierfür die abnehmende Bedeutung des innerwestlichen Dreiecks sowie der Aufstieg Indiens und Chinas, deren Machteliten der EU nur mit Geringschätzung begegneten.
Einige Beispiele unter vielen:
Als auf der Veranstaltung des Berliner John F. Kennedy Instituts vom 8. Februar 2010 zum Thema „Das Verhältnis zwischen den USA, China und der Europäischen Union“ Wang Xi, Geschichtsprofessor der Peking University, gefragt wurde, warum die EU als globaler Mitspieler international so gering eingeschätzt werde, antwortete er mit dem Hinweis auf die bisher fehlende Identität der EU. Weil die EU nicht als von den USA unabhängiger Mitspieler wahrgenommen werde, wende man sich lieber gleich an die USA und für die alltäglichen Handelsgeschäfte kontaktiere man bevorzugt einzelne Mitglieder der EU. Ähnlich ungeniert gegenüber der EU reagierten bisweilen auch Vertreter Indiens, wie beispielsweise auf dem Ende November 2009 in Brüssel und Paris von der Brüsseler Foundation for European Progressive Studies organisierten „Indo-European Dialogue“.
Auf die Bemerkung des Direktors des Asien-Programmes des Atlantic Council, Banning Garrett, der mit herablassender Geste auf der Veranstaltung im John F. Kennedy Institut betonte, dass den USA eine starke EU natürlich sehr viel lieber sei als eine schwache, reagierten die übrigen Podiumsmitglieder (Eberhard Sandschneider, Professor der Freien Universität Berlin und Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Moritz Schularick, Wirtschaftsprofessor der Freien Universität Berlin, Andreas Etges, Geschichtsprofessor am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin) sowie die Zuhörer mit betretenem Schweigen. Banning Garrett schien nicht bewusst zu sein, dass die USA nicht beides haben können: Eine starke und eine – durch die enge Kooperation zwischen der Wall Street und der Londoner City sowie das gegeneinander Ausspielen der sogenannten „alten“(West-) und „neuen“(Ost-) Europäer – geschwächte EU. Erstaunlicherweise wies kein Podiumsteilnehmer Banning Garrett auf seine widersprüchliche Position hin, und niemand vertrat ihm gegenüber einen eigenständigen EU-Standpunkt. So entstand der Eindruck, als ob sie – im Einklang mit Banning Garrett – die EU ausschließlich selbst für die ihr unterstellte Schwäche verantwortlich machten. Der von ihnen weiterhin liebevoll „Banni“ genannte Podiumsteilnehmer hatte jedenfalls mit keinerlei Einwänden zu rechnen.
Zur Schwächung der EU trug auch das Verhalten amerikanischer Großbanken Goldman Sachs und JPMorgan Chase bei: Sie halfen den für die griechische und italienische Politik verantwortlich zeichnenden Politiker bei ihrer Verschleierung der zunehmenden Verschuldung beider Länder durch die Vergabe von echten, aber offenbar auch anrüchigen Derivaten. Für die Geldspritzen verpfändeten die beiden Regierungen offenbar künftige Einnahmen wie beispielsweise im Falle Griechenlands die Einnahmen aus Flughafengebühren und Lotterien. Bereits im Jahre 2001 hatte Goldman Sachs der griechischen Regierung kurz nach ihrer Aufnahme in die Eurozone gegen kräftige Gebühren zur Verschleierung ihres Defizits mehrere Milliarden US-Dollar geliehen und dieses Geschäft nicht als Kredit, sondern als einfaches Währungsgeschäft (Swap) verbucht (Zeitung: Wall Street half Athen Krise zu verschleiern, in: Zeit Online – Newsticker der DPA, 14.2.2010/Mark Schieritz, Jagd auf die Zocker, in: Die Zeit, 25.2.2010).
Zwar ist Robert von Heusinger zuzustimmen, wenn er dem ehemaligen deutschen Finanzminister Theo Waigel die gleichen Tricks vorwirft. Wie die griechische Regierung habe auch Waigel mit seinem Verkauf von Telekom- und Postaktien an die staatseigene Bank KfW „das Schuldenstandskriterium der Währungsunion zu erfüllen versucht“ (Frankfurter Rundschau 16. 2. 2010). Einer seiner Nachfolger im Amt, Hans Eichel, wiederholte übrigens den gleichen Trick im Jahre 2005. Aber im Unterschied zu Griechenland und Italien holten weder Waigel noch Eichel amerikanischen Banken ins Boot. Sie gaben amerikanischen Investmentbanken und Hedgefonds nicht – wie die beiden südeuropäischen Regierungen – ein massives Druckmittel in die Hand, das sie bei Wetten gegen die Zahlungsfähigkeit von EU-Staaten, die Stabilität des Euro oder gegen unliebsame Regulierungsvorschläge der EU für Finanztransaktionen ausspielen können.
Einige Lösungsansätze:
Die Europäische Union kann ihre Randsituation zum amerikanischen Zentrum erst dann wirksam überwinden, wenn sie
2. Die notwendige Identitätsfindung der Ukraine
In der Geschichte des Landes wechselten Perioden der gestärkten staatlichen Unabhängigkeit mit Zeitabschnitten des totalen Souveränitätsverlustes, Phasen der Ausdehnung des Landes mit Zeiten drastischer Gebietsverluste. Bereits der Name signalisiert, dass die Ukraine ein klassischer Randstaat ist, der stets den Eroberungsbestrebungen benachbarter Staaten ausgesetzt war.
Im Verlauf der Jahrhunderte nahmen sich Mongolen, Polen, Litauer, Russen, Osmanen, Habsburger und Deutsche die Ukraine als Beute. Nach der Besetzung durch deutsche Truppen im Jahre 1941 unterstand sie sogar für drei Jahre als Reichskommissariat Ukraine dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO), wurde aber 1945 als Ukrainische SSR wieder an die Sowjetunion angeschlossen. Nikita Chruschtschow, selbst Ukrainer und sich daher der Verselbständigungstendenzen der Ukraine bewusst, schenkte 1954 die Halbinsel Krim anlässlich des 300jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit an die Ukrainische SSR.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion proklamierte sich die Ukraine am 24. August 1991 als unabhängiger Staat. Mit dieser Souveränitätserklärung wiederholte sie den Akt, den sie bereits nach dem Ende des Zarenreichs vollzogen hatte, der jedoch von der Sowjetunion nach kurzer Zeit durch eine erneute Einverleibung des Landes wieder zunichte gemacht wurde. Als Folge der wechselvollen Geschichte haben außer Ukrainern auch Russen, Polen, Rumänen, Tataren, Weißrussen, Bulgaren, Magyaren, Armenier, Juden und Deutsche die Ukraine besiedelt. Nach der Vernichtung der Juden in deutschen Konzentrationslagern und der Vertreibung der Deutschen und Polen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzt sich die Bevölkerung der heutigen Ukraine hauptsächlich aus Ukrainern und Russen zusammen. Obwohl laut Statistik 74,4 Prozent der ukrainischen Bevölkerung Russisch beherrschen und Russisch in Osten und Süden die dominierende Sprache ist, gilt sie bisher nicht als gleichberechtigt. Im „Sprachenstreit“ manifestiert sich ebenso wie in der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit das Identitätsproblem der Ukraine. Die beiden untereinander verfeindeten orthodoxen Kirchen unterstehen dem Kiewer bzw. dem Moskauer Patriarchat, die griechisch-katholische Kirche erkennt den römischen Papst als ihr Oberhaupt an.
In der Politik bekämpfen sich seit der Unabhängigkeit die Vertreter der Westorientierung und die Befürworter einer engen Anlehnung an Russland erbittert. Aufgrund der internationalen Finanzkrise und des Gasstreits mit Russland häufte beispielsweise die NAK Naftohas Ukrajiny Schulden von 3,2 Milliarden Euro an und stand Mitte Februar 2009 vor der Zahlungsunfähigkeit. Der drohende Finanzbankrott gefährdete erneut die Durchleitung russischen Erdgases in die EU-Staaten und verführte die prowestlichen Parteien dazu, die Schuld für den Konflikt allein Russland zuzuweisen, während die andere Seite ein Versagen des prowestlichen Präsidenten der Ukraine diagnostizierte.
Als Folge der seit 1991 andauernden inneren Gespaltenheit strebt die ukrainische Außenpolitik sehr unterschiedliche Ziele an. Die prowestlichen Parteien befürworten eine baldige EU- und NATO-Mitgliedschaft, die Repräsentanten der im südlichen und östlichen Teil der Ukraine lebenden Bevölkerung setzen sich für eine Annäherung an Russland ein. Nach der Privatisierung der vormals staatssozialistischen Unternehmen und dem Aufstieg einiger der neuen Eigentümer zu einflussreichen Oligarchen kam als weiteres Moment die Aufspaltung in die Masse der verarmten besitzlosen Bevölkerung und die wenigen Reichen hinzu.
Unter den Präsidenten Leonid Krawtschuk (1991-94) und Leonid Kutschma (ab 1994, Wiederwahl 1999) legte die Ukraine das erste mit zahlreichen Rückschlägen gepflasterte Jahrzehnt ihrer Unabhängigkeit zurück, in dem die anfangs an die Souveränität geknüpften hohen Erwartungen der Bevölkerung nicht erfüllt wurden. Die ostukrainische Bevölkerung sah sich sogar zweifach enttäuscht. Statt der erhofften Wohlstandssteigerung sank ihr Lebensstandard. Zweistellige Inflationsraten, Massenarbeitslosigkeit und eine hohe Auslandsverschuldung von fast 13 Milliarden US-Dollar (Ende der 1990er Jahre) zerstörten alle Hoffnungen. Außerdem musste sie erkennen, dass ihre eigene russisch orientierte Lebensweise von der zunehmend dominant auftretenden ukrainischen Kultur und Sprache ins Abseits gedrängt wurde.
Ihre Beschwerden waren zwar berechtigt, aber was sie beklagten, reihte sich ein in die lange Tradition beiderseitiger Missachtungen. So hatte unter der Zarenherrschaft die ukrainisch-sprachige Bevölkerung unter der Russifizierungspolitik zu leiden. Dagegen förderte die Sowjetunion in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens die Kultur und Sprache der Ukrainer. Diese Politik wurde wiederum nach dem Hitler-Stalin-Pakt (1939-1941) von einer zunehmend aggressiven Sprachenpolitik zugunsten des Russischen im vormals ostpolnischen Gebiet der Ukraine abgelöst. Ihr folgte die ambivalente Umarmungstaktik Chruschtschows, den Anteil der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukrainischen SSR mit dem Ziel zu erhöhen, sie künftig als wirksames Gegengewicht zum ukrainischen Bevölkerungsanteil benutzen zu können. Zu erwarten war, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die prowestlich orientierten gesellschaftlichen Kräfte den Versuch unternehmen würden, die Ukrainisierung des gesamten Landes und seine Westorientierung voranzutreiben. Nachdem diese Politik nicht die erwünschten Resultate erbracht hatte, war klar, dass die prorussischen gesellschaftlichen Kräfte zur Gegenbewegung auffordern würden. Der Wechsel von Bewegung und Gegenbewegung setzte sich nach den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004 (orangene Revolution) ungebrochen fort. Intensiver als je zuvor strebten die prowestlichen gesellschaftlichen Kräfte unter den Präsidenten Wiktor Juschtschenko die Anbindung der Ukraine an die Nato und die EU an, während die prorussische Seite auf die Gelegenheit wartete, nach den Wahlen im Jahre 2010 den Spieß umzudrehen und unter dem neuen Präsidenten Viktor Janukowitsch wiederum ein besseres Verhältnis zu Russland aufzubauen.
Einige Lösungsansätze:
Dieses Wechselbad zwischen prowestlicher und prorussischer Orientierung wird erst dann ein Ende finden, wenn die Ukraine endlich zu einer eigenständigen Identität gefunden hat. Sie ist trotz des gemeinsamen Ursprungs mit Russland im Kiewer Reich des 10. Jahrhunderts kein abgetrennter Teil Russlands und ebenso wenig wie Russland gehört sie zum Kerngebiet Europas. Ihre eigene Identität erwächst ihr aus
3. Voraussetzungen für die Entfaltung eines wechselseitig gut nachbarschaftlichen Verhältnisses zwischen der EU und der Ukraine
3.1. Szenarien auf Seiten der EU
Erste Voraussetzung für ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zur Ukraine ist die Klärung der Beziehungen der EU zu den USA. Lässt sich die EU als Gesamtheit oder lassen sich einzelne Mitglieder ihre Politik von den USA vorschreiben, besteht Gefahr, dass ihr Verhältnis zur Ukraine den Beziehungen der USA zu Russland untergeordnet wird. Das Beispiel der von der Bush-Administration gewünschten Aufnahme der Ukraine in die Nato zeigte auf, unter welchen Druck die EU gerät, wenn sie nicht rechtzeitig ihre Prioritäten festlegt. Die meisten EU-Mitgliedern befürchteten vor der Nato-Tagung in Bukarest im Juli 2008 eine drastische Verschlechterung ihrer Beziehungen zu Russland, wenn sie dem amerikanischen Wunsch folgten, der Ukraine (und Georgien) die Anwartschaft für einen Eintritt in die Nato zu öffnen.
Allen war klar: Es wäre für Russland unvorstellbar, die russische Schwarzmeerflotte in einem Land der Nato zu stationieren; denn nach dem ukrainischen Beitritt zur Nato würde der Schwarzmeerhafen Sewastopol auf der Krim Teil des Natogebiets. Zu befürchten war, dass Russland für den Fall einer EU-Zustimmung zum Natobeitritt den Versuch unternehmen würde, mit der Hilfe der russischsprachigen Bevölkerung im Osten und Süden des Landes die Ukraine zu destabilisieren. Bürgerkriegsähnliche Zustände in der Ukraine wären geeignet gewesen, nicht nur das Verhältnis der EU zu Russland drastisch zu beschädigen, sondern hätten auch innerhalb der EU Konflikte zwischen den Mitgliedern entstehen lassen, die sich voll hinter die Position der USA stellten und denen, die mit der antirussischen Strategie der USA nicht einverstanden waren. Die längere Zeit unklare Position der europäischen Nato-Mitglieder der EU verleitete die Bush-Administration zu der vorschnellen Annahme, dass mit massiver Druckausübung und Überrumpelungstaktik die Zustimmung der Europäer herbeigeführt werden könne.
Abgesehen von der strittigen Frage der Anwartschaft der Ukraine für eine spätere Mitgliedschaft in der Nato hatte die EU bereits seit 1994 den Eindruck erweckt, dass die Ukraine eines Tages Mitglied der EU werden könnte. Sie vereinbarte 1994 mit der Ukraine ein Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit mit dem Ziel, die Ukraine näher an die EU heranzuführen. Anfang 2005 folgte ein Aktionsplan, in dessen Verlauf die Konvergenz des ukrainischen Rechtssystems mit dem EU-Recht, die Einhaltung der Menschenrechte, die Schaffung einer Marktwirtschaft und eine stabile politische Entwicklung sowie die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der EU und der Ukraine vorgesehen waren.
Selbst noch nach der Absage an die USA auf der Nato-Tagung in Bukarest und vor dem Hintergrund der Kaukasus-Krise vereinbarten die Ukraine und die EU am 9. September 2008 ein Assoziierungsabkommen, in dem die allmähliche wirtschaftliche Integration und eine Vertiefung der politischen Zusammenarbeit angestrebt wurde. Ein nicht unerheblicher wirtschaftlicher Grund für dieses Abkommen stellte die Aussicht auf einen künftigen großen Absatzmarkt von 46 Millionen Einwohnern dar. Am 7. Mai 2009 nahm die EU die Unkraine in ihre „Östliche Partnerschaft“ mit dem Argument auf, dass sich damit der Einfluss der EU in Osteuropa vergrößere und eine westlich-demokratisch geprägte Ukraine eine positive Auswirkung auf Russland habe. Dass ihre Einflussvergrößerung im östlichen Europa auch die gegenteilige Wirkung, nämlich die weitere Entfremdung Russlands hervorrufen könnte, blieb in den offiziellen Kommentaren weitgehend unberücksichtigt.
Würde man sogar so weit gehen, die Ukraine in die EU aufzunehmen und gleichzeitig Russland den Eintritt verweigern, verschlechterte sich das Verhältnis zu Russland erheblich. Wenn außerdem versucht würde, in der Öl- und Gasversorgung der EU russisches Territorium zu umgehen (Nabucco-Pipeline) und mit den zentralasiatischen Staaten unter Ausschaltung Russlands Geschäfte abzuschließen, wäre die Beziehungen zu Russland endgültig zerrüttet. Durch eine solche antirussische Politik hätte man sich vollständig in die Hände der USA begeben, die beispielsweise unter Bush Junior gegenüber Russland eine Containmentstrategie verfolgten. Man verlöre obendrein das Privileg, kostengünstig über russische Transitrouten China und Indien zu erreichen. Wie gestört die Beziehungen mit Russland jetzt bereits sind, zeigte sich an dem gescheiterten Versuch der Nato, mit ihren Aufklärungsflugzeugen „Awaks“ von der Türkei über Georgien, Aserbeidschan und Turkmenistan nach Afghanistan zu fliegen und sie dort gegen die Taliban einzusetzen. Weder Aserbaidschan noch Turkmenistan erlaubten den Überflug. Offensichtlich beugten sie sich russischem Druck.
Gute nachbarschaftliche Beziehungen zur Ukraine wird die EU erst dann unterhalten können, wenn sie unabhängig von den USA als globaler Mitspieler auftritt und zugleich darauf achtet, dass ihre Politik gegenüber der Ukraine das Verhältnis zu Russland nicht verschlechtert. Hilfreich wäre, die Identitätsfindung der Ukraine zu unterstützen und sie in die Entfaltung eines gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraums einzubeziehen.
3.2. Szenarien auf Seiten der Ukraine
Als Randstaat zu Russland und zur EU verhindert der Anschluss an Russland wie an die EU die Entwicklung einer eigenständigen Identität der Ukraine. Solange die prowestlichen Kräfte der Ukraine bei den USA Schutz vor Russland suchen und sie als Garantiemacht ihrer Sicherheit ansehen, werden sie eine konfrontative Strategie gegenüber Russland favorisieren und die EU in diese Politik einzubinden versuchen. Wenn die gleichen gesellschaftlichen Kräfte außerdem in der EU den Zahlmeister für dringend durchzuführende Reformen in Staat und Gesellschaft erblicken, kommen sie der Entwicklung gut nachbarschaftlicher Beziehungen zur EU kein Stück näher. Sollten andererseits prorussische gesellschaftliche Kräfte der Ukraine den Anschluss an Russland anstreben, werden sie Ängste bei den ost- und mitteleuropäischen Mitgliedern der EU hervorrufen und einer Entfremdung zwischen der EU und Russland Vorschub leisten. Ohne die Entwicklung einer eigenständigen Identität bleibt die Ukraine zwar ein umkämpfter Randstaat, aber mit wirklicher Unterstützung zur Überwindung von innergesellschaftlichern Krisen oder der Abwehr außenpolitischer Gefahren kann sie nicht rechnen. Die Entfaltung einer ukrainischen Identität – wie oben dargelegt – würde den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Ukraine festigen und sie zu einem verlässlichen Partner sowohl für die EU wie für Russland werden lassen.
4. Abschließende Bemerkung
Sind EU und Ukraine in der Identitätsfindung und der Entfaltung einer eigenständigen Strategie erfolgreich, handeln sie selbstbewusst und die EU kann zum eurasischen Verbund aufschließen. Die Ukraine wird darin eine tragfähige Brückenfunktion einnehmen können. Verharrt die EU jedoch passiv in der transatlantischen Randposition und verfehlt die Ukraine ihre Identität, droht beiden der Zerfall. Es ist dringend an der Zeit, die Informationspolitik über die Ukraine auszuweiten und nicht nur über Schwierigkeiten in der Durchleitung von russischem Erdgas zu berichten.
3. März 2010
1. USA
1.1 Vergänglichkeit von Imperien und Hegemonien
1.2 Plan B zur Erhaltung US-amerikanischer Hegemonie
1.3 Wege aus der Krise in die „Hölle“
1.4 Die amerikanische Finanzkrise und die massive Verschuldung der USA
1.5 US-Strategie nach der Bush-Ära
1.6 Können wir uns Hegemonialmächte heute noch leisten?
1.7 Looking beyond the honeymoon
2. Russland
2.1 Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten –eine Konferenz in Berlin
2.2 Industrielle Entwicklung und Verortung Russlands in der globalen Machtstruktur
3. Indien
3.1 „Swing“ Power Indien im Fokus US-amerikanischer Hegemonialstrategie
3.2 Indo-European Dialogue in a Changing World
4. China
4.1 China – An Attempt at Understanding a Complex Power Structure
4.2 Chinesische Anstrengungen zur Vermeidung eines neuen Ost-West-Konflikts: USA/EU/Japan – China/Russland
4.3 China – Annäherung an eine komplexe Herrschaftsstruktur
5. Europäische Union
5.1Was verbindet die Europäische Union und die Ukraine? – Die Suche nach Identität!
5.2 What unites the European Union and Ukraine? – The search for identity!
5.3 Die EU zwischen transatlantischer Partnerschaft und engeren Beziehungen zu Indien-Russland-China
5.4 Die EU – eine Ellipse mit zwei Brennpunkten
Reinhard Hildebrandt
Vergänglichkeit von Imperien und Hegemonien
Der neue amerikanische Präsident Barack Obama erfuhr anfangs eine Welle des „Mitleids“ angesichts der Diskrepanz zwischen den überhöhten Erwartungen der Welt und der tiefen ökonomischen, moralischen und strategischen Krise, in denen sich die USA befand. Neben praktischen Lösungen für die Krisen im In- und Ausland hing viel davon ab, ob und wieweit es Obama gelang, dass die USA imperiale und hegemoniale Ansprüche aufgaben und eine neue Rolle innerhalb einer multilateralen internationalen Struktur fanden. Mit den historischen und politischen Hintergründen dieser Fragestellung beschäftigt sich der folgende Artikel.
1. Vergänglichkeit von Imperien und Hegemonien
Machtkonstellationen entstanden in allen Zeiten menschlichen Zusammenlebens, jedoch erst auf höherem Entwicklungsniveau bildeten sich so vielschichtige Formen wie Hegemonien oder Imperien aus. Begründet wurde Herrschaft vorwiegend als Herrschaft der Besten, von Gott selbst dem/den Würdigsten zugeteilt oder als Repräsentanz des Volkes. Obgleich alle Herrschaftsformen von endlicher Natur waren, umhüllte sie oftmals die Aura der Unsterblichkeit. Das Attribut „heilig“ (nichts anderes bedeutet der Begriff Hierarchie = heilige Ordnung) sollte z.B. ihren höchst irdischen Ordnungen höhere Weihen verleihen.
Die Entwicklungsgeschichte der Herrschaftsformen und der dazugehörigen spezifischen Akkumulation von Macht verlief keineswegs gradlinig. Auf Zeitabschnitte, in denen Herrschaftsformen mit beschleunigter Machtzusammenballung dominierten, folgten Perioden, in denen Herrschaft eher mit Machtentsagung und Machtverfall assoziiert wurde. Gleichzeitig stattfindende parallele und gegenläufige Entwicklungen in der Entfaltung von Herrschaftsformen ließen die Herausarbeitung einer generellen Entwicklungslinie nicht zu, obwohl die fortschreitende Technologie als durchgängige Konstante nicht ohne Einfluss auf Machterwerb und -erhalt und die Ausformung neuere Herrschaftsformen geblieben ist.
In vergangenen Zeiten erstreckten sich Imperien und Hegemonien zwar manchmal auch über den gesamten Globus, aber obwohl in ihnen die Sonne niemals unterging, gab es in und neben ihnen herrschaftsfreie oder umkämpfte Räume, die von Konkurrenten zur eigenen Machtentfaltung genutzt werden konnten. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts im Jahre 1990 schien in der Menschheitsgeschichte erstmals eine völlig neue Konstellation entstanden zu sein, die von der Machtelite der USA als eine nützliche Herausforderung angesehen wurde, um ihrer bis dahin räumlich beschränkten Hegemonie ein globales Ausmaß zu geben.
Gründe für den Auf- und Untergang der Pax Americana - Der phänomenale Aufstieg der USA
Die auf dem nordamerikanischen Kontinent siedelnde multikulturell zusammengesetzte Gemeinschaft verließ die hinter sich gelassene „alte Welt“ mit dem festen Willen, in der „neuen Welt“ nicht nur den europäischen Kolonialregimes den Kampf anzusagen, sondern gesellschaftlich etwas grundlegend Neues zu schaffen. Sie fand fruchtbares Land auf ausgedehntem besiedeltem Territorium vor. Die nun beginnende Fremdherrschaft über die angestammte indianische Bevölkerung und die Ausbeutung afrikanischer Sklaven setzte der Schaffenskraft und dem Schaffensvermögen des „weißen Mannes“ keine Grenzen und bereitete ihm wenig Skrupel, sondern wurde vielmehr von ihm als Zeichen Gottes gedeutet, dem „Guten“ und „Fortschrittlichen“ gegenüber dem Zurückgebliebenen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zum Durchbruch zu verhelfen. Begünstigt durch die Selbstschwächung der europäischen Herkunftsländer der Siedler und den frühzeitigen Übergang zur industriellen Massenproduktion von Gütern gelang bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Aufbau einer wirkungsvollen Konkurrenzposition gegenüber den alten europäischen Industrienationen, so dass schon nach dem 1. Weltkrieg die USA zum geschickt kalkulierenden Kapitalgeber der untereinander zerstrittenen, finanziell ausgebluteten sowie hinter den USA wirtschaftlich zurückbleibenden europäischen Staaten werden konnten. Nach dem 2. Weltkrieg rückte sogar das Ziel in greifbare Nähe, die bis dahin hinderliche Isolation des amerikanischen Kontinents durch zwei Weltmeere von den europäischen und asiatischen Absatzmärkten zu überwinden und sich in Westeuropa und den Küstenregionen des Pazifik als Vormacht zu etablieren. Der heraufziehende Konflikt mit der ökonomisch schwächeren Sowjetunion wurde zur Bündelung der eigenen wirtschaftlichen und militärischen Stärke und ihrer ständigen Steigerung benutzt, so dass im Dreiklang mit der eigenen kulturellen Ausstrahlungskraft nicht nur die us-amerikanische Vormacht in den Küstenregionen von Atlantik und Pazifik gefestigt, sondern schließlich sogar der Sieg im Ost-West-Konflikt errungen werden konnte.[1]
2. Hypertrophes hegemoniales Bewusstsein
Die Sowjetunion hatte nach vierzigjähriger dualer Hegemonie mit den USA den Status einer Hegemonialmacht verloren. Die übrig gebliebenen USA nahmen die Herausforderung an, die Alleinherrschaft anzutreten und dehnten ihre Herrschaft auf das bis dahin von ihrem Partner/Gegner beherrschte Territorium sowie über den bis dahin block-freien Zwischenbereich aus. Das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) kündigte aus der Sicht us-amerikanischer Eliten das Zeitalter unbefristeter amerikanischer Obhut über die übrige Welt an, in dem es keine Freiräume für potentielle Konkurrenten mehr geben sollte.
So hatte beispielsweise die Diskussion über den Unterschied zwischen Imperium und Hegemonie für die amerikanische Führung jeglichen Sinn verloren. Das Wohlergehen der USA war für sie deckungsgleich geworden mit dem Wohl der gesamten Staatengemeinschaft. Unilaterale Verhaltensweisen der us-amerikanischen Führung (leadership) entsprachen dieser Geisteshaltung. Die Differenzierung zwischen willigen und unwilligen „Partnern“, die Disqualifizierung der Ausgestoßenen als Schurken und die Reduzierung von Aufständen mit unterschiedlichsten Hintergründen auf verdammenswerte Untaten des „internationa-len Terrorismus“ war gleichfalls Resultat dieser Gesinnung. In ihrem Allmachtsdenken begriffen us-amerikanische Administrationen sogar die von ihnen propagierte und voran getriebene Globalisierung der Märkte zur Unterstützung der weltweiten Aktivität transnationaler Unternehmen und des Finanzkapitals als Beweis ihrer zunehmenden Stärke. Ihre bereits seit langer Zeit vernachlässigte Infrastruktur und die nicht mehr konkurrenzfähigen veralteten Industrien der USA entschwanden hinge-gen aus ihrer vornehmlich nach außen und auf den Ausbau ihrer Hegemonie gerichteten Aufmerksamkeit. Überbetonung der eigenen Weltgeltung bei gleichzeitigem inneren Verfall zeugten von einer zunehmenden Desorientierung der tonangebenden Eliten. Sie übersahen oder ignorierten die auf sie zukommenden realen Herausforderungen.
Zunehmende innergesellschaftliche SpannungenIn der zweiten Amtsperiode der Bush-Administration erlebten die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte gleichzeitig das Erstarken ökonomischer Konkurrenten und die Anzeichen gesellschaftlicher sowie ökonomischer Schwächeerscheinungen in den USA. Etliche Mitglieder der reich gewordenen Oberschicht hatten damit begonnen bzw. zugelassen, dass große Teile der in ihrem Besitz befindlichen Industrie- und Dienstleistungsbereiche ins kostengünstigere Ausland (sogenannte Schwellenländer) verlagert wurden, die aus der Verlagerung der Produktion entstandenen Einkünfte in lukrativen Finanzanlagen zu investieren und durch drastische Steuersenkungen, die man während der Administrationen unter den Präsidenten Clinton und Bush Junior im Kongress durchsetzte, mehr Netto- vom ohnehin stark gestiegenen Bruttoeinkommen zurück zu behalten.
Die Mittelschicht hatte sich unter dem Druck der Abwanderung mit geringen oder sogar stagnierenden Lohn- und Gehaltszuwächsen abzufinden, wurde aber zunächst durch preisgünstige Einfuhren von Waren aus Schwellenländern zufriedengestellt, mit der Illusion höherer Wiederverkaufswerte ihrer kreditfinanzierten Häuser geködert und durch groß-zügige Konsumentenkredite über ihren schleichend vonstatten gehenden Abstieg getäuscht. Der bereits verarmten und wenig gebildeten Unterschicht hingegen entzog der Staat sukzessive weitere staatliche Sozialleistungen und trieb die auf Gelegenheitsarbeiten mit geringer Entlohnung Angewiesenen sowie ohne Versicherungsschutz hilflos ihren Krankheiten Ausgelieferten immer tiefer in das Elend.
Die Folgen der sich verschärfenden Ungleichheit zwischen dem „Geldadel“ an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide, der zwischen ihm und der Unterschicht eingeklemmten und um ihren Status besorgten Mittelschichtenangehörigen und der immer mehr verarmten Unterschicht untergruben den sozialen Frieden der us-amerikanischen Gesellschaft. Sie hatte bei ihrer Gründung dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zwar nicht das Gleichheitsgebot, sondern das Glück und das Erfolgsstreben jedes Einzelnen als Basiswert unterlegt, aber die ungezügelte Bereicherung der Vermögenden und Spitzenverdiener verletzte immer stärker den lange Zeit existierenden Grundkonsens der us-amerikanischen Siedlergesellschaft und erzeugte in ihr beträchtliche Spannungen, die erstmals begleitet wurden von hegemonialen Überdehnungssymptomen.
3. Hinweise der Überdehnung us-amerikanischer Hegemonie
So lange wie sich die USA darauf beschränkten, unter Einbeziehung der flankierenden Hilfe des Ost-West-Konflikts das innerwestliche Dreieck USA-Japan-Westeuropa zu dominieren, blieb ihre hegemoniale Position unangefochten. Gegenüber Westeuropa und Japan bevorzugten sie im allgemeinen das Erscheinungsbild einer wohlwollenden Hegemonie, während sie im Verhältnis zu Lateinamerika und nahöstlichen Rohölproduzenten ihre rein machtorientierte und interventionistische Negativseite hervorkehrten.
Erst nach dem Zerfall ihres Ko-Hegemons UdSSR zu Anfang der neunziger Jahre, den sie ohne zu ahnen vorangetrieben hatten, dass auch ihre hegemonialen Ambitionen darunter zerbrechen könnten, verfingen sie sich auf dem unsicheren Terrain der Globalisierung. Von den vormals im innerwestlichen Dreieck hegemonisierten Randstaaten des Pazifik und Westeuropa sowie den als Hintersassen behandelten Lateinamerikanern fiel der Druck des Ost-West-Konflikts ab. Sie drangen auf Gleichbehandlung und lehnten die Fortsetzung amerikanischer Hegemonie ab, die ihnen jetzt als us-amerikanische Forderung angetragen wurde, das angeblich sehr erfolgreiche us-amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu übernehmen. In der Sichtweise des künftig global agierenden Hegemons mussten alle hegemonisierten Volkswirtschaften nach dem amerikanischen Modell funktionieren und auf die zentralen Handels- und Finanzplätze New York und London orientiert werden. Der Widerstand der Kontinentaleuropäer gegenüber dem anglo-amerikanischen Muster entzündete sich insbesondere an der amerikanischen Forderung, im Zeichen des Neoliberalismus ihre Sozialstaatssysteme aufgeben zu sollen, auf denen bisher die Erhaltung des sozialen Friedens ihrer Gesellschaften beruhte. Nur wenn die us-amerikanische Globalisierungsstrategie auch auf die sogenannten Schwellenländer (China, Indien, Mexiko u.a.) ausgedehnt wurde und dort engagierte transnational agierende Unternehmen deren niedrige Produktionskosten als Druckmittel gegenüber den etablierten hochindustrialisierten Ländern ausspielten, schien deren Widerstand gebrochen werden zu können.
Hatten anfangs amerikanische Unternehmen und Finanzorganisationen leichtfertig die Meinung vertreten, den chinesischen Markt mit us-amerikanischen Waren überschwemmen zu können, um im gegenseitigen Handelsaustausch zugleich auch kostengünstig produzierte chinesische Waren auf dem amerikanischen Markt zu verkaufen, wurden sie nach kurzer Zeit eines besseren belehrt. Nicht die USA drückten China ihren Stempel auf, sondern umgekehrt ergoss sich ein immer umfangreicherer Strom in chinesischen Fabriken produzierter Waren auf den amerikanischen Markt. Denn die Chefs amerikanischer Unternehmen hatte nicht nur Gefallen an der Verlagerung von Produktionsstätten aus den USA nach China und den daraus entstehenden zusätzlichen Gewinneinnahmen gefunden, sondern – wie bereits erwähnt – konnten amerikanische Konsumenten mit preisgünstigen Verbrauchsgütern aus chinesischer Produktion für längere Zeit über die langfristigen negativen Folgen der Produktionsverlagerungen im Unklaren gelassen werden. Zielstrebig an der grenzenlosen Vermehrung ihres Reichtums interes-sierte Mitglieder der us-amerikanischen Gesellschaft unterminierten die hervorgehobene Position der USA in einer globalisierten Welt, indem sie ihren privaten Gewinninteressen Vorrang einräumten gegenüber dem bis dahin für alle US-Bürger geltenden gesellschaftlichen Konsens am vorrangigen Wohlergehen der amerikanischen Nation. Sie untergruben in der gleichen Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt der USA wie es in feudalistischen Staaten des alten Europas geschehen war, als Feudalherren dem aufstrebenden Bürgertum nacheiferten und als Unternehmer zu Reichtum und Einfluss gelangen wollten. Jene zu kapitalistischen Unternehmern gemauserten Feudalherren zerstörten den bis dahin für den gesamten Adel geltenden Konsens an der Erhaltung der gesellschaftlichen Grundlagen des Feudalismus, schwächten die Privilegien des Adels und stärkten das auf gleiche Rechte für alle Gesellschaftsmitglieder pochende Bürgertum.
Die Globalisierungshoffnungen der USA scheiterten jedoch letztendlich an der Weigerung Chinas, künftig zum Annex des erweiterten innerwestlichen Dreieck USA-Westeuropa-Japan zu werden. China öffnete sich zwar dem einfließenden Anlagekapital transnationaler Unternehmen, aber die chinesischen Führer gaben die Staatszügel zu keinem Zeitpunkt aus der Hand und verhielten sich insofern völlig anders als die russische Führung unter Präsident Jelzin. Es gelang den USA auch nicht, China die Ko-Hegemonie anzudienen. Sie verloren sogar ihren maßgeblichen Einfluss auf das Russland Putins und mussten schließlich akzeptieren, dass das von ihnen umworbene Indien zwar das Nuklear-abkommen mit ihnen abschloss, sich aber nicht als Gegenleistung an der Eindämmung Chinas beteiligte. Ganz im Gegenteil knüpften die führenden asiatischen Länder China, Russland und Indien engere Kontakte untereinander und selbst Japan und Südkorea näherten sich dieser übergreifenden asiatischen politischen und ökonomischen Zusammenarbeit. Abgesehen von Großbritannien zeigten sich auch die übrigen Westeuropäer gegenüber der Schaffung eines gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraums aufgeschlossen. Sie mussten aber noch die ost-europäischen Mitgliedsländer der Europäischen Union vom Nutzen dieser Verbindung überzeugen. Jene Länder, darunter insbesondere Polen und Tschechien, betrachten immer noch die USA als ihren Beschützer. Erst das militärische Nichteingreifen der USA im georgisch-russischen Konflikt scheint sie davon überzeugt zu haben, dass sie sich nicht auf die USA verlassen können.
4. Die Finanzkrise als Menetekel für die unabwendbare Anpassung der USA an eine multilaterale Struktur
Bereits die Misserfolge der USA in den beiden von ihnen geführten Kriegen – im Irak und Afghanistan – hatten ihre Glaubwürdigkeit stark beschädigt. Noch stärker sank ihre Wertschätzung in der Meinung der Weltöffentlichkeit durch die Zulassung von Folter im sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Aber erst die von den USA ausgehende Finanzkrise zerstörte das bis dahin noch vorhandene Grundvertrauen in die USA als federführende Finanzmacht. Den letzten Rest besorgte der ehemalige Chef der Technologiebörse Nasdaq, Bernard L. Madoff, der in der bisher größten Betrugsaffäre der Wall Street seine Gläubiger um mehr als 50 Mrd. US-Dollar brachte. Die USA werden in der Zukunft nicht mehr der Hort für sichere Geldanlagen sein, die Leitwährungsfunktion ihres Dollars verlieren und ihre Handelsdefizite wie alle anderen auch durch Sparmaßnahmen abtragen müssen.
Damit hätten die USA ihre hegemoniale Stellung als Finanzmacht verloren. Sie würden sich in das Konzert der führenden Großmächte einordnen und als unaufschiebbare Forderung ihre eigene Volkswirtschaft sanieren müssen. Ein Wiederauflage des „New Deal“ ist bereits unter dem amerikanischen Präsidenten Obama in Planung. Die Ausrichtung auf eine Erneuerung der maroden Infrastruktur, die Modernisierung der heimischen Industrie und Dienstleistungsbereiche wird aller Wahrscheinlichkeit nach nur durch eine drastische Reduzierung der Militärausgaben zu finanzieren sein. Damit würden die USA auch ihre Fähigkeit verlieren, in allen Gebieten der Erde militärisch präsent zu sein und in Konflikten auf die eine oder andere Weise eingreifen zu können. Ihre bereits stark reduzierte militärische hegemoniale Position hätten sie damit ebenfalls vollkommen verloren. Die USA würden den Gang vieler vor ihnen gescheiterter Hegemonien gehen. In den meisten Fällen hatten deren machtpolitische Eliten den Niedergang eingeleitet, indem sie ihre eigenen Interessen über diejenigen der Gesamtgesellschaft stellten. Im Verein mit anderen innergesellschaftlichen Kräften nahmen sie entweder die damit oftmals verknüpfte Überdehnung ihrer Hegemonie hin oder erkannten diese Gefahr nicht rechtzeitig.
Bereits vor dem Amtsantritt des gewählten US-Präsidenten Obama im Januar 2009 stießen seine vorgeschlagenen Maßnahmen zur inneren Erneuerung der USA im Kongress auf erhebliche Widerstände. Der Konflikt zwischen einem Arbeitsplätze schaffenden Beschäftigungsprogramm auf der einen Seite und einer konsumentenfreundlichen generellen Senkung von Steuern auf der anderen Seite trennt in den beiden Häusern des Kongresses Demokraten und Republikaner. Ob nach den vergeblichen Versuchen der Vergangenheit die dringend erforderliche Reform des Gesundheitswesens dieses Mal die Mehrheit von Repräsentantenhaus und Senat erhält, ist höchst zweifelhaft. Auf welche Widerstände die Reduzierung der Militärausgaben stoßen wird, ist angesichts der prestigeträchtigen Vergabe von Rüstungsaufträgen an die untereinander um Aufträge konkurrierenden Unionsstaaten ebenfalls noch nicht kalkulierbar. Der zur Überwindung der wirtschaftlichen Rezession gegen null tendierende Zinssatz der US-Zentralbank und die fast grenzenlose Vermehrung des US-Dollars werden zu einer drastischen Abwertung der us-amerikanischen Währung führen. Wie darauf die Halter von US-Schatzanweisungen reagieren werden, ist noch unklar. Die Flucht in den Euro könnte eine der Reaktionen sein.
Hegemoniales Bewusstsein ist langlebig, wie man am Beispiel des immer noch lebendigen Denkens der russischen Machtelite erkennen kann. Erst recht käme es für die tonangebende Elite der USA einer fast übermenschlichen Anstrengung gleich, ihr „leadership“-Denken und -Verhalten nicht nur zu mäßigen, sondern ganz aufzugeben und sich als gleicher unter gleichen in das Konzert der globalen Mächte einzureihen. Bemühungen der Europäer, und darunter insbesondere die Anstrengungen der sogenannten Transatlantiker, zwischen Europa und den USA ein Verhältnis von gleich zu gleich zu etablieren, könnten an den verfestigten Denkstrukturen in den USA und dem eigenen, nur teilweise bewussten Unterwürfigkeitsverhalten scheitern.
Anmerkungen
1 Sich am eigenen Schopf aus krisenhaften Entwicklungen zu ziehen ist geradezu zum Markenzeichen us-amerikanischer gesellschaftlicher Entwicklung geworden, wie beispielsweise die Überwindung der Lethargie am Ende der fünfziger Jahre durch die Orientierung auf die Eroberung des erdnahen Weltraums in der Administration unter John F. Kennedy, die Aufarbeitung des Vietnamtraumas in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, der Abschied vom „Star Wars“ unter Reagan am Ende der ersten Hälfte der achtziger Jahre und die technologische Erneuerung unter Clinton zur Jahrhundertwende.
20. Januar 2009
Reinhard Hildebrandt
Plan B zur Erhaltung US-amerikanischer Hegemonie
Ausgangspunkt und Zentrum der Finanzkrise sind die USA. Amerika wird mit allen Mitteln versuchen, in dieser Krise ihre Vormachtstellung in der Welt zu verteidigen. Inwieweit dies gelingt, hängt massgeblich von den europäischen Antworten ab. Der folgende Artikel debattiert die Unterschiede zwischen Europa und den USA hinsichtlich des aktuellen Krisenmanagements sowie der vorgesehenen Regulierungsmassnahmen der Finanzmärkte vor dem Hintergrund der verschiedenen Staatsauffassungen auf beiden Seiten des Atlantiks.
Floyd Norris enthüllte in der „International Herald Tribune“ vom 15. Oktober 2008 unter dem Titel „U.S. follows lead of Europeans in supporting banks“, wie das amerikanische Finanzkapital trotz der Infizierung des Finanzmarktes mit faulen Krediten und windigen Derivaten und der dadurch verursachten globalen Krise seine Jahrzehnte lange zentrale Position erhalten möchte. Die 15 europäischen Staaten mit dem Euro sowie die derzeit größten Gläubigerstaaten der USA – China, Japan, die Arabischen Ölproduzenten, Russland und Brasilien – stehen den USA als Konkurrenten gegenüber. Hauptverbündete der USA dagegen sind die global agierenden transnationalen Unternehmen und Finanzorganisationen, für die das Streben nach Rendite aus Finanzkapitalanlagen einen nicht unerheblichen Teil ihres Alltagsgeschäfts ausmacht. Angesichts dieser Konstellation befinden sich das Vereinigte Königreich mit dem Finanzplatz London, dessen Stellenwert in den zurückliegenden Jahrzehnten vom Wohlergehen der Wall Street abhing, und die Staatsfonds, die auf zwei Schultern tragen, in einer Zwitterposition. Die von Norris skizzierte Vorgehensweise könnte man als „Plan B“ bezeichnen, nachdem „Plan A“ gescheitert ist.
I. „Plan A“ – der historische Vorlauf der aktuellen Finanzkrise„
Plan A“ funktionierte nach der folgenden Devise: der größte Schuldner der Welt bestimmt das Geschehen auf den Finanzmärkten und diktiert außeramerikanischen Zentralbanken und Regierungen den Gang der Dinge. Aufgrund der den USA 1944 im Bretton Woods Abkommen gewährten Verschuldungsmöglichkeit häuften die USA über die Jahrzehnte hinweg eine gigantische Schuldenlast auf. Dabei stand für sie selbst stets die ausreichende Versorgung des Weltfinanzsystems mit Liquidität im Vordergrund, während alle anderen Länder die Führungsrolle der USA mit zunehmend gemischten Gefühlen betrachteten.
- So schufen die USA nach dem Ende des Vietnamkrieges (1973) mit der Abkehr von der Golddeckung des US-Dollars, der Freigabe der Wechselkurse und der Kreation des am Londoner Finanzplatz gehandelten Euro-Dollars eine unter ihrer Oberaufsicht stehende Schwesterwährung, über die das Weltfinanzsystem mit zusätzlicher Liquidität ausgestattet wurde.
- Als in den achtziger Jahren während der Sparkassenkrise die Börse um 20 Prozent einbrach und vor der Re-Regulierung des Spareinlagen- und Darlehensmarktes der Ruf nach mehr Liquidität ertönte, sorgte der von Präsident Reagan ernannte neue Notenbankchef Alan Greenspan mit seiner Politik des billigen Geldes für einen weiteren Liquiditätsschub.
- Nach dem Ende der dualen Hegemonie zwischen den USA und der Sowjetunion zu Beginn der neunziger Jahre, dem Aufstieg der USA zur alleinigen weltumspannenden Hegemonialmacht auf dem Hintergrund der neuen Informationstechnologie und der von den USA voran getriebenen Globalisierung der Märkte setzte sich Greenspan1dafür ein, den steigenden Strom an anlagesuchendem Finanzkapital und dem damit eng verknüpften enorm wachsenden Renditewunsch durch neu geschaffene Derivate zu bedienen. Auf sein Anraten unterzeichnete Bill Clinton ein Gesetz, das die US-amerikanischen Investmentbanken jeglicher Regulierung entzog und ihnen mit der Auflegung immer neuer Derivate die Gelegenheit bot, unbegrenzt Liquidität zu erzeugen. Mit diesem Gesetz war die Grundlage gelegt für den Beginn einer uferlosen Verschuldungspolitik der USA.
Sobald Hauskäufer ihre mit progressiv steigenden Zinsen belasteten Hypotheken nicht mehr mit dem gestiegenen Wert ihrer Häuser abtragen konnten, waren die ausstehenden Kredite nicht mehr einzutreiben und die faul gewordenen Darlehensforderungen mussten anderen Kreditpapieren beigemischt werden, um sie trotz minderen Wertes noch auf dem global ausgelegten Finanzmarkt veräußern zu können. Zusammen mit der ausufernden Derivateproduktion (Collateralised Debt Obligations [CDOs], Asset backed Securities [ABS], Credit Default Swaps [CDS]) in allen übrigen Geschäftsbereichen der Investmentbanken) legte man nicht nur die Grundlagen für unbegrenzte Kapitalanlagemöglichkeiten, sondern erhöhte zugleich die Gefahr, die institutionellen wie privaten Kapitalanleger des gesamten Globus mit dubiosen Papieren zu infizieren. Oberstes Ziel der US-Regierungen und US-Notenbank im letzten Jahrzehnt war es, kreditwürdig zu bleiben und zugleich die globale Finanzpolitik fest in der Hand zu behalten, obwohl man bereits weit über seine finanziellen Verhältnisse lebte und für die Gläubiger kaum noch Hoffnung auf Rückzahlung der gewährten Kredite bestand. Es existierte sogar folgender paradoxer Zusammenhang: Je größere Ausmaße die Verschuldung annahm, desto unangreifbarer wurden die USA für ihre zahlreichen Gläubiger; denn wechselten z.B. Gläubiger in größeren Tauschaktionen ihre niedrig verzinslichen US-Schuldverschreibungen wieder in US-Dollar um, riskierten sie einen massiven Absturz des US-Dollars und wurden somit zu Verursachern einer Weltwirtschaftskrise.
Um das Vertrauen der Gläubiger in den US-Dollar trotz fortgesetzter Verschuldung aufrecht zu erhalten, war die kontinuierliche Ankurbelung der amerikanischen Wirtschaft und darin insbesondere der vorwiegend kreditfundierte Konsum der amerikanischen Verbraucher sowie der ebenfalls kreditfinanzierte steigende Staatsbedarf an militärischer Rüstung ein absolutes Muss. Von den USA abhängige Gläubiger würden schließlich sogar – so die Spekulation – bereit sein, selbst Darlehensforderungen in ihr Portfolio aufzunehmen, deren Herkunft dubios und deren realer Wert sehr zweifelhaft war.
Angesichts der dramatischen Situation der letzten Wochen stellen sich nun folgende Fragen: Hoffte man eventuell, dass nichtamerikanische Banken als erste betroffen wären, wenn die infektiöse Blase schließlich platzen würde? Spekulierten finanzstarke US-amerikanische Investment- und Geschäftsbanken darauf, den kollabierenden Banken gönnerhaft ihre Hilfe in der Überwindung von Liquiditätsproblemen anzubieten und auf diese Weise ihren Einfluss global weiter ausdehnen zu können?
Mahnende Einwände europäischer Regierungen auf den Gipfeltreffen der G-7/8 Staaten schlug die Bush-Administration jedenfalls im Einklang mit der britischen Regierung so lange in den Wind, wie offenbar die Hoffnung bestand, dass sich die Masse der faulen Kredite tatsächlich bei den Banken außerhalb der beiden Finanzplätze Wall Street und Londoner City aufhäufen würden. Erst als die Einsicht wuchs, dass die Hauptmasse der infizierten Kredite wieder in die USA zurückflossen und vor allem zwischen den 10 größten US-amerikanischen Banken zirkulierten, wurde denjenigen, die für diese Krise verantwortlich waren, klar, dass sie letztendlich auf ihren faulen Krediten und windigen Derivaten als Hauptleidtragende sitzen bleiben würden.
In diesem Zusammenhang können auch bestimmte politische Ereignisse als außenpolitische wie militärische Ablenkungsmanöver betrachtet werden:
- der Versuch, China mit der Infragestellung der chinesischen Herrschaft über Tibet (im Kontext der olympischen Spielen in Peking) zu isolieren
- die Instrumentalisierung des Iran- und Georgienkonflikts mit dem Ziel der Isolierung sowohl des Iran wie Russlands, und
- die Stationierung von Raketen in Polen mit dem Ziel, die Beziehungen Polens mit der EU und Russland zu vergiften.
II. „Plan B“ – Nutzbare Resultate eines kontrollierten Zusammenbruchs
1. Krisenbewältigungsmaßnahmen zur Vermeidung einer unkontrolliert verlaufenden Finanzkrise
Ein unkontrollierter globaler Finanzkrach würde nicht nur die beiden wichtigsten Finanzplätze Wall Street und London in dauerhaften Verruf bringen, sondern hätte auch ruinöse Folgen für die Realwirtschaft. Das mahnende Beispiel der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 und die damalige kontraproduktive Geldpolitik der Zentralbanken trieben die US-amerikanische und britische Regierung zur Eile in der Bewältigung der Krise an. Schließlich stand die bisherige angloamerikanische Dominanz in der Abwicklung globaler Finanzgeschäfte über die beiden Finanzplätze New York und London sowie über die meist unter britischer Hoheit stehenden Steueroasen auf dem Spiel.
Die bange Frage für alle Banken, ob in ihren täglich notwendigen Interbankgeschäften die traditionellen Handelspartner noch solvent waren oder vielleicht sogar schon kurz vor der Insolvenz standen, verstärkte das Misstrauen der Banken untereinander. In kurzer Zeit kam der gesamte Interbankhandel zum Stillstand, der in „normalen Zeiten“ dazu dient, längerfristig eingegangene Engagements kurzfristig zu refinanzieren. Zentralbanken sprangen ein und versorgten den Geldmarkt mit „frischem Geld“, indem sie den notleidenden Banken den Ankauf von unverkäuflich gewordenen faulen Krediten anboten und auch dadurch, dass sie ihre traditionellen Geldmarktinstrumente verlockend günstig für Kreditnehmer gestalteten. In Fällen, in denen alle anderen Rettungsaktionen zu scheitern drohten, sprang selbst der Staat mit Verstaatlichungsangeboten ein, um ganz im Gegensatz zur bisherigen neoliberal ausgerichteten Staatsverneinung entweder sofort die gesamte aufgelaufene Schuldenlast dem Steuerzahler aufzubürden oder lediglich für den Ernstfall mit Ausfallbürgschaften zu helfen.
2. Die Forderung nach Regulierung der Finanzmärkte
Schon zu einem frühen Zeitpunkt schlugen weit- und umsichtig denkende Finanztheoretiker Regulierungsmaßnahmen insbesondere für den bis dahin völlig unregulierten Geschäftsverkehr der Investmentbanken vor. So schrieb beispielsweise Martin Wolf bereits im Frühjahr 2008 die folgende Erkenntnis nieder: „Die Öffentlichkeit, spüren die Regierungen, müssen vor den Banken und die Banken vor sich selbst geschützt werden. Das Finanzwesen wird als zu wichtig angesehen, als es dem Markt zu überlassen“. Er gelangte abschließend zu dem Schluss: „Regulierung wird immer in hohem Maße unvollkommen sein. Es müssen aber Anstrengungen unternommen werden, sie zu verbessern.“ (Martin Wolf, Sieben Gewohnheiten, die Aufsichtsbehörden für den Wertpapierhandel annehmen müssen, Financial Times, 7. Mai 2008 – vom Autor bereits im Solon-Beitrag zur Finanzkrise vom 3. Juni 2008 zitiert).
In der darauf anhebenden Diskussion über Regulierungsvorschläge wurde unter anderem die Auskunftspflicht der Kreditgeber durch die Anordnung ergänzt, dass sie zu einem bestimmten Prozentsatz für die vergebenen Kredite verantwortlich bleiben müssen. Einige Staaten verboten im Handel mit Derivaten sogar bereits sogenannte Leerverkäufe, in denen auf die Zahlungsunfähigkeit des ursprünglichen Kreditnehmers spekuliert wird. Eifrig diskutierte man auch die drastische Reduzierung von Managergehältern und die Abkehr vom Bonussystem.
Im Kontext der Forderung nach geeigneten Institutionen zur Regulierung der Finanzmärkte und zweckmäßigen Regulierungsmaßnahmen beklagten die einen vor allem die erwiesene Unzulänglichkeit von marktinternen Steuerungsmechanismen und stritten für den Eingriff des regulierenden Staates, während die anderen dem Staat schlichtweg jede Steuerungskompetenz absprachen und statt dessen auf vom Staat lediglich unterstützte Selbstregulierungsmaßnahmen der Finanzakteure setzten. Ausgetragen wurden die Konflikte auf dem Hintergrund unterschiedlicher Staatsvorstellungen. Bekanntermaßen unterscheiden sich die USA in ihrer Betrachtungsweise des Staates von derjenigen der Kontinentaleuropäer auf gravierende Weise.2
3. Regulierung auf dem Hintergrund unterschiedlicher Staatsauffassungen
Der Staat hat bereits lange vor der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in verschiedenen Formen bestanden, existierte danach neben ihr als selbständiger Pol mit Eigengewicht weiter und verstand sich zu keinem Zeitpunkt als bloßes Ableitungsprodukt der bürgerlichen Gesellschaft. Speziell in den kontinentaleuropäischen Nationalgesellschaften, die nach der Abschaffung des Absolutismus entstanden, hat der Staat niemals seine Exklusivität verloren. Am Beispiel der Herleitung der Staatsgewalt im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Interpretation dieses Artikels im Bonner Grundgesetzkommentar lässt sich sehr gut nachweisen, welcher geringe Stellenwert der Volkssouveränität bzw. der Gesellschaft in der Herkunft der Staatsgewalt tatsächlich zugemessen wird.
Zwar leitet der Staat seine Gewalt im Grundgesetz nicht mehr von Gott, sondern vom Volke ab (Art. 20, Absatz II, Satz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland [„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“]), aber „ein Rechtsverhältnis der Repräsentation zwischen dem Volk und dem Parlament besteht nicht, weil das Volk nur imStaat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichten zukommen könnten;…“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 6, S.26). “Diese Auffassung”, so postulieren die Kommentatoren des Grundgesetzes, „… ist nicht eine Missachtung der politischen Tatsachen (…), sondern eine Folge der Unterscheidung zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.S.26). Aus den „ideologischen Vorstellungen über den eigentlichen ‚Träger’ der Staatsgewalt ein Rechtsverhältnis zwischen Volk und Parlament zu konstruieren“, ist ihrer Ansicht nach „abzulehnen“. Mit anderen Worten: Der eigentliche „Träger“ der Staatsgewalt war zu keinem Zeitpunkt das Volk. Der Satz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wird faktisch in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Staatsgewalt als höchste Gewalt statt vom realen Volk von einer „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ „ausgeht“, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll. Eingebettet in eine Ideengeschichte und abgelöst vom jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehung von Ideen, werden Grundannahmen wie die der Rousseauschen Generalversammlung des Volkes zu nicht mehr hinterfragten Axiomen und dienen nur noch der Legitimation etablierter Machtverteilung.
Jedoch: Trotz aller Zurückdrängung der Souveränität des Volkes entfaltet die ideologisch bedingte Rückkoppelung der Staatsgewalt an eine Generalversammlung des Volkes dennoch in einer bestimmten Hinsicht weiterhin erhebliche Wirkungsmacht. Der Staatsgewalt tut gut daran, die angenommene ursprüngliche Gleichheit aller Teilnehmer der Generalversammlung stets zu beachten und in ihren Entscheidungen adäquat zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt insbesondere in Krisenzeiten, wenn der soziale Friede gefährdet ist und die Selektion der Maßnahmen zu seiner Wiederherstellung im Kampf zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausgefochten wird. So stößt es beispielsweise bei Niedriglohnempfängern und Langzeitarbeitslosen auf erhebliches Unverständnis, wenn von Illiquidität bedrohte Banken vom Staat großzügige Hilfe ohne ausreichende Gegenleistung der Banken erwarten dürfen, während Niedriglöhne nach unten generell nicht durch einen Mindestlohn begrenzt werden und Hartz-IV-Empfänger scharfen und entwürdigenden Kontrollen unterliegen. Eine derartige eklatante Ungleichbehandlung ruft Unmut hervor, verletzt das Gleichheitsgebot und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt bzw. den sozialen Frieden.
In einer aus Siedlergemeinschaften entstandenen Gesellschaft hingegen – wie beispielsweise in den USA – wird das „Volk als Ganzes“ nicht als Quelle staatlicher Macht angesehen. Das Axiom der Volkssouveränität hat keinerlei Bedeutung. Das einzelne aus freiem Willen handelnde Individuum übergibt seine Ur-Freiheit nicht an den Staat, denn Siedlergemeinschaften bestehen darauf, dass jedes Mitglied seine in ihm schlummernden Talente voll ausschöpfen kann und dabei möglichst geringen Begrenzungen unterliegt. Siedlergemeinschaften schützen sich selbst und ihr Eigentum durch die Entfaltung und Beachtung gemeinsamer Werte in ungeschriebenen sowie schriftlich fixierten Vertragsbeziehungen. Lediglich für Angelegenheiten, die über die Realisierungsmöglichkeiten der einzelnen Siedlergemeinschaft hinausreichen oder beim Schutz vor äußeren Feinden fühlen sie sich gezwungen, als gemeinschaftsübergreifende Institution den Staat zu errichten und finanziell mit ausreichenden Mitteln auszustatten. Dieser staatlichen Administration werden von den Siedlergemeinschaften um der Bewahrung der individuellen Ur-Freiheit willen enge Handlungsgrenzen gesetzt.
Je älter jedoch Siedlungsgesellschaften werden, desto stärker können im Laufe der Zeit entstandene Einkommens- und Vermögensunterschiede aufgrund ungleich gewordener Lebensverhältnisse dazu führen, dass Repräsentationsorgane und staatliche Administration nicht mehr nur mit sehr unterschiedlichen Interessen konfrontiert, sondern dass sie sogar vom privilegierten Teil der Bevölkerung einseitig zur Verfolgung ihrer Interessen in Anspruch genommen werden. Als Konsequenz der zurückbehaltenen Ur-Freiheit werden die erworbenen Privilegien jedoch grundsätzlich von allen Individuen akzeptiert. Sie verstoßen nicht gegen ein Gleichheitsgebot, sondern werden als Folge der von jedem Individuum mit mehr oder weniger Erfolg praktizierten Ur-Freiheit betrachtet. Selbst wenn ein solcher Privilegien befördernder Staat massiv gegen die weniger erfolgreichen und nunmehr unterprivilegierten Teile der Bevölkerung aktiv wird, kann seine einseitig orientierte Tätigkeit lange Zeit mit einer großen Duldsamkeit selbst unter den Benachteiligten rechnen, ehe er Gefahr läuft, den sozialen Frieden zu gefährden. Die Maßnahmen der Bush-Administration und des Kongresses, den Banken die nicht mehr eintreibbaren Darlehensforderungen auf Kosten des Steuerzahlers zum Nulltarif abzukaufen und Liquidität für notleidende Banken ohne Gegenleistung der Banken bereitzustellen, stützen einseitig den privilegierten Teil der amerikanischen Bevölkerung, gehen aber zu Lasten aller Steuerzahler und erhöhen den Anteil der Staatsschulden, der unterschiedslos auf jeden Bürger entfällt.3
Der Handlungsspielraum amerikanischer Administrationen ist also erheblich größer als der kontinentaleuropäischer Regierungen; was nicht weiter von Bedeutung wäre, wenn nicht im Zeichen der Globalisierung zum Nachteil der Kontinentaleuropäer neue Kräftekonstellationen entstanden wären.
4. Der Staat im hegemonialen Kräftefeld
Ohne die institutionalisierte Kraft eines Staates jedoch kann keine Gesellschaft existieren, in welchen nationalen, regionalen oder globalen Grenzen sie auch immer agiert! Die hegemonialen Formationen – die global agierenden transnationalen Unternehmen und Finanzorganisationen – würden auf sich gestellt ihren formlosen Gegenhalt auf die Dauer selbst zerstören, totalitär deformieren, die für eine lebendige Demokratie lebensnotwendige Diskursvielfalt beseitigen und keine Verständigung mehr über den Maßstab und die Regeln des Zusammenlebens erzielen. Der Zerfall wäre unausweichlich und auch die schönste volkswirtschaftliche Markttheorie könnte daran nichts ändern. Die jetzige Finanzkrise ist ein überdeutliches Beispiel.4
Anpassungsstrategien des Staates an den nationale Grenzen übergreifenden formlosen Gegenhalt hegemonialer Formationen greifen schon jetzt, indem Rechtsetzungsbefugnisse an internationale und regionale Instanzen übergehen und die Souveränität des Nationalstaats im zunehmenden Maße internationalem Recht unterliegt. Die Globalisierung wird von der Erzeugung neuer Rechtssysteme und Rechtsprechung begleitet. Teilweise haben Nationalstaaten diese Entwicklung direkt unterstützt oder sie mussten hinnehmen, dass sie in der Gestaltung dieser neuen Formen schlichtweg umgangen wurden. Außerdem treten nationale Kulturen, Rechtssysteme und -ansätze in Wettbewerb um ihre globale Durchsetzung, was sich insbesondere schon im Handelsrecht und in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zeigt. Zwischen den USA und Kontinentaleuropa wird es auf diesem Gebiet nicht nur beim moderat ausgetragenen Wettbewerb bleiben. Die augenblickliche Finanzkrise birgt eine Menge Konfliktstoff in sich, in dessen Abarbeitung es noch zu großen Verwerfungen kommen kann.
Die Herausbildung von Elementen transnationaler Rechtskulturen bedarf aber unabänderlich der Verständigung über Grundsätze transnationaler Gerechtigkeit. So stellt beispielsweise das Recht auf gleiche Berücksichtigung die substanzielle Ausformung des Gleichheitsgrundsatzes dar und äußert sich im Recht auf politische Teilhabe. Eine konsequente Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes der Völker schreibt diesem politischen Mitspracherecht Gültigkeit auf jeder institutionellen Ebene zu, auf der politische oder ökonomische Entscheidungen mit tendenziell übernationaler Wirkung getroffen werden. Gemäß der Idee der Mitsprache müssen gemeinsam die Grundregeln des Zusammenlebens, die die wechselseitigen moralischen Verpflichtungen festlegen, vereinbart werden, bevor aus deren Positivierung korrespondierende wechselseitige Rechtsansprüche hervorgehen können. Der Hegemonieanspruch einer Macht behindert einen solchen Prozess.
5. Konfliktlinien zwischen den USA und hegemonialen Formationen einerseits und kontinentaleuropäischen Staaten andererseits
Am Beispiel der von der SPD verfassten 14 Maßnahmen für mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten lässt sich gut erkennen, welche Konflikte in den Verhandlungen auftauchen werden. Die einzelnen Punkte stellen zwar Maximalforderungen dar, von denen man in konkreten Verhandlungen Abstriche akzeptieren würde, aber dennoch greifen einige Maßnahmen so tief in die bisher gewachsenen Finanzstrukturen ein, dass die Gegenseite sie rundweg ablehnen wird. Die SPD fordert
1. eine höhere Liquiditäts- und Eigenkapitalvorsorge der Finanzinstitute. Die aufsichtsrechtlichen Liquiditätsvorschriften müssen ausgebaut, Liquiditätsrisiken stärker berücksichtigt, Liquiditätspuffer geschaffen, Stresstests optimiert und die Aufsicht besser einbezogen werden. Ebenso müssen die Eigenkapitalanforderungen deutlich steigen: Wir fordern Mindesteigenkapitalquoten. Das gilt nicht zuletzt für Kredite an Hedge-Fonds, für die zukünftig mindestens 40 Prozent Eigenkapital hinterlegt werden sollte.
Bereits diese auf dem ersten Blick plausible Forderung reduziert die Kreditvergabemöglichkeiten der Banken erheblich und holt die staatliche Aufsicht in die Banken, was auf nationaler Ebene die Banken und auf globaler Ebene die USA strikt ablehnen werden. Gerade Hedge-Fonds wurden bisher von den Banken als willkommenes Renditeinstrument angesehen. Für profitable Geschäfte, die den Banken selbst nicht erlaubt waren, konnte bei Hegde-Fonds angeheuert werden. Die USA haben bisher jeden Eingriff in ihre Souveränität abgelehnt und nichtsdestoweniger ihren hegemonialen Einfluss auf andere Volkswirtschaften ausgedehnt.
2. Strengere Bilanzierungspflichten der Finanzinstitute!
Risiken müssen in Zukunft eindeutig in den Bilanzen der Finanzinstitute ausgewiesen sein und dürfen nicht etwa – wie bisher üblich – in Zweckgesellschaften ausgelagert werden. Die EU-Bankenrichtlinie ist in diesem Punkt noch nicht präzise genug. Wir halten es für dringend notwendig, Risiken zwingend nach einem standardisierten Schema darzulegen. Die gegenwärtige „Fair-Value-Bewertung“ muss krisenoptimiert werden.
Die „Fair-Value-Bewertung“5 entstammt dem US-amerikanischen Bilanzrecht und fördert die Entobjektivierung der Unternehmensbilanzen. In diesem Punkt stimmen die USA mit den national wie global operierenden Unternehmen überein. Bilanzverschleierung war und ist für alle Finanzinstitute ein Instrument des Managements, auf das es nur nach äußerster Druckausübung verzichtet. Die EU wird allein diesen Maximaldruck nicht ausüben können. Sogenannte Zweckgesellschaften sind aber auch die von transnationalen Unternehmen und Finanzinstituten unterhaltenen Holdings in Steueroasen, um den nationalen Steuerregimes zu entgehen.
3. Mindestens 20 Prozent Selbstbehalt bei Verbriefungen!
Wir brauchen ein stärkeres Risikobewusstsein im gesamten Finanzsystem. Die Trennung zwischen der Entscheidung, einen Kredit zu vergeben, und der Verantwortung für das damit einhergehende Risiko muss aufgehoben werden. Deshalb dürfen Finanzinstitute ihre Kreditrisiken nicht mehr zu 100 Prozent verbriefen und weiterreichen können. Sie müssen auf Grundlage einer internationalen Regelung nach unserer Auffassung künftig mindestens 20 Prozent des Risikos selber tragen.
Diese SPD-Forderung steht diametral der bisherigen Praxis US-amerikanischer Investment- und Geschäftsbanken entgegen. Wie bereits dargelegt, basierte die US-amerikanische Globalisierungspolitik auf der Verbreitung infizierter Darlehensforderungen über den gesamten Globus. Eine Abkehr von dieser Praxis hätte gravierende Folgen für die bisher US-dominierte Liquiditätsversorgung der Finanzmärkte und wird deshalb auf massiven Widerstand der USA und teilweise des Vereinigten Königreichs stoßen.
4. Verbot schädlicher Leerverkäufe!
Schädliche ‚Leerverkäufe’, also die ungedeckte Spekulation auf fallende Aktienkurse, haben die Finanzmarktkrise noch verschärft. Krisenverschärfende, schädliche Leerverkäufe müssen auf internationaler Ebene verboten werden.
Der Text bezieht sich nur auf „krisenverschärfende“ Leerverkäufe. Leerverkäufe sind ein gebräuchliches Börseninstrument. Sie dienen der Auslotung von Trends bei Kursentwicklungen in die eine oder andere Richtung. Ihnen haftet deshalb unvermeidlich immer ein Moment der Spekulation an. Wie jedoch auf Dauer die „krisenverschärfenden“ von den stabilisierenden Leerverkäufen unterschieden werden sollen, wird vom Text nicht problematisiert. Insofern verbleibt die Forderung nach Verbot von Leerverkäufen im plakativen Bereich und wird sich deshalb dauerhaft nicht durchsetzen lassen.
5. Anpassung der Anreiz- und Vergütungssysteme!
Wer von Gewinnen profitiert, muss auch Verluste tragen. Über veränderte Anreiz- und Vergütungssysteme im Finanzsektor auf Grundlage eines internationalen ’Verhaltenskodex’ wollen wir dafür sorgen, dass individuelles Fehlverhalten in Zukunft individuelle Sanktionen nach sich zieht.
Die Beteiligung der Manager am Gewinn ihres Unternehmens bzw. seiner Bewertung an der Börse ist eine der Folgen des Shareholderprinzips. Mit der Zeit war es für Spitzenmanager nicht mehr von Bedeutung, ob sie ausreichend für ihre Tätigkeit entgolten wurden, sondern auf welcher Rangstufe sie sich im Wettbewerb mit ihren inländischen und ausländischen Kollegen befanden. Ein solches Bonussystem ist grundsätzlich nach oben offen. Je stärker es die Alltagsarbeit der Manager beherrscht, desto schädlicher wirkt es sich für die langfristige Perspektive des gesamten Unternehmenssektors aus. Renditeforderungen von 20 und mehr Prozent bei einem durchschnittlichen Produktivitätszuwachs von 2-3 Prozent können in der Realwirtschaft nur auf Kosten der Lohnempfänger und der Zurückdrängung des Sozialstaats erzielt werden. Wenn außerdem die persönliche Haftung für Verluste für die verantwortlichen Manager ohne Sanktionen bleibt, wird die persönliche Bereicherung prestigesüchtiger Manager zu ihrem eigentlichen Antriebsmotor. Der von der SPD angestrebte neue „Verhaltenskodex“ setzt voraus, dass Managergehälter überall nach den gleichen Kriterien ermittelt werden und den gleichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen unterliegen. Dies ist jedoch nicht der Fall, so dass eine Verständigung zwischen den USA und den Kontinentaleuropäern kaum möglich erscheint.
6. Persönliche Haftung der Verantwortlichen!
Das Prinzip „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“ ist für uns inakzeptabel. Wir brauchen internationale Standards für eine stärkere persönliche Haftung der Finanzmarktakteure. Ihre Verantwortung muss sich auch in der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen und individuellen Haftung widerspiegeln.
Für diese Forderung der SPD trifft in ganz besonderem Maße die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftsordnungen der USA und Kontinentaleuropas zu. Richard von Weizsäcker hat einmal die USA als Plutokratie bezeichnet, in der ungefähr 200 wohlsituierte und etablierte Familien darüber befinden, ob in den nächsten Wahlperiode der demokratischen oder der republikanischen Partei der Vorzug gegeben werden soll. Entsprechend fällt ihre finanzielle und immaterielle Unterstützung der zur Auswahl stehenden zwei Parteien bzw. des Präsidentschaftskandidaten aus. In der Frage der Sozialisierung der Verluste und der Privatisierung der Gewinne entscheiden sich diese tonangebenden Gruppierungen in einer plutokratischen Gesellschaft ganz klar für die Sozialisierung der Verluste. Das jetzige Verhalten des Kongresses und der Bush-Administration zeigt in aller Klarheit eine solche Präferenz. In der Erarbeitung internationaler Standards werden sich die Kontinentaleuropäer nur dann mit ihren Forderungen durchsetzen können, wenn in der Zwischenzeit die USA am wirtschaftlichen Abgrund angelangt sind und die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung den Plutokraten das Vertrauen entzieht.
7. Europäische Aufsicht stärken!
Das europäische Aufsichtsystem muss weiter entwickelt werden. Zwar sind erste Schritte gemacht worden, aber sie reichen bei weitem nicht aus. So muss vor allem die nationale und supranationale Zusammenarbeit aller Aufsichtsbehörden endlich in der EU-Bankenrichtlinie verankert werden. Im nächsten Schritt muss das Kollegium der an einer internationalen Bank beteiligten Aufsichten zu verbindlichen Entscheidungen befugt werden.
Dieser Punkt betrifft zwar vordergründig nicht die europäisch-amerikanischen Beziehungen. Gelingt hier jedoch keine Einigung ist auf jeden Fall die Verhandlungsposition der Europäer gegenüber den USA nachhaltig beeinträchtigt.
8. Verbesserte Ratings!
Die Errichtung einer europäischen Rating-Agentur als Gegengewicht zu den bislang allein in den USA existierenden Agenturen sollte geprüft werden. Die Beratungstätigkeit der Ratingagenturen muss eingeschränkt werden. Ratingagenturen müssen sich verpflichten, den – weiter zu entwickelnden – IOSCO (Code of Conduct) anzuwenden. Eine europäische Agentur – ggf. das Committee of European Security Regulators – sollte Ratingagenturen registrieren und kontrollieren. Die Bedeutung von Ratings für die Beurteilung von Risiken sollte verringert werden.
Für die drei existierenden US-amerikanischen Ratingagenturen werden die USA wohl kaum eine europäische Mitkontrolle zugestehen. Sie werden deren Bewertungen von Unternehmen weiter veröffentlichen und auf Verbindlichkeit der Einschätzungen bestehen. An den Europäern liegt es, sie zu übernehmen oder zu ignorieren.
9. Zentrale und neue Rolle für den IWF!
Wir brauchen verstärkte Frühwarnkapazitäten und eine bessere Zusammenarbeit von IWF und FSF. Dazu müssen die Kernkompetenzen der beiden Institutionen zusammengeführt und ausgebaut werden. Ein gemeinsamer jährlicher Bericht von IWF und FSF könnte insbesondere die Effektivität bei der Krisenprävention erhöhen.
Die FSF (Financial Stability Forum) wurde 1999 mit dem Ziel gegründet, die internationale finanzielle Stabilität durch Informationsaustausch und Kooperation bei der finanziellen Inspektion zu erreichen. Die jetzige Finanzkrise wäre gar nicht eingetreten, wenn der Informationsfluss ausreichend und die Kooperation in der Inspektion erfolgreich gewesen wäre.
Wie will man eine engere Zusammenarbeit von IWF und FSF in Verhandlungen mit den USA erreichen, wenn die Gegenseite noch nicht einmal zur Aufgabe ihrer Sperrminorität im IWF bereit ist? Solange die USA nicht von der ihr durch Bretton Woods eingeräumten Verschuldungsmöglichkeit Abstand nehmen, sind von einer Kooperation von IWF und FSF nur geringe Erfolge zu erwarten.
10. Hedge-Fonds und Private Equity-Fonds straff regulieren;
Hedge-Fonds und Private Equity-Fonds müssen effektiver kontrolliert und reguliert werden. Wichtige Stichworte sind für uns Pflichten zur Offenlegung der Vermögens- und Eigentümerstruktur, verstärkte Aufklärungspflichten hinsichtlich der Risiken für Anleger, Einschränkung übermäßiger Fremdkapitalfinanzierung und Anlagebeschränkungen.
In diesem Punkt ist mit dem gemeinsamen Widerstand der USA, den transnationalen und weltweit agierenden Finanzinstitutionen zu rechnen. Wenn zwei US-amerikanische Hegde-Fonds seit längerem die „Deutsche Börse“ in Frankfurt am Main zerschlagen wollen, um einen lästigen Konkurrenten für die Wall Street und die City von London entscheidend zu schwächen und zugleich mit Verkauf der Aktien der „Deutschen Börse“ ein gutes Geschäft machen wollen, ist die Interessenlage eindeutig.
11. Mehr Transparenz bei Staatsfonds einfordern!
Wir begrüßen die jüngsten vom IWF moderierten Fortschritte in der Selbstverpflichtung von Staatsfonds zu stärkerer Transparenz und unterstützen weitere internationale, europäische und bilaterale Schritte zu einer konstruktiven Einbindung von Staatsfonds in das Weltfinanzsystem.
Staatsfonds waren früher wohl gelitten und stellten offensichtlich keine Gefahr dar, zumal sie sich inzwischen als willkommene Investoren an notleidenden US-amerikanischen Banken beteiligt haben. Mit ihnen verbanden sich Namen wie Abu Dhabi Investment Authority, United Arab Emirates; Rentenfonds der Regierung Norwegen; Government Investment Corp., Singapore; Zentralbank Saudi-Arabiens; Fonds für zukünftige Generationen, Kuwait; Temasek, Singapore ( die Reihenfolge ergibt sich aus der Höhe des Anlagekapitals in Mrd. US-Dollar). Als neue Namen hinzutraten wie China Investment Corporation und der Russische Staatsfond witterte man Gefahr, obwohl sie international bisher nicht zu den größten Investoren zählen. Zu einer völlig neuen Einschätzung wird man greifen müssen, wenn künftig der französische Staat ebenfalls einen Staatsfond gegründet haben wird.
12. Beteiligungsrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärken!
Die Mitbestimmung im Unternehmen ist ein wichtiges Instrument zum langfristigen Erhalt des Unternehmens und muss daher gestärkt werden. Die Sanktionen für die Verletzung der mit dem Risikobegrenzungsgesetz ausgeweiteten Informationspflichten der Unternehmen gegenüber den Betriebsräten sind deutlich zu erhöhen.
Die Mitbestimmung ist ein besonders gutes Beispiel für die grundlegenden Unterschiede in der Auffassung über die Rolle des Staates. Gemäß den obigen Ausführungen ist nicht zu erwarten, dass der langfristige Erhalt von Unternehmen in den USA von der Existenz von Betriebsräten abhängig gemacht wird. Auf diesem Gebiet wird es keinerlei Vereinbarungen mit den USA geben.
13. Steueroasen austrocknen!
Die international existierenden Steueroasen und weitgehend regulierungs- und rechtsfreie Offshore-Finanzzentren müssen trocken gelegt werden. Vor allem Steuerhinterziehung ist entschlossen zu bekämpfen. Dazu sind auch neue Wege erforderlich. Bedauerlicherweise finden sich Steueroasen und „Parkplätze für schwarze Kassen“ auch immer noch in Europa. Daher muss Europa bei deren Bekämpfung auch vorangehen. Wir fordern eine Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie mit diesem Ziel.
So lange Mitgliedsländer der EU wie das Vereinigte Königreich (Kanalinseln, Gibraltar), Luxemburg, Österreich, Frankreich (Monaco, Andorra), Spanien (Andorra) und Italien (San Marino) in Europa an Steueroasen profitieren, ist jeder Versuch, die außereuropäischen Steueroasen auszutrocknen, ein vergeblicher Versuch. Insbesondere das Vereinigte Königreich, aber auch Frankreich und die Niederlande unterhalten Steueroasen in anderen Teilen der Erde und die USA stützen einige von ihnen im erheblichen Ausmaß.
14. Deutschlands Drei-Säulen-Modell bewahren – Landesbanken konsolidieren!
Die Projektgruppe steht zum dreigliedrigen, ausgeprägt dezentral strukturierten deutschen Bankensystem aus Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Geschäftsbanken. Die Verbundstrukturen der Sparkassen und der Genossenschaftsbanken haben gerade in der aktuellen Krise ihre stabilisierende Wirkung unter Beweis gestellt. Auch aus diesem Grund lehnen wir die Umwandlung der Sparkassen in Aktiengesellschaften und andere privatrechtliche Organisationsformen ab. Der Landesbankensektor muss horizontal konsolidiert werden.
Da eine in dieser Weise geartete Bankenstruktur in den USA völlig unbekannt ist, sind auch auf diesem Gebiet Vereinbarungen mit den USA ausgeschlossen. Unter den 14 Punkten zählt die SPD noch weitere Detailforderungen auf, die hier nicht mehr ausgeführt werden.
6. Intendierter Wettbewerbsvorteil des US-amerikanisches „bailout“6„In a number of ways, the American bailout is being given fewer strings than are bailouts in European countries. While that would seem to place the American government at a disadvantage, it could rebound to its benefit if that relative leniency helps the banks to recover quickly and provides the government with a big profit on the equity stake it is receiving. Whereas some of the European plans barred banks from paying dividends on common stock until the government got its money back, and demanded promises that the banks would keep loans flowing to businesses and individuals, the U.S. government said that the banks it invested in could continue to pay dividends on existing common and preferred shares. In addition, while European banks are being required in some cases to put government representatives on their boards of directors, the American government will not receive board representation or have voting power.” (Floyd Norris, ibd.).
Zusammengefasst vertritt Norris die Auffassung, dass die USA Zeit gewinnen sollten, um zum nächst günstigen Augenblick wieder zu ihrer hegemonialen Position zurückkehren zu können. Die von der Bush-Administration und der Notenbank getroffenen Maßnahmen würden der Finanzindustrie nur sehr milde Regularien auferlegen, so dass sie die Chance erhielte, sich sehr viel schneller von der Krise zu erholen als ihr europäisches Pendant. Setzt sich in den USA dieser Plan B durch, stehen die europäischen Regierungen an einem entscheidenden Wendepunkt: Ist man bereit, im Verhältnis zu den USA eine Position von gleich zu gleich durchzusetzen oder lässt man sich ein weiteres Mal spalten, indem jede Regierung ihr Verhandlungsglück auf eigene Faust sucht? Die USA wären letztlich die Gewinner und würden den Europäern nach gelungener Zeitverzögerung erneut das Schild „Follow me!“ zeigen.
James K. Galbraith drückt es in seinem Artikel „Die Weltfinanzkrise – und was der neue US-Präsident tun sollte“, Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11’08, S.57, etwas freundlicher aus: „Der neue Präsident sollte sich darauf einstellen zu erklären, dass die Führungsrolle in einer Weltgemeinschaft – die Aufgabe, kollektives Handeln im großen Maßstab anzuführen – die wahre Bestimmung der Vereinigten Staaten ist.“ Auch er träumt noch von der Rückgewinnung der „technischen Führungsrolle“ der USA, nachdem sie die „finanzielle Hegemonierolle“ verloren hätten. Aber nach der Ära Bush wird es wohl kein Zurück zum Status der „wohlwollenden Hegemonie“ früherer Jahrzehnte geben.
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1 Alan Greenspan am 23. 10. 2008 bei einer Anhörung vor einem Ausschluss des US Kongresses: „Ich habe falsch gelegen mit der Annahme, dass Organisationen – speziell Banken – aufgrund von Eigeninteresse ihre Aktionäre und ihr Firmenkapital am besten schützen können“ (Andreas Oswald in Tagesspiegel, 25.10.2008). Die US-amerikanische Globalisierungsstrategie erwähnte er jedoch nicht.
2 Methodologisch betrachtet kann der Staat über, unter, neben oder im Zentrum der Gesellschaft platziert werden. Würde streng hierarchisch vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen, nähmen entweder die Gesellschaft oder der Staat die Spitzenposition ein und bestimmten die jeweils nachgeordnete Kategorie vollständig. Für den Staat blieben dann für die einen beispielsweise lediglich Nachhutgefechte einer dynamisch voranschreitenden Gesellschaft übrig, während ihn die anderen gerade umgekehrt sogar zum Motor der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung erklärten. Stünde der Staat sogar im Zentrum der Gesellschaft, um das sich alles dreht, wäre er die allein bewegende Kraft des aus ihm selbst und seinen gesellschaftlichen Ausstülpungen bestehenden Ganzen. Die um ihn kreisenden gesellschaftlichen Bereiche wären bestenfalls mit einem Mindestmaß an Autonomie ausgestattet. Würden Gesellschaft und Staat jedoch als zwei nebeneinander existierende und sich teilweise überlappende unterschiedliche gleichwertige Pole herausgearbeitet, stünde ihre gegenseitige Angewiesenheit und Beeinflussung im Zentrum der Analyse. Letztere Sichtweise findet ihre Entsprechung in der historischen Entwicklung von Staat und Gesellschaft.
3 Am 30. Oktober 2008 übernimmt „T-online“ einen Artikel der „Washington Post“ und titelt: „US-Banken zahlen üppige Dividenden dank Staatshilfen“. Danach planen die 33 Banken, die das Rettungspaket der Regierung abrufen, allein im laufenden Quartal Dividendenzahlungen in Höhe von rund sieben Milliarden Dollar. In den nächsten Jahren könnten sich die Dividenden bei den Banken auf 3,3 Milliarden Dollar summieren. Von den Zahlungen profitieren jetzt auch vermögende institutionelle Aktionäre.
4 In der Selbsterhaltung von Gesellschaften steht dem instabilen formlosen Gegenhalt, den die hegemonialen Formationen aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehens-und Vergehenszeiten sowie ihres regelmäßig gewordenen Gegensatzes bilden, der Staat als institutionalisierte Kraft gegenüber. Zwar fehlt auch ihm – wie allen anderen Akteuren – der sichere Blick in die Zukunft, aber bereits gut erkennbaren Fehlentwicklungen kann er durchaus rechtzeitig entgegensteuern. Aus der umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zum Zwecke der Selbsterhaltung von Gesellschaften ragen folgende hervor, die auch unabhängig von der Entgrenzung der bisherigen Zirkulationssphären bestehen bleiben:
- Unterstützung aufsteigender hegemonialer Formationen gegen bereits etablierte,
- das ständiges Ausloten von Flexibilitätsspielräumen und -grenzen hegemonialer Formationen,
- seine Schlichtertätigkeit (mit oder ohne Rückgriff auf das vom Staat ausgeübte Gewaltmonopol),
- das Offenhalten des öffentlichen Raumes und darin des Feldes der Diskurse für die Aktivierung und Reaktivierung flottierender Elemente.
5 Die Bestimmung des Fair Value durch die International Financial Reporting Standards (IFRS) ist keinesfalls eindeutig. Die IFRS kommen ohne Hilfslösungen nicht aus und räumen den Unternehmen Wahlrechte und Ermessensspielräume ein. „Je weiter die gewählte Ausprägungsform des Fair Value vom Marktpreis entfernt ist, desto geringer ist die Nachvollziehbarkeit des gewählten Ansatzes und desto stärker wird der Weg zu einer entobjektivierten Bilanz beschritten.“ Professor Karlheinz Küting, Direktor des Saarbrückener Instituts für Wirtschaftsprüfung, plädiert deshalb in seinem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) dafür, dass weniger die Theorie bei der Bilanzierung an erster Stelle stehen sollte, sondern „was in der Praxis umsetzbar oder überhaupt von Bedeutung ist“. (kib in LexisNexis – Deutschland, Beitrag Nr. 113890 vom 21.03.2007).
6 aus der Patsche helfen
3. November 2008
Reinhard Hildebrandt
Wege aus der Krise in die „Hölle“
So notwendig es war, die amerikanischen Banken auf dem Höhepunkt der Finanzkrise mit frischem Kapital zu versorgen, stellen sich gleichzeitig viele drängende Fragen: wie kann eine galoppierende Inflation vemieden werden? Kommt es zu einer neuen spekulativen Blasenbildung? Werden die Europäer größere wirtschaftspolitische Unabhängigkeit entwickeln? Und vor allem: haben Regierungen den Mut, das globale Finanzcasino zu schließen? Fragen über Fragen, deren Beantwortung auch darüber entscheiden wird, ob diese Krise mit friedlichen Mitteln beigelegt werden kann oder nicht.
1. Aktuelle Ausgangslange – Drohende Inflation als Grundproblem
Als „Weg in die Hölle“ bezeichnete der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek die Krisenbewältigungspolitik des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama (t-online.de, 25.3.2009). Die Konjunkturhilfen seien sogar geeignet, die Stabilität der globalen Finanzmärkte zu untergraben. Zur Finanzierung ihrer Konjunkturstützungsmaßnahmen müssten die USA Staatsanleihen auf den Markt bringen, für die es zur Zeit keine Käufer gäbe. [1] Zwei Fragen sind zu beantworten: Wann droht eine Inflation und wie können inflationäre Entwicklungen rechtzeitig gestoppt werden?
Tatsächlich hat sich die Notenbank der USA (FED) gezwungen gesehen, die Staatsanleihen aufzukaufen. Denn liegen keine oder nicht genügend Kauforder privater Käufer vor, erhält der Staat zwar „frisches Geld“ im Umfang der von der Notenbank aufgekauften Anleihen, aber diesem Betrag steht keine gleichgroße Reduzierung der Geldmenge im außerstaatlichen Sektor gegenüber. Für die Zeit der Geltungsdauer der Schuldverschreibungen erhöht sich die gesamte im Umlauf befindliche Menge an US-Dollar, d.h. das Inflationspotential wächst. Erst wenn der Staat zu einem späteren Zeitpunkt seine Schuldverschreibungen von der Zentralbank zurückfordert und den Gegenwert in Geld einzahlt, reduziert er das entstandene Inflationspotential wieder.
Topolaneks Kritik ist jedoch für Krisenzeiten ungerechtfertigt, in denen das Interbankengeschäft zum Erliegen gekommen ist. Gewähren sich Banken aufgrund fehlenden Vertrauens gegenseitig keine Kredite mehr, sinkt die auf dem Finanzmarkt zirkulierende Geldmenge drastisch. Der Staat hilft aus, indem er „frisches Geld“ in den Markt pumpt.
Steigt jedoch das Vertrauen der Banken untereinander und der Interbankenhandel erreicht wieder einen der Realwirtschaft angemessenen Umfang, kann die von Regierung und Notenbank vergrößerte Geldmenge durchaus die Grundlage für eine inflationäre Entwicklung legen, denn sofern der Staat bei der Notenbank seine Schuldverschreibungen nicht einlöst, sondern sogar sein Haushaltsdefizit noch erhöht und die Zentralbank weiterhin keine privaten Käufer für die in ihrem Depot befindlichen Staatsschulden findet, steigt das Inflationspotential erheblich.
Zur Vermeidung einer solchen Entwicklung sollten die in der Bewältigung der jetzigen Finanzkrise engagierten Staaten bis dahin erreicht haben, dass die globalen Finanzoperationen der Banken, Hedgefonds, Private Equity Unternehmen und Pensionsfonds stärker reguliert werden. Andernfalls steht die nächste Blasenbildung mit noch verheerenderen Folgen ins Haus.
2.US-amerikanische Globalisierungsstrategie als Ursache der gegenwärtigen Finanzkrise
Die europäischen Staaten, Japan und einige Schwellenländer müssen ihre kritiklose Übernahme amerikanischer Globalisierungsstrategien endlich beenden. Dieser Strategie, die bereits in der ersten Amtsperiode Bill Clintons konzipiert und in ersten Maßnahmen umgesetzt wurde, hatte man diesseits des Atlantiks und jenseits des Pazifiks nicht nur wenig entgegen zu setzen, sondern teilweise unterwarf man sich ihr im vollen Bewusstsein über die Folgen für andere Gesellschaftsmodelle.
Das Bekenntnis des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vom Herbst 1998, wonach mit ihm „keine Politik gegen die Wirtschaft zu machen“ sei, zeugte zwar von einer gewissen Distanz zu den Vorgaben aus den USA, aber eine Gegenstrategie war aus seinen Worten nicht ablesbar. Dem Diktum des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Josef Breuer, „die Struktur der internationalen Finanzmärkte spiegelt die Wertegemeinschaft der westlichen Welt wider“, und der Behauptung des damaligen Bundesbankpräsidenten Tietmeyer, „Meine Herren, Sie sind jetzt der Herrschaft der Finanzmärkte unterworfen“, hatte Schröder außer Beschwichtigungsworten nichts entgegen zu setzen (einführende Worte Oskar Lafontaines zum Buch Heiner Flassbecks mit dem Titel „Gescheitert“, in: „ Das Casino schließen – der Ökonom Heiner Flassbeck zur globalen Finanzkrise“ von Frank Hahn, Solon-line, 25. März 2009).
Auch der von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück geäußerten Meinung, die deutsche Bundesregierung sei über die Jahrhundertwende aus Sorge um die Erhaltung des Finanzplatzes Frankfurt am Main für die Marktliberalisierung und die Innovation von Finanzprodukten „offen“ gewesen, ist zwar die Strategie der Anpassung zu entnehmen, aber nicht die Entfaltung einer Gegenstrategie (Peer Steinbrück, „Warum die Krise eine Zäsur ist“, Die Zeit, 26. 4. 2009).
Britische Regierungen hatten ausschließlich die Stärkung des Finanzplatzes London vor Augen. So lange die City von London der Labourregierung genügend Steuereinnahmen einbrachte, um ihre Sozialprogramme zu finanzieren, beharrte sie auf ihrer Sonderstellung zu den USA und übernahm jede Maßnahme – sinnvoll oder nicht – , die über den Atlantik herüberschwappte.
In Japan, China und Indien zeigte man sich dankbar für die Aufblähung der Finanzmärkte und die Verschuldungspolitik der USA. Die Exportchancen für ihre Industrie- und Dienstleistungsprodukte wären ohne eine solche US-amerikanische Politik viel geringer gestiegen.
Mit den weitreichenden Folgen ihrer Unterwerfung unter die US-amerikanische Globalisierungsstrategie haben gegenwärtig alle etablierten Industrieländer, sämtliche industriell aufschließenden Schwellenländer und ganz besonders die in ihrer industriellen Entwicklung noch zurückliegenden Dritteweltländer zu kämpfen. Bisher ist noch nicht einmal sicher, ob die Stabilisierung der Finanzmärkte gelingt.
3. Schließung des globalen Finanzcasinos als Krisenbewältigungsstrategie für die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise
3.1 Maßnahmen zur kurzfristigen Stabilisierung der Finanzmärkte
Eine Hiobsbotschaft nach der anderen zwang die Staaten zum Eingreifen. So stellte sich die Übernahme von Merrill-Lynch durch die Bank of America als Schuldenfass ohne Boden heraus und kostete den Chef der Übernahmebank letztlich seinen Posten. Die den amerikanischen Hypothekenmarkt beherrschenden großen amerikanischen Hypothekenbanken Freddy Mac und Fanny Mae benötigten zum Überleben dringend weitere Staatshilfen in Milliardenhöhe. Der weltweit engagierte Versicherungsriese American International Group (AIG) musste vom Staat vor dem Kollaps gerettet werden, weil im Falle eines Zusammenbruchs dem globalen Finanzmarkt unabsehbarer Schaden drohte. Immer mehr Private Equitiy Funds zeigten sich nicht mehr in der Lage, den für sie lebenswichtigen Zirkel von „raise money, invest it, add lashing of debt, dress up the portfolio of companies and sell them at a profit“ zu schließen. „The number of private equity firms that completed fund-raising efforts in the first quarter fell by more than 70 percent from the first quarter of last year“ (Lauren Silva Laughlin, „Buyout fund investors now in the driver’s seat“, International Herald Tribune, April 15, 2009). Weitere britische Banken gingen in staatliche Hände über. Sämtliche isländischen Banken wurden verstaatlicht. Kunden der schweizerischen UBS-Bank entzogen der Bank Einlagen in Milliardenhöhe, und nach ihrem Milliardenverlust kündigte die Bank einen Stellenabbau in Höhe von 8700 Stellen an (Frankfurter Rundschau, 16.4.2009). Die belgische Fortis-Bank hatte im Jahre 2008 einen Verlust von 20,6 Milliarden Euro hinzunehmen (Tagesspiegel, 15.4.2009). Amerikanische Lebensversicherer hatten nicht nur einschneidende Wertverluste der in ihrem Besitz befindlichen Hypothekenpapiere zu verkraften, sondern mussten außerdem mit zunehmenden Zahlungsausfällen vom Konkurs bedrohter Unternehmen rechnen. Am Horizont tauchte im April 2009 als nächstes Debakel der drohende Zusammenbruch der wichtigsten amerikanischen Kreditkartenfirmen – Mastercard, Visa American Express, Capital One, HSBC, Citigroup, Wells Fargo und Bank of America – auf.
Obwohl sich laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die Verluste der weltweiten Finanzwirtschaft inzwischen auf vier Billionen US-Dollar addierten und in den Bankbilanzen massenhaft weitere faule Papiere lagern sollen, über deren Entsorgung noch gestritten wird (Tagesspiegel, 20./22.4.2009), verzichteten Bankmanager oftmals nicht auf die ihnen in besseren Zeit zugesicherten Bonuszahlungen und riefen mit ihrer Verhaltensweise den Zorn der Weltöffentlichkeit hervor. Noch mehr Ärger entstand, als US-Banken den durchsichtigen Versuch unternahmen, aufgrund geänderter Bilanzregeln wieder Gewinne auszuweisen, und den scheinbaren Erfolg als Anlass nahmen, sich den Stresstests der amerikanischen Regierung zur Ermittlung der den Banken verbliebenen Eigenkapitalbasis zu entziehen und insgesamt der staatlichen Aufsicht zu entfliehen. Immerhin müssen sich nach ersten Berichten rund die Hälfte der US-Großbanken zur Überwindung der Finanzkrise offensichtlich erneut frisches Kapital beschaffen (Frankfurter Rundschau, 6.5. 2009). Allein die Bank of America hat laut „Wall Street Journal“ offenbar einen zusätzlichen Finanzbedarf von 35 Milliarden US-Dollar und nach einem Bericht der „New York Times“ benötigt die Citigroup fünf bis zehn Milliarden und Wells Fargo 15 Milliarden (Tagesspiegel, 7.5.2009).
Trotz der verheerenden Ergebnisse der neoliberalen Deregulierungspolitik zweifeln Banker weiterhin an der Weisheit neuer Regulierungen. „The biggest issue for banks – and indeed insurance companies – is whether the accounting rules are sensible“, stellte Charlie McCreevy fest, European commissionar for the internal market and services, in einem Interview mit Karina Robinson (International Herald Tribune, April, 11-12, 2009). Aber bei aller verständlichen Abneigung vieler Bankmanager gegen die Entmachtung durch den Staat sei jedoch unabweisbar, meinte Martin Hellwig, das System der Bankenregulierung langfristig „völlig neu“ zu konzipieren (Interview mit Robert Heusinger „Dieses System ist katastrophal“, Frankfurter Rundschau, 7. 4. 2009). Welche Gestalt es annehmen könnte, war bereits Gegenstand der Erörterungen auf dem Gipfel der G-20 in London Anfang April 2009.
3.2 Langfristige Reform des Finanz- und Wirtschaftssystems
Die Befürchtung der Kontinentaleuropäer, dass die USA und Großbritannien auf der Londoner Konferenz der G-20 ausschließlich für massive Konjunkturbeihilfen plädieren und die anstehende Regulierung der Finanzmärkte vernachlässigen würden, erwies sich als unbegründet. Da den angloamerikanischen Repräsentanten schon vor Konferenzbeginn deutlich vor Augen stand, dass die im Euroraum zusammengeschlossenen Länder auch ohne die Zustimmung des Vereinigten Königreichs und die Vereinigten Staaten einschneidende Regelungen treffen können, verzichteten sie auf eine Konfrontation. Insbesondere die Vertreter der USA mussten eingestehen, dass das enorme Ungleichgewicht zwischen dem einem Fünftel des US-amerikanischen am Weltbruttosozialprodukt und dem Anteil des US-Dollars an den von allen Zentralbanken gehaltenen Währungsreserven von ungefähr 75 Prozent dringend einer Korrektur bedurfte. Unüberhörbar war der Ruf chinesischer Repräsentanten geworden, den US-Dollar als vom Internationalen Währungsfonds allein anerkannte Weltreservewährung durch ein Bündel von Währungen oder eine gemeinschaftlich getragene und verantwortete Weltreservewährung abzulösen. Schon bevor in den darauf folgenden Monaten entsprechende Beschlüsse des IWF gefasst werden konnten, entkleideten die in London versammelten Repräsentanten der G-20 den IWF seiner bisherigen Funktion, lediglich wie bisher als verlängerter Arm globaler Politikstrategie der USA zu dienen. Statt dessen sollte er wieder vor allem zur Risikotragfähigkeit des gesamten globalen Finanzsystems auf entscheidende Weise beitragen. Am 23. April 2009 sprach sich erstmals sogar der IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn für eine Aufhebung des Vetorechts der USA aus (Focus Magazin Finanzen, 24.4.2009).
Der Druck auf Steueroasen wurde ebenfalls verstärkt. Kooperationswillige Steueroasen sahen sich in einer grauen Liste aufgereiht (Caymaninseln, Liechtenstein, Österreich, Belgien, Chile, Monaco, Niederlande, Luxemburg, Singapur, Schweiz) und vorrübergehend unwillige in einer schwarzen (Costa Rica, Malaysia, Philippinen, Uruguay). Obwohl die USA auf der weißen Liste der „Gutwilligen“ standen, blieb die künftige steuerverschleiernde Funktion einzelner Unionsstaaten der USA (z.B. Delaware) unerwähnt.
Die Konferenz endete mit einer vagen Absage an den Protektionismus (dem krisenverschärfenden Resultat der Weltwirtschaftskrise 1929/34) und dem Versprechen, Abwertungswettläufe zu verhindern. Alle Regulierungslücken auf dem Finanzmarkt sollten geschlossen werden. Das internationale Aufsichtsgremium Financial Stability Board (FSB) sollte zwar gestärkt, aber lediglich die bedeutenden Hedgefonds kontrolliert werden. Außerdem ist noch völlig unklar, ob dieses oder ein anderes Gremium in die Lage versetzt würde, eine antizyklische Regulierungspolitik durchsetzen zu können. Welche Staaten wären bereit, für dieses Gremium einen Teil ihrer bisher scheinbar souveränen Geld- und Finanzpolitik abzutreten?
Die Weltbank schnürte nach der G-20-Konferenz für noch wenig industrialisierte Länder, die selbst noch nicht in der Lage seien, eigene Hilfsprogramme zu finanzieren, ein milliardenschweres Investitionspaket. Diskutiert wurden außerdem bereits unterschiedliche Modelle über die Errichtung sogenannter Bad Banks, mittels derer Banken ihre problematischen Wertpapiere entsorgen können (Stephan Kaiser, „Regierung einigt sich auf Bad Banks“, Tagesspiegel, 22.4.2009). Nach dem schwedischen Beispiel, ausführlich zitiert im Interview mit Martin Hellwig, würden alle Banken zunächst verstaatlicht bzw. unter staatliche Obhut gestellt und danach in eine „schlechte“ und eine „gute“ Bank aufgeteilt. Die „schlechte“ Bank verbliebe beim Staat und die „gute“ Bank würde privatisiert. Die „schlechte“ Bank behielte die zweifelhaften Wertpapiere und würde mit der Zeit abgewickelt. Die „gute“ Bank erhielte die guten Wertpapiere sowie die Einlagen der Kunden und außerdem genügend Eigenkapital vom Steuerzahler. Gewinne der „guten“ Bank kämen auch dem Eigenkapital der „guten“ Bank zugute, das sich im Besitz der „schlechten“ Bank befände. Im Falle einer letztendlich unvermeidlichen Insolvenz der „schlechten“ Bank würde der Steuerzahler von den Gewinnen der „guten“ Bank profitieren und die enteigneten Altaktionäre gingen leer aus. Gelänge es, am Ende die „schlechte“ Bank solvent zu stellen, würden auch die Altaktionäre profitieren (ebd.).
Für die globale Bereinigung der Finanzkrise schlug Heiner Flassbeck folgende Regelung vor: „Den finanziellen Giftmüll aus den Bilanzen der Banken zu entfernen, ist technisch einfach. Wir müssen am besten eine internationale Clearing-Stelle einrichten, über die der Giftmüll abgewickelt wird, damit die Banken sich wieder dem Kerngeschäft der Kreditvergabe widmen können.“ (ebd.). Wieviel Zeit noch verstreichen wird, bis die Kreditmärkte wieder funktionieren, ist noch nicht abzusehen. Sehr viel dringlicher erscheint inzwischen die Ankurbelung der Realwirtschaft, die unter der Finanzkrise leidet und mancherorts bereits kurz vor dem Kollaps steht.
In den führenden Industrienationen ist das Bruttoinlandsprodukt im letzten Quartal 2008 und im ersten Quartal 2009 bereits um sechs Prozent zurückgegangen. In der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise geht es mit der Entwicklung rasanter bergab als in der Weltwirtschaftskrise 1929 (Thomas Fischermann, „Schneller – aber auch tiefer?“, Die Zeit, 16. 4. 2009). Konjunkturforscher streiten darüber, ob die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Zeit als horizontal langgestreckte U-Form oder als ausgestreckte L-Form mit geringer Aussicht auf Wiederbelebung zu bezeichnen ist. Von einer Spitzkehre nach steilem Abstieg und einem erhofften ebenso steilen Aufstieg träumt niemand mehr.
Unternehmensanleihen sind an den Börsen jetzt immer günstiger zu haben. Insolvenzverwalter bei Unternehmen und Staaten haben Hochkonjunktur. Die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China versagen zunehmend als Puffer für die alten Industrieländer. Zurückbeorderte Kredite, die an weniger entwickelte Dritteweltländer und osteuropäische Länder in der Vergangenheit ausgegeben wurden, lassen deren Volkswirtschaften ins Bodenlose sinken und zugleich legen Überschussländer bei Landkäufen ihre Devisen zunehmend in einigen Dritteweltländern inflationssicher an (Marie-Béatrice Baudet et Laetitia Clavreul, „Les terres agricoles, de plus en plus convoitées“, Le Monde, 15 April 2009). Massenarbeitslosigkeit breitet sich aus.
Die Kosten für die Rettung des Bankensektors in den USA und andernorts und für die Ankurbelung der Wirtschaft (z.B. die Autoindustrie) steigen in astronomische Höhen, obgleich nicht sicher ist, ob die angestrebten Ziele wirklich erreicht werden. Die USA werden zum Vorreiter in der Austrocknung von Steueroasen (Reuters, SNAP ANALYSIS – „Obama takes first step in tax overhaul“ May 4, 2009). Das neue europäische Finanzaufsichtssystem soll nach dem Willen der Europäischen Kommission bereits 2010 fertig gestellt sein, und nach vorsichtigen Prognosen kann erst im Jahre 2011 mit einem Ende der Krise in der Realwirtschaft gerechnet werden.
Was jedoch unbeeindruckt von den wirtschaftlichen Abwärtsbewegungen boomt, ist die Waffenproduktion und der Handel mit Waffen. Laut Sipri stehen die USA (34,9 Mrd. Dollar) und Russland (28,5 Mrd. Dollar von 2004 bis 2008) an erster und zweiter Stelle der größten Waffenexporteure. Dahinter folgen Deutschland (11,5 Mrd.) und weitere europäische Länder (Frankfurter Rundschau, 28. 4. 2009). Die größten Waffenimporteure im Zeitraum von 2004 bis 2008 sind China (13. Mrd.), Indien (8,2 Mrd.), Ver. Arab. Emirate (7,1 Mrd.), Südkorea (6,9 Mrd.), Griechenland (4,8 Mrd.) und Israel (4,6 Mrd.). Entlang der Konfliktlinien einiger dieser Länder mit anderen könnten künftig Kriege entstehen, für deren erfolgreiche Austragung schon jetzt in vorwiegend der Aufrüstung dienenden Arbeitsbeschaffungsprogrammen Vorsorge getroffen wird.
4. Ein historischer Rückblick – Alternativstrategien zur Überwindung von Weltwirtschaftskrisen
Erfolgreiche und misslungene Beispiele aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigen auf, zu welchen alternativen Maßnahmen Staaten gegriffen haben, um die schädlichen Wirkungen von Finanzkrisen, die durch das Platzen von Kreditblasen hervorgerufen wurden, einzudämmen. Zu solchen Krisenbewältigungslösungen zählen unter anderem die Ankurbelung der Rüstungsindustrie in Kriegsvorbereitungsstrategien, ebenso die kreditfinanzierte Erneuerung der Infrastruktur und/oder die staatlich geförderte Entwicklung neuer Technologien, aber auch die umfassende Restrukturierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Auf die 1929 ausgebrochene Weltwirtschafskrise antworteten die USA und Deutschland z.B. auf sehr unterschiedliche Weise.
4.1 New Deal in den USA
Ab dem 14. Oktober 1929 war die Stimmung an der New Yorker Börse gekippt. Die Verkäufe von Wertpapieren schnellten in die Höhe. Der Ausverkauf erreichte bis zum 29. Oktober 1929 Panikdimensionen. Die von Roosevelts republikanischen Vorgänger Hoover verfolgte Politik der Senkung von Steuern und Zinsen als Mittel gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die Wiederankoppelung der Währungen an das Gold (nicht nur in den USA) scheiterte.
Dem von Roosevelt propagierten New Deal lag kein inhaltlich ausgefeiltes Programm zugrunde. Unter dem Zwang, kurzfristig Ergebnisse zu erzielen, verabschiedete der dann demokratisch zusammengesetzte Kongress kurz nach dem Amtsantritt Roosevelts am 4. März 1933 in einer „100-Tage“-Notsitzungsperiode eine Serie von Gesetzen über Staatseingriffe in Finanzsektor und Wirtschaft, wie beispielsweise die Regulierung des Finanzwesens, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Sozialhilfemaßnahmen, Wirtschaftsförderung, Marktregulierung der Landwirtschaft, Regionalentwicklung, staatliche Unterstützung für Wohneigentümer bei drohender Zwangsversteigerung und die Aufhebung des Goldstan-dards.[2]
Zu den Erfolgen des New Deal zählten erstens die Verhinderung einer Bankenpanik und eines darauf folgenden Zusammenbruchs des gesamten Finanzsystems im Frühjahr 1933 und zweitens eine geringere Zunahme der bis zum Winter 1933-34 massiv gestiegenen Massenarbeitslosigkeit. 1934 lag das amerikanische Bruttoinlandsprodukt zwar 15 Prozent über dem von 1933, aber noch 15 Prozent unter dem von 1932 (Michael Liebig, „War on the Depression“ – Der Erste New Deal (1933-34) und sein Vorläufer: die War Mobilization (1917-18). „The New Deal mobilization of 1933-34, from which so much had been expected, brought disappointing economic returns“, urteilten Braeman / Leuchtenburg (Braeman, John (Hrsg.): Change and Continuity in 20th Century America, New York, 1964; darin: Leuchtenburg, William: The New Deal and the Analogy of War, S. 127).
Da die Maßnahmen zur Kriegsmobilisierung 1917-18 als Vorbild für den ersten New Deal gedient hatten, konnte in seiner Neuauflage auch umgekehrt wieder auf diese Ursprünge zurückgegriffen werden. Der zweite New Deal diente der Vorbereitung des Kriegseintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg. Damit rückten US-amerikanische Maßnahmen in die Nähe von Krisenbewältigungsstrategien, die andernorts sehr viel früher mit Priorität verfolgt wurden.
4.2 Krisenbewältigung durch Aufrüstung in Deutschland
Die Industrieproduktion sank in Deutschland um 50 Prozent. Um das Handelsbilanzdefizit auszugleichen und die Exportwirtschaft zu stärken, reagierte die Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning mit Notverordnungen zur Reduzierung der Staatsausgaben, der Kürzung der Beamtengehälter, der Erhöhung der Steuern, Sozialausgaben und Zölle, der Senkung der Löhne der Beschäftigten um bis zu 50 Prozent. Jeder dritte verlor seinen Arbeitsplatz. 1933 waren sechs Millionen arbeitslos und 23,3 Millionen Deutsche lebten von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Angesichts der mit diesen Maßnahmen verknüpften drastischen Umverteilung von Einkommen aus Lohn auf Einkünfte aus Unternehmertätigkeit nahm die Demokratieverdrossenheit in der Bevölkerung kräftig zu, radikale Parteien fanden lebhaften Zuspruch und soziale Unruhen breiteten sich aus.
Die nach den Reichstagswahlen erstarkte Nationalsozialistische Partei Deutschlands (NSDAP) unter Adolf Hitler profitierte nicht nur von den harten Maßnahmen der Regierung Brüning, sondern setzte gleich nach ihrer Machtergreifung ein beschäftigungswirksames Aufrüstungsprogramm in Gang, das zwar die Massenarbeitslosigkeit reduzierte, aber zugleich der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs diente. Der „New Deal“ der Nationalsozialisten zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise war von Anfang an rüstungsorientiert, wurde von der deutschen Schwerindustrie mit Beifall quittiert und fand auch den Zuspruch der führenden Banken.
5.Schlussfolgerungen
Protektionismus, eine prozyklische Finanz- und Haushaltspolitik, engstirniger Nationalismus, nicht aufgegebene Hegemonieansprüche, Revanchismus und Angst vor sozialen Unruhen bestimmten die vorherrschenden Handlungsweisen vor und nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Geschichte wiederholt sich zwar nicht in den gleichen Formen, aber gleiche Konstellationen können durchaus gleiche Antworten herbeiführen. Die bisherigen Bewältigungsstrategien der Finanz- und Wirtschaftskrise weisen noch in eine andere Richtung. Sobald jedoch zwischen den USA und Europa die Frage zur Beantwortung anstehen wird, ob der angloamerikanischen oder der kontinentaleuropäischen Form von Kapitalismus oder – global betrachtet – der chinesischen mehr Bewältigungskraft zuzutrauen ist, taucht die Gefahr auf, dass Frontlinien gezogen werden und militärischen Aspekten wieder mehr Bedeutung zugemessen wird. Die weltweite Aufrüstung würde dann die gestiegenen Ängste auf bequeme Weise bedienen und – zugleich als noch verbliebenes und bisher nicht ausreichend genutztes Mittel – zur Überwindung der Krise angepriesen werden.
Anmerkungen
[1] Jörg Assmussen, Staatssekretär im Finanzministerium, Jens Weidmann wirtschaftspolitischer Berater der Bundeskanzlerin Merkel, beide starke Befürworter und Beförderer der Deregulierung der vergangenen Jahre und ausgebildet von Professor Axel Weber, heute Bundesbankpräsident und ebenfalls Anhänger der neoklassischen Theorie, sind Beispiele einer einseitigen Auswahl von Führungspersönlichkeiten, die jetzt eine Finanzkrise bewältigen sollen, die sie selbst mit herbeigeführt haben. Sie haben den Staat ausschließlich als Diener des Marktes begriffen und das komplexe Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich weder vor noch in oder nach ihrem Studium der Volkswirtschaft in ihr Blickfeld genommen.
[2] Der Boom der US-Wirtschaft zwischen 1925 und 1929, angetrieben von der beginnenden Innovationswelle um das Auto sowie elektrische Haushaltsgeräte herum (Autoindustrie plus Straßenbau, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Teilzahlungskredite, Versicherungen, LKW-Logistik usw.), wurde ab 1927 von einer Politik des „billigen Geldes“ der Federal Reserve begleitet. Diese expansive Geldpolitik war ein wichtiger Faktor für die Zunahme der Börsenspekulation, insbesondere des kreditfinanzierten Kaufs von Wertpapieren. Als die Federal Reserve Ende 1928 gegenzusteuern begann, hatte die Börsenspekulation bereits eine solche Eigendynamik entwickelt, dass die Kreditverknappung an der Börse keine Wirkung mehr zeigte.
18. Mai 2009
Reinhard Hildebrandt
Die amerikanische Finanzkrise und die massive Verschuldung
der USA
1. Einführung
In der gegenwärtig stattfindenden Neuordnung der globalen Wechselbeziehungen der Mächte, die vornehmlich zu Lasten der USA geht, sehen sich die USA außerdem der Gefahr der Isolierung durch eine Finanzkrise gegenüber, verstärkt durch eine massive, bereits seit längerem zu beklagende wachsende Haushaltsverschuldung und ein weiterhin hohes Handelsbilanzdefizit. Künftig wird die amerikanische Wirtschaft noch weniger in der Lage sein, die Exportgüter der übrigen Welt aufzunehmen.
Nach Ansicht von Joseph Stiglitz ist die wirtschaftliche Abwärtsentwicklung die unmittelbare Folge des Irakkrieges. Bevor die USA den Krieg begannen, bewegte sich beispielsweise der für die amerikanische Wirtschaft ausschlaggebende Preis für Erdöl um die Marke von 25 Dollar pro Barrel. Jetzt ist der Preis auf über 100 Dollar gestiegen, und nach Stiglitz‘ Berechnung bildet der Krieg einen der wesentlichen Faktoren dieses krisenverstärkenden Preisanstiegs. Aber die Behauptung Stiglitz‘, der Irakkrieg sei seit dem Unabhängigkeitskrieg der erste Krieg, der durch das Ausland finanziert worden sei, ist falsch. Er hat den Golfkrieg vor mehr als zehn Jahren übersehen, der von Deutschland und Japan größtenteils finanziert wurde. Im Falle des gegenwärtigen Irakkrieges wollten sich die Invasionsmächte USA und Großbritannien durch Erdöllieferungen aus dem von Saddam Hussein befreiten und nun von ihren Truppen besetzten Irak schadlos halten. Aber aufgrund der länger als erwartet zerstörten und noch nicht wieder vollständig hergestellten Pipelines wurde bisher nur ein Bruchteil der gesamten Kriegskosten vom Irak selbst bezahlt. Den größeren Teil der offenen Rechnung wird China bezahlen müssen, und zwar aufgrund des Wertverlustes der von der chinesischen Zentralbank gehaltenen amerikanischen Schatzanleihen, die vom US Dollarverfall betroffen sind.
Die Abwertung der amerikanischen Währung stellt mehr dar als nur einen empfindlichen Schlag für das amerikanische Selbstbild: Es untergräbt die Position des amerikanischen Dollar als führende Weltreservewährung. Schon jetzt ist ein Wechsel zum Euro als einer zweiten Weltreservewährung, die zum Dollar in Konkurrenz treten wird, absehbar. Die wachsende Haushaltsverschuldung und ein nur wenig sinkendes Handelsdefizit bezeugen die zunehmende Schwäche der amerikanischen Wirtschaft. „Die Arbeitsplätze, die durch den Welthandel zerstört werden, sind weitaus bedeutender als die, die durch ihn geschaffen werden“, bemerkte Alan S. Binder am 7. Januar 2008 in der International Herald Tribune – diese Zwickmühle lässt auch das Vertrauen der Amerikaner in die Globalisierung schwinden, die zuvor als unverzichtbare Quelle amerikanischer Stärke angesehen wurde.
2. Die Finanzkrise
Wenn reale Produktion und Finanzwirtschaft weit auseinanderdriften und der Kreislauf des Finanzkapitals sogar seinen unabdingbaren Rückhalt in der Güterproduktion verloren hat, droht eine Wirtschaftskrise. Im Folgenden einige Indikatoren, die auf eine Krise hindeuten:
2.1. Höhere Gewinne bei Finanzinvestitionen als in der Güterproduktion
Wenn in Finanzanlagen investiertes Kapital in einer Wirtschaft höhere Gewinne erzielt als in der Produktion von Waren, verlangsamt sich zunächst die Modernisierung der Fabriken und es droht die Gefahr, den Anschluss an die Entwicklung der im näheren und weiteren Umfeld konkurrierenden Volkswirtschaften zu verlieren. Wenn der Entwertungsprozess außerdem von einer allgemein sinkenden Nachfrage des privaten Verbrauchs begleitet wird, drohen Gewinnrückgänge der Unternehmen und hohe Arbeitslosigkeit unter den Beschäftigten.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung kann jedoch Kapital, das in der Warenproduktion investiert wurde, in einigen Volkswirtschaften hohe Gewinne erzielen, und zugleich können in anderen Volkswirtschaften Finanzanlagen ebenfalls sehr ertragreich sein. Beispielsweise kann in den aufstrebenden Industrien Chinas, Indiens, Brasiliens, Mexikos oder Vietnams investiertes Kapital extrem lukrativ sein, während in entwickelten Industrienationen wie den USA, Europa oder Japan reine Geldkapitalanlagen hohe Gewinne abwerfen. Die aus den beiden unterschiedlichen Kapitalanlagen resultierenden addierten Gewinne und Dividenden verstärken die Finanzströme, die ohnehin schon um die Welt zirkulieren und verbreitern die bereits vorhandene Kluft zwischen dem Wert der Warenproduktion und dem der gesamten Finanzanlagen.
In ihrem Bemühungen, dem Ertragsstreben ihrer Klienten entgegen zu kommen, sind Investmentbanker zunehmend bereit, die Chancenvielfalt bei der Wertpapieranlage ständig auszuweiten und beispielsweise völlig neue, komplexe Derivat-Finanzinstrumente bis hin zu dubiosen „collateralised debt obligations (CDO)“ oder „credit default swaps (CDS)“ zu erschaffen.
Aktienhändler behandeln alsbald diese neuen Derivate wie normale Bestandteile ihres Tagesgeschäftes, vergleichbar mit normalen Kreditswaps, um neues kreditfinanziertes Geld zu erzeugen. Schließlich zirkuliert eine ständig vergrößerte Geldmenge zwischen den verschiedenen Börsenplätzen, und weil immer noch risikobehaftete Kredite hinzukommen, ist niemand mehr in der Lage, den realen Wert des immensen kreditfinanzierten Geldvolumens abzuschätzen. Die wachsende Kluft zwischen dem Umfang der Güterproduktion und dem erheblichen Ausmaß von Finanzanlagen stellt die Glaubwürdigkeit der Finanzwirtschaft in Frage und untergräbt das gegenseitige Vertrauen. Letzten Endes können die verheerenden Konsequenzen eine Wirtschaftskrise hervorrufen.
2.2 Spekulation in sinkende oder steigende Wechselkurse
Nationale und grenzüberschreitend agierende Unternehmen, die auf unterschiedlichen Märkten tätig sind, haben es mit verschiedenen Währungen und deren ständig schwankenden Wechselkursen zu tun. Um sich vor den Auswirkungen schwankender Wechselkurse zu schützen, müssen sie die erforderlichen Devisen im Voraus erwerben und zugleich einen entsprechenden Wert zu einem zukünftigen Datum verkaufen. Diese gängige Geschäftspraxis ermutigt die Devisenhändler auf sinkende oder steigende Wechselkurse zu spekulieren. Als Folge davon werden derzeit beispielsweise über drei Mrd. Dollar zwischen den verschiedenen Devisenbörsen hin und her bewegt. Des weitern kommen noch Milliarden von Euro, Pfund Sterling, Schweizer Franken und anderen mehr oder weniger frei konvertierbare Währungen hinzu. Da der Geldumlauf immer dazu neigt, sich von der zugrunde liegenden Güterproduktion zu lösen, kann diese Art der Devisenspekulation dazu beitragen, eine schädliche Kluft zwischen beiden Bereichen hervorzurufen, was inflationäre Entwicklungen fördert und – zusammen mit anderen Effekten – die beeinträchtigten Volkswirtschaften in Krisen stürzen kann.
2.3 Ausweichstrategien der Anteilseigner: Investitionen in Immobilien, Rohstoffe und in sonstige Geldanlagen
Forderungen nach hohen Gewinnspannen als Folge des Shareholderprinzips zu Lasten der Lohnempfänger vertiefen den Graben zwischen den Einkommen der Anteilseigner und der Lohnempfänger. Wenn zusätzlich noch die Kaufkraft der übrigen Erwerbstätigen schrumpft, werden Anteilseigner zunehmend ihre Gelder aus der Güterproduktion abziehen und sich stärker anderen Einkommensquellen wie etwa dem Immobilienerwerb, spekulativen Anlagen in Rohstoffen wie Gold, Erdöl, landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder reinen Finanzanlagen zuwenden, um dort höhere Erträge zu erwirtschaften. Derartige Geschäfte tragen zur Entstehung spekulativer Blasen bei. Je länger die Spekulation anhält, umso stärker wachsen die Blasen und umso drastischer fällt der Absturz aus, wenn Spekulanten nach den ersten Anzeichen eines Preisverfalls ihre Gelder aus jenen Bereichen panikartig abziehen.
3. Einige Ursachen der amerikanischen Finanzkrise
3.1 Versagen auf vielen Ebenen
Hypotheken an Kreditnehmer zweifelhafter Bonität („subprime borrowers“) brachten als erstes die amerikanische Wirtschaft ins Schlingern, aber die Krise hat auch verschiedene andere Ursachen. Ein Vertreter des Finanzhauses Goldman erklärte: „Im Zentrum des Booms bei Hypotheken für Kreditnehmer zweifelhafter Bonität stand die früher gewinnträchtige Partnerschaft der Wall Street mit den ,subprime‘-Kreditgebern. Diese Beziehung bildete die treibende Kraft hinter den schnell steigenden Hauspreisen und der Verbreitung exotischer Kredite, die jetzt in immer größere Zahl nicht bedient werden.“ (Jeny Anderson/Vikas Bajaj, Subprime Scrunity focuses on Wall Street, in International Herald Tribune, 7. 12. 2007) So geschehen etwa im Falle von Lakeiha Williams, die ein Hypothekenvermittler der First Metro dazu überredete, acht Häuser auf Kredit zu erwerben. Obwohl ihm bekannt war, dass sie als Pflegehilfe in einem öffentlichen Pflegeheim nur über ein geringes Einkommen verfügte, überredete er sie dazu, die Hypothekensumme zu erhöhen und ließ skrupellos zu, dass sie Schulden von fast 1 Mio. Dollar aufhäufte. Zu ihren Gläubigern gehörten drei der neun größten Kreditbanken, die sich auf Kredite für Kreditnehmer zweifelhafter Bonität spezialisiert hatten (Kohlenberg, Kerstin, Acht Häuser für Lakeisha, Die Zeit, 14.2.2008).
Alan Binder, der frühere stellvertretende Vorstandschef der amerikanischen Notenbank Federal Reserve und derzeit Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Princeton, sagte: „Es gab ein Versagen auf vielen Ebenen. Es ist schwierig, einen Teil des Systems zu finden, der tatsächlich im Vorfeld der Pleite funktionierte.“ (Nelson D.Schwart/Julie Creswell, Desperate for solution, but who understands the problem?, International Herald Tribune, 25.3.2008) Die Deregulierungspolitik des amerikanischen Repräsentantenhauses und der demokratischen wie republikanischen Präsidenten in den vergangenen Jahrzehnten, die unter der Bezeichnung „Neoliberalismus“ bekannt ist und als eines der wichtigsten Instrumente für den Aufbau einer weltweiten amerikanischen Vorherrschaft gilt, hat maßgeblich zu diesem Versagen beigetragen.
3.2 Das vorrangige Ziel: Globalisierung der amerikanischen Vorherrschaft
Am 17. März dieses Jahres räumte der Vorstandschef von JP Morgan Chase, James Dimon, ein: „Wir haben es mit einer schrecklichen globalen Welt zu tun, und die Finanzregulierung hat damit nicht Schritt gehalten.“ (ibid.) Aber die Formulierung „Schritt gehalten“ stellte schon eine Untertreibung dar. Die Finanzregulierung schloss die Wall Street überhaupt nicht ein. Barney Frank, Vorsitzender des Ausschusses für Finanzdienstleistungen im US-Repräsentantenhaus, beklagte, „die Wall Street genoss nicht nur enorme Freiheiten, sondern schuf für die Handelsbanken den Anreiz, sich ebenfalls ihren Bestimmungen zu entziehen.“ (ibid.) Unter Bezug auf die Wall Street räumte er ein, im Repräsentantenhaus habe man „gedacht, es seien keine Vorschriften erforderlich“. (ibid.) Die Wall Street widersetzte sich vehement allen Versuchen, Bestimmungen für den sich entwickelnden Derivatmarkt durchzusetzen, erinnerte sich Michael Greenberger, ein früherer hochrangiger Beamter und Mitglied der Commodity Futures Trading Commission. (ibid.) Er erwähnte auch, der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan habe die Ansicht vertreten, „Derivate könnten das Risiko in der Wirtschaft verteilen“. (ibid.) Tatsächlich aber, fuhr Greenberger fort, „verbreiteten sie sich wie ein Virus in der Wirtschaft, weil die Produkte so undurchsichtig und schwer zu bewerten sind.“ (ibid.)
Es habe sich ein „verdeckter Handelsmarkt“ herausgebildet, „der über die Telefone der Wall-Street-Händler abgewickelt wurde und so außerhalb der Wertpapierbörse ablief“. (ibid.) Jeder Versuch, diesen Markt zu regulieren, wurde von den Politikern mit dem Argument bekämpft, „dies würde diese lukrativen Märkte zur Abwanderung nach Übersee zwingen“. (ibid.) Mit anderen Worten, man betrachtete die unregulierten amerikanischen Märkte offensichtlich als ein wesentliches Werkzeug, um das vorrangige Ziel einer Globalisierung der amerikanischen Hegemonie auf folgende Weise zu verwirklichen:
- Geschäftsbanken mit Sitz in Volkswirtschaften mit eher geringerer Finanzkraft, zunächst umgarnt mit lukrativ erscheinenden Finanzanlagen und später vollgepumpt mit „collateralised debt obligations“, würden es früher oder später mit Insolvenzproblemen zu tun bekommen.
- Mit erheblichen Finanzpolstern ausgestattete amerikanische Banken könnten den finanziell angeschlagenen Banken freundlicherweise ihre bewährten Methoden des Krisenmanagements anbieten.
- Im Gegenzug würden die „geretteten“ Banken aufgefordert, die für sie geltenden Regeln zur Aufnahme von Geschäftsbeziehungen den Regeln ihrer „Retter“ anzugleichen und schließlich sogar deren Vorherrschaft zu akzeptieren. Wall Street würde auf diese indirekte Weise schrittweise immer größere Kontrolle über den weltweiten Finanzmarkt gewinnen.
Einige Anzeichen wiesen darauf hin, dass die amerikanische Strategie genau diese Absicht verfolgte. So bat in der Frühphase der Finanzkrise die deutsche Industrie-Kreditbank AG um Finanzhilfe, um ihre Schuldenlast, entstanden aus amerikanischen „faulen Krediten“, abtragen zu können. Amerikanische Banken taten die Notlage der Bank achselzuckend als ein ausschließlich deutsches Problem ab und weigerten sich einzuräumen, dass die Probleme ihren Ursprung im deregulierten amerikanischen Finanzmarkt hatten. Ein weiteres Beispiel aus der Zeit der fortgeschrittenen Finanzkrise bildet die Notlage von Bradford&Bingle (B&B). Der Tagesspiegel vom 3. Juni 2008 berichtete: „Die weltweite Finanzkrise hat den britischen Hypothekenfinanzierer Bradford&Bingle ins Schlingern gebracht. Das Institut rutschte angesichts der Marktturbulenzen in den ersten vier Monaten in die roten Zahlen und musste sich von der US-Beteiligungsgesellschaft TPG rund 230 Millionen Euro frisches Kapital besorgen. Dafür erhält TPG einen Anteil von 23 Prozent an der Immobilienbank. Zudem holte sich B&B von den Anteilseignern über eine Kapitalerhöhung weitere 330 Millionen Euro.“
3.3 Die fragile Struktur der „globalen Finanzarchitektur“ ( Underhill)
Einige Monate vor den ersten Anzeichen einer Kreditverknappung zeigten sich Geoffrey Underhill und andere Fachleute bereits über die wenig belastbare Struktur der „globalen Finanzarchitektur“ (GFA), ihre fehlende Leistungsfähigkeit und mangelnde politische Legitimität in zahlreichen Ländern“ besorgt. (Underhill, Geoffrey R.D., Policy Recommendations, Section 1: Concerning the shareholder principle specifically, in: Global Financial Architecture, Legitimacy, and Representation: Voice for Emerging Markets, Garnet Policy Brief No.3, January 2007).Underhill bezeichnete mit Finanzarchitektur „die Summe der internationalen Institutionen und zusammenwirkenden Prozesse, die globale Ungleichgewichte, Wechselkurse, länderübergreifende Kapitalströme und die Finanzmarktstabilität regeln sollen, von der Krisenvermeidung bis zum Umgang mit Schuldenumwandlungen“ (ibid.). Nach Underhill wurden herkömmlich finanzpolitische Entscheidungen in einem relativ engen Personenkreis getroffen, in dem sich Zentralbanken, Finanzministerien, Regulierungsbehörden und deren privatwirtschaftliche Gesprächspartner gegenseitig beeinflussten. Nach Underhills Auffassung brachte die grenzüberscheitende Integration der Märkte zusätzliche einflussreiche private Akteure – „besonders große international agierende Finanzinstitutionen“ – auf den Plan, die dazu neigten, die demokratisch getroffenen Entscheidungen staatlicher Institutionen zu unterlaufen. (ibid.) Als Folge davon gründe sich die Politik heutzutage „mehr auf wirtschaftliche Theorien als auf Tatsachen. Die Politik sollte sich besser auf die reale Welt gründen“ (ibid.) Die Politiker sollten sich verstärkt um Reformen bemühen, die „sich der politischen Grundlage und den Verteilungswirkungen auf die Finanzarchitektur vor allem hinsichtlich der Fragen a) wer entscheidet in wessen Interesse und b) der Legitimität beider Entscheidungsprozesse und der daraus folgenden Politik und c) der Verbindungen zwischen den Entscheidungsprozessen und dem Ergebnis“ stellen müssen (ibid.).
Underhills Kritik war harsch: Grenzüberscheitende Finanzverflechtungen haben beträchtliche Spannungen zwischen dem, was politische Entscheidungsträger auf nationaler Ebene in einer Demokratie eigentlich leisten sollten, und dem, was sie vor dem Hintergrund weltweiter Finanzzwänge tatsächlich tun können, hervorgerufen. Er forderte daher: Wir müssen „darüber nachdenken, wer an diesem Prozess beteiligt ist, wie ein breiter zugrundeliegender Konsens erreicht werden kann, der die Legitimität des Ergebnisses auf diese Weise durch eine vernünftige Politik erhöht, die einem breiteren Interessenspektrum genügt und schließlich langfristig eine breitere Unterstützung für eine weltweite Finanzsteuerung aufbaut.“ (ibid.) Als die Finanzkrise immer offensichtlicher wurde, brach das wechselseitige Vertrauen der Banken untereinander, das Vertrauen der Politik gegenüber den Banken und der Öffentlichkeit gegenüber dem Finanzsystem brach drastisch ein. Beklagt wurden in der öffentlichen Meinung vor allem die zunehmend illegitimen und undemokratischen Methoden, die in der Vergangenheit immer mehr zu Einsatz gelangt waren.Lange Zeit akzeptierten amerikanische Regierungen keinerlei Gründe, die sie gedrängt hätten, Underhills Vorschlägen zu folgen. So reagierten die USA mit Unverständnis, als die Europäer eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorschlugen. Hier hatte Geoffrey Underhill gefordert, „die USA sollten ernsthaft darüber nachdenken, ihre faktische Vetoposition hinsichtlich von Zusätzen zu den Artikeln aufzugeben; dies sollte gegen eine zusammengefasste, wenn auch ausreichend reduzierte EU-Stimme getauscht werden, wobei niemand ein Veto beanspruchen könnte“ (ibid.).2 Selbst als die Krise eine dramatische Wendung nahm und tatsächlich einige Länder erfolgreich versuchten , das „Hotel Capital Mobility“ des IWF zu verlassen, hielten die USA an ihrem Vetorecht fest. Die USA halten jetzt immer noch 16,77 Prozent der Stimmrechte. Nur ein Bündnis des asiatischen Dreiecks (China-Indien-Russland) mit der Europäischen Union, den Arabischen Emiraten sowie Japan und Brasilien könnte aller Wahrscheinlichkeit nach die USA zwingen, ihre inakzeptable Haltung aufzugeben. Bisher blieb der privilegierte Status der USA, der es ihnen erlaubt, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung anzuhäufen, unangetastet. Kein anderes Mitgliedsland der Bretton-Woods-Institutionen genießt den gleichen Vorteil, was bisher zwar durchaus heftig kritisiert, aber niemals grundsätzlich in Frage gestellt wurde.
Selbst China als der größte Kreditgeber und die Europäische Union als der wichtigste Wettbewerber der USA auf den Weltmärkten haben in diesem Zusammenhang keine entscheidenden Schritte unternommen. China versuchte im Gegenteil die negativen Auswirkungen der Dollarschwäche zu umgehen, indem es teilweise seine Währungsreserven von US-Dollar zu Euro umschichtete und seine Zinskonten durch Investitionen in US-Banken und Investmenthäuser wie Blackstone verbesserte. Blackstone ist einer der wichtigsten amerikanischen Investoren und bezeichnet sich selbst als „weltweit führenden alternativen Vermögens- und Anlagenverwalter sowie Anlage- und Finanzberater“ (Internetseite der Blackstone-Gruppe). Die Europäische Union hat zwar den Euro als ernsthafte Herausforderung gegenüber dem US-Dollar geschaffen, aber bisher keinen dauerhaften Erfolg erzielt, den US-Dollar als Abrechnungswährung für Rohstoffe wie Erdöl und -gas sowie hochwertige Güter wie Flugzeuge abzulösen.
Erst als amerikanische Investment- und Handelsbanken gezwungen waren, immense Verluste anzukündigen und erst nachdem Bürgermeister mehrerer amerikanischer Städte einem drastischen Einbruch ihres Vermögenssteueraufkommens ins Auge blicken mussten, wodurch sie zu Ausgabenkürzungen gezwungen wurden, sah sich die amerikanische Regierung bemüßigt, der wachsenden Finanzkrise mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Als eine der wichtigsten Investmentbanken – Bear Stearns – zahlungsunfähig wurde und kurz vor dem Bankrott stand und nur durch eine von der Regierung vermittelte Aktion durch JP Morgan gerettet werden konnte, setzte das amerikanische Finanzministerium durch, dass sich die Wall Street einem neuen Regulationsmechanismus des amerikanischen Finanzsystems zu unterwerfen habe. Der Notverkauf von Bear Stearns zeigte, dass die amerikanischen Regierung unter erheblichem Zeitdruck stand, endlich einen neuen Regulierungsschirm für den amerikanischen Finanzmarkt aufzuspannen. Der Schweizer Bankier Oswald Grüber erklärte, diese Intervention habe das internationale Finanzsystem vor dem Zusammenbruch gerettet (Frankfurter Rundschau, 21. April 2008).
Unterdessen gerieten vor allem Wall-Street-Manager wegen ihrer rasch ansteigenden Verluste im Zusammenhang mit den subprime-Krediten unter starken Druck der Anteilseigner. Der Unterstaatssekretär im Finanzminister Robert Steel, ein früheres Vorstandsmitglied von Goldman Sachs, setzte sich im April 2008 für einen weitreichenden Plan des Finanzministeriums zur Regulierung der Wall-Street-Geschäfte ein (Landon Thomas Jr., Learning to embrace regulation, International Herald Tribune, 16. April 2008). Steel ließ verlauten, nach den Planungen sollte das Ministerium die Möglichkeit haben, „überall aufzutauchen: Private Beteiligungsfonds, Investmentbanken, Hedgefonds“ (ibid.). Bereits einen Monat zuvor hatte die Federal Reserve hoch bewertete Hypothekenschuldverschreibungen im Tausch gegen Kredite akzeptiert. Damit sollten Fannie Mae und Freddie Mac, die beiden wichtigsten (staatlich geförderten) Hypothekenbanken, gerettet werden, die darauf spezialisiert sind, Hypotheken von kleineren Banken aufzukaufen, um sie dann auf den Finanzmärkten anzubieten.
Obwohl verschiedene in Staatsbesitz befindliche Fonds aus China, den Arabischen Emiraten und Singapur bereits auf den amerikanischen Finanzmarkt eingriffen und in einige amerikanische Banken, die in Schwierigkeiten geraten waren3, investiert haben (Citigroup, Merill Lynch, Morgan Stanley) kündigten die folgenden Banken massive Abschreibungen und Verluste in Milliardenhöhe im Zusammenhang mit Krediten an, die sich aufgrund des nicht bezifferbaren Wertes der „strukturierten Produkte“ in ihrem Portfolio seit April 2008 nur noch schwierig oder gar nicht mehr verkaufen ließen (Frankfurter Rundschau, 15. Januar 2008): Citigroup, die größte Geschäftsbank der USA bezifferte die Verluste auf mehr als 5 Mrd. Dollar in drei Monaten und insgesamt bis heute auf 14. Mrd. Dollar; die zweitgrößte amerikanische Geschäftsbank Bank of America Corp.; JP Morgan Chase, die drittgrößte Geschäftsbank; sowie die zweitgrößte US-Investmentbank Morgan Stanley und Weels Fargo, die zweitgrößte Hypothekengläubigerin.
Ohne Zweifel wurden auch führende europäische Großbanken wie etwa die beiden führenden Schweizer Banken UBS und Credit Suisse sowie die Deutsche Bank und einige staatliche deutsche Banken von der Kreditkrise schwer getroffen, standen aber nicht in der Gefahr, ihre Banklizenz zu verlieren. Dagegen blühte dieses Schicksal einer britischen Bank. Als erstes rettete die britische Regierung die Bank Northern Rock mit Beistandskrediten, um sie dann später doch verstaatlichen zu müssen. Die City of London litt erheblich unter der Kreditverknappung , viele Bankmitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz. „Eine beispiellose Geldspritze in Höhe von 50 Mrd. Pfund zu Rettung des maroden britischen Bankensystems könnte sogar noch verdoppelt werden müssen, wenn es nicht gelingt, einen Zusammenbruch des Wohnungsmarktes abzufangen“, berichtete die Times (Thomson Financial News, Forbes, 21. April 2008).
Die amerikanische Finanzkrise hat die Wall Street, immer noch der weltweit wichtigste Finanzplatz, schwer mitgenommen. Die Gesamthöhe der Abschreibungen aufgrund der Krise beläuft sich nach Berechnungen auf mindestens 945 Mrd. Dollar (Frankfurter Rundschau, 9. April 2008). Damit stellt sich die Frage, ob die Vereinigten Staaten nicht jegliche Glaubwürdigkeit verloren und die letzte Säule gestürzt haben, die ihren Status als Hegemonialmacht absicherte.
3.4 Einfach nur „neue Gewohnheiten“ oder tatsächlich ein erneuter „New Deal“
Um die USA vor einem tiefen Fall zu bewahren, diskutieren führende amerikanische Wirtschaftsexperten und die führenden Köpfe der Deregulierungspolitik Bushs – wie etwa Matthew Slaughter – seit Jahren über einen „New Deal“, der auf eine „aggressive Einkommensumverteilung“ hinauslaufen soll (Harald Schumann, Wer rettet die Globalisierung?, Tagesspiegel, 20. April 2008). Wieder einmal wird der Staat dazu aufgerufen, die Marktwirtschaft zu retten. Man erwartet, das Federal Reserve System werde eigentlich nicht mehr an den Mann zu bringende „strukturierte Produkte“ akzeptieren und später eine keynesianische Wirtschaftspolitik einleiten (Mark Schieritz, Genug diskutiert!, Die Zeit, 13.März 2008). In der Zwischenzeit hat der Euro gegenüber dem Dollar weiter an Wert gewonnen und erreichte teilweise sogar einen Wechselkurs von 1: 1,6. Der Euro könnte sich, so einige Erwartungen, zur zweitwichtigsten Reservewährung nach dem Dollar entwickeln. Das Vereinigte Königreich zeigt in letzter Zeit eine überraschende Bereitschaft, über Steueroasen zu diskutieren und unternimmt damit einen ersten vorsichtigen Schritt, aus der früheren anglo-amerikanischen Allianz auszuscheren.
Martin Wolf hielt fest: „Die Öffentlichkeit, spüren die Regierungen, müssen vor den Banken und die Banken vor sich selbst geschützt werden. Das Finanzwesen wird als zu wichtig angesehen, als es dem Markt zu überlassen“. Er gelangte abschließend zu dem Schluss: „Regulierung wird immer in hohem Maße unvollkommen sein. Es müssen aber Anstrengungen unternommen werden, sie zu verbessern.“ (Martin Wolf, Sieben Gewohnheiten, die Aufsichtsbehörden für den Wertpapierhandel annehmen müssen, Financial Times, 7. Mai 2008)
Unter Bezug auf Nouriel Roubine von der Stern Business School an der Universität New York schlug Martin Wolf sieben Prinzipien der Regulierung vor, die er als die „sieben Cs“ bezeichnete:
- Erfassung („coverage“): Die Erfassung durch die Regulierung muss lückenlos sein. Alle Fremdfinanzierungeinrichtungen oberhalb einer bestimmten Größe müssen sich innerhalb des Systems befinden.
- Polster („cushions“): Es muss immer genug Eigenkapital (equitiy capital) vorhanden und eine ausreichende Zahlungsfähigkeit (Liqidität) gesichert sein.
- Einstandspflicht („commitment“): Die ursprünglichen Kreditgeber müssen über die Qualität der von ihnen zum Kauf angebotenen Kredite Auskunft geben.
- Zyklizität („cyclicality“): Regulierungsbestimmungen sollten anders als bisher auf eine antizyklische Wirkung ausgerichtet werden.
- Transparenz („clarity“): Damit sollen beispielsweise Interessenkonflikte, wie im Falle der Ratingagenturen geschehen, vermieden werden.
- Komplexität („complexity“): Ausufernde Komplexität stellt eine wesentliche Ursache fehlender Transparenz dar. Daher müssen alle Derivate an der Börse gehandelt werden.
- Ausgleich („compensation“): Vermeidung „symmetrischer Verluste“ – „Das Mantra anfeuernder Leistungsanreize scheint bei dem gescheiterten Versuch verloren gegangen zu sein, dass wenn es zu Bankrotten kommt und Verluste entstanden sind, wenigstens symmetrische Verluste vermieden werden“ (sinngemäß übersetztes Zitat von Paul Volcker).
Am Ende zitiert Wolf John Maynard Keynes: „Wenn die Kapitalentwicklung eines Landes zum Nebenprodukt der Aktivitäten eines Kasinos wird, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern.“ Über die von Wolf genannten Prinzipien hinaus sollte die Finanzpolitik noch einige andere Vorschläge von Keynes beherzigen, wenn die Kreditkrise nicht in einer schweren Wirtschaftskrise enden soll. Die Verteilung des Einkommens und des Reichtums im Rahmen eines wieder in Gang gesetzten „New Deals“ könnte zu den dringend erforderlichen Maßnahmen gehören.
Anmerkungen:
1. Zu den einfachsten Finanzinstrumenten gehören die CDOs. Verschiedene CDOs werden gebündelt und dann als Super-CDOs oder CDO2 bezeichnet. Nimmt man sie aus den Banken heraus und verlagert sie in spezielle Unternehmen, wechseln sie ihren Namen und heißen nun „special investment vehicle“ (SIV). (Buchter, Heike, Kippen jetzt die Kreditversicherer?, Die Zeit, 7. Februar 2008)
2. Dank der in Bretton Woods getroffenen Vereinbarungen haben die USA das Recht, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung aufzunehmen. Kein anderes Bretton-Woods-Mitgliedsland erfreut sich der gleichen Möglichkeit. Nachdem einige Länder aus dem „Hotel Capital Mobility“ ausgetreten sind, das von der weltweiten Finanzarchitektur zur Verfügung gestellt wird , verringert sich zwar der Einfluss des IWF, schmälert aber keineswegs den privilegierten Status der USA.
3. Zu den größten in Staatsbesitz befindlichen Fonds (Anlagekapital in Mrd. US-Dollar) gehören:Abu Dhabi Investment Authority, United Arab Emirates, 875; Rentenfonds der Regierung, Norwegen, 380; Government Investment Corp., Singapore, 330; Zentralbank Saudi-Arabiens, 289; Fonds für zukünftige Generationen, Kuwait, 213; China Investment Corporation, 200; Temasek, Singapore, 108 (Tagesspiegel, 13. April 2008). – Zu den größten Investoren zählen: Rentenfonds, 21,6; Anlagefonds, 19,3; Versicherungen, 18,5; Investoren von Erdöl-Dollar, 3,8; Asiatische Zentralbanken, 3,1; Hedgefonds, 1,5; Beteiligungsgesellschaften, 0,7 (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Oktober 2007).
2. Juni 2008
Reinhard Hildebrandt
US-Strategie nach der Bush-Ära
Eine kritische Analyse des Jahresberichts 2011: Global Shift – How the West should respond to the rise of China
Die Transatlantic Academy in Washington D.C empfindet sich als ein Kompetenzzentrum, in dem europäische und amerikanische Experten gemeinsam Zukunftsthemen bearbeiten. Sie wurde von der ZEIT-Stiftung und dem German Marshall Fund of the United States geschaffen. Die Autoren Daniel Deudney (Associate Professor at John Hopkins University USA), James Goldgeier (Professor of Political Science at George Washington University USA), Hanns W. Maull (Professor für Außenpolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Trier), Steffen Kern (Direktor für Internationale Finanzmarkt Politik bei der Deutschen Bank) Soo Yeon Kim (ab 2011 Associate Professor of Political Science at National University of Singapor), Iskander Rehman (Science Po, Institute of Political Studies, Paris) analysieren die „Weltpolitik im Umbruch“ und fragen sich, auf welche Weise der „Westen“ auf den Aufstieg Chinas antworten sollte.
1. Entwicklung einer Strategie zur Bewältigung des tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik
In ihrer deutschen Zusammenfassung stellen die Autoren fest, dass der Aufstieg neuer Mächte (China, Indien, Brasilien) „nur einen Aspekt eines umfassenden und tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik darstellt“. In mindestens zweierlei Hinsicht unterscheide sich die Welt heute fundamental von früheren Epochen: „Erstens durch beispiellos dichte globale Verflechtungen und damit Verwundbarkeiten (‚Globalisierung’), und zweitens durch eine neue Qualität der Komplexität und Unberechenbarkeit der Weltpolitik, in der Veränderungen von großer Tragweite häufig, plötzlich und unerwartet eintreten (‚Turbulenz’).“ Da die „Diffusion von Macht und Einfluss“ (an neue Mächte und nichtstaatliche Akteure, d.Verf.) eine „Erosion der globalen Ordnung“ zur Folge habe und die „Interessen des Westens“ und der gesamten „Staatengemeinschaft“ bedrohten, seien, um den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen, neue „globale Lösungsansätze“ erforderlich.
Mit ihrer Andeutung einer tiefgreifenden Bedrohung, der die „Interessen des Westens“ und darüber hinaus auch die gesamte „Staatengemeinschaft“ ausgeliefert sei, geraten die Autoren in die Nähe von Dominique Moïsi, der die Emotionen zum alles entscheidenden Moment des Weltgeschehens hochstilisiert hat (Moïsi, Dominique, „Kampf der Emotionen – Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, (Originaltitel: The Geopolitics of Emotion), München 2009. Moïsi gibt zu bedenken, Emotionen hätten nicht zu unterschätzende Auswirkungen für die Einstellung von Menschen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen und auf das Verhalten von Völkern untereinander. Emotionen spiegelten den Grad des Selbstvertrauens einer Gesellschaft wider. Im kollektiven Bewusstsein der Völker hänge von ihnen ab, wie gut ein Volk eine Herausforderung bewältigen und sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen könnte. Weder Politiker noch Historiker und auch nicht interessierte gewöhnliche Bürger könnten sie ignorieren (S. 53).
In seinem Modell verknüpft er drei geopolitische Großräume mit jeweils einer vorherrschenden Emotion: Hoffnung bei den Asiaten, die Kultur der Demütigung in der arabischen Welt und Angst im traditionellen Westen (USA/Europa). Moïsi fasst die drei Emotionen in den folgenden griffigen Formeln zusammen: Hoffnung („Ich will es tun, ich kann es tun, und ich werde es tun.“), Demütigung („Ich werde es nie schaffen.“) und Angst („Lieber Himmel, die Welt ist zu einem gefährlichen Ort geworden; wie kann ich mich vor ihr schützen“) (S. 21).
Mit seinem Experiment folgt er seiner durchaus nachvollziehbaren Einsicht, dass „im Zeitalter der Globalisierung (…) die Beziehung zum ‚Anderen’ (dem Fremden) mehr denn je von grundlegender Bedeutung“ ist (S. 40). Der in früheren Zeiten lediglich als Kuriosum bestaunte „Andere“ hätte „die westliche Welt“ zu keinem Zeitpunkt zur Hinterfragung ihrer „eigenen Identität“, ihrer „sozialen und politischen Modelle“, herausgefordert. Selbst in seiner Gestalt als „absolut Anderer“ des kommunistischen Systems sei er nur als die „andere Seite des Westens“ begriffen worden. Im Zeitalter der Globalisierung jedoch käme das „absolut Andere“ „nicht nur aus einer anderen, nicht-westlichen Kultur, sondern auch, in gewisser Weise, aus einem anderen Jahrhundert“ (S.40/41). Sowohl der Aufstieg Asiens wie der aufkeimende Fundamentalismus stellten für den Westen eine große Herausforderung dar, der er sich „mit tiefgreifenden Fragen nach seiner Identität“ zu stellen habe: „Wer sind wir? Was macht uns besonders und andersartig?“
Obwohl sich Moïsis Ansatz auf den ersten Blick ganz selbstkritisch gibt, steckt in ihm doch ein hohes Maß an Unbewusstheit: Offenbar war für Moïsi nicht klar, wie verletzend die Selbstbezogenheit des „Westens“ auf Menschen anderer Kulturen wirkte. Über die gravierenden Folgen westlicher Selbstbezogenheit in nicht-westlichen Regionen musste er sich, solange er sich vollkommen im Kokon eines anglo-amerikanisch bestimmten Weltbildes und Wissenschaftsbetriebes aufgehoben fühlte, in der Tat lange Zeit keine Rechenschaft ablegen. Dieser Kokon begrenzte seinen Blick bis über das Ende des Kalten Krieges hinaus. Die Autoren des Berichts „Global Shift“ haben sich wie Moïsi der schmerzvollen Aufgabe unterzogen, diesem Kokon zu entfliehen. Sie verfolgen jedoch andere Lösungsansätze als Moïsi, um, wie sie formulieren, die „Interessen des Westens“ in der sich wandelnden „Staatengemeinschaft“ zu wahren und den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen. Der Titel ihres Berichts – „Global Shift“ – bestätigt zwar nur, dass sich die Welt verändert. Der von ihnen vorgenommenen Lageanalyse und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen lässt sich jedoch entnehmen, dass sie sich ihrer Ansicht nach in eine ganz bestimmte Richtung ändert und sie einen Richtungswechsel bewirken möchten. Ob der Wechsel mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ihnen eine zutreffende Analyse der Probleme, die auf dem Hintergrund der vom „Westen“ geprägten Weltordnung entstanden sind, gelungen ist.
Die Autoren empfehlen eine Strategie mit drei zentralen Komponenten:
- Die Entwicklung einer „neuen Arbeitsteilung zwischen den USA und der Europäischen Union“ „auf der Grundlage geteilter Zielvorstellungen“ und „im Rahmen gemeinsam entwickelter und umgesetzter Strategien“. In der Konzentration auf unterschiedliche Schwerpunkte solle Europa die Transformation in seiner osteuropäischen Nachbarschaft und im Mittelmeerraum ins Blickfeld nehmen und die USA hauptsächlich auf die Herausforderungen in Asien reagieren.
- Die Anfertigung einer „neuen Weltsicht der westlichen Regierungen“, u.a. „ein Wandel der außenpolitischen Einstellungen und eine Neubestimmung der Rolle des Westens in der neuen, interdependenten, aber zugleich auch multipolaren Welt. Dies beinhalte die Einsicht der USA, „dass sie die internationale Ordnung nicht länger dominieren können“ und künftig mit „gutem Beispiel“ vorangehen und mit „eigenen Beiträgen“ die Lösung globaler Herausforderungen herbeiführen müssen. Erforderlich sei, dass sie ihre „Defizite und ihre Fehler als weltpolitische Führungsmacht“ und im „eigenen Land“ „ehrlicher und realistischer angehen und aufarbeiten“. Erforderlich sei auch, dass sich Europa „aus seiner Mentalität der Abhängigkeit von Amerika“ löse und „anerkenne, dass es die Probleme in seiner Nachbarschaft allein bewältigen könne.
- Die Aufforderung an die „transatlantische Gemeinschaft“, „eine Führungsrolle beim Neuaufbau der globalen Ordnung“ auf der Grundlage seines „wirtschaftlichen Gewichts und politischen Einflusses“ zu übernehmen und hierbei der Zusammenarbeit mit den aufstrebenden Mächten eine „besondere Bedeutung“ beizumessen, und das, obwohl
- die Finanz- und Wirtschaftskrise die USA und Europa schwer getroffen hat und das außerordentliche Wachstum der Schwellenländer ungebrochen ist und sich sogar verstärkt fortsetzt,
- öffentliche Investitionsprogramme angesichts der transatlantischen Schuldenkrise kaum noch zu verwirklichen sind,
- die Abhängigkeiten von Krediten und Investitionen aus Drittländern (China) zunimmt,
- Streitigkeiten über die Lösung der globalen Ungleichgewichte bisher nicht beigelegt werden können,
- die Unstimmigkeiten sowohl in der Frage notwendiger Finanzmarktreformen im Rahmen der G 20 als auch im Rahmen der Doha-Runde andauern.
In diesem Sinne formulieren die Autoren folgende Handlungsempfehlungen:
- es sollten trilaterale Treffen zwischen den USA, EU und China organisiert werden;
- die WTO-Verhandlungen (Doha-Runde) müssten rasch abgeschlossen und im Interesse einer weiteren Liberalisierung des Welthandels sollten abgestimmte Vereinbarungen bei der Abfassung von bilateralen Freihandelsabkommen herbeigeführt werden;
- die Kosten von CO2-Emissionen müssten durch abgestimmte Maßnahmen zur Besteuerung des internationalen Emissionshandels gemeinsam übernommen werden;
- für die neue Arbeits- und Aufgabenteilung zwischen den USA, der NATO und der EU sollen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gemeinsam formulierte strategische Zielsetzungen entwickelt und arbeitsteilig, aber koordiniert umgesetzt werden;
- zwischen Großbritannien, Frankreich und den Hohen Vertretern der EU-Außen- und Sicherheitspolitik sowie den anderen Mitgliedern der EU müsse eine engere Abstimmung der für den UN-Sicherheitsrat zu erarbeitenden Positionen erfolgen,
- Großbritannien und Frankreich müssten zur Abtretung eines ständigen Sitzes im US-Sicherheitsrates zugunsten eines nicht-europäischen Landes bereit sein und sich stärker an wünschenswerten Reformbemühungen des UN-Sicherheitsrates beteiligen,
- Die USA sollten sich verpflichten, ihr Veto nur noch dann einzulegen, wenn dieses Veto von einem weiteren ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrates unterstützt wird,
- Die übrigen ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sollten dem Beispiel der USA folgen.
2. Zulängliche und unzulängliche Einsichten
Gleich zu Beginn ihres Berichts formulieren die Autoren sehr ungenau: „At the end of the 20th century, Western dominance of the international order appeared complete“ (Global Shift, S.6). Was verstehen sie unter „Western dominance“? Wer im „Westen“ bestimmte die Weltordnung: die USA, Europa oder beide zusammen? Wenn letzteres zutraf, welchen Anteil hatte Europa daran und in welchem Ausmaß trugen die USA dazu bei? Was begreifen die Autoren als „Weltordnung“? „Ordnungen“ sind als endliche Strukturen ausgelegt, deshalb ist danach zu fragen, welche Arrangements nötig sind, um die Lebensdauer dieser Ordnung optimal auszufüllen? Welche ausgewählten Arrangements dienen zwar der Machterhaltung der dominierenden Kräfte, aber nicht der optimalen Entfaltung der Lebensdauer der Struktur?
Mit ihrer Formulierung „Western dominance“ erwecken die Autoren den Eindruck, dass es eine „transatlantische Gemeinschaft“ der Machtgleichheit, Interessen- und Wertegemeinschaft zwischen den USA und Europa gegeben habe. Eine Begründung für diese Feststellung ist im Text nicht zu finden. Außerdem klammern sie die Sonderrolle Großbritanniens aus. Britische Regierungen betonten immer wieder ihr spezielles Verhältnis zu den USA. Zugleich war Großbritannien ein Mitglied der Europäischen Union und britische Regierungen unterstützten alle Bemühungen, den Standort der EU auf der Achse zwischen Staatenbund und Bundesstaat in Richtung Staatenbund zu verschieben.
Den Autoren ist z.B. der Streit auf der NATO-Konferenz in Bukarest im Juli 2008 zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern der NATO keine Erwähnung wert. Gegen den damaligen Vorschlag der Bush-Administration, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die NATO zu öffnen, erwartete sie keinen Widerspruch. Ging sie doch davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, dagegen seine Stimme zu erheben? Aber selbst der britische Premierminister Brown erhob Einwände, obgleich er dann dennoch für den Vorschlag Bushs stimmte, während die französische und deutsche Regierung Bushs Ansinnen glatt ablehnten. Der Vorfall zeigte, dass die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit US-amerikanischer Arrangements zur optimalen Ausgestaltung der NATO zwar die Dominanz der USA im Bündnis im Blickfeld hatte, aber nicht die Erreichung einer optimalen Lebenserwartung der Organisation. Das Ausmaß der inzwischen eingetretenen Verschiebung der Gewichte zwischen den USA und Europa innerhalb der NATO wurde von Bush verkannt.
Statt diesen gravierenden Vorfall zum Anlass für eine Hinterfragung des Begriffs „Westen“ zu nehmen, konzentrieren sich die Autoren auf ganz andere Verschiebungen innerhalb der Weltordnung. So konstatieren sie: „What is new is the quality of global interdependence and its complexity“ (S.7). Man sucht im Text vergebens nach einer Definition für die spezifische Qualität der globalen Interdependenz und der ihr inhärenten Komplexität. Vermutlich verbirgt sich dahinter die Global Governance Theorie, in der Nationalstaaten, die alleinigen Akteure der vergangenen Perioden auf dem internationalen Parkett, ergänzt und teilweise abgelöst werden durch außer- sowie überstaatliche Organisationen/Institutionen und global agierende Unternehmen und Finanzkapitale, die sich dem Postulat des Good Governance (Regierungen) bzw. Good Corporative Governance (Unternehmen) verpflichtet fühlen sollen. In der Vorstellung der Global Governance Theorie dominieren interdependente Beziehungen das Weltgeschehen. Hegemoniale Verhaltensweisen werden als irrelevant für die heutige Zeit betrachtet.
In diese Richtung scheint auch der nächste Satz der Autoren zu verweisen: „As global problems grow, the diffusion of world power is undermining present arrangements of global governance, widening the gap between what is needed and what can be delivered“ (S.7/8). Offenbar sind die Autoren der Ansicht, dass sich in einer Zeit auftürmender Weltprobleme Macht heutzutage auf immer mehr Schultern verteilt und aufgrund dieser Entwicklung die bisherige vom „Westen“ bestimmte Weltordnung unterminiert wird und nicht mehr ausreichend adäquate Lösungen zur Verfügung stellen kann. Was sie jedoch wirklich darunter verstehen, offenbaren sie im folgenden Satz: “China is the only credible challenger to American hegemony, in Asia and beyond” (S.8)
Im Gegensatz zu Global Governance Theoretikern existiert für sie eine US-bestimmte Hegemonie. Sie sehen die US Hegemonie nicht so sehr von der Mitwirkung von NGOs oder private public partnerships beeinträchtigt, sondern vor allem durch die zunehmende Interdependenz der Staaten untergraben und denken hierbei insbesondere an den Machtzuwachs Chinas. Wechselbeziehungen (Interdependenz) – sowohl symmetrischer wie asymmetrischer Form – bestehen zwischen Mächten, die sich bei aller Unterschiedlichkeit gegenseitig als gleichwertig und gleichrangig betrachten. Hegemoniale Verhältnisse hingegen gehen von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der beteiligten Mächte aus. Zwischen ihnen bestehen zwar auch Wechselbeziehungen, aber sie spiegeln stets den Rangunterschied zwischen Hegemon und Hegemonisierten. Indem die Autoren die Gefahr beschwören, dass in der Zukunft der “Beijing Consensus” den “Washington Consensus” der vergangenen Periode ablösen könnte (ebd.), drücken sie ihre Befürchtung aus, dass der US-Hegemonie in der wachsenden Weltgeltung Chinas ein ernst zu nehmender Widerpart erwachsen könnte. Im gleichen Atemzug unterstellen sie der chinesischen Führung hegemoniales Denken.
Sie nehmen die kurze Geschichte der USA als Siedlergesellschaft zum Maßstab für das Denken und Handeln anderer, weitaus älterer Gesellschaften. So wie sich die USA zunächst von der Kolonialmacht Großbritannien befreiten, danach im Bürgerkrieg den nordamerikanischen Kontinent unter eine einheitliche Führung brachten, als nächsten Schritt ihre Herrschaft auf Mittel- und Südamerika ausdehnten, erst dann den Sprung über den Nordatlantik und den Pazifik auf die gegenüberliegenden Küstenregionen wagten und nach der Niederkämpfung der Sowjetunion schließlich den Versuch unternahmen, ihre Hegemonie weltweit auszudehnen, unterstellen sie nun der chinesischen Führung, dass sie von der Mitte Asiens aus schrittweise eine globale Hegemonie errichten wolle.
Dass die geographische Lage Chinas eine ganz andere als die der USA ist, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Als Reich der Mitte war China stets von anderen Völkern umgeben und nicht, wie die USA vornehmlich von zwei Weltmeeren. Sie hatten sich der Eroberungen durch andere Völker zu erwehren und unternahmen selbst Eroberungsfeldzüge. Die Jahrtausende alte chinesische Geschichte ist voll von wechselnden Machtkonstellationen, Niedergängen und Wiedererlangung der Macht. Die chinesische Führung blickt auf eine lange Tradition von herrschaftlichem Gebaren und Verhaltensweisen beherrschter Regierungen zurück. Die chinesische Kultur kennt vielfältige Variationen der Machtausübung und Werteorientierung. Ihr ist bewusst, dass sie trotz der Dominanz des Hauptvolkes einen Vielvölkerstaat regiert und dass ein Streben nach Hegemonie mit enormen Risiken verbunden ist. Ihr ohne stichhaltige Beweise umstandslos hegemoniales Denken und Handeln zu unterstellen, nährt den Verdacht absichtlicher Unterstellung und kann als Übertragung eigenen Denkens und Handelns auf andere gedeutet werden, was im nächsten Satz der Autoren auch zum Vorschein kommt. So geben sie zu bedenken, dass Chinas Wachstum „raises the spector of a return to great power rivalry and ideological competition that appeared to end with the Soviet collapse“ (ebd.). Mit diesem Satz bezeugen die Autoren, dass sie die Anforderungen, die eine duale Hegemonie an die Kontrahenten stellt, bis heute nicht in ihr Denken aufgenommen haben. Deshalb erscheint es notwendig, die beiden bestimmenden Momente des Ost-West-Konflikts nochmals zu skizzieren.
3. Grundzüge einer dualen Hegemonie
Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Diese für eine duale Hegemonie ausschlaggebende Konstellation steht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht − nur durch den eigenen Willen begrenzt.
In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potenzial an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. Da beide Seiten zu keinem Zeitpunkt exakt einschätzen konnten, welcher Handlungsspielraum für einen selbst und dem Kontrahenten tatsächlich zur Verfügung stand, führte das hohe Maß an Unsicherheit und Vernichtungsrisiko durch atomare Waffen dazu, dass sie trotz härtester Konkurrenz zugleich ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der fragilen geopolitischen Stabilität und damit ihrer dualen Hegemonie entwickelten. Dieses Interesse trat insbesondere an geopolitischen Orten zutage, an denen unbedachte Schritte zu unkontrollierbaren Folgen führen konnten, wie z.B. zwischen West- und Ostberlin vor, während und nach dem Bau der Mauer im Jahre 1961, auf den Transitrouten durch die DDR, oder wenn nachgeordnete Mächte beabsichtigten, kurzzeitig in der etablierten Sicherheitsarchitektur des Ost-West-Konflikts auftretende ungeklärte Schwebezustände zum eigenen Vorteil zu nutzen (Emanzipationsbestrebungen vorwiegend der Westeuropäer im Gefolge des für die USA ungünstig ausgehenden Vietnamkrieges).
Im Widerspruch zum immer vorhandenen gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der geopolitischen Stabilität (Sicherheitsarchitektur) handelten beide Mächte zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen. Die USA betrachteten ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivalen, während sie sich selbst als obersten Verteidiger der Freiheit dekorierten. Die Sowjetunion trat als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse auf und unterstellte den USA feindlichste Absichten gegen den Rest der Menschheit. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, verschoben sie gedankenlos die Grenzlinie zwischen den für beide Seiten verfügbaren Handlungsoptionen zuungunsten des jeweils anderen und handelten im Sinne eines Nullsummenspiels. So kümmerten sie sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwendige Erhaltung der geopolitischen Stabilität. Dies führte für die Sowjetunion kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts dazu, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration, während sich die USA gerade umgekehrt mit der Frage auseinandersetzen mussten, ob ihre bisherige räumlich begrenzte Hegemonie auf globale Ausmaße ausgedehnt werden konnte und auf welche Widerstände sie hierbei stoßen würden.1
4. Das Streben nach globaler Hegemonie der USA
Auf dem Hintergrund der engen Verbindung ökonomischer und militärischer Überlegenheit begannen die USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit der Globalisierung ihrer Hegemonie. Sie traten nach dem Ende des Kalten Krieges gegenüber Europa nicht mehr wie zuvor als wohlmeinender Hegemon auf, sondern forderten ultimativ die Anpassung der europäischen Volkswirtschaften an den US-amerikanischen Shareholderkapitalismus und verlangten damit die Übernahme des Werte- und Gesellschaftssystems der USA. Sie propagierten ihren Unilateralismus, als die Europäer ihre Ängste vor der Sowjetunion allmählich verloren und auf mehr Eigenständigkeit pochten. Während des Ost-West-Konflikts hatten sich die Westeuropäer aus Furcht vor der Sowjetunion an den westlichen Hegemon angelehnt. Nach dem Ende der Sowjetunion betrachteten die Europäer US-Aktivitäten jedoch zunehmend kritischer.
Sie erinnerten sich daran, dass die USA im Namen der Befreiung vom Kolonialismus den europäischen Kolonialstaaten das ihnen bis dahin verbliebene Hinterland entzogen hatten und die ökonomischen Aktionsmöglichkeiten der europäischen Mutterländer immer stärker auf die USA konzentrierten. Das innerwestliche Dreieck mit den USA an der Spitze und Westeuropa und Japan an der Basis unterwarfen sie den ökonomischen Vorgaben aus den USA, was solange zu wenig Unmut führte, wie der Handel florierte und der Lebensstandard der Bevölkerung stieg.
Die USA mussten − wenn auch erst einige Jahre später − akzeptieren, dass auf das Ende der dualen Hegemonie mit der Sowjetunion nicht die globale Hegemonie der USA folgte, wie sie noch unter den beiden Administrationen unter Clinton auf der Grundlage der Informationstechnologie und Menschenrechtsstrategie und unter der nachfolgenden von Bush Junior unter Androhung und Anwendung militärischer Gewalt angestrebt wurde.
Die Finanzkapitalkrise nahm ihren Ausgang in den USA und hat als letzten Akt eine gigantische Staatsverschuldung der USA und einiger EU-Länder zur Folge. Wer, wie die USA, den Anteil des privaten Konsums an der Erstellung und dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts auf über 50 Prozent ansteigen lässt, seine Infrastruktur jahrzehntelang vernachlässigt, seinen Militärhaushalt ins Unermessliche anhebt, die Gefahr einer plutokratischen Ausrichtung der Gesellschaft nicht energisch bekämpft und einen hohen Anteil verarmter Bevölkerung klaglos akzeptiert,2 darf sich nicht wundern, wenn andere Volkswirtschaften den schnell steigenden Handelsaustausch mit Schwellenländern wie China und Indien bevorzugen und die USA mit ihrer steigenden Arbeitslosigkeit und zunehmenden Konsumschwäche meiden. Wer trotz dieser unübersehbaren Schwächen bis in die Gegenwart auf die Sperrminorität im Internationalen Währungsfonds (IWF) beharrt, die den USA ermöglicht, trotz höchster Verschuldung dem US-Dollar die Leitwährungsfunktion auf unbegrenzte Zeit zu garantieren und zugleich den Europäern empfiehlt, ihren Stimmenanteil zugunsten der Schwellenländer zu reduzieren (S.10), muss mit massiver Gegenwehr rechnen.
Wir leben in einer Welt, die nicht mehr unter der Oberaufsicht einer US Hegemonie steht. Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte ist durch folgende Kriterien bestimmt:
- Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien steigen auf;
- Russland hat den Versuch unternommen, die nach der Desintegration der Sowjetunion durchlaufene Schwächeperiode zu überwinden;
- Die EU unternimmt alle erdenklichen Anstrengungen, den Euro zu stabilisieren und zu einen ernst zu nehmenden Mitspieler auf der Weltbühne zu werden;
- Die Welthandels- und Finanzkapitalströme streben zu neuen Ufern, nachdem die Ökonomie der USA weiterhin schwächelt und Japan aufgrund des Atomreaktorunfalls und den Verwüstungen des Tsunamis für absehbare Zeit durch eine Rezession gelähmt sein wird. Die Handelsbeziehungen zwischen der EU und China sowie Indien werden intensiver und Russland unternimmt erste Ansätze, die eigene industrielle Basis zu erneuern und eine Brücke zwischen Europa und China zu bilden.
- Neue Allianzen ersetzen die alten. Die NATO kann sich z.B. kaum noch auf gemeinsame Ziele und Strategien einigen. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) avanciert in machen Gegenden der Erde zum Gegenspieler der NATO. Neue strategische Partnerschaften, z.B. zwischen Russland und China, die engere Zusammenarbeit zwischen den Ländern Ost- und Südostasiens, verschieben die etablierte Weltgesellschaftsordnung.
- Nach dem gescheiterten Versuch der USA, die eigene Hegemonie weltweit auszudehnen, ist unter dem Präsidenten Obama ein kostenfreies ideales Unterordnungsverhältnis zwischen den USA und Europa nicht mehr herstellbar. Ein solches Unterordnungsverhältnis ist charakterisiert durch Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Hegemons gegenüber dem Hegemonisierten und dem Wunsch des Letzteren nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Hegemon, wodurch im Bewusstsein des Hegemonisierten seine real existierende Unterordnung gerade umgekehrt als absolute Freiheit erscheint (Hegel). Nur unter erheblichen Bewusstseinsausblendungen auf Seiten Europas wäre ein solches ideales Unterordnungsverhältnis noch realisierbar. Die Autoren von „Global Shift“ unterstellen in ihrer „strategy for renewel“ eben dies.
5. „Global Shift“ – Eine „strategy for renewel“
Die USA haben über die Jahre hinweg vergeblich versucht, China in die Rolle der ehemaligen Sowjetunion zu drängen. Die chinesische Führungen verhielten sich immer geschickt genug, diese Position zu vermeiden und nicht militärisch, sondern ökonomisch zu agieren und zu reagieren. Die Vokabel “Beijing Consensus” stellt nun einen weiteren Versuch dar, China in die Angst einflößende Position zu rücken. Sie steht im engen Zusammenhang mit der Debatte über demokratische und autoritäre Regime und der Zielbestimmung, dass ein neuer weltweiter Kampf zwischen den freiheitlichen und autoritären Regimen zu führen sei.
In der schon seit einigen Jahren stattfindenden Debatte, schreiben die Autoren, vertreten die einen die Meinung, dass der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas die Demokratisierung zeitverzögert folgen werde, während die anderen Seite die Kontinuität des autoritären Regimes Chinas propagierten. Die Debatte zwischen „integrationists and balancers sets the alternatives too starkly“, meinen die Autoren und behaupten, dass „China’s course will probably fall somewhere in between these two extremes“ (S.9). Der „Westen“ handele deshalb klug, wenn er eine Mischung von Engagement and Eindämmung verfolge. Denn man müsse deutlich machen, dass der Aufstieg Chinas (und anderer Schwellenländer) zwar als Teil wachsender Interdependenz und Komplexität aufgefasst werden könne, aber darüber hinaus auch „a resulting crisis of global governance“ (ebd.) darstelle. Diese Krise erfordere eine „strategy for renewel“ der westlichen Hegemonie (S.10).
Was sie darunter real verstehen, bedarf einer Ergänzung aus dem englischen Haupttext des „Global Shift“. Darin sind – im Rückgriff auf den Kalten Krieg von 1945 bis 1990 – unter „division of labor“ folgende zwei bemerkenswerte Sätze zu lesen: „During the Cold War, the United States led, and Europe assisted and followed in our efforts to defend ourselves against a common threat, avoid war, and eventually overcome and resolve our differences with our opponents. The new circumstances require a recasting of the previous division of labor, the use of the separate capabilities and means of the individual transatlantic community members on problems based on a common vision and strategy.”(S.10). Unter der Ausblendung des hegemonialen Verhältnisses zwischen den USA und Europa in der Periode des Ost-West-Konflikts und der darauf folgenden Periode unter Clinton und Bush, die US-Hegemonie global auszudehnen, versuchen die Autoren ein neues einigendes Band zwischen den USA und Europa zu knüpfen und hierbei auf die Existenz gemeinsamer Werte zu rekurrieren, die es zu erhalten gelte. Dementsprechend formulieren sie im folgenden Satz: „Second, the members of the transatlantic community need to cultivate a new mindset about ourselves appropriate for a multipolar interdependent world.”(ebd.).
Unter multipolar verstehen sie vor allem das Dreieck USA-Europa-China. Auf dem von ihnen geforderten Hintergrund einer engen Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa wird daraus unmittelbar ein Gegensatz zwischen „dem Westen“ und China. Die anderen BRIC-Staaten (Brasilien, Russland und Indien) erwähnen sie nicht. Die Autoren bleiben eine Antwort darauf schuldig, auf welchen Positionen sie diese globalen Mitspieler einordnen. Die ständigen Versuche der USA, Indien in eine Containmentpolitik gegen China einzubeziehen sowie die Re-Industrialisierung Russlands mit europäischem Know-how zu behindern und Brasiliens Bestreben zu mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in den Handelsverträgen Brasiliens mit den USA zu sabotieren, veranlassen sie zu keinerlei Reaktion.
Fragen sich die Autoren ernsthaft, ob die USA tatsächlich bereit sein könnten, auf ihre Hegemonie zu verzichten? Wie ist ihr beschwichtigender Satz zu verstehen: “The United States, after years of hegemony, must recognize that it can no longer lead through domination or coercion but rather must now rely on the power of its example and its contributions to global problem-solving.” (S.10). Haben sich die Autoren gefragt, ob die USA künftig Europa als gleichberechtigten Partner anerkennen werden oder zielt ihr Bericht lediglich darauf ab, die Europäer ins gemeinsame Boot zu holen? Die alte Weisheit, dass ein Kamel eher durch ein Nadelöhr geht als dass ein Hegemon auf seine Ansprüche verzichtet, gilt es erst noch zu widerlegen.
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1Kernelement der unter amerikanische Vorherrschaft gestellten Küstenregionen von Atlantik und Pazifik blieb das unbeschränkte Stationierungsrecht amerikanischer Truppen in Deutschland und Japan. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Jahre 1945 mussten beide Staaten ihre staatliche Souveränität an die Siegermächte übergeben und darauf vertrauen, dass ihnen die Souveränität schrittweise wieder zurückgegeben wurde.
Die verbliebene Souveränitätseinschränkung durch die drei Westalliierten war in den Verhandlungen zum Viermächteabkommen und dem Grundlagenvertrag von 1972 zu berücksichtigen und kam erneut in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen im Jahre 1990 auf den Verhandlungstisch. Während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern. Die Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten. Die gleiche Rechtslage bezüglich zurückbehaltener Souveränität existiert in Japan.
Das us-amerikanische Beharren auf ihre unkündbaren Rechte in Deutschland und Japan zeigt, dass die USA stets ökonomische und militärische Dominanz eng verknüpft haben. Letztere sicherte ihnen den freien Zugang zu unentbehrlichen Rohstoffen, die Öffnung von Volkswirtschaften für den Güter- und Kapitalverkehr und die Absicherung von Handelswegen.
Ganz auf dieser Linie liegt, dass die USA unter der Bush-Administration zur Wahrung ihrer Interessen für die Zeit nach ihrem Abzug der Kampfgruppen aus dem Irak wie aus Afghanistan die Einrichtung von Militärbasen auf unbestimmte Dauer forderten. Die USA bestehen auch unter dem Präsidenten Obama gegenüber der Kabuler Regierung auf einer dauerhaften Präsenz ihrer Truppen in Afghanistan.
Zugleich mahnt der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass keines der NATO-Länder aus nationalen Gründen allein mit dem Abzug von Truppen beginnen dürfe (Tagespiegel, 11.6.2011). Die USA sind offenbar weiterhin überzeugt, dass sie dank militärisch überlegener Technologie die Talibankämpfer schließlich zur Aufgabe zwingen und die Warlords mit finanziellen Zuwendungen zum Einlenken bringen können. Der enge Zusammenhang zwischen der angestrebten permanenten US-Truppenpräsenz und der weiteren Unterstützung terroristischer Gruppen durch nationalistisch gesinnte Talibanfraktionen wird geleugnet und der von Soldaten der übrigen in Afghanistan engagierten NATO-Staaten daraufhin zu erbringende Blutzoll wird in Kauf genommen.
2 Die USA sind – gemessen an der Gesamtbevölkerung – das Land mit dem weltweit höchsten prozentualen Anteil von Gefängnisinsassen. Sie beharren weiterhin in mehreren Bundesstaaten auf der Todesstrafe, ganz zu schweigen von den sogar im Bericht erwähnten Foltermethoden und der Nichtanerkennung des Weltstrafgerichtshofs im Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror. Ihr positives Selbstbild entspricht nicht dem Bild, das sie für andere vorzeigen.
25. Juni 2011
Reinhard Hildebrandt
Können wir uns Hegemonialmächte heute noch leisten?
Vortrag bei Spree-Athen
Die Erfahrung lehrt uns, dass Hegemonialmächte zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie stets den Versuch unternehmen, den hegemonisierten Mächten ihre spezifische Gesellschaftsform, ihr Wertgefüge, ihre Politik und ihre Strategien überzustülpen. Hegemonialmächte schwächen ihre Opfer, entziehen ihnen Ressourcen.
Ob wir der Ausformung von Hegemonialmächten entfliehen können, ist ungewiss und bedarf einer umfassenden Analyse.
Das Imperium versucht, die innere Autonomie und die äußere Handlungsfähigkeit der beherrschten Macht absolut zu unterbinden. Die Hegemonialmacht kann die beherrschte Macht nur in ihrem Streben nach Autonomie begrenzen, aber nicht entscheidend daran hindern. Imperium und Hegemonialmacht formen endliche Strukturen, deren Lebensdauer sie selbst nicht bestimmen können.
Hegemonialmächte verlieren ihre Macht auf dreierlei Weise:
- durch Überziehung ihres Hegemonialanspruchs;
- durch Selbstschwächung, indem sie auf obsolet gewordenen Rechten beharren;
- durch Fehler in der Ausgestaltung ihrer Hegemonialposition.
Zu 1. Überziehung des Hegemonialanspruchs
Die Nato-Konferenz in Bukarest 2008Gegen den damaligen Vorschlag der USA, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die Nato zu öffnen, erwartete die Bush-Administration, dass keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, seine Stimme zu erheben.
Der Hegemon unterstellte bei den Hegemonisierten ein unüberschreitbares abhängiges Bewusstsein.
Die Bush-Administration ging davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und dass das von ihr ausgewählte aktuelle Arrangement als einzig möglicher Weg unhinterfragt bliebe.
Die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit seiner hegemonialen Praxis verkannte jedoch die inzwischen eingetretene Veränderung des hegemonialen Verhältnisses zu Lasten der USA.
Zu 2. Durch Selbstschwächung, indem sie auf obsolet gewordenen Rechten beharren
Beispiel: Beharren auf Sonderrechten der USA und UKDie Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten.
Auch während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern (zurückbehaltene Souveränitätsrechte).
Folgende Veränderungen gibt es in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA sowie Großbritannien:
- Da im aktuellen Fall von Libyen die Nato an der Überwachung der Flugverkehrszone über Libyen und an den Angriffen auf strategische Ziele in Libyen zunächst nicht beteiligt war, sah sich die Bundesregierung genötigt, den USA eine Erlaubnis für die Koordinierungsfunktion des Stuttgarter Hauptquartiers der US-Armee zu erteilen.
- Gefangenentransporte von Guantanamohäftlingen über den deutschen Luftraum. Nachträgliche deutsche Zustimmung.
- Angebliche Engpässe bei Kasernen. Bis 2020 Abzug.
Zu 3. Fehler in der Ausgestaltung ihrer Hegemonie
Beispiel: Nato-KonsultationsprozessIm Nato-Konsultationsprozess haben alle Mitglieder die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Strategien und Taktiken zu informieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu gelangen. Das Wort Konsultation erweckt den Eindruck, dass im Ausschuss alle Nato-Mitglieder auf gleicher Ebene angesiedelt sind. Im Notfall können jedoch die USA auch unilateral und ohne Konsultierung der anderen entscheiden, was zu Zeiten der Bush-Administration auch öfters geschehen ist.
Ein wohlmeinender Hegemon strebt ein kostenfreies ideales Unterordnungsverhältnis an. Wenn gemäß Hegel Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn besteht, erscheint im Bewusstsein des Knechts seine real existierende Unterordnung gerade umgekehrt als absolute Freiheit. Für den Hegemon ist ein solches Verhältnis kostenfrei.
Diese Deckungsgleichheit funktioniert seit dem Ende der Bush-Administration nicht mehr und führt damit zu einer Veränderung des bisher funktionierenden hegemonialen Verhältnisses. Die Folge: Verlust ihres Images als wohlmeinende hegemoniale Macht. Darin sind auch erste Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht zu erkennen.
Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht
Geopolitisch:
- Naher Osten (Ägypten, Libyen, Jordanien, Libanon, Irak, Jemen)
- Süd- und Mittelamerika (außer in Kolumbien und Honduras)
- Südostasien (südchinesisches Meer, indischer Ozean, Westrand des Pazifik)
Ökonomisch:
- Finanzkrise
- Infrastruktur
Militärisch:
- militärische Dominanz nicht mehr zu finanzieren.
Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte
- Der Aufstieg der Schwellenländer China, Indien, Brasilien
- Russlands Überwindung seiner Schwächeperiode,
- Die Stabilisierung des Euro durch die EU, um zu einen ernst zu nehmenden Mitspieler auf der Weltbühne zu werden,
- Die Neuorientierung der Welthandels- und Kapitalströme, nachdem die Ökonomie der USA weiterhin schwächelt,
- Japans Lähmung aufgrund des Atomreaktorunfalls und der Verwüstungen des Tsunamis,
- Die Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen der EU und China sowie Indien,
- Bestrebungen Russlands, eine Brücke zwischen Europa und China zu bilden,
- Neue Allianzen: Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) avanciert in machen Gegenden der Erde zum Gegenspieler der NATO. Neue strategische Partnerschaften, z.B. zwischen Russland und China, verschieben die etablierte Weltgesellschaftsordnung.
Hegemoniale Formationen und deren hegemoniale PraxisHegemoniale Formationen entstehen auf der Ebene der Diskursivität – bzw. der wissenschaftlichen Theoriebildung – als Erweiterung diskursiver Formationen. Was versteht man unter einer diskursiven Formation? Was unter der „Ebene der Diskursivität“, was unter der „Ebene des gesellschaftlichen Ensembles relativ stabiler Formen“?
Die diskursive FormationEine diskursive Formation (Foucault) ist ein Ensemble differentieller Positionen, das sich durch eine „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ auszeichnet. Mit einfachen Worten:
Der Wissenschaftler beschreibt mit einem allgemeinen Satz ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen oder eine neue Erkenntnis, die im Selbstgespräch oder im Dialog mit anderen entstanden ist. Beispiel: Die Erde dreht sich um die Sonne! Er formuliert also eine Hypothese, aus der er streng rational vorgehend Unterpunkte bzw. voneinander abgeleitete Unteraussagen bis hin zu Basissätzen ableitet (eine diskursive Formation). Dieses Ensemble differentieller Positionen soll, so ist die Annahme, in der empirisch erfassbaren Realität vorzufinden sein. In ihr muss es also die unterstellte „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ geben.
Auf welche Weise das artikulierende Subjekt in den Humanwissenschaften zu einer Aussage über das artikulierte Objekt gelangt, hängt anders als in den Naturwissenschaften von folgenden Überlegungen ab:
- unter welchem Gesichtspunkt bzw. welcher Zielbestimmung wird das Objekt vom Subjekt wahrgenommen (z.B. welches Problem soll in der Gesellschaft gelöst werden?),
- welche Bedeutung wird dem sprachlichen Ausdruck des Objekts im artikulierenden Subjekt (subjektiver Hintergrund des Subjekts) zugemessen (davon ist abhängig, was als Randbedingung vernachlässigt wird): Beispiel: US-Amerikaner beurteilt Entwicklungsepochen der Demokratie in Deutschland auf seinem kulturellen US-amerikanischen Hintergrund,
- wie viele Bedeutungen konkurrieren miteinander (drei Bedeutungen von Zivilgesellschaft),
- welche Bedeutungen werden aus der Vielzahl der Bedeutungen für die Begriffsbildung ausgewählt und welche werden ignoriert: Rückkehr zur Zielbestimmung.
- Jeder ausdifferenzierte einzelne Begriff sowie die Gesamtheit der strukturierten Totalitäten /Formationen bleiben notwendigerweise unabgeschlossen.
- Weder die Basissätze einer Deduktion können empirisch restlos bewiesen werden noch muss die Logik des Modells der immanenten Logik des Objekts entsprechen.
- Die von Kant gegen missbräuchliche Resultate der reinen Vernunft ins Feld geführten Verstandesbegriffe können Widerspruchsfreiheit in der theoretischen Analyse garantieren.
- Warum ist die Unabgeschlossenheit diskursiver Formationen eine Voraussetzung für jede hegemoniale Praxis?
- Hinter der Fassade vorgetäuschter „Machtferne“ für die Ebene der Diskursivität verbirgt sich ein Problem. Zwischen ihr und den anderen Ebenen praktischen Handelns existieren zahlreiche Berührungspunkte: z.B. zur Produktion handwerklich und industriell hergestellter Waren, zum Geldhandel, zum Kreditmarkt, zu den Dienstleistungen, der privaten sowie öffentlichen Verwaltung und zum zivilgesellschaftlichen Engagement. Neue diskursive Formationen können für diese Praxisformen unabsehbare Folgen für ihre aktuellen und künftigen Arrangements haben. Deren Repräsentanten beobachten deshalb sehr genau die Ebene der Diskursivität und nehmen auf vielfältige Weise Einfluss auf das Entstehen neuer diskursiver Formationen.
- Die Ebene der Diskursivität ist nicht machtfern oder gar machtfrei. Auf ihr sind von lächerlichen Hahnenkämpfen bis zu herrisch auftretenden Schulen und deren finanzielle Förderung durch Machteliten alle Schattierungen der Macht anzutreffen. Diffamierungen sind ein oft eingesetztes Mittel der Machterhaltung. In den einschlägigen Wissenschaftsjournalen setzen sich die Kämpfe um Deutungshoheit fort.
- Die Praxis einer hegemonialen Formation muss sowohl auf Veränderungen in den in ihr inkorporierten Systemen von Differenzen, Äquivalenzketten (z.B. Unternehmerlager versus Gewerkschaften) und Formen der Überdeterminierung (Existenz von Über- und Unterordnungsverhältnissen) reagieren, als auch Veränderungen ihres Terrains, auf dem sie tätig ist, berücksichtigen.
- Damit wird deutlich, dass hegemoniale Formationen niemals abgeschlossen sind. Ohne diese Unabgeschlossenheit gäbe es keine Zugewinn- und Verlustmöglichkeiten. Obwohl oder gerade weil sich die Repräsentanten einer hegemonialen Formation der Unabgeschlossenheit als Voraussetzung ihres Handelns bewusst sind, umgeben sie sich und das von ihnen ausgewählte aktuelle Arrangement stets mit der Aura des Universellen. Ihre hegemoniale Praxis stellen sie damit selbst gern als alternativlos dar.
17. April 2011
Reinhard Hildebrandt
Looking beyond the honeymoon
Wie schätzen die USA Indien ein: gleichbedeutend mit China als Global Player oder als hilfreicher Mitspieler in der Eindämmung Chinas? Verfolgt Indien weiterhin eine eigenständige Politik auf der Grundlage originärer indischer Interessen? Welche multipolare Konstellation wird sich in Asien durchsetzen? Die Autoren dieses Artikels, der zuerst in der in Indien viel gelesenen und sehr geschätzten Zeitung „The Hindu“ erschienen ist, versuchen auf die Fragen eine Antwort zu geben.
1.The relationship between India and the U.S. is emerging as one of the three that will shape Asia and global politics in the decades ahead, the other two being U.S.-China and India-China
It is rare for the ideas people to be behind the curve but those who say the India-US relationship has been reduced to merely “feel good” meetings and junkets are exactly that — a little behind the curve. Critics in both Washington and New Delhi complain about the preponderance of grand rhetoric which remains unmatched by delivery. Yes, India has signed some significant defence deals with the U.S. but where’s the real beef or the strategic content, they ask.
This reductive description is more a function of the traits typical of people in the two countries — if some Americans are driven by “instant gratification,” their Indian counterparts see “melodrama” as a virtue. But beyond these personality quirks, clues point to a maturing partnership that no longer needs the adrenalin rush of big-ticket developments such as the Indo-U.S. civil nuclear agreement of 2008.
The languageIt is apparent that India and the U.S. have made a long-term bet on each other even though the language reflects a cautious discretion bred in political realities. In India it is still not kosher for many to call America a good friend, a useful partner. It is ever so easy to point to the long history of Washington’s coddling of Pakistan and its disregard of Indian concerns as exhibit A. Their counterparts in Washington complain: what has India done for the U.S. lately? Remember the promise of commercial dividends from the nuclear deal?
Fortunately, those who make decisions are largely unfettered by this narrative. They don’t want the present to be completely hostage to the past. They are already moving ahead, pushed by new geographies and challenges. The India-U.S. relationship is emerging as one of the three bilateral relationships that will shape Asia and perhaps define global politics in the decades ahead. The other two being U.S.-China and India-China.
2. Four trends
The new India-U.S. partnership has four broad trends, which were apparent during recent discussions between Indian parliamentarians and scholars with senior officials in the departments of State and Defence, and at the National Security Council as part of a delegation organised by the Naval Post-graduate School, Monterey Bay and the Observer Research Foundation.
The relationship has moved beyond “parallel actions” where both countries despite a congruence of interests moved separately, whether in Myanmar, the Middle East or Afghanistan. The old distrust has been replaced by a new respect for this kind of independent parallelism, which now seems to be converging. This has opened up the field to a wide variety of issues for frank discussion and an exchange of ideas between the two. From Pakistan to cyber security to space, no subject is taboo.
The two main drivers for American consolidation of thought: an externality called China on the one hand, and internal doubts about the merits of unilateralism, on the other. American people have no appetite for new, expensive engagements. They imagine themselves better off “leading from behind” despite the hawkish clamour from conservative talking heads.
The second noticeable trend is the understanding between the political leadership in both countries, stressed and repeated at very senior levels. In the U.S., bipartisan support for India is public and enthusiastic, putting New Delhi in the sanguine position of not having to fret about a change of administration in Washington this November. In India, the support is pledged quietly and firmly and repeated through itinerant former foreign secretaries and retired generals. The challenge here is to overcome the inertia of the mid-level bureaucracy on both sides which can puncture their political masters’ biggest dreams with pinpricks born of residual institutional memories.
Also apparent is a new appreciation at high levels that the bet on India cannot and should not be purely for its large market. India’s emergence is good in itself because of strategic convergences. Short-term transactional expectations around that odd contract or defence deal gone awry will continue to disappoint, but policymakers understand the need for “patience” — a word that has become part of official U.S. speak on India. The understanding has opened the door to Washington looking at India in the medium-term instead of just for short-term gains. A growing number of thinkers in Washington believe the strengthening of India will be one of the main features of the U.S. presence in Asia this century.
The last and perhaps the most interesting development is the real entry of the U.S. Defense Department to try to “own and guide” the India relationship in ways that were unimaginable a few years ago. Defense Secretary Leon Panetta and Deputy Secretary Ashton Carter have taken a decision to act on some of India’s perennial complaints about tech and weapons transfer to put real meat on the bones. Almost all key U.S. relationships are driven by the Department of Defense (DoD) because of the high element of the strategic content. The trajectory from the early 1990s when the DoD hardly had any interest in India to reach a point where it wants to be the main driver is significant.
Regional issuesThis has important benefits. Plain talk is one. Senior U.S. officials have apparently conveyed to the Pakistani generals that India’s strategic interests in Afghanistan far outweigh theirs because India has greater capacity, reach and ultimately more robust goals in the region. So they had better get used to the idea. The de-hyphenation is complete. This attitudinal change is a far cry from even two years ago when the Americans were hedging their bets between the two countries. But today there is greater appreciation of India’s pain. The Americans are equally perplexed about how to deal with a country that has allowed its own slow radicalisation and despite opportunities, has failed to stem the tide.
Where will the new trends lead? There could be a mismatch of expectations and capacity. For instance, the U.S. may now be willing to see India as a key balancer in the region and in Afghanistan. New Delhi, however, may be more comfortable with a far modest role. India is unlikely to agree to be a net provider of security and its strategic outlook may be limited to ensuring that anti-India forces don’t dominate Kabul. The green-on-blue attacks against U.S. troops may have already given the Indian political class jitters about training Afghan forces.
Then there is the brute reality of India itself, which can alienate the strongest ally. The Democrats and the Republicans are united in their support for India but what about the political climate in a country with narrow horizons and where short-term obsessions manifest in “tactical” moves that can derail the country’s larger strategic goals?
(Seema Sirohi is a columnist based in Washington DC. Samir Saran, Vice-President at the Observer Research Foundation, was a part of the recent Track-2 interactions with the U.S. establishment.)
Copyright: The right to republish this article was granted by the authors to solon-line.de. For further usage contact the authors.
16. Oktober 2012
Reinhard Hildebrandt
Indo-European Dialogue in a Changing World
On November 25-27, 2009, the conference “Indo-European Dialogue” was held in Brussels and in Paris. The event was organized by the Foundation for European Progressive Studies in collaboration with the French Foundation Jean Jaurès. We publish here Dr. Reinhard Hildebrandt’s discussion paper, titled “Indo-European Dialogue in a Changing World,” for the conference.
The following discussion paper is to be situated within the context of the subjects debated at the “Indo-European Dialogue” conference:
- Europe and India: strategic partners in a multipolar world?
- European policy positions towards Asia: Does India play a secondary role?
- Major Parameters of India’s Foreign Policy and Europe’s relevance
- Common Indo-European interests and the South and West Asian Regions
- India’s relations with China and its geopolitical challenges
- India’s Neighbourhood and West Asia
- India’s Maritime Strategy and its main Challenges
- A realistic Assessment of Europe’s interests: Where do Europe and India meet?
- Are Indo-European relations a prisoner of bi-lateral relations? The way ahead from an Indian perspective
- The struggle against inequality, the crisis of democracy
- How can a continental and multinational democracy function?
- The Crisis and the Struggle Against Inequality – The Role of Public Power Perceptions of Indo – European relations
I. Introduction
- We are at a historical turning point, today. With the Asian powers coming closer together and with the reorientation of Continental Europe in the aftermath of the world economic crisis, with the realization that the USA is in the process of losing its hegemonial status in the context of its global military interventions, a new kind of interplay is discernible between the global powers. In my opinion, the core issue at present is: What is the power structure that will emerge from this global concert of powers, and at what generally accepted values will it primarily be anchored on.
- An analysis of the power structures and value orientations of the past enhances the understanding of the present realignments in the interplay of powers; it will also reveal the fundamental differences that distinguish the present from previous epochs of history.
- Within this framework of shifting power equations, we need to deliberate on the prospects for European-Indian relations resulting there from.
II. A brief review of the past
1.The pentarchy (five-power system): 1815 to 1871
The steady decline of the “Holy Roman Empire of the German Nation”, dominated by German princes, kings and emperors, together with Napoleon’s “daredevil” attempt to build a French empire, led to the emergence of the European five-power system with Great Britain, France, Russia, Austria-Hungary and Prussia as players. Looking at the scenario from the perspective of power politics, it may be said that the three powers of the European flank – Russia, France and Austria-Hungary – contributed to a further weakening of the European center which consisted of many small states. The latter saw themselves faced with the threat of annexation by a still ambitious Prussia. The five-power system operated as follows: If Prussia and Austria-Hungary were for instance locked in a war over territorial disputes, France and Russia maintained a balance between the warring sides while Great Britain was the power that tipped the scales. In weakening the stronger two-power alliance and strengthening the weaker of the two, Great Britain ensured that continental Europe was kept preoccupied with itself, thereby leaving it free to expand its own empire. However this system, guided solely as it was by power politics, was unable to prevent Prussia from expanding its territory and influence over the small German states.
2. A somewhat modified pentarchy following German unification:1872 to 1919
Reacting to the growing endeavors of democratic and nationalist-minded Germans and economic experts to do away with the system of small states and, with that, also shake off regressive princely rule to create a liberal German nation state with a single external customs border, Prussia
- expanded its territory by waging war and exerting economic pressure on the other small states
- suppressed democratic movements and
- proclaimed the German Reich following the war with France in 1871/72.
The absence of an overarching normative structure straddling the purely power-driven architecture of the pentarchy was now more conspicuous than ever before. Without the same generally accepted values for all the powers involved, the purely power-oriented architecture showed signs of strain and finally collapsed amid the turmoil of the First World War (1914-18).
3.The pentarchy re-configured: 1919 to 1945
The unsuccessful attempt, together with the new allies Poland, Czechoslovakia and Yugoslavia, to revive the pentarchy against the isolated revolutionary Soviet Union and the vanquished, severely crippled Germany and finally ended in the Second World War (1939-45) from which the USA and the Soviet Union emerged the new leaders for Europe. The division of Germany into two states, with a divided Berlin as a separate unit, and the division of Europe into an American and a Soviet zone of influence created an entirely new security architecture dominated by peripheral powers – a situation described as indicative of the East-West conflict but in reality reflecting the dual hegemony of the USA and the Soviet Union.
4. The security architecture of the dual hegemony of the USA and the Soviet Union (1945-1990)
With the end of American monopoly over the nuclear bomb in 1949 and, more importantly, with the loss of nuclear invincibility in 1959, there emerged for both hegemony-oriented powers a strategic situation in which geo-political stability could be established and maintained exclusively with, and at the same time against, the other in each case.
4.1. The geopolitical ‘with-each-other’
If the geopolitical ‘with-each-other’ were to be considered first, it should be assumed with respect to the implementation of real politics that both hegemonial powers – contrary to their self-perception – were not in a position to exploit all conceivable options for the maximum assertion of their own will. In other words: The assertion of one’s own will curtailed the will of the opposite side to assert itself. The “freedom” of both hegemonial powers henceforth lay in the choice between the options offered by the unfolding of their own power, and the options that could be checked and obstructed, and therefore effectively curtailed, by the opposite side. However, at no point could they assess the exact scope of action open to them. This high measure of uncertainty meant that despite very severe competition, both hegemonial powers shared a common interest in the preservation of the fragile geopolitical stability, particularly in divided Europe and consequently also in their dual hegemony.
4.2. The political ‘against-each-other’
Political ‘against-each-other’, which existed alongside, may be briefly explained as follows: Although there was an interest in preserving geopolitical stability as explained above, both powers nevertheless also acted in accordance with the principle of the maximum unleashing of power. The USA regarded its Soviet hegemonial partner as devil incarnate and arch rival, while priding itself on being the ultimate defender of freedom. The Soviet Union projected itself as the ultimate representative of the proletariat and suspected the US of the most hostile intentions. Both sides sought to weaken the other with all the military, economic and political means at their disposal. Thus, almost unconsciously, they questioned the stability necessary for dual hegemony while – without themselves noticing – pushing the boundary line between the framework of action open to both sides to the detriment of the other in each case. Finally, shortly before the end of the East-West conflict (1989), the Soviet Union found itself divested of nearly all its freedom of action, whilst the US could expand its room for maneuver to the maximum. The Soviet Union lost all its areas of influence and was on the verge of collapse. However, even the USA had to accept – even if only 20 years later – that the end of dual hegemony had at the same time also irretrievably eroded its own hegemonial claim. Even before this realization had dawned in the US, two American administrations had already made every effort to expand their territorially restricted hegemony into a global one.
5. US ambitions for global hegemony: 1990 to 2009
Under President Clinton and Bush Jr., the USA used various means to pursue an unilateral policy of expanding American hegemony to states that had formerly belonged to the Soviet or non-aligned block. A weakened Russia and China were likewise also brought under the purview of this policy. Under Clinton, the USA instrumentalized human rights policy in particular for its own hegemonial intent, though it drew just as much upon the neo-liberal strategy for bringing economies in the rest of the world closer to the US model. Under Bush Jr., this policy was supplemented with military intervention through the three wars entered into against Iraq, Afghanistan and what was (and is) referred to as “international terrorism”. To attempts on the part of Russia, China and India to assert themselves, the Bush administration responded by adopting containment strategies against Russia and China on the one hand and holding India in friendly embrace on the other. Some of the continental powers of the European Union held out against the USA’s hegemonial ambitions, whereas the majority of the East European countries fell entirely in line while Great Britain even worked in tandem with the US to maintain Anglo-American supremacy. Finally, the heavy losses inflicted by the wars and the financial crisis have taken such a toll on the US that it finds itself compelled to relinquish most of its hegemonial ambitions in the near future and finally take on the challenge posed by more recent developments in the concert of global powers.
III. The present re-orientation of the concert of globally engaged powers: (2009/2010)
The following developments brought about changes in the global architecture:
1. The Bush administration recklessly frittered away its influence on Russia, which the Clinton administration had come to gain over Russian President Jelzin.
2. After the USA and the EU increasingly began to offer the states of the former Soviet Union membership to the NATO and the EU, while at the same time instrumentalizing the uncertainty created by differences between Russia and the Ukraine over oil and gas supplies in order to advance their own pipeline project circumventing Russia, the Russian President Putin began to increasingly turn to Asia. This shift saw the birth of the “Asian triangle” of which resource-rich Russia is a part along with China and India, and in which the Central Asian Republics are fully engaged.
Should the strategic partnerships between China, India and Russia – converging in the “Asian triangle” – result in the emergence of a legal superstructure in the long term, they would, like the EU, become a lasting factor of stability in the global play of powers.
3. An ever-increasing number of Asian economies are turning to China, after the USA – as the largest importer of Asian products until the financial crisis – has now become considerably less important for these markets as a result of the crisis.
4. Some key member countries of the EU, among them Germany in particular, are in turn strengthening their ties with Russia, regarding that country as a useful stepping-stone to Asia.
5. On the Latin American continent – regarded as the USA’s “backyard” during the East-West conflict – only Columbia remains an ally of the US, while Brazil is readying to become a global player.
As a consequence of these developments, a new interplay of the global powers appears to be emerging. Economically, the inner Western triangle of USA-Japan-EU still attracts 40 percent of the world trade, but given the activities of the transnational companies and the financial capital involved, even this 40 percent is intensively linked with the emerging Asian triangle of China, India and Russia. Trade within this new triangle is also substantial. The trend towards more globalization remains unbroken although the economic crisis has temporarily curtailed the global flow of financial capital, dented the production volume of transnational companies and caused the rapid decline of the US market. However, we have to take into consideration a shift in global production and trade from the traditional Western triangle to the new Asian one. This development will also have political, military and cultural impacts besides challenging the hegemonic ambitions of the USA.
9. Dezember 2009
Reinhard Hildebrandt
„Swing“ Power Indien im Fokus US-amerikanischer Hegemonialstrategie
1. Strategische Partnerschaft zwischen den USA und Indien
Kanwal Sibal, ehemaliger Foreign Secretary Indiens, analysiert in seinem Artikel „Crosscurrents in India-U.S. ties“ (The Hindu, 16. Juli 2013) die Zweifel Indiens und der USA an der Substanz ihrer strategischen Partnerschaft. Das frühere indische Misstrauen gegenüber den USA sei zwar in der Zwischenzeit von einem positiven Engagement und größerer Akzeptanz US-amerikanischer Goodwill Bekundungen abgelöst worden, aber grundlegende Differenzen blieben weiterhin bestehen.
Die indische Regierung müsse zur Kenntnis nehmen, dass die USA in der Förderung „universeller Werte“ eine selektive Verhaltensweise an den Tag legten: Verschonung befreundeter Staaten und Sanktionen gegen Widersacher der USA. Im Falle des Terrorismus erdulde man die Handlungen befreundeter Mächte, während Gegnern der USA der Regimewechsel angedroht werde. Gegenüber Pakistan, Afghanistan, Iran und Syrien sowie beim Klimawandel, in der Doha-Runde, der Souveränität von Staaten und in weltpolitischen Fragen hätten Indien und die USA unterschiedliche Perspektiven. Strategische Partnerschaft, meint Kanwal Sibal, erfordere keine gleiche Sichtweisen und erst recht nicht die einseitige Anpassung Indiens an US-amerikanische Präferenzen, zumal sich Indien mit fehlender Transparenz US-amerikanischer Politik und unangekündigten Strategiewechseln konfrontiert sehe.
An den Beispielen Pakistan, Afghanistan und China illustriert Kanwal Sibal Indiens Kopfschütteln über US-amerikanische Politik. Obwohl Pakistan Osama bin Laden beherbergt habe, unterstütze die US-Regierung Pakistan weiterhin militärisch und ökonomisch. Trotz pakistanischer Begünstigung terroristischer Akte gegen Indien unterlägen die USA immer wieder der Tendenz, Indien und Pakistan auf der gleichen Stufe anzusiedeln. In Afghanistan hätten die USA zuerst Indiens Engagement völlig in Frage gestellt, dann unterstützt und jetzt wiesen sie Indiens Zweifel an der politischen Rehabilitation der Taliban durch die USA zurück. US-amerikanische Beziehungen zu China wechselten von der groß angekündigten Fokussierung auf den pazifischen Raum (mit der unausgesprochenen Forderung nach Eindämmung Chinas) zur schwächeren Strategie des „re-balancing“.
2. Visite des US-amerikanischen Außenministers Kerry in Indien
Kanwal Sibal kommt anhand des Kommunikees, das nach dem Besuch Kerrys im Juni 2013 die Ergebnisse der Verhandlungen zusammenfasst, zu dem Schluss, dass der „India-U.S. strategic dialogue … ignores or obfuscates key strategic issues“: „The joint statement omits any mention of China Sea or U.S.‘re-balancing’ towards Asia, though Mr. Kerry affirmed in his press statement that the U.S. leadership considered India a key part of such a re-balancing. There is only a general reference – in the paragraph dealing with the Indian Ocean and the Arctic Council – to maritime security, unimpeded commerce and freedom of navigation! Iran and Syria are absent from the statement.” Hingegen als “arm-twisting” bezeichnet Kanwal Sibal Kerrys Forderung, den Vertrag zwischen Westinghouse und der Nuclear Power Corporation of India zur Beschaffung ziviler Nukleartechnologie durch Indien bereits bis zum September dieses Jahres abzuschließen, obwohl viele Fragen zwischen den beteiligten Seiten völlig ungeklärt seien und um unterschriftsreife Formulierungen noch gerungen werden müsse. Abschließend kommentiert Sibal die indisch-US-amerikanischen Beziehungen mit der folgenden Bemerkung: „… the cogs of the strategic partnership still grate with each other and the machine is not adequately lubricated yet by the diplomatic grease of coherence, clarity, balance of interests and a sense of true partnership.”
3. Ein asiatisches Jahrhundert?Die andersartigen Perspektiven, die Indien und die USA mit der strategischen Partnerschaft verbinden und die unterschiedlichen Schlussfolgerungen beleuchtet Rajiv Bhatia in seinem Artikel „Learning to live in a new Asia“ (The Hindu, 9. Juli 2013). Als erstes benennt er die unterschiedlichen Vorstellungen über die Größe und Reichweite der asiatischen Region. In der strategischen Literatur beginne Asien nicht, wie viele in Indien meinten, am Suezkanal und reiche bis zum Japanischen Meer. Asiatische Regierungen und die globale strategische Gemeinschaft bezeichneten mit dem Terminus „Asia-Pacific“ den geographischen Raum, den die Mitglieder des East-Asia Summits (EAS) ausfüllen. Das sind die zehn ASEAN-Mitglieder (Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand, Burma [Myanmar] ,Brunei, Kambodscha, Laos, Vietnam), zusätzlich sechs „dialogue partner“ (China, Indien, Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland) und zwei „Pacific“ powers (USA und Russland). Deren Interaktionen hätten den „Asia-Pacific Roundtable“ auf der „major Track II conference“ in Kuala Lumpur zu Anfang Juni dieses Jahres bestimmt. Im Fokus stand die Einschätzung der Politik des Schwergewichts China und dessen Beziehungen mit den USA.
Die ASEAN-Staaten unternahmen den vergeblichen Versuch, in Konsultationen und durch Konsensbildung die Nachbarschaftsprobleme mit China in den Griff zu bekommen. Sie scheiterten an den sich aufbauenden fundamentalen Spannungen zwischen Japan und China, dem Konflikt zwischen Nord- und Südkorea und der robusten Einmischung der USA in diesen Konflikt. Chinas Unsicherheit über die gespannte Situation habe sich in zunehmender Aggressivität entladen.
Angesichts der vorherrschenden Diskussion des Verhältnisses zwischen den USA und China sei deutlich geworden, dass Indien als „Tier II power“ einzustufen sei. („It may hurt or pride but a realistic assessment shows that India, along with Japan, is a Tier II power, not exactly in the same upper category as China and the U.S. A frank recognition of the fact should help us to craft and pursue a dependable policy to handle Asia’s complexities.”) Was versteht Rajiv Bhatia darunter?
- Als strategisches Ziel: die Entfaltung einer auf Kooperation und Vermeidung von Konflikten beruhenden Partnerschaft Indiens mit China von gleich zu gleich, basierend auf gegenseitigem Vertrauen, Respekt und zum Nutzen beider;
- Entwicklung einer strategischen Partnerschaft Indiens mit Japan für den Zeitraum, in dem das Schwergewicht China nur durch ein indisch-japanisches Zusammenspiel ausgeglichen werden könne; Offenheit für eine Zusammenarbeit mit den ASEAN-Staaten sowie Australien und Südkorea, wobei die Partnerschaft Indiens mit Japan jedoch nicht prinzipiell gegen China gerichtet sein dürfe;
- Ausbau des Ostasien-Gipfels (East Asia Summit) als regionaler Mechanismus zur Beilegung von zwischenstaatlichen Differenzen der asiatischen Staaten untereinander, um Konflikte durch Verhandlungen zu lösen;
- Ablösung der USA als eigennütziger Schiedsrichter in asiatischen Konflikten.
4. Pentarchie (Fünfmächtesystem) und/oder Europäische Union als Vorbild für Asien?Aus dem stetig fortschreitenden Siechtum des von deutschen Fürsten, Königen und Kaisern dominierten „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ entstand nach dem Wiener Kongress 1814/15 das europäische Fünfmächtesystem mit den Mitspielern Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn und Preußen. Die drei kontinentalen Flügelmächte Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn sorgten für die weitere Schwächung des europäischen Zentrums, das aus vielen Kleinstaaten bestand und sich der Gefahr ausgesetzt sah, vom noch nicht saturierten Preußen aufgesogen zu werden.
Das Fünfmächtesystem funktionierte auf folgende Weise: Gerieten beispielsweise Preußen und Österreich-Ungarn in kriegerisch ausgetragene Gebietsstreitigkeiten, sorgten Frankreich und Russland für einen Ausgleich der Kontrahenten und Großbritannien bildete das Zünglein an der Waage. War eine der beiden Zweierkoalitionen zu keinem Kompromiss bereit und reichte der Einfluss des britischen Imperiums entweder nicht aus, um die zum Krieg entschlossenen Mächte rechtzeitig zu beruhigen, oder zeigte die britische Regierung kein Interesse an der Wahrnehmung ihrer Ausgleichsfunktion, weil sie nach dem Aufstieg des Deutschen Reiches den Verlust ihrer Schiedsrichterrolle fürchtete, war ein Krieg unvermeidlich. Die meisten Akteure des Fünfmächtesystems bzw. der Pentarchie des 19. Jahrhunderts zeichneten sich weder durch eine besondere Weitsicht aus, noch beschäftigten sie sich mit dem Fünfmächtesystem als einer endlichen Struktur. Der Weg in den Ersten Weltkrieg blieb ihnen deshalb nicht erspart. Weder erkannten sie frühzeitig die Relevanz der Machtverschiebungen innerhalb des Systems noch waren sie in der Lage, adäquat darauf zu reagieren. Ohne für alle beteiligten Mächte gleichermaßen mit gültigen und anerkannten Werten ausgestattet zu sein, zeigte sich die rein machtorientierte Architektur überfordert und zerbrach schließlich in den Wirren des ersten Weltkrieges (1914 -1918).
Die Wiederauflage des Fünfmächtesystems als modifizierte Pentarchie (Großbritannien, Frankreich, Polen, Tschechoslowakei und Deutschland – im Hintergrund mit Jugoslawien als verstärkendes Element der beiden schwächeren östlichen Mitglieder) demonstrierte überdeutlich, wie wenig lernfähig sich die politischen Akteure im Umgang mit den Resultaten des Ersten Weltkrieges zeigten. Ein Sicherheitssystem zu errichten, das ein früheres Mitglied (die revolutionäre Sowjetunion) isoliert, ein zweites Mitglied (Deutschland) in seiner Macht drastisch begrenzt, zum alleinigen Schuldigen für den Ausbruch des Krieges erklärt und beide zu Parias des Systems herabstuft, kann nicht auf Dauer funktionieren und den Frieden zwischen den Völkern erhalten. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg war damit zwar nicht vorgezeichnet, aber auch nicht frühzeitig abgewendet.
Die Aufteilung Deutschlands in zwei Staaten und Europas in ein amerikanisches und sowjetisches Einflussgebiet schuf für Europa eine völlig neue, von Randmächten beherrschte Sicherheitsarchitektur, die als Ost-West-Konflikt bezeichnet wurde, aber tatsächlich eine duale Hegemonie zwischen den USA und der Sowjetunion darstellte.
Nach der verheerenden europäischen Geschichte unternimmt die Europäische Union den Versuch der Zusammenführung bisher selbständiger Zirkulationssphären, deren Glieder weiterhin sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. Der völkerrechtliche Status der EU entspricht weder einem Bundesstaat, in dem die Untergliederungen der Zentralgewalt untergeordnet sind, noch einem Staatenbund mit selbständigen Gliedstaaten. An der EU lässt sich erkennen, welche Probleme gelöst werden müssen, damit eine untereinander abgestimmte Entwicklung zum Vorteil aller gereicht. In ihr werden über Jahrhunderte hinweg unabhängig voneinander gewachsene gesellschaftliche und staatliche Strukturen der einzelnen Nationalstaaten daraufhin analysiert, ob sie in ihrer Fortentwicklung den übrigen Gliedstaaten der EU Schaden zufügen und wenn ja, entweder an die gemeinsame Entwicklung angepasst oder aussortiert werden müssen. Das Zusammenwachsen der EU verlangt nur in wenigen Bereichen eine weitreichende Vereinheitlichung und erlaubt und fördert überall dort separate Ausprägungen, wo sie für den Gesamtzusammenhang nützlich sind und dem Ziel dienen, die Vielheit in der Einheit zu bewahren, zum Nutzen aller zu mehren.
Eine ähnliche Entwicklung wie die Schaffung der Europäischen Union ist für Asien unwahrscheinlich. Für die absehbare Zukunft ist beispielsweise eine mit der EU vergleichbare Gemeinschaft zwischen China und Indien nicht vorstellbar. Dies gilt auch für die ASEAN-Staaten, die ihre nationale Souveränität in gleicher Weise wie China und Indien für unantastbar halten. Das Prinzip der Nichteinmischung entsprechend dem Westfälischen Frieden von 1648 gilt uneingeschränkt. Realistischer erscheint eine genaue Prüfung der Mechanismen des Fünfmächtesystems, um aus dem Scheitern der Pentarchie die richtigen Schlussfolgerung ziehen zu können.
Endnoteni Siehe dazu: Das ungleiche Verhältnis zwischen China und Indien, in: Reinhard Hildebrandt, Globale und regionale Machtstrukturen – Globale oder duale Hegemonie, Multipolarität oder Ko-Evolution, Frankfurt am Main 2013, S. 157-176.
1. August 2013
Reinhard Hildebrandt
China – Annäherung an eine komplexe Herrschaftsstruktur
In welchem Übergangsstadium sich China als „sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes“ gegenwärtig befindet, ist für Außenstehende kaum feststellbar. Vielleicht sind sich die Machthaber noch nicht einmal selbst darüber völlig im klaren. Ob die Informationen, die frei verfügbar sind, bereits eine realistische Lageanalyse liefern, ist ungewiss. Der nachfolgende Text stützt sich sowohl auf eigene Eindrücke wie auch auf Berichte. Auf der Grundlage einer theoretischen Analyse stellt er aber vor allem ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dem man sich einem präziseren Bild annähern kann.
1. Reiseeindrücke
Der mit geruhsamen europäischen Verhältnissen vertraute Besucher Chinas zeigt sich überrascht von der Hektik, die ihn in den mehrere Millionen Einwohner zählenden Großstädten Chinas umgibt. Ständig vom Strom der Menschenmassen umgeben zu sein, verursacht beklemmende Gefühle und so gelassen wie Chinesen Bürgersteige zu benutzen, die mit Einkaufsständen, Fahrrädern, Elektrorollern und zahlreichen Autos zugestellt sind, übersteigt schnell sein Anpassungsvermögen und Wohlbefinden. Anders als für Einheimische gleicht für ihn das Überqueren der mehrspurigen und meist völlig verstopften Straßen einem gefährlichen Hindernislauf. Zudem pochen nach rechts abbiegende Verkehrsteilnehmer trotz Zebrastreifens auf ihrem Vorrang gegenüber Fußgängern. In der Rushhour in Bussen und Untergrundbahnen mit den übrigen Fahrgästen um jeden Zentimeter Freiraum kämpfen zu müssen, treibt sehr bald Schweiß auf die Stirn. Panik ergreift ihn, wenn er in der Schlange der Wartenden vor den Bahnhofseingängen der Fernbahnen von den nachdrängenden Fahrgästen unerbittlich zu den Durchleuchtungsapparaten geschoben wird, um dort sein Handgepäck auf gefährliche Gegenstände überprüfen zu lassen.
Erstaunt beobachtet der Besucher das teilweise hemmungslose Konsumverhalten zu Reichtum gelangter Chinesen, ihre Vorliebe für Luxuskarossen und ihr Bestreben, ihre Wohnkomplexe durch hohe Zäune und Mauern und Eingangskontrollen abzuschirmen. „Die Zahl der Milliardäre in China hat sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt.“(Sandy Group,© Süddeutsche.de, 7.9.2011). Angesichts der um sich greifenden Konsumorientierung der zahlungskräftig gewordenen Mittelschicht (Thomas Lindner, „Ohne China stagniert die Welt“, Schätzung: 140 Millionen Menschen , Tagesspiegel, 8. 9. 2011) muss er sich erst wieder in Erinnerung rufen, dass Chinesen noch vor wenig mehr als fünfzig Jahren landesweite Hungersnöte zu ertragen hatten. „Weiß heute noch jemand, wie sich Hunger anfühlt?“, zitierte Bernhard Bartsch einen älteren Chinesen (Frankfurter Rundschau, 27/28. 8. 2011). Heute stünden in seiner Wohnung ein Fernseher, eine Klimaanlage und eine große Tiefkühltruhe und selbst das zähle in den Augen seiner Kinder nicht als Wohlstand. Dass selbst Geringverdiener sich glücklich über das vielfältige Warenangebot in den Einkaufspassagen zeigen, obwohl sie es sich nicht leisten können, demonstriert den gesellschaftspolitisch hohen Stellenwert des Konsums in der Erhaltung des sozialen Friedens im heutigen China.
Blickt der Besucher an den zahllosen schmucklosen Fassaden der eng beieinander stehenden Hochhäuser empor, vermag er sich nur schwer vorzustellen, dass sich Chinesen trotz ihrer sehr berechtigten Klagen über hohe Wohnungspreise darauf freuen, ihre bisherige ohne eigene Toilette und Dusche ausgestattete Wohnung in einem Hutong (Gasse) oder in einem vollkommen abgewohnten vierstöckigen Gebäude der fünfziger und sechziger Jahre gegen eine bescheidenen Komfort bietende Wohnung beispielsweise im 13. Stock einzutauschen.
„… die Preisexplosion im letzten Jahr hat es besonders der wachsenden Mittelschicht schwer gemacht, sich den Traum von einer größeren Wohnung zu verwirklichen.“(Peer Junker, Träume aus Beton, Tagesspiegel, 18.6.2010). In Shanghai stiegen die Preise für Wohnraum im letzten Jahr um 50 Prozent (Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010). Mit Protest und tief enttäuscht reagieren jedoch Mieter von Wohnungen in Häusern, die gegen den Willen der Bewohner niedergerissen werden, um Bauland für Hochhäuser zu schaffen. Ganze Stadtteile werden platt gewalzt und in Neubaugebiete verwandelt. Die entwurzelten Bewohner suchen oftmals vergeblich eine neue Bleibe oder müssen weit außerhalb ihrer bisherigen Wohnquartiere eine neue Wohnung akzeptieren, während zu Wohlstand gelangte Chinesen gleich mehrere Wohnungen aufkaufen und auf höhere Preise spekulieren.
Mit Erstaunen reagiert der Besucher, wenn Chinesen bewundernd die zahlreichen Repräsentationsbauten in Beijing betrachten. Zweifellos verkörpert sich in ihnen international außergewöhnliche Architektur, aber als beziehungslos nebeneinander stehende Solitäre erzeugen sie keine harmonische Stadtlandschaft.
Fragt sich der Besucher bei aller spontan aufkommender Kritik jedoch, wie er die Bedürfnisse eines 1,3 Milliarden Volkes angemessen erfüllen würde, welche Infrastruktur zu errichten wäre, um den heutigen und künftigen Erfordernissen gerecht zu werden, auf welche Weise er die weit verbreiteten Sorgen um Wohnung, Arbeits- und Ausbildungsplätze stillen würde, überfällt ihn schnell Ratlosigkeit. Sein an viel kleineren Dimensionen orientierter europäischer Maßstab versagt angesichts der gesellschaftspolitisch brisanten Problematik von zunehmendem Reichtum weniger Chinesen und einer verarmten und massenhaft entwurzelten Landbevölkerung, die als Wanderarbeiter (mehr als 200 Millionen) in die wirtschaftlich prosperierenden Städte des Ostens strömen, dort unter menschenunwürdigen Verhältnissen (survive or be eaten up) leben und für ihre Kinder keinen Platz an öffentlichen Schulen zugewiesen bekommen. Diese ernüchternde Einsicht trifft auch auf das aus europäischer Sicht geringe Maß politischer Freiheiten zu, die den chinesischen Bürgern von der Führung ihres Landes zugestanden werden. Zwar ist er mit dem Verhältnis zwischen Eigennutz- und Gemeinwohlorientierung, das dem Freiheitsspielraum der Individuen in Europa zugrunde liegt, einigermaßen vertraut, aber welcher Maßstab ist für die in China gültigen Proportionen der angemessene?
So zeigt sich beispielsweise der Besucher aus europäischem Blickwinkel über Maßnahmen des Pekinger Kultusministeriums irritiert, das Internet von Songs säubern zu wollen, „die der Sicherheit der Staatskultur schaden“ (Frankfurter Rundschau, 26.8.2011). Woher nimmt die chinesische Obrigkeit den Maßstab, um sicher einschätzen zu können, was der „Staatskultur“ nutzt oder schadet, was beispielsweise unter „geistiger Verschmutzung“ zu verstehen ist? (Martina Meister, Keine Orte, nur noch Worte, Tagesspiegel 14.10.2009). Wie abgehoben sich die Führung vom Volk zu fühlen scheint, wird an einem Zirkular des chinesischen Staatsrats deutlich, in dem „increased openness in government affairs to ensure officials continue to work in a lawful and efficient manner“ gefordert wird (China Daily, August 3, 2011). Im Zirkular heißt es weiter: „We should stick to a lawful, scientific and democratic policy-making and increase the scope of publicity, especially for major reform plans, policies and projects that are directly related to the people’s interests”. Das Zirkular beklagt „lack of information, non-standardized publicity procedures, poorly designed information-sharing systems, problems regarding the distinction between classified and public information.” Es fordert, dass “local government departments must make more efforts to ensure transparency in government affairs in order to protect the people’s rights to know about and supervise the government”.
Aber aus europäischer Sicht betrachtet umfasst Mitverantwortung des „Volkes“ weit mehr als nur „supervise the government“. Sie beschränkt sich nicht auf die Beobachtung der Exekutive bei der Durchführung von Maßnahmen, die fern von ihm beschlossen wurden. Mitverantwortung heißt Teilhabe an der Formulierung der „Interessen des Volkes“. Im Zirkular besteht der Staatsrat darauf, im Namen des „Volkes“ die Interessen des Volkes zu definieren. Welche Befugnisse hat der Volkskongress in dieser Frage? Wer entscheidet darüber, welche Interessen des Volkes vor- und nachrangig zu erfüllen sind? Das Zirkular gibt darauf keine Antwort.
2. Herrschaftsausübung in China
2.1. Verfassungsregelungen
Der Bundesumweltminister der Koalition von CDU und FDP, Norbert Röttgen, erwähnte beim Energie-Dialog der Shell AG am 9. Juni 2010 in Berlin, dass er aus China mit einer neuen Erkenntnis heimgekehrt sei. Da die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur Chinas den demokratischen Diskurs als vermittelndes Element für den Dialog der Regierung mit der Bevölkerung nicht zur Verfügung stellen könne, müsse anders als in den europäischen Gesellschaftsstrukturen bei Umfang und Auswahl klimaschonender Techniken sehr beachtet werden, dass vor allem solche Techniken eingesetzt werden, die kaufkraftneutral oder sogar -steigernd wirkten. Die Reduzierung des Kohlendioxydausstoßes dürfe keinesfalls zu Lasten der Massenkaufkraft gehen, wenn man nicht Unruhen riskieren wolle.
Auf der Suche nach dem fehlenden demokratischen Diskurs in China führt der Weg als erstes zur chinesischen Verfassung. Art. 2 erklärt das “Volk“ zum Eigentümer aller Macht (Art. 2. Alle Macht in der Volksrepublik China gehört dem Volk.), aber bestimmt zugleich, dass das Volk seine Verfügung über die Macht an die führende „Arbeiterklasse“ abgetreten hat (Art. 1. Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht. [Verfassung der Volksrepublik China vom 17. Januar 1975]). Das „Volk als Ganzes“ bleibt ungeachtet seiner an die „Arbeiterklasse“ übertragenen Macht Bezugspunkt des von der „Arbeiterklasse“ geführten Staates, und ebenso wie das „Volk“ wird auch die „Arbeiterklasse“ nicht näher bestimmt. Die „Arbeiterklasse“ überträgt die eigene Macht zwar an das „Bündnis von Arbeitern und Bauern“, aber die staatliche Macht bezieht sich weiterhin auf das „Volk in seiner Gesamtheit“. Daraus folgt zum einen,
- dass die reale Macht im Staat bei der von der Basis des “Bündnisses von Arbeitern und Bauern“ gewählten Führung liegt, die im Namen des gesamten „Volks“ handelt, und zum anderen
- dass die Staatsführung aus ihrer Verantwortung gegenüber „Volk“ und „Arbeiterklasse“ auch gegen den Willen derer agieren kann, von denen sie in ihr Amt gewählt worden ist.
Anders als in parlamentarischen Demokratien ist in China die herrschende Staatsmacht bisher nicht in der Lage, die eigene allumfassende Gewaltbefugnis freiwillig in Selbstverpflichtung
einzuschränken. Für sie scheint es nicht unabdingbar, das Feld der Diskurse für verschiedene Denkansätze und Theorien offen zu halten und ihr ständiges Mit-, Gegen-, Unter- und Durcheinander zu gewährleisten, wodurch der formlose Gegenhalt in der chinesischen Gesellschaft ebenso erzeugt wird wie durch die vielfältigen Praxis der Unternehmen, Verbände, Parteien und Gemeinschaften. Aus ihrer Sicht zählt das bedingungslose Offenhalten des öffentlichen Raumes und darin des Feldes der Diskurse für die Aktivierung und Reaktivierung fluktuierender Elemente nicht zu den unabdingbaren Aufgaben des Staates. Ein Blick in die chinesische Philosophie erklärt, dass diese Verhaltensweise auf eine Jahrtausende alte Tradition zurück blicken kann.
2.2. Philosophie und Herrschaft
Wen Haiming vertritt in seinem Buch „Chinese Philosophy – Chinese Political Philosophy, Metaphysics, Epistemology and Comparative Philosophy“, Jan. 2010, die Auffassung, dass chinesische und westliche Philosophen die selben Fragen an Gesellschaft und Politik stellen und sich auf gleiche Weise mit Erkenntnis- und Weltanschauungsproblemen beschäftigen (ebd.S.1). Die chinesische Philosophie unterscheide sich nur von der westlichen durch ihre einzigartige „Chinese philosophical sensibility“. Was darunter für die Herrschaftsausübung in China zu verstehen ist, bedarf einer näheren Ausführung.
Haiming beginnt mit Konfuzius’ Betonung der Familie als Wurzel menschlichen Daseins („family reverence is the root of human beings“(ebd.S.3). „In short, Confucius thinks that a human being can only fulfill him or herself by beginning with family reverence, the starting point of all relationships (ebd.S.25). “Confucius claims that if a leader treats his family andfriends well, others will follow his example.”(ebd.S.26/27). Die Familie ist für Konfuzius der Ursprung und der Bezugspunkt seiner auf Humanität beruhenden politischer Philosophie; später vom Philosophen Menzius als „ruling states by humanity and love“ präzisiert (ebd.S.3).
Für Menzius hat die Familie sogar einen höheren Stellenwert als der Staat, und soziale Gerechtigkeit rangiert für ihn niedriger als enge Familienbeziehungen (ebd.S.32). Für Menzius steht das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder zwar höher als das Gesetz (ebd.S.32), aber die Bereitschaft zur Loyalität gegenüber der Familie bemisst er dennoch an der Einlösung der Moral und unterwirft damit Staat und Familie dem Primat der Moral (Heiner Roetz, Mit Konfuzius für die Demokratie, Frankfurter Rundschau, 10.12.2010).
Welchen hohen Stellenwert die Familie bis in die Gegenwart einnimmt, wird im folgenden Zitat deutlich: „Im kaiserlichen China ruhten die Erziehungsaufgaben fast restlos in den Händen der Familien, für deren Zusammenleben das Vater-Sohn-Verhältnis die tragende Säule war. Die Vater-Sohn-Beziehung, die in der chinesischen Kultur mit dem Begriff ‚Pietät’ (Xi-ao) bezeichnet wird, gilt als die höchste der Tugenden des Konfuzianismus sowie als spirituelle Generationenverbindung. Sie ist für die chinesische Familie bis heute von sehr großer Bedeutung.“ (KeYu, Chinesische Spitzenschüler, Frankfurter Rundschau, 1.2.2011).
Laozi knüpft an dem Grundgedanken der beiden Vorgänger teilweise an, lenkt den Blick aber auf „Dao“: „Dao is the road on which people walk, and the words people say.“( Wen Haiming, a.a.O.S.37). „Dao is not a name, it is the way-making that humans travel, linking them to the world as soon as they begin to walk and talk.“(ebd. S.37).
Laozi vergleicht den Weg des Lebens („Dao“) mit dem unaufhörlichen Hervorquellen des Wassers aus einer Quelle und seinem quirligen Suchlauf unmittelbar danach. Die Führung des Landes soll in ihrem Denken und Handeln ebenso flexibel und quirlig sein wie das Wasser („dao is like water“): wohlwollend gegenüber den Geführten und streng gegenüber sich selbst, „wandering at ease without oneself“, wie später Zhuangzi hinzufügt (ebd. S.3). Die Führung eines großen Staates sollte sich ein Beispiel nehmen an einem Koch, der einen kleinen Fisch nur vorsichtig brät und so wenig wie möglich wendet, damit er nicht ruiniert wird (ebd.S.41). Aber informieren sollte er das Volk möglichst nicht, meint Laozi. Er bezeichnet es ebenso wie Konfuzius sogar als idealen Weg des Regierens, die Bevölkerung nicht zu informieren: „Confucius shares a similar idea that people should be asked to do what they should, but there is no need to explain their purpose” (ebd.S.42). Der beste Weg des Regierens sei, die Bevölkerung so wenig an den Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen wie möglich, aber sicher zu stellen, dass sie ein gesundes und zufriedenes Leben führen kann. Aufbauend auf diesen Grundgedanken unterliegt die chinesische politische Philosophie in den folgenden Jahrhunderten unterschiedlichen Ausprägungen.
Der Philosoph Mozi empfiehlt der Führung des Landes die Ablehnung kriegerischer
Verhaltensweisen und betont statt dessen in der Nachfolge von Menzius eine auf universeller Liebe unter den Völkern beruhende friedliebende Politik. Xunzi hingegen vertritt im Gegensatz zu Menzius die Auffassung, dass der Mensch von Natur aus nicht gut sondern böse sei. Die Führung des Landes sollte deshalb die Menschen jederzeit kontrollieren und ihnen zur Selbstkontrolle ihres Handelns die Befolgung von Ritualen auferlegen. Unschwer zu erkennen ist hier eine Parallelität des Gegensatzes zwischen Thomas Hobbes und
Jean-Jacques Rousseau. Der Philosoph Hanfei preist die Kombination dreier Führungseigenschaften: Machtbewusstsein, Recht und Staatskunst (ebd.S.4).
Die Philosophie von Zhouyi interpretiert „Dao“ als Bewegung zwischen einem „yin“ and einem „yang“ (ebd.S.14): „Yin and Yang stand relative to one another… Zhouyi puts forth a ying-yang contextualizing paradigm quite different from Western models of separate opposing parts.” (ebd.S.15). Aus der Sichtweise europäischer Philosophie ist nach dem Unterschied zwischen Qualität und Quantität von Yin und Yang zu fragen. Wenn in der gegenseitigen Umschlingung von Yin und Yang, dargestellt im Symbol zweier in einem Kreis eng aneinander geschmiegter Fische, Yin nicht nur Yang als eigenständige Qualität gegenübersteht, sondern auch als Kern in Yang enthalten ist (in Gestalt eines kleinen Punktes), ergeben sich folgende zwei Interpretationsmöglichkeiten:
- Yin und Yang verhalten sich als Qualitäten wie plus und minus. Nimmt Yin an Quantität ab, überschreitet es in seiner sich selbst auslöschenden Bewegung irgendwann die Grenze zur Nichtexistenz. Seine Quantität geht gegen null und vernichtet bei null angekommen die Qualität von Yin. Hält der Bewegungsprozess nicht bei null an und setzt sich jenseits der Nichtexistenz fort, setzt er sich als fortlaufend zunehmende Quantität von Yang fort und erreicht schließlich dessen volle Qualität. Die entgegengesetzten Qualitäten Yin und Yang bedingen nicht nur einander (die Qualität von Plus ist ohne die Qualität von Minus nicht zu denken), sondern sie stehen sich als Entitäten gegenüber und zugleich geht im Bewegungsprozess jeweils die eine Qualität in die andere (d.h. in ihr Gegenteil) über. Von Bedeutung in diesem Vorgang sind nicht die unterschiedlichen Qualitäten von Yin und Yang, sondern entscheidend ist der gegenläufig verlaufende Bewegungsprozess von einer Qualität in die andere.
- Gleichzeitig beginnen Yin und Yang ihre sich selbst auslöschende Bewegung. Plus geht gegen null und grenzt bei null angekommen unmittelbar an die kleinste Einheit von Minus. Minus geht ebenfalls gegen null und grenzt bei null angekommen unmittelbar an die kleinste Einheit von Plus. Die beiden Bewegungsprozesse verkehren ihre Richtung und füllen quantitativ die beiden entgegengesetzten Qualitäten wieder auf. Die beiden Entitäten grenzen nur unmittelbar aneinander, aber durchdringen sich nicht gegenseitig. An ihrer gemeinsamen Grenze schlägt die eine Qualität nicht in die andere um, aber dennoch bedingen beide Entitäten einander. Plus ist ohne Minus nicht zu denken und als vereinsamtes Plus oder Minus wären sie nicht existenzfähig. Plus muss also sein Gegenteil an sich selbst haben wie umgekehrt Minus sein Gegenteil an sich selbst hat. Hier steht nicht der Bewegungsprozess im Vordergrund, sondern die auf- und abnehmende Qualität zweier gegensätzlicher und sich gegenseitig bedingender Entitäten.
Entsprechend der ersten Interpretationsmöglichkeit empfiehlt der chinesische Philosoph Zhouyi den Menschen, ihr persönliches „Dao“ mit dem die Natur leitenden in Harmonie zu bringen: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world … ‚Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ebd.S.16/17). Diese Menschen seien in der Lage, “to manipulate the world” (ebd.S.18). Ob hierin die besondere Sensibilität der chinesischen Philosophie zum Ausdruck kommt, ist ungewiss, aber überdeutlich ist der Bezug zum hohen Stellenwert gebildeter Menschen bis in die Gegenwart hinein. „Im kaiserlichen China erfolgte die Rekrutierung der hohen Beamten, der Mandarine, bereits seit Ende des 6. Jahrhunderts über ein abgestuftes Prüfungssystem, das allen Männern ohne Klassenunterschied offen stand. Gegenstand dieser Prüfungen waren ausschließlich die konfuzianischen Schriften. Mit diesen Mandarinatsprüfungen … wurde Herrschaft gesichert und zugleich legitimiert“ (KeYu, ebd.).
In der Jahrtausende zurückreichenden Folge von chinesischen Dynastien haben Herrscher durchaus immer wieder die Nähe zu Philosophen ihrer Zeit gesucht, um mit ihrer Hilfe Macht zu begründen und zu festigen, aber nur selten zeigten sie sich fähig, Kritik an ihrem despotischem Verhalten zu erdulden. Wen Haiming schreibt dazu: „There were many other cases in which intellectuals had no control, for Chinese leaders lacked political tolerance for those who opposed them.“ (ebd.S.73). Nur die Tan-Dynastie mit der Hauptstadt Xi’an wird immer wieder als Ausnahme gewürdigt. Von der in dieser Dynastie herrschenden Toleranz legen die eindrucksvollen Figuren rund um alten Kaiserpalast noch immer ein Zeugnis ab. Sie sind bis in die Gegenwart ein begehrtes Fotoobjekt vieler Chinesen, die sich gerne, angelehnt an sie, mit ihnen fotografieren lassen. Zeigen sich darin versteckte Sehnsüchte?
Entgegengesetzt zu Wen Haiming kennzeichnet Jin Canrong in seinem Buch „Big Power’s Responsibility – China’s Perspective“ (China Renmin University Press 2011) sein Heimatland als “Harmonious China” (ebd.S.2), das zum Vorbild der Diplomaten aus aller Welt geworden sei. Mit Blick auf die Außenpolitik meint er, China habe es gar nicht nötig, eine Hegemonie zu errichten. Die vielgestaltige und mit geschichtlicher Erfahrung gesättigte chinesische Kultur biete der Führung des Landes einen idealen Maßstab für die Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn und den Mitspielern auf der globalen Bühne. „As the essence of traditional culture, the concept of harmony and collaboration has directly influenced Chinas’s foreign policy of peace and friendship and shaped the image of a responsible country.” (ebd.S.24). Jin Canrong erwähnt explizit die Vision von Laozi, nach der zwischen Mensch und Natur Harmonie herrscht. Der Mensch nimmt sich die Natur als Vorbild, die Natur richtet sich am Firmament aus, das Firmament beeinflusst maßgeblich den Weg des Lebens (Dao) und jener befindet sich wiederum in idealer Übereinstimmung mit der Natur (ebd.S.24). “Harmonious China” sei der perfekte Ausdruck dieses geschlossenen Kreislaufs, der sowohl für China selbst wie für seine Außenbeziehungen Gültigkeit besitze, postuliert Jin Canrong. Ob jedoch das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten in China als vollendete Harmonie zu bezeichnen ist und der Machtanspruch, der im Terminus „demokratische Diktatur des Volkes“ zum Ausdruck kommt, ganz darin verschwindet, bedarf einer weiteren Analyse.
2.3 Das ideale Über- und Unterordnungsverhältnis
Jede Herrschaft strebt ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis an. In einem solchen Verhältnis wird Macht unsichtbar. Zwischen den Herrschenden und den Beherrschten besteht vollkommene Harmonie. Wenn jedoch ein Herrscher wie Muhammad Abu Minyar al-Gaddafi 47 Jahre lang die Führer der verschiedenen Stämme gegeneinander ausgespielt hat und am Ende seiner Herrschaft behauptet, das „Volk“ liebe ihn doch, verwechselt er nicht nur die Stammesführer mit der Gesamtheit der libyschen Bevölkerung, sondern hält irrtümlich die ihn umgebenden Lakaien für das Volk. Oder wenn der ehemalige Minister für Staatssicherheit der DDR und Chef des Staatssicherheitsdienstes, Erich Mielke, kurz vor dem Untergang der DDR der Bevölkerung zurief, „Wir lieben Euch doch alle“, begriff er nicht, dass in einem Herrschaftsverhältnis die Liebe des Volkes zum Herrscher nicht zwangsweise verordnet werden kann und seine Liebe nur dann die Gegenliebe der Umworbenen hervorruft, wenn sie sich in der Liebe des Herrschers vollkommen anerkannt und aufgehoben fühlen.
Herrschaft beruht in einem idealen Über- und Unterordnungsverhältnis darauf, dass das Maß der geforderten Unterordnung stets mit dem Maß an Dienst(-bereitschaft) deckungsgleich ist. Hegel postuliert z.B. Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, a.a.O.153f). Nicht anders behandelt Niklas Luhmann die Verhaltensweise des Machtunterworfenen: „Der Machtunterworfene wird erwartet als jemand, der sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat,..“ (Luhmann, Niklas, 1988, 2.Aufl.: Macht, Stuttgart, S.21). Sein antizipatives Handeln „bezieht sich nicht nur auf die Reaktionen des Machthabers im Falle der Nichtbefolgung seiner Wünsche, also auf die Vermeidungsstrategien, sondern auch auf die Wünsche selbst. Der Machthaber braucht gar nicht erst zu befehlen, auch seine unbefohlenen Befehle werden schon befolgt. Sogar die Initiative zum Befehl kann auf den Unterworfenen verlagert werden; er fragt nach, wenn ihm unklar ist, was befohlen werden würde.“ (Luhmann,a.a.O.,S.36).
Damit Deckungsgleichheit zwischen Fürsorge des Über- und Dankbarkeit des Untergeordneten in “Harmonious China” besteht, müssten in der Bevölkerung Unterordnungsrituale so stark verankert sein, dass sie sogar in ihr Unterbewusstsein und ihr automatisiertes Verhalten herabgesunken sind. Die Befehle des Machthabers würden dann nicht nur bewusst und freiwillig eingehalten, sondern erzeugten im Machtunterworfenen zusätzlich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. In diese Richtung zielt KeYu: „Die Koppelung der Erzeugung von Staatstreue und von ‚Pietät’ durch Erziehung und Bildung auf der Grundlage der konfuzianischen Schriften reproduziert die strukturelle Einheit von Staat und Familie immer aufs neue“ (KeYu,ebd.). Verstärkend weist er darauf hin, dass das Wort „Staat“ (Guo-Jia) in der chinesischen Sprache aus den zwei Schriftzeichen für Staat (Guo) und dem für Familie (Jia) besteht.
Der Handlungsspielraum des Übergeordneten gegenüber dem Untergeordneten sprengt dann alle Grenzen, wenn im Untergeordneten bewusstes, unterbewusstes und automatisiertes Verhalten vollkommen ineinander greifen. Ein solches ideales Über- und Unterordnungsverhältnis kommt sicherlich der Wunschvorstellung aller Übergeordneter entgegen, aber realisieren lässt es sich meistens nicht, denn das von Unterwürfigkeit und Widerspenstigkeit gleichermaßen gekennzeichnete Bewusstsein des Machtunterworfenen vereitelt seine Realisierung.
2.3.1 Zwei Ausprägungen des Bewusstseins von Machtunterworfenen
In der grundlegenden Bestimmung des Bewusstseins Untergeordneter, hat das des Untergeordneten – hegelianisch ausgedrückt – sein Gegenteil (das Bewusstsein des Übergeordneten) unabänderlich als negative Beziehung an sich selbst und zugleich existiert jenes als Selbständiges außer ihm.
In dieser umfassenden Bestimmung sind vier Bestimmungen enthalten:
- Das Bewusstsein des Machtunterworfenen wird vom außer ihm existierenden und für es handelnden Bewusstsein des Übergeordneten bestimmt und beugt sich in einer Mischung von aufopferndem/widerwilligem Gehorsam.
- Um die Verhaltensweise des Überordneten nicht nur verständnislos zu erleiden, sondern dessen Anspruch auf Überordnung auch erkennen und darauf adäquat reagieren zu können, muss es dazu fähig sein, das Bewusstsein des Übergeordneten an sich selbst wahrzunehmen – als Teil seiner selbst. Dies geschieht auf zweierlei Weise. Es ist daran zu erinnern, dass Untergeordnete nicht als solche geboren wurden, sondern erst im Verlauf eines schmerzhaften, mit Niederlagen gespickten Prozesses dazu geworden sind. Diese leidvolle Erfahrung dessen, was Überordnung im Untergeordneten zu bewirken vermag, hat sich in ihrem Bewusstsein als furchtbesetztes „Überich“ festgesetzt und wird für sie zum Orientierungspunkt künftigen Verhaltens, zum Maßstab ihres aufopferungsvollen Dienstes. Das in sie versenkte Bewusstsein des Übergeordneten verhilft ihnen dazu, jenes außer ihnen und für sie handelnde Bewusstsein zu identifizieren und als solches anzuerkennen. Die Furcht stellt ein konstitutives Moment der Herausbildung von untergeordnetem Bewusstsein dar. Sie reicht bis zu seinen Wurzeln, beginnt mit der totalen Verunsicherung des sich unterlegen Fühlenden, dem Zerfließen seiner bis dahin als sicher geglaubten Fundamente. Hörigkeit, guter Glaube, Selbsttäuschung, freiwillige Anpassung, Erdulden, Verschweigen und Mimikry werden zu oft anzutreffenden Verhaltensweisen von Individuen mit unter-geordnetem Bewusstsein.
- Die Widerstandsmöglichkeit ergibt sich aus der dritten Bestimmung untergeordneten Bewusstseins. Das Arbeitskraft verausgabende Individuum macht die Erfahrung, dass es einen Teil seiner selbst (in schöpferischer und gestaltender Weise) veräußerlicht, sich mit dem Produkt seiner Tätigkeit identifiziert und im Stolz auf die von ihm erbrachte Arbeitsleistung an Selbstachtung gewinnt. Diese Selbstachtung versetzt es in die Lage, der übergeordneten Seite selbstbewusst entgegenzutreten und von ihr als Gegenleistung Anerkennung in materieller wie immaterieller Form zu erwarten. Bleibt sie aus oder wird sie nur in unzureichender Form gewährt, ist der Stachel der Distanzierung und Entfremdung gelegt.
- Endet das Über- und Unterordnungsverhältnis steht die vierte Bestimmung untergeordneten Bewusstseins zur Disposition: die Aneignung des vom Untergeordneten erbrachten Arbeitsleistungen durch den Übergeordneten.
Beide selbständige Formen des untergeordneten Bewusstseins stellen ein absolutes Gegensatzpaar dar. Absolute Furcht schließt Widerstand/Widerspenstigkeit gänzlich aus und absoluter Widerstand kennt keine Furcht. Beide Formen zusammen konstituieren dennoch qualitativ und quantitativ das Bewusstsein des Untergeordneten. Der Grad des untergeordneten Bewusstseins wird bestimmt von dem mehr oder weniger des einen oder anderen. Überwiegt die Furcht gegenüber der Widerspenstigkeit/Widerstand, hat man es mit einem unterwürfigen Bewusstsein des Machtunterworfenen zu tun. Verhält es sich umgekehrt, spricht man von einem widerspenstigen untergeordneten Bewusstsein. Ein untergeordnetes Bewusstsein, in dem kein Gramm Widerstand enthalten ist, droht an Selbstaufopferung zu sterben; umgekehrt kündigt ein nur aus Widerstand bestehendes Bewusstsein des Machtunterworfenen das Verhältnis zur übergeordneten Seite auf und riskiert seinen Untergang. In der Regel gibt es fast immer ein Mischungsverhältnis zwischen beiden. Ein Über- und Unterordnungsverhältnis mit einer optimalen Ausrichtung für den Übergeordneten schließt beim Untergeordneten widerspenstiges Verhalten weitgehend aus, ist für den Übergeordneten fast kostenfrei, verleitet ihn jedoch auch zu maßlosem Verhalten gegenüber dem Untergeordneten. Sieht sich der Untergeordnete in einem für ihn idealem Verhältnis durch den Übergeordneten stets überreichlich belohnt, kann ihn das Übermaß an Belohnung dazu verleiten, seine Erwartungshaltung ins Unermessliche zu steigern und das Über- und Unterordnungsverhältnis ins Gegenteil zu verkehren.
2.3.2 Einschätzung des Mischungsverhältnisses in der chinesischen Bevölkerung
2.3.2.1 Dominanz der Unterwürfigkeit
Wenn zutrifft, dass Chinesen den Zusammenhalt der Familie und die in ihr obwaltende Hierarchie, aber nicht das Individuum sehr hoch einschätzen, dazu ein schwaches Ich-Bewusstsein und große Angst vor Gesichtsverlust haben, wäre das ein Indiz für ein Bewusstsein, in dem unterwürfiges Verhalten ungleich stärker als widerspenstiges verbreitet ist. Für diese These spricht beispielsweise, „dass Schüler schlechte Schulnoten und erst recht ein Durchfallen bei Prüfungen – … – eher als Gesichtsverlust vor den Eltern als ein Verspielen der eigenen Zukunft wahrnehmen. Die Familie ist die härteste und emotionsloseste Erziehungsanstalt, in der Eltern zu rigorosen und monströsen Lehrern mutieren“ (Ke Yu, ebd.).
He Weifang, ein in die Provinz verbannter Juraprofessor, antwortete auf die Frage, wie die Mehrheit der Bürger Chinas über die gegenwärtige Situation denkt: „Ich glaube, die Mehrheit findet, dass Chinas Situation derzeit nicht schlecht ist. Letztlich zählt für die meisten Menschen ja nur das, was in ihrem eigenen Leben eine Rolle spielt. Aber zugleich nehmen sie sehr deutlich ihre eigene Schwäche wahr und wissen, dass es ihnen schwer fallen würde, ihre Rechte zu schützen, wenn sie verletzt werden.“(Bernhard Bartsch, „China will vor allem Angst einflößen“, Frankfurter Rundschau, 17./18.7.2010).
Die Gründerin der Organisation „Tiananmen-Mütter“, Ding Zilin, hofft seit vielen Jahren auf ein erstes Eingeständnis der Partei, damals Fehler begangen zu haben. Sie kämpft unverdrossen weiter, aber muss hinnehmen, dass sie zunehmend auch von ihren ehemaligen Nachbarn und Kollegen gemieden wird: „Sie wechseln die Straßenseite, wenn sie mich sehen“, sagt Frau Ding (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel 4.6.2009).
Diese Verhaltensweise drückt ebenso unterwürfiges Unterordnungsbewusstsein aus wie die im Bericht über Chinas Öffnung für Kirchen von Birgit Wetzel (Tagesspiegel 24./25.4.2011) wiedergegebene Beobachtung des Seminarleiters Pater Daniel am Nationalen Priesterseminar in Daxing: „Unsere Herausforderung ist, die Schüler zu interessieren. Sie haben nicht gelernt, allein zu denken, aber sie können es. Sie machen sich Gedanken über Freunde, die Familie, vielleicht über ein Business und über Spiele. Aber nicht über die Geschichte, Philosophie, Literatur und Kunst.“ Der Pater erwähnt Verhaltensmerkmale seiner Seminaristen. Sie würden die ganze Woche zusammen verbringen, im Klassenraum, in der Kirche, im Speisesaal. Doch sie vertrauten einander nicht. „Jeder Mensch ist hier eine Insel. Es gibt eine Tendenz, sich zu isolieren, den eigenen Freiraum zu bewahren.“
„So unzufrieden die Chinesen bisweilen mit ihrer Führung sind“, berichtet Angela Köckritz, „es gibt keine alternative Institution zur Partei. Sie hält das Volk weiter mit dem Versprechen des Aufstiegs zusammen“ (Aus dem Rahmen, Die Zeit, 11. 8. 2011). So lange viele Chinesen mit diesem Versprechen auch den eigenen Aufstieg verknüpfen, wird unterwürfiges Unterordnungsbewusstsein noch häufig anzutreffen sein (Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010).
2.3.2.2 Dominanz der Widerspenstigkeit
Das folgende Beispiel hat widerspenstiges Unterordnungsbewusstsein zum Gegenstand. Als chinesische Studenten nach dem Besuch der Pekinger Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung“ meinten, dass in China bereits die Reformer der Qing-Dynastie die chinesische Aufklärung betrieben hätten und das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Chinas ganz anders als das des Westens sei (Angela Köckritz, Nachhilfe für Peking?, Die Zeit, 28.4.2011), lag nahe, ein solches Verhalten als unterwürfiges Bewusstsein zu diagnostizieren. Aber bei näherer Betrachtungsweise hingegen zeigt sich, dass in dieser distanzierten Sicht des Westens zugleich der Aspekt des widerspenstigen Unterordnungsbewusstseins zum Vorschein kommt.
Ein herausragender Protagonist eines solchen Bewusstseins ist der Literaturhistoriker Wang Hui. Er empfindet nicht die westliche Aufklärung als wegweisend für chinesisches Denken, sondern setzt auf ein modernes chinesisches Denken (Georg Blume‚ Mit Konfuzius in die Zukunft, Die Zeit, 10.1. 2009). Wang Hui publizierte bereits 1997 sein gegen den marktliberalen Ansatz der Radikalreformer in der Kommunistischen Partei Chinas gerichtetes Pamphlet über die ideelle Verfassung im heutigen China und die Frage der Modernität, warnte darin vor der kritiklosen Übernahme westlichen Denkens und setzte dieser Politik den Begriff der „Neuaufklärung“ entgegen. Ansatzpunkt war der Plan der Radikalreformer, das Bauernland zu privatisieren und landwirtschaftliche Großbetriebe zu schaffen. Auf einem Schlag wären 800 Millionen freigesetzte Bauern gezwungen gewesen, als Wanderarbeiter in den industriellen Regionen Chinas auf Arbeitssuche zu gehen. Die egalitäre Landreform des Jahres 2002 reduzierte die Anzahl der Wanderarbeiter um 600 Millionen. 200 Millionen mussten in den nächsten Jahren dennoch in die Städte ziehen, um dem knapper werdenden Nahrungsmittelangebot auf dem Lande zu entgehen. „Wir haben gerade so viel, dass wir nicht hungern“, klagte eine Bäuerin und ihr Sohn fügte hinzu: „Mit der Landwirtschaft verdienen wir fast nichts mehr“ (Harald Mass, Klassenkampf auf Chinesisch, Frankfurter Rundschau, 6.3.2004).
Wang unterstützte die Studentenrevolte von 1987, wurde mit der Verbannung aufs Land bestraft und verlor 2007 seine Arbeit als Herausgeber des kritischen Journals Dushu. Ihn widert der repressive Umgang mit Dissidenten an, aber zugleich widerspricht er der von Europa und den USA ausgehenden Menschenrechtspolitik gegen China. Sie sei politisch motiviert und verkenne die allgemeine Verbesserung der Menschenrechtslage in China während der vergangenen 30 Jahren und zeichne sich durch Überheblichkeit und fehlende Kenntnis aus.
In seinem 2004 publizierten Buch „Die Entstehung des modernen chinesischen Denkens“ versucht Wang, die konfuzianische Philosophie zu neuem Leben zu erwecken und den Fokus auf bislang vergessene Systemkritiker und frühe Demokraten vergangener Dynastien zu lenken. China sei „viel reichhaltiger, flexibler und multikulturell verträglicher, als bisher aufgezeigt wurde“, meint Wang. Er wendet sich dezidiert gegen die kritiklose Verehrung des rückwärtsgewandten und feudalen Strukturen verhafteten Lamaismus in westlichen Medien. Nicht Rückkehr zur Religion, sondern Säkularisierung bringe Tibet voran.
Auf ein weiteres Beispiel weist Angela Köckritz in ihrem Artikel „Sammeln was sonst untergeht“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 22. 9. 2011 hin. Der Millionär Fan Jianchuan will der Kommunistischen Partei Chinas nicht die Alleinbestimmung des kollektiven Gedächtnisses Chinas überlassen, indem er ein privates Geschichtsmuseum errichtet. Wer einmal die unteren Etagen des Nationalen Kunstmuseums in Peking durchwandert hat und dort den zahlreichen Gemälden mit Parteigrößen und heroischen Szenen aus der Zeit der Machtergreifung der Kommunistischen Partei sowie der Kulturrevolution unter Mao begegnet ist, erlebt ein anschauliches Beispiel für die Okkupierung des kollektiven Gedächtnisses durch die Partei. Zu Fan Jianchuans Widerspenstigkeit gehört es, neben die Reliquien der Kulturrevolution die Fotos der Gedemütigten und Verlachten – „die Fratze der Gewalt“ – zu stellen. „Oft bewegt sich Fan an der Grenze des Erlaubten“, schreibt Köckritz, „ohne sie überschreiten zu wollen. Manchmal tut er es doch, dann wird ein Teil seines Museums ‚harmonisiert’, also zensiert.“
Angela Köckritz berichtet noch über ein weiteres Beispiel widerspenstigen Bewusstseins. Kurz nach dem Auffahrunfall zweier Hochgeschwindigkeitszüge im Juli 2011 gab die chinesischen Regierung folgende Anweisung an Journalisten heraus: „Kein Journalist soll unabhängige Interviews führen. Schreiben Sie keine Reportagen, die mit der Entwicklung von Hochgeschwindigkeitszügen zu tun haben. Untersuchen Sie nicht die Gründe für den Unfall, verwenden Sie standardmäßig die Informationen der Behörden. Reflektieren oder kommentieren Sie nicht. Fragen Sie nicht, führen Sie nichts weiter aus, assoziieren Sie nichts!“ (Angela Köckritz, Aus dem Rahmen, Die Zeit 11.8. 2011). Die wenigsten Journalisten hielten sich an die Anweisungen. Viele Zeitungen ließen eine Stelle auf der Zeitungsseite frei. Die chinesische Wirtschaftszeitung schrieb unter das weiße Loch: „Lügen lassen deine Nase wachsen“. Die Pekinger Nachrichten berichteten scheinbar ganz unverfänglich von einer wertvollen Schale, die in sechs Stücke zerbrochen war. Genau so viel Zugteile waren beim Unglück entgleist.
Als Schlussfolgerung aus den Beispielen ergibt sich, dass in China keinesfalls ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis existiert, wie es Jin Canrong mit seiner Behauptung „Harmonious China“ postuliert hat und dass wohl eher von einem unausgeglichenen, nicht mehr ganz kostenfreien Über- und Unterordnungsverhältnis auszugehen ist.
2.4 Das unausgeglichene Über- und Unterordnungsverhältnis
In einem nicht austarierten Über- und Unterordnungsverhältnis akkumuliert die Unterordnung zwar Unmut auf der Seite des Machtunterworfenen und Anmaßung auf der Seite des Machtinhabers, aber wegen der fehlenden immanenten Infragestellung bleibt es solange lediglich durch potentielle Unterdrückung gekennzeichnet, wie keine dem Unterordnungsverhältnis äußerliche diskursive Formation den „positiven differentiellen Charakter“ der Formation untergräbt bzw. in Frage stellt. Andererseits verpufft jeder Versuch, die Unterordnung als „ungerecht“ darzustellen und dieser Darstellung zu allgemeiner Anerkennung zu verhelfen, wenn nicht bereits auf der Seite des Untergeordneten ein Mindestmaß an Unzufriedenheit herrscht.
Welche Merkmale deuten auf ein nicht austarierten Über- und Unterordnungsverhältnis in China hin?
In der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008, die auch die chinesische Exportindustrie entlang der Ostküste hart traf und schätzungsweise rund 20 Millionen Wanderarbeitern ihren Arbeitsplatz kostete, reagierten die Beschäftigten auf das Ausbleiben ihrer Löhne mit Protesten. Wanderarbeiter, Taxifahrer, Bauern, Lehrer oder Polizisten machten in Demonstrationen auf ihre prekäre Lage aufmerksam. Zeigte sich doch in der Krise, wie wenig abgesichert sie waren. „Es scheitert nicht an den Gesetzen, sondern an der Umsetzung“, sagte Han Dongfang von der Arbeiterrechtsorganisation China Labour Bulletin in Hongkong. „Außerdem gibt es keine Gewerkschaften oder Betriebsräte, die tatsächlich die Interessen der Arbeiter vertreten.“ Auf die Proteste von Taxifahrern antwortete ein örtlicher Parteivorsitzender mit dem Versprechen, mehr Subventionen zu gewähren. Ein Politbüromitglied forderte lokale Regierungen auf, soziale Probleme müssten „im Keim erstickt“ werden (Bernhard Bartsch, Chinas Massen proben den Aufstand, Frankfurter Rundschau 6./. 12. 2008).
Als 3000 Arbeiter mit einen Produktionsstopp auf die Privatisierung ihres Betriebes reagierten und der designierte neue Chef auf dem Betriebsgelände die baldige Entlassung von 30 000 verkündete, wurde er von den erzürnten Arbeitern zu Tode geprügelt (Bernhard Bartsch, Chinas neuer Klassenkampf, Frankfurter Rundschau, 26.7.2009). Erst nach diesem als „Massenvorfall“ bezeichneten Ereignissen stoppte die Provinzregierung die Privatisierung.
„Die Phase des schnellen Wirtschaftswachstums ist vorbei. Zum ersten Male droht der Regierung der Vertrauensverlust des breiten Volkes“, warnte der Pekinger KP-Vordenker Shang Dewen (Georg Blume/Angela Köckritz, Herr Lu, Herr Li und die Krise, Die Zeit, 5.2.2009). Betroffen von der Krise seien nicht nur die Wanderarbeiter, sondern auch der um seine Arbeitsplätze fürchtende Mittelstand und 1,5 Millionen Hochschulabsolventen, die bisher keine Anstellung gefunden hätten. Schließlich ist in China die Lohnquote in den letzten elf Jahren von 53 auf 39,7 Prozent gesunken, was nicht ohne Folgen für die Massenkaufkraft geblieben ist (Karl Grobe, Wachsendes Klassenbewusstsein, Frankfurter Rundschau, 26.7.2010).
Die Zentralregierung legte ein Konjunkturprogramm von 460 Milliarden Euro zum Ausbau der Infrastruktur auf, in dem insbesondere die Verbindungswege zwischen den Ostprovinzen und den noch weniger erschlossenen zentralen Regionen verbessert werden sollten. Diese Maßnahmen standen in enger Verbindung mit dem langfristigen Entwicklungsplan Chinas,
- die Exportabhängigkeit zu verringern,
- die Industrialisierung der Zentralregionen voranzubringen,
- die Binnennachfrage zu erhöhen,
- technologisch höherwertige Produkte in der bereits etablierten Industrie der Küstenprovinzen zu produzieren und das Lohnniveau in ihnen anzuheben (Übergang zu Hochlohnproduktion und Serviceindustrie, Anhebung der Mindestlöhne),
- die Wanderungsbewegung aus den armen in die reichen Provinzen zu stoppen und an den Wohnorten der Wanderarbeiter Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen,
- die Agrarwirtschaft stärker zu subventionieren und die Einkommen der Bauern anzuheben, um die Nachfrage auf dem Lande zu erhöhen und
- die negative Umweltbilanz umzukehren (16 der 20 Städte mit der schlechtesten Luft der Welt liegen in China).
Der Konsumsteigerung diente auch eine Reform der staatlichen Krankenkasse. Horrende Krankenhauskosten für Operationen trieben selbst Großfamilien in finanzielle Engpässe. Nur 18 Prozent der chinesischen Bevölkerung waren 2009 Mitglieder der Krankenkasse, und private Versicherungen sind den meisten Chinesen zu teuer (Peter A. Fischer, Mehr Staatsgeld für Krankenhäuser sollen Chinesen entlasten, Frankfurter Rundschau, 10./11. 1. 2009). „Nur ein stabiles Sozialsystem kann schrittweise dazu beitragen, argumentierte der Wissenschaftler Bi, „dass die Menschen die Sicherheit verspüren, keine hohen Rücklagen bilden zu müssen. Das ist der beste Weg, den Konsum anzukurbeln.“(Frank Sieren, Was Herr Bi fordert, Die Zeit, 5.3.2009). Bi forderte außerdem den Ersatz des Flickenteppichs aus nicht transferierbaren städtischen, kommunalen und provinziellen Sicherungen durch ein nationales Netz.
Aufkommendem Unmut zu begegnen diente auch der von der Zentralregierung am 13. 4. 2009 erlassene Aktionsplan zum besseren Schutz bereits in der Verfassung garantierten Rechte des Individuums. „The two-year plan“, schrieb Keith Bradsher in der „Global Edition of the New York Times“ vom 14. 4. 2009, „promises the right to a fair trail, the right to participate in government decisions and the right to learn about and question government policies. It calls for measures to discourage torture, such as requiring interrogation rooms to be designed to physically separate interrogations from the accused, and for measures to protect detainees from other abuse, from inadequate sanitation to the denial of medical care.”
Die hohe Inflationsrate von 6,4 Prozent im Juli 2011 gegenüber Juli 2010 ist nachweislich ein Grund für steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung Chinas, zumal die Lebensmittelpreise im gleichen Zeitraum sogar um 14,4 Prozent gestiegen sind (Peer Junker, Chinas Führung bekommt die Inflation nicht in den Griff. Provinzen und Kommunen sind verschuldet, Tagesspiegel, 12. 7. 2011). Die Preissteigerung fühlt der Verbraucher unmittelbar in seinem Geldbeutel und wenn sie sogar den Zuwachs des Familieneinkommens übersteigt, erzeugt diese Entwicklung Unmut. Dass dies so ist, zeigt sich darin, dass die Regierung Chinas die Inflationsbekämpfung bereits zu ihrer obersten Aufgabe erklärt hat (Reuters, zit. in Frankfurter Rundschau,13.9.2011).
Die zusätzlichen Arbeitsplätze in Wachstumsindustrien stellen nur die dort zu Beschäftigenden zufrieden. Aber je stärker die Produktivität pro eingesetzter Arbeitskraft steigt, desto mehr Arbeitsplätze werden abgebaut. Verliert die Weltkonjunktur außerdem an Tempo und die Nachfrage nach chinesischen Exportgütern fällt, steigt der Unmut der entlassenen Arbeitskräfte. Zurückgekehrt in ihre ländlichen Herkunftsgebiete müssen sie vom weiterhin knappen Nahrungsmittelangebot leben, das schon für die ländliche Bevölkerung nicht ausreicht. Die überschüssigen Arbeitskräfte zusätzlich im landesweit bereits überbesetzten Dienstleistungsbereich zu beschäftigen, verringert die dort jetzt schon niedrige Arbeitsproduktivität und kann Lohneinbußen nach sich ziehen. Der Überschuss an Arbeitskräften wird bislang massiv durch den Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Autobahnen, Schienenwege, Produktion von Energie, Stromtrassen, Ausbau des Trinkwassernetzes und Beseitigung von Abwasser usw.) bekämpft, jedoch mit dem Negativeffekt, dass sich die Kommunal- und Regionalregierungen hoch verschulden und bei anderen Ausgaben sparen müssen und die Inflationsrate drastisch steigt.
Nun ist die Existenz von Unterordnungsverhältnissen in einer Gesellschaft nicht gleichzusetzen mit der Anwesenheit von struktureller Gewalt. Wenn Unterordnungsverhältnisse jedoch zu Orten von Antagonismen transformiert werden, ist entweder für die unterordnende Seite die Möglichkeit gegeben, mit einer das bestehende Unterordnungsverhältnis rechtfertigenden Argumentation zu antworten (und gleichzeitig den Grund der Unzufriedenheit unter den Untergeordneten abzumildern bzw. ganz zu beseitigen) oder strukturelle Gewalt zuzulassen. Letzteres kennzeichnet ein Herrschafts-Beherrschungsverhältnis.
3. Strukturelle Gewalt als Merkmal eines Herrschafts-Beherrschungsverhältnisses
3.1. Definitionen und Formen struktureller Gewalt
Wenn Untergeordnete als Gegner behandelt werden, d.h.
- Äußerungen ihrer Unzufriedenheit nur noch mit Unterordnung konservierenden Argumenten begegnet wird,
- der demokratische Diskurs dauerhaft unterbrochen ist,
- die Herrschaft institutionell abgesichert wird,
„Von struktureller Gewalt (sprechen wir immer dann), wenn Gesellschaftsordnungen derart organisiert sind, dass in ihnen soziale Ungerechtigkeit, ungleiche Lebenschancen und krasse Unterschiede in Machtpositionen und den damit verbundenen Einflusschancen zum gesellschaftlichen Ordnungs- und Existenzprinzip werden.“ (D. Senghaas, Gewalt-Konflikt-Frieden, Hamburg 1974, S.117).
3.2 Strukturelle Gewalt als Folge der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur
Der nach dem Ende der Kulturrevolution (1976) eingeleitete wirtschaftliche Transformationsprozess von einer staatssozialistischen Gesellschaftsordnung zu einer kapitalistischen Wirtschaft unter dem Kuratel einer Staatspartei hatte eine zunehmende Ungleichverteilung der Einkommen und eine soziale Destabilisierung zur Folge. Inzwischen werden die Preise fast ausnahmslos am Markt gebildet. Entstanden sind Formen struktureller Gewalt, die für eine kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur typisch sind:
- Unternehmensleitungen, Verbandsvorsteher und Kader von Massenorganisationen gehen von einer festgefügten und nicht mehr zu verändernden Unterordnung der Beschäftigten in den Betrieben, der Repräsentierten in den Verbänden und der Mitglieder der Massenorganisationen aus.
- Sie übernehmen die Interpretation der Interessen der Untergeordneten und filtern deren Anliegen im Fokus ihrer eigenen Interessen mit der Folge, dass die Untergeordneten gesamtgesellschaftlich unterrepräsentiert sind.
- Sie umgeben gegenüber den Untergeordneten die von ihnen ausgewählten Arrangements mit der Aura des universell Gültigen.
Beispiele beider Formen struktureller Gewalt sind bereits im Kapitel 2.4 genannt worden: Ausbleiben von Löhnen und Entlassung von 20 Millionen Wanderarbeitern in der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008, keine gewerkschaftliche Interessenvertretung, überlange Arbeitszeiten bei kaum vorhandenen Arbeitsschutzmaßnahmen, drastische Senkung der Lohnquote, unzulängliche Versicherung gegen krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, unzulängliche Altersversorgung und Umweltverschmutzung.
Wenn Herrschende zum Mittel der Unterdrückung greifen und unter den Betroffenen ein nicht mehr kalkulierbares Ausmaß an Widerstand hervorgerufen, wird früher oder später der Punkt erreicht, an dem der formlose Gegenhalt zerbricht und nicht wieder repariert werden kann, den die herrschenden Formationen untereinander aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehens- und Vergehenszeiten sowie ihrer verschiedenartigen Lebenserwartungen herstellen. Eine solche Entwicklung ist auch für China nicht undenklich.
Da die versammelten und auf unterschiedlichen Feldern agierenden herrschenden Formationen aus sich heraus nicht in der Lage sind, eine solche Entwicklung zu vermeiden oder in andere Bahnen zu lenken, muss der Staat zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts eingreifen. Nach welchen Gerechtigkeitsvorstellungen der Staat seinen Eingriff vornimmt, spielt eine geringere Rolle. Entscheidend für sein Eingreifen ist die Erhaltung des formlosen Gegenhalts. Die Frage, ob er Gerechtigkeit herstellen kann oder sollte, bleibt einem besonderen Diskurs vorbehalten und hat mit der Erhaltung des formlosen Gegenhalts ursächlich nichts zu tun.
3.3 Bekämpfung struktureller Gewalt und Erhaltung des formlosen Gegenhalts durch den Staat
Zur umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zum Zwecke der Erhaltung des formlosen Gegenhalts zählen
- das Offenhalten des Feldes der unendlichen Diskursivität für die Aktivierung und Reaktivierung flukturierender Elemente und neuer diskursiver Formationen,
- die Unterstützung aufsteigender herrschender Formationen und deren Praxen gegen bereits etablierte, wenn letztere keine Konkurrenz dulden,
- das ständige Ausloten von Flexibilitätsspielräumen und -grenzen herrschender Formationen und die Sichtung und Prüfung ihrer Praxen auf zerstörerische Entwicklungen,
- die Beobachtung und Justierung der Beziehungen von Herrschenden und Beherrschten im Binnenverhältnis herrschender Formationen zur Vermeidung von Unruhe stiftender Unterdrückung.
Herrschende Formationen unterliegen stets der Versuchung, sich in der Erweiterung und Stabilisierung des Terrains, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat, zur Abwehr von korrigierenden Eingriffen des Staates mit anderen in sogenannten Äquivalenzketten zusammen zu schließen. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit erwecken sie wider besseren Wissens den Eindruck, dass der formlose Gegenhalt nicht auf ihren zeitlich versetzten endlichen Strukturen basiert, sondern behaupten, dass ihm eine sich selbst steuernde unendliche Struktur (Markt) eigentümlich sei, die des korrigierenden staatlichen Eingriffs zur Erhaltung des Gemeinwohls nicht bedürfe. Zu Opfern ihrer eigenen Propaganda geworden, wird ihnen die zunehmende Fragilität des formlosen Gegenhalt nicht bewusst, denn je erfolgreicher sie sich gegenüber neu gebildeten und aufstrebenden herrschenden Formationen abzuschotten vermögen, desto weniger von ihnen erzeugen schließlich den formlosen Gegenhalt. Oligopol- und Monopolbildungen können den Zerfallsprozess nur hinauszögern. Indem sie also dem Staat die Unterstützung noch junger aufsteigender Formationen verwehren, führen sie dank ihrer eigenen Abschottungsstrategie einen fortgesetzt fragileren Zustand des formlosen Gegenhalts herbei und treiben letztlich gegen die eigene erklärte Absicht den Zerfallsprozess sogar voran.
Den Maßstab zur Auslotung des ihnen verfügbaren Spielraums zur Unterdrückung der Beherrschten entnehmen sie nicht primär dem auf die Gesamtgesellschaft abzielenden Gemeinwohl, sondern vorrangig der Analyse des Vergleichs ihrer eigenen Situation mit derjenigen konkurrierender hegemonialer Formationen. Aus dieser wechselseitigen Beobachtung und Anpassung ihrer Konkurrenzsituation ergeben sich jedoch Folgen für die Ausgestaltung des Gemeinwohls. Empfinden beispielsweise Beherrschte die ihnen abgeforderte Unterordnung nicht mehr als notwendig, sondern als ungerechtfertigten Zwang und rebellieren dagegen, kann es zu Abwanderungen, Unruhen, Streiks, Aufständen kommen, in deren Verlauf nicht nur das Binnenverhältnis der unmittelbar betroffenen Formation berührt ist, sondern auch dasjenige der Übrigen.
Diese Beeinträchtigung des Gemeinwohls ist der Grund, warum der Staat sich zum Eingreifen genötigt sieht, um die Binnenverhältnisse einer Analyse zu unterziehen und gegebenenfalls in ihre Ausgestaltung einzugreifen. Das weit gefächerte Spektrum seines Handelns erstreckt sich von theoriegeleiteten Empfehlungen mit Unverbindlichkeitscharakter bis hin zu einschneidenden rechtlichen Maßnahmen wie beispielsweise Vorschriften zum Arbeitsschutz und der Gesunderhaltung, Anordnungen zur Einführung von Mindestlöhnen.
Die Schlichtertätigkeit des Staates erstreckt sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens und setzt auf freiwillige Übernahme der Schlichtungsergebnisse durch die Konfliktparteien. Wird der Staat aus seiner umfassenden Tätigkeit als Schlichter in gesellschaftlichen Konflikten von herrschenden Formationen hinausgedrängt und nicht als vertrauenswürdig angesehen, tritt oftmals rohe Gewalt an die Stelle der Schlichtung.
Öffentlichkeit im gesellschaftlichen Ensemble relativ stabiler sozialer Formen herzustellen und den öffentlichen Raum zu schützen ist eine weitere unverzichtbare Aufgabe des Staates, in die er im übrigen auch seine eigene Öffentlichkeitsarbeit einbeziehen muss. Dieser Anforderung vorgelagert ist der Schutz der Privatsphäre. Privatsphäre und Sphäre der Öffentlichkeit bedingen einander. Das Individuum lebt in beiden Sphären und benötigt beide zu seiner Entfaltung. Unterliegt die Privatsphäre einer ständigen Einengung und stößt der öffentliche Raum bis an die Grenzen des intimen Bereichs vor, fühlt sich das Individuum in seiner schützenden Aura verletzt und greift unwillkürlich zu Strategien, mit denen es den ihn bedrängenden Zugriff der Öffentlichkeit zurück zu drängen versucht. Die mannigfach in sich gegliederte Öffentlichkeit, die durch die Selbstdarstellung der Individuen entsteht, bedarf des staatlichen Schutzes vor der Zerstörung, die ihr durch die Praxen herrschender Formationen droht.
3.4 Behinderung staatlicher Erhaltung des formlosen Gegenhalts
Gehen – unter Verkennung des besonderen Verhältnisses des Staates zum formlosen Gegenhalt – hochrangige herrschende Formationen und Staat eine enge Bindung miteinander ein, wird entweder der Staat zu deren Anhängsel und treibt an vorderster Stelle deren Praxen voran, oder ein starker Staat bedient sich der Vor- und Mitarbeit der herrschenden Formationen, um seine eigenen Ziele und Aktivitäten voran zu bringen. Im ersten Fall verliert der Staat seine Fähigkeit, zum Zweck der Erhaltung des formlosen Gegenhalts einzugreifen, und im zweiten maßt er sich eine umfassende Steuerungskapazität an, die er aufgrund der auch ihm fehlenden Information über die künftigen Erfordernisse nicht hat. Kaderparteien mit ihrem streng hierarchischen Aufbau bilden die denkbar schlechteste Voraussetzung für die Entfaltung einer in komplexen Gesellschaften immer notwendiger werdenden Irrtumskultur (Wolf Singer). Die in Kaderparteien übliche Zentralisierung der Entscheidungsbefugnis behindert nicht nur die Durchreichung von Informationen von der Basis an die Spitze, sondern die Komplexität der zu entscheidenden Probleme überfordert auch die wenigen Entscheider an der Spitze so sehr, dass immer schlechtere Resultate erzielt werden. In der Verfassungswirklichkeit Chinas rangiert die hierarchisch strukturierte Kommunistische Partei Chinas über der Verfassung und über dem Volk. Aufgrund ihrer Machtposition und ihres Führungsanspruchs im Staat sichert sie zwar ihre umfangreichen Eingriffsrechte, aber ob sie über die Erhaltung ihrer eigenen Macht hinaus mit ihren Entscheidungen der Entfaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur auf optimale Weise dient, kann bezweifelt werden.
3.4.1 Die dauerhafte Unterbrechung des demokratischen Diskurses durch den Staat
Staatliche Gewaltausübung ergibt sich aus der Einschränkung des Artikels 35 der Verfassung Chinas (das Recht auf Meinungsfreiheit) durch den Artikel 51. Das Recht des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, heißt es da, darf nicht die Interessen des Staates, der Gesellschaft, des Kollektivs oder die gesetzlichen Freiheiten und Rechte anderer Bürger verletzen (Wu Hongbo, Botschafter Chinas in Deutschland in einem Interview mit Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 13.10.2009). Die in China existierende Gesellschafts- und Staatsstruktur überträgt dem Führungskader der Kommunistischen Partei die Macht über die Definition des Staatsinteresses. Welchen Umfang die freie Meinungsäußerung haben soll, bestimmt sie. Chinesische Behörden schrecken z.B. nicht davor zurück, in Einzelfällen Chinesen vor ihrem Auslandsbesuch zu verdeutlichen, was sie im Ausland sagen sollen und was nicht. Die Verfassung gilt zwar für jeden, wie der Botschafter Chinas betont, und vor dem Gesetz sind alle gleich, aber die Partei steht, was die Definitionsmacht anbelangt, zugleich über dem Gesetz. Han Dongfang, Gründer der ersten unabhängigen Gewerkschaft, ohne Gerichtsverfahren in Haft genommen und später des Landes verwiesen, kommentiert: „Gewalt ist in China schließlich immer das Gesetz gewesen.“ (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel, 4.6.2009)[2].
Ein gravierendes Merkmal gesetzlich verankerter staatlicher Gewalt ist die in China noch verhängte Todesstrafe. Derzeit werden in fünf Staaten mehr als 90 Prozent der Todesurteile gefällt: China, Iran, Saudi-Arabien, die USA und Pakistan (Pierre Simonitsch, Die Oppositions-Killer, Frankfurter Rundschau, 27./28.2.2010). Die Würde des Menschen setzt das Recht auf Leben voraus. Die Todesstrafe verletzt eben diese Würde. Fehlurteile der Justiz können außerdem nicht vollkommen ausgeschaltet werden. Die Todesstrafe nimmt dem
Mörder jede Wiedergutmachungsmöglichkeit für das von ihm begangene Verbrechen[3]. Ebenfalls im Bereich des Rechts angesiedelt sind folgende Formen staatlicher Gewaltausübung in China
- Verhängung des Hausarrests für Bürgerrechtler, Einschüchterung, Verschleppung,
- die Inhaftierung von Personen ohne richterlichen Beschluss über einen eng begrenzten Zeitraum hinaus und die Geheimhaltung des Orts der Inhaftierung. In China liegt dem Volkskongress sogar eine Gesetzesinitiative zur Beratung vor, die es der Polizei ermöglichen würde, Verdächtige sechs Monate an einem geheimen Ort festzusetzen (Frankfurter Rundschau, 29.9. 2011).
- Verurteilung wegen „Anstiftung öffentlicher Unruhe“ – Im Falle Zhao Lianhais Verhängung einer zweieinhalbjährigen Haft, weil er Opfern des Milchskandals zu ihrem Recht verhelfen wollte (Bernhard Bartsch, Peking bestraft besorgten Vater, Frankfurter Rundschau, 11.11.2010).
- Die schriftliche Anweisung der Regierung an Verlage, von einem Dissidenten keine Zeile mehr zu drucken (Bernhard Bartsch, Die subversive Freude am Zuhören, Frankfurter Rundschau 4.3.2010).
3.4.2 Handlungsweisen zur Konservierung von Unterordnung
Der Besucher Beijings und anderer Großstädte Chinas stellt mit großem Erstaunen fest, wie sauber die Straßen und Plätze gehalten werden. Räumfahrzeuge fegen den Unrat von den Straßen, auf den Bürgersteigen sind ständig Putzkolonnen unterwegs, die achtlos weggeworfene Gegenstände aufsammeln. Des Nachts werden die weiß angestrichenen Straßenbarrieren zur Lenkung des Verkehrs von Anstreicherkolonnen frisch gestrichen.
In der stickigen Luft der Straßenschluchten fällt dem Besucher jedoch das Atmen schwer und die von einem Dunstschleier verdeckte Sonne sagt ihm, wie stark die Umwelt belastet sein muss. Nach starkem Regen ergießt sich eine tiefbraune Flut verdreckten Wassers in die Kanalisation und von dort nicht selten in die von Bewässerungssystemen ausgelaugten Flüsse und Seen. Der Besucher beherzigt die Warnungen, Wasser aus dem Hahn vor dem Trinken unbedingt abzukochen und wäscht das auf den Märkten angebotene Gemüse und Obst vor dem Verzehr. Mit wie viel Schadstoffen die Lebensmittel belastet sind, die mit hohen Kunstdüngergaben hochgezogen worden sind, erfährt er meistens nicht. Chinesen leiden unter der zunehmenden Umweltzerstörung noch mehr als Besucher. Mehr als 10 Millionen Menschen reichen jährlich Beschwerden ein[4].
In China existiert seit altershehr ein Petitionsrecht. Es „soll einerseits den Bürgern ermöglichen, sich mit ihren Sorgen direkt an die Zentralregierung zu wenden, und dieser andererseits Einblicke gewähren, die der Beamtenapparat nur selten nach Peking vordringen lässt.“ (Bernhard Bartsch, Wen hört Untertanen zu, Frankfurter Rundschau, 27.1.2011). „Häufige Klagegründe sind Korruption, Landenteignungen und nicht bezahlte Löhne. Der Umgang mit den Beschwerden ist für die Zentralregierung aber ziemlich heikel, denn jede Intervention zugunsten der Bürger bedeutet eine Konfrontation mit lokalen Behörden und Machtnetzwerken. Außerdem verfügen die Beschwerdesteller meist nicht über das nötige Geld und Wissen, um ihre Klagen in eine juristisch korrekte Form zubringen. Die Erfolgsaussichten für die Petitionäre sind daher gering. 2006 kam das oberste Gericht in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass zwar 80 Prozent der Beschwerden gerechtfertigt sind, aber nur zwei Prozent der Kläger tatsächlich Recht bekommen. Doch selbst dann übernehmen die Pekinger Justizbehörden nicht etwa selbst die Untersuchungen, sondern stellen dem Petitionär nur ein Formular aus, das von den lokalen Behörden eine Neuverhandlung des Falles verlangt. – Damit geht der oft genau an die Beamten zurück, gegen die sich die Beschwerde richtet. Die, von denen das Unrecht ausging, sollen es also beseitigen.“ (ebd.). Ein solches Beschwerdesystem erfüllt perfekt das Ziel einer Zentralregierung, Einblick in die gesellschaftliche Realität zu erhalten, obwohl sie einen freien Diskurs nicht zulässt und deshalb stets mit dem Problem zu kämpfen hat, genügend verlässliche und breit gestreute Informationen über die Beherrschten zu erlangen. Eine solche Führung kann nicht gutheißen, dass Provinzregierungen Polizisten nach Peking schicken, um Beschwerdeführer vor den Beschwerdestellen abzufangen und sie in sogenannte „schwarze Gefängnisse“ einzusperren. Wenn Chinas Premierminister Wen Jiabao also den Sorgen von Menschen zuhörte und versprach, „wir müssen die Macht in unseren Händen nutzen, um den Interessen des Volkes zu dienen und den Bürgern zu helfen, Schwierigkeiten verantwortungsvoll zu meistern“ (ebd.), ist sein Besuch in einer Beschwerdestelle nicht als besondere Zugewandtheit zum Volk zu bewerten, sondern stellt eine pure Notwendigkeit für die Zentralregierung dar, ohne Dazwischenschaltung lokaler oder regionaler Staatsorgane auf direktem Wege beweisbare Unterlagen über die Zustände im Lande zu erhalten.
Wie dringlich die Verbreiterung der Informationsbasis ist, zeigt die Antwort eines Leiters der führenden chinesischen Ausbildungsstätten für Regierungsbeamte, Professor Shi Yinhong, auf die Frage, was heutzutage Chinas Bedürfnisse seien: „Bisher liegen unsere großen Herausforderungen noch eindeutig im Inland: Wir haben gewaltige soziale Spannungen, riesige Umweltprobleme und eine sehr unausgewogene Entwicklung. Erst wenn wir das lösen können, werden wir das Land werden, das für den Rest der Welt wirklich attraktiv ist.“ (Interview: Bernhard Bartsch, Frankfurter Rundschau, 5.3.2010).
Je stärker Wirtschaftseinheiten werden, desto ausgeprägter sind ihre Eigeninteressen, die sie dem kleinen Kreis der führenden Kader in der Kommunistischen Partei Chinas als unbedingt zu erfüllende Gemeinwohlbelange andienen. Mangels eigener sicherer Prognosefähigkeiten der Partei werden die führenden Kader geneigt sein, die ihnen vorgetragenen Gemeinwohlbelange als gesetzlich zu verordnendes Gemeinwohl der Gesamtgesellschaft überzustülpen.
4. Schlussbetrachtung
Der chinesische Philosoph Zhouyi empfahl den Menschen, ihr persönliches „Dao“ mit dem die Natur leitenden Dao in Harmonie zu bringen: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world …, Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ebd.S.16/17). Für Agrargesellschaften vergangener Jahrhunderte, die in ihrer Struktur noch überschaubar waren, mag dieser Ratschlag des Philosophen Zhouyi noch brauchbar gewesen sein. Heutige Gesellschaften zeichnen sich durch einen so hohen Komplexitätsgrad aus, dass der von der Führung des Landes eingeschlagene Weg keinen Anspruch erheben kann, mit dem vorherrschenden Rhythmus der Welt in Einklang zu sein. Versuch und Irrtum begleiten den Weg (Dao) und die pure Machterhaltung der führenden Partei ist kein guter Ratgeber in der Bestimmung des Weges.
Ist der eingeschlagene Weg noch richtig, fragt Angela Köckritz in ihrem Artikel „War’s das, China? (Die Zeit, 6.10.2011). „30 Jahre lang folgte China einem Pfad, der große Erfolge versprach: Es setzte auf Exporte, einen Handelsüberschuss, um das gewonnene Kapital im Inneren zu investieren. Das funktionierte fantastisch, denn China war ein armes Land, es brauchte Straßen, Flughäfen, Krankenhäuser.“(ebd.). Nachdem China jedoch kein armes Land mehr sei, werde die Frage immer wichtiger, welche Investitionen wirklich sinnvoll seien, um den Herausforderungen der Zukunft zu bestehen? Nur wenn es gelänge, meint sie, die Binnennachfrage entscheidend zu erhöhen, werde die chinesische Wirtschaft weiter wachsen. Aber dazu bedürfte es einer drastischen Umverteilung des Reichtums von den wohlhabend Gewordenen zur Masse der arm gebliebenen Bevölkerung Chinas. Während sich nur 30 Prozent der zahlungskräftig gewordenen Chinesen den Kauf einer Wohnung leisten können, investieren die wirklich Wohlhabenden ihr Kapital zunehmend in Immobilien. Sie spekulieren darauf, dass es künftig noch genügend Wohnungssuchende geben wird, denen sie die zum Teil sogar lange Zeit leer stehenden Wohnungen verkaufen oder vermieten können.
Eine zu geringe Erhöhung der Binnennachfrage könnte jedoch zum Platzen der Immobilienblase führen und eine Abwärtsbewegung in der Wirtschaft einleiten, wird von vielen Experten prophezeit. Kämen nachlassende Exporte hinzu, weil in den bisherigen Abnehmerländern chinesische Waren auf eine geringere Kaufkraft stoßen, müssten Arbeitskräfte in einer so großen Zahl entlassen werden, dass viele von ihnen weder in der aufstrebenden Industrie der zentralen Provinzen noch in der Landwirtschaft ein ausreichendes Auskommen finden würden. Schon jetzt nimmt die landwirtschaftlich nutzbare Fläche stetig ab, die Versandung weiter Landstriche ist nicht endgültig gestoppt worden und die Zersiedelung des Landes um die großen Städte herum nimmt zu. China macht sich mit dem weiteren Aufkauf von Land in Südamerika und Afrika als Ersatz für die eigene zurückgehende Landwirtschaftsproduktion keine Freunde.
Solche und ähnliche Szenarien sind in der Tat nicht ganz von der Hand zu weisen. Die dringende Bitte der chinesischen Führung an die Europäer und US-Amerikaner, endlich ihre finanzielle Schieflage in den Griff zu bekommen, damit ihre Absatzmärkte für chinesische Exporte nicht dauerhaft ausfallen, zeigt die um sich greifende Besorgnis Chinas. Denn auf absehbare Zeit wird die Exportabhängigkeit Chinas noch bestehen bleiben. Der von der Führung angestrebte langfristige Entwicklungsplan Chinas benötigt viel Zeit zu seiner Umsetzung, und ob eines Tages die Binnennachfrage die Exportabhängigkeit völlig überflüssig machen wird, ist sehr ungewiss.
Bisher verknüpften viele Chinesen ihren persönlichen Aufstieg mit dem des gesamten Landes. Sollte China zwar weiterhin auf dem ansteigenden Wachstumspfad vorwärts schreiten, aber immer mehr Einzelne unversöhnt mit den eigenen Zukunftshoffnungen zurück lassen, werden selbst die größten Harmonieversprechungen nicht ausreichen, steigende Unzufriedenheit zu besänftigen. Stehen für solche schwierigen Zeiten keine politischen Foren zur Verfügung, in denen Chinesen miteinander um den besten Weg streiten können, wird der Ruf nach Unterdrückung der Unzufriedenen und nach Zulassung von mehr struktureller Gewalt gegen sie erschallen und damit die Gefahr des Niedergangs näher rücken.
„Die Kultur der Opposition braucht Zeit, um sich zu entfalten. Und Zeit ist bekanntlich knapp“, schreibt Jochen Hörisch in der Frankfurter Rundschau vom 10.10.2011. „Oppositionen stärken in aller Regel das System, in dem sie agieren, auch wenn sie sich gegen dessen Ausprägung richten … Opposition macht Systeme lernfähig und komplexer; Kritik stärkt fast automatisch das Kritisierte. Auch die Umkehrung dieses Motivs bewährt sich zumeist. Militante und bedingungslose Unterstützung ist das Schlimmste, was Institutionen, Systemen und Personen widerfahren kann.“(ebd.).
Noch ein Wort zu den Auslandsjournalisten, die unfreiwillig zum Ventil für oppositionelle Meinungen werden, die in der chinesischen Veröffentlichungspraxis keine Fürsprecher finden. Ihnen vorzuwerfen, dass sie nicht in jedem kritischen Artikel über China in einer weiteren Passsage zugleich die Doppelmoral europäischer und amerikanischer Journale zum Beispiel in der Beurteilung Saudi-Arabiens anklagen, ist so lange wohlfeil, wie jene Journalisten nicht auch die positiven Seiten Chinas würdigen und ihren Heimatredaktionen widersprechen, wenn ihnen von ihren Chefs verordnet wird, nur noch kritische Berichte über China zu verfassen.
Anmerkungen[1] Insofern besteht zwischen der Selbstrepräsentation der Staatsmacht in China und der Selbstrepräsentation des Staates in parlamentarischen Demokratien kein Unterschied. Versteht man das reale Volk – wie es z.B. in der Auslegung des Artikels 20 Abs.2 Satz 1 GG geschieht, nur als „politisch ideelle Einheit“ bzw. als „konkret geistige Ganzheit“, rangiert das reale Volk ebenfalls nur noch als begriffliche Chimäre. Indem der Staat sich nur auf dieses Abstraktum „Volk“ bezieht und diesen handlungsunfähigen „Träger der Macht“ zu seinem Referenzobjekt erklärt, ist erkennbar, dass er sich auf sich selbst bezieht und nur sich selbst gegenüber verantwortlich zeichnet. Als auf sich selbst bezogener, sich selbst repräsentierender Staat steht ihm aber frei, seine allumfassende Gewaltbefugnis freiwillig in Selbstverpflichtung einzuschränken, was er in den übrigen Artikeln des Grundgesetzes auch macht.
Auf drastische Weise beschrieb einmal ein Abgeordneter des französischen Parlaments das Verhältnis zwischen dem französischen Volk und dem Staat. Mit dem Verweis auf Thomas Hobbes’ Staatsvertragstheorie meinte er, dass das Volk doch alle Macht an den Staat abgetreten habe, also solle es sich nicht beschweren, wenn es jetzt von ihm beherrscht werde. Verantwortlich sei der Staat jetzt nur noch gegenüber sich selbst.
[2] Als Rechtfertigung für die Einschränkung der Meinungsfreiheit in China kann nicht die Begrenzung der Meinungsfreiheit in den USA herangezogen werden. Das vom Botschafter genannte Beispiel der Entlassung des Direktors und der anderen zuständigen Personen im Radiosender „Voice of America“ weist lediglich auch auf die in den USA begrenzte Meinungsfreiheit hin. Kurz nach dem 11. September 2001 hatte „Voice of America“ ein Interview mit El-Kaida-Vertretern gesendet. Das Beispiel demonstriert den in westlichen Medien oftmals anzutreffenden doppelten Standard: streng in der Diagnose anderer und beschwichtigend in der Beurteilung der eigenen Begrenzungen.
[3] Der Unterschied zwischen den USA und China besteht darin, dass es in den USA eine Menschenrechtskommission gibt, die sich ein Urteil über andere Länder zumisst, die in den USA praktizierte Todesstrafe jedoch hinnimmt.
[4] Die Zerstörung der Umwelt stellt eine besonders heimtückische Form der Gewalt dar. Peer Junker erzählt in seinem Artikel über „Chinas Sonnenkönig“ Huang Ming, wie ihn das Schicksal seiner Tochter dazu gebracht hat, aus dem Ölgeschäft auszusteigen, ein eigenes Unternehmen zu gründen und China mit „Solarwasserbereitern“ auszustatten (Tagesspiegel, 30.9.2011).
15. Oktober 2011
Reinhard Hildebrandt
Chinesische Anstrengungen zur Vermeidung eines neuen
Ost-West-Konflikts: USA/EU/Japan – China/Russland
1. Premier Li Keqiangs erster Auslandsbesuch führt nach Indien
Anlässlich des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang in New Delhi publizierte die führende Zeitung Indiens, The Hindu, am 5. Juni 2013 Srinath Raghavans Kommentar „When the dragon comes calling – The new Chinese leadership wants to reach out to India and New Delhi should make the most of the opportunity to move forward on the strategic and economic fronts”. China sehe sich gegenwärtig mit einer unkomfortablen internationalen Situation konfrontiert, deren schädlichen Folgen durch die Entwicklung guter Beziehungen zu Indien begegnet werden solle. Srinath Raghavan, Senior Fellow at the Centre for Policy Research, New Delhi, forderte die indische Regierung auf, diesen Wunsch Chinas nicht leichtfertig zurück zu weisen, sondern sorgfältig die Chancen Indiens auszuloten. Er ermahnte die indische Politik jedoch, in ihrer Annäherung an China der Einsicht Rechnung zu tragen, dass China im nächsten Jahrzehnt gegenüber Indien die führende Rolle behalten werde.
Die strategische Konzentration der USA auf den westlichen Pazifik und damit zusammen-hängend die Neuausrichtung Japans auf die ASEAN-Staaten und Indien bezeichnete Srinath Raghavan als Antrieb chinesischer Besorgnis. „The U.S. is promoting a Trans-Pacific Partnership (TPP). Signed in 2005 by Brunei, Chile, New Zealand and Singapore, the TPP has drawn the interest of five other countries: Australia, Malaysia, Peru, Vietnam and Japan.” Ziel der TPP sei der Abschluss von Freihandelsabkommen, in denen investorfreundliche Rahmenbedingungen das geistige Eigentum der privaten Investoren schützen sollen und deren Wettbewerbschancen gegenüber staatseigenen Unternehmen garantieren. Raghavan meinte, die chinesische Führung befürchte, „that a successful TPP eventually compel China to come to terms with it – just as China had to do with APEC and WTO.”
Raghavan bezeichnete Indien als “swing” power in der gegenwärtigen strategischen Konstellation und wies darauf hin, dass diese Rolle Indiens der chinesischen Führung sehr bewusst sei. Der chinesische Ministerpräsident habe sich deshalb öffentlich zu folgender Einsicht bekannt: „We are not a threat to each other, nor will we ever contain each other“. Zusätzlich habe er den auch für Indien negativen Aspekt der TPP hervorgehoben und für die Expansion des chinesisch-indischen Handelsaustausches auf der Grundlage eines noch zu verhandelnden „China-India Regional Trading Arrangement (RTA)“ plädiert.
Die indische Führung, schlug Raghavanm vor, solle sich angesichts der derzeitig günstigen Konstellation nicht nur darauf beschränken, Hindernisse im indisch-chinesischen Verhältnis abzubauen, sondern
- in den Verhandlungen über die exakte Grenzziehung zwischen Indien und China auf Fortschritte zu setzen („President Xi Jinping and Premier Li have indicated that they would like to move forward as soon as possible“… „The Chinese have also indicated that they want to strengthen the mechanisms for maintenance of peace and tranquillity along the frontiers.”);
- auf einen breiteren Zugang zum chinesischen Markt für indische Unternehmen zu bestehen und für mehr chinesische Investitionen in Indien zu werben;
- eine regional intensivere Zusammenarbeit anzustreben („Bejing is evidently not confident that Pakistan will be able to secure Chinese interests in Afghanistan after the western forces pull out”).
2. Chinas Suche nach einem Kompromiss im Handelsstreit mit der EU
Weitere Beispiele unterstreichen die Anstrengung der chinesischen Führung, einem neuen von den USA initiierten und gegen China und Russland gerichteten Ost-West-Konflikt auszuweichen. Das erste Beispiel hat die Stärkung der Handelsbeziehungen mit der EU zum Inhalt. Die für China negativen Effekte eines künftigen Freihandelsabkommens der EU mit den USA soll damit frühzeitig entgegengewirkt werden.
Angesichts der weltweiten Nachfrage nach Solarzellen zur Produktion von Elektrizität durch Sonnenenergie sind nicht nur neue Technologien zur Anwendung gebracht worden, sondern zugleich ist eine globale Überkapazität geschaffen worden, unter der insbesondere die europäischen Solarunternehmen leiden, aber auch die chinesischen Produzenten enorme Absatzeinbußen einstecken mussten (Frank Thomas Wenzel, Strafzölle gegen China, Frankfurter Rundschau, 5. 6. 2013). Nach einer Aussage des EU-Handelskommissars Karel De Gucht hat China eine „riesige Überproduktion erzeugt“. Die Chinesen produzieren „heute anderthalbmal so viel Solarmodule, wie weltweit überhaupt gebraucht werden“ (Die Zeit, 13.6.2013). Regierungen versuchen, die nationalen Produzenten durch Exportsubventionen zu schützen und ausländischen Konkurrenten zu unterstellen, dass sie unzulässige staatliche Subventionen erhalten haben und Preisdumping betreiben. Karel De Gucht verweist auf den Fünfjahresplan Chinas, in dem China die Industriezweige nennt, in denen man eine Führungsrolle anstrebt. China habe das Recht dazu, aber nur dann, wenn es die Spielregeln beachte. Auf die Verhängung von Strafzöllen für Niedrigpreis-Importe von Solarpanelen durch die EU – und vorher bereits durch die USA – reagiert die chinesische Regierung mit der Drohung, europäische Weinexporte und Stahlrohre mit Strafzöllen zu belegen (Simon Frost, Rotwein gegen Solarzellen, Tagesspiegel, 6. Juni 2013, Frankfurter Rundschau, AFP, 14.6.2013). Deutsche Maschinenbauer wiederum, deren Technologie chinesische Solarmodul-Produzenten verwenden, befürchteten Exporteinbußen für ihre Produkte (Frankfurter Rundschau, 25.6.2013). Nur Innovationen könnten den Firmen in Europa helfen, wettbewerbsfähig zu bleiben, d.h. mehr Anstrengungen bei Forschung und Entwicklung zu unternehmen. Die Strafzölle gegen China, meint Rolf Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, würden „der EU mehr Schaden als nutzen“(Katja Scherer, Raus mit den Rivalen, Die Zeit, 13.6.2013). „Immer wenn es auf dem Weltmarkt bergab geht“, beobachte der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser, „versuchen die Länder sich abzuschotten“ (ebd.). Einem drohenden Handelskrieg versucht die chinesische Regierung entgegen zu wirken, indem sie die gleichermaßen von der Überproduktion betroffenen europäischen und chinesischen Produzenten zur Zusammenarbeit auf außereuropäischen Märkten auffordert, auf denen die Nachfrage – entgegen der Äußerung De Guchts – noch weit von einer Sättigung entfernt sei.
Die chinesische Führung befürchtet, dass ein Handelskrieg einzelne EU-Länder ermuntern könnte, sich stärker den USA zuzuwenden und mit ihnen in einem erneuten Ost-West-Konflikt zu kooperieren. Aus der gleichen Befürchtung hat die chinesische Regierung den von ihr geschaffenen 14köpfigen „Global CEO Advisory Council“ zum ersten Mal einberufen, dem führende Chefs transnationaler Unternehmen wie z.B. der VW-Chef Martin Winterkorn und der General-Electric-Chef Jeffrey Immelt angehören, um über Fragen von Chinas Entwicklungsstrategie zur Förderung rückständiger Regionen in Zentral- und Westchina zu sprechen (Volkswagen wächst an China-Geschäft – Autoverkäufe im Reich der Mitte bewahren den Autobauer vor einem Absatzrückgang, DPA in Frankfurter Rundschau, 15.6.2013) (Bernhard Bartsch, VW-Chef berät Chinas Premier, Frankfurter Rundschau 7.6.2013).
Die chinesischen Bestrebungen, den schwelenden Handelskonflikt mit der EU beizulegen, stehen im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Drängen zur baldigen Errichtung einer transatlantischen Freihandelszone. Im Feihandelsabkommen geht es nicht so sehr um die Reduzierung von Zöllen, meint Pierre-Christian Fink in seinem Artikel „Lasst uns tauschen“ (Die Zeit, 13.6.2013), sondern sehr viel stärker um die Angleichung bzw. Abschaffung von tarifären Handelshemmnissen. Wenn solche Handelshemmnisse in einem größeren Umfang abgebaut werden, würde laut ifo-Institut das Pro-Kopf-Einkommen der US-Bürger langfristig um 13,4 Prozent steigen, während die EU-Bürger nur mit 4,7 bis 5 Prozent rechnen könnten. Das Londoner Centre for Economic Policy Research hingegen prognostiziert 119 Milliarden Euro Ersparnis im Jahr, mit denen die Europäer stärker als die USA rechnen könnten (Christopher Ziedler, Gewinn aus dem Nichts, Tagespiegel, 18.6.2013).
Dan Hamilton, Leiter des ‚Centers for Transatlantic Relations’ an der John Hopkins University der USA, beschränkt die US-amerikanische Zielsetzung eines solchen Freihandelsabkommens jedoch nicht auf die Reduzierung von Handelshemmnissen. Er schreibt: „Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit sind eine Mahnung, dass sich die transatlantische Führung in der Welt nur dann fortsetzen lässt, wenn wachsame Demokratien auch wirtschaftlich stark sind. Damit unser westliches Modell attraktiv für andere bleibt, muss es zu Hause funktionieren.“ (Tagesspiegel, 13.6.2013). EU-Kommissarchef Manuel Barroso attestiert: „Unsere Partnerschaft wird die Karten in der Weltwirtschaft neu mischen“ (Tagespiegel, 18.6.2013).
Auf die Entwicklungsländer ausgreifend formuliert Ska Keller von der Partei der Grünen im EU-Parlament: „So stärken die EU und die USA ihre dominante Rolle in der Welt und geben Entwicklungsländern keine Chance, Handelsstrukturen zu ihren Gunsten zu verändern“ (Peter Riesbeck, Rote Linien für den Freihandel, Frankfurter Rundschau, 14.6.2013). Unter den sich industriell entwickelnden Ländern zählen im südostasiatischen Raum fast alle ASEAN-Staaten, mit der Ausnahme von Singapur und Taiwan. Die von den USA ebenfalls angestrebte pazifische Freihandelszone (Pazifisches Freihandelsabkommen (TPP) umfasst neben den ASEAN-Staaten auch Japan und Südkorea und richtet sich ebenfalls gegen China und Russland).
3. Die Totalüberwachung der globalen Datenströme als neues Operationsfeld der USA in einem neuen Ost-West-Konflikt
Die chinesische Regierung sah sich in der Vergangenheit oftmals dem Vorwurf der USA ausgesetzt, unerlaubter weise in US-amerikanische Rechner einzudringen und die Datennetze nach für China nützlichen Informationen auszuspähen. Insbesondere das chinesische Militär sei an diesen Operationen beteiligt. Die USA drohten der chinesischen Führung Konsequenzen an, wenn die Ausspähaktionen nicht eingestellt würden. Sie schreckten nicht vor der Androhung ökonomischer Strafmaßnahmen zurück und schränkten z.B. die Zusammenarbeit mit chinesischen Informations-Technologie-Firmen erheblich ein. Nach der Enthüllung vielfältiger Aktivitäten US-amerikanischer Geheimdienste gegen China und die übrige Welt durch ihren ehemaligen Mitarbeiter Snowden haben sich die Vorwürfe der USA gegen China als scheinheilig erwiesen. Die USA unterhalten weltweit agierende Geheimdienste und nehmen keinerlei Rücksicht auf die Souveränität anderer Staaten. Warum ist das so und warum wehrt sich China dagegen?
Die Machtelite der USA erhebt weiterhin den Anspruch auf globale Ausdehnung der US-Hegemonie und arbeitet in der Erreichung des Ziels, Kontrolle über die Hegemonisierten auszuüben, eng mit Großbritannien zusammen. Vornehmliches Überwachungsinstrument ist die Kontrolle der globalen Datenströme. Der Anspruch der Machteliten beider Länder in der Totalüberwachung der Beherrschten unterscheidet nicht zwischen USA freundlich oder feindlich gesinnten Hegemonisierten. Die Bundesrepublik Deutschland als befreundetes Land und China als misstrauter Rivale der USA nehmen beide einen der vorderen Plätze in der Überwachung ein. „Der US-Geheimdienst NSA soll sich in mindestens 61 000 Fällen Zugang zu chinesischen Computern verschafft und Daten abgesaugt haben … Ziel der Angriffe seien Regierungsserver, Systeme von Hochschulen und Privatrechner in der Volksrepublik und in Hongkong gewesen“ (Bernhard Bartsch, Zwei aus dem Glashaus, Frankfurter Rundschau, 14.6.2013).
Laut Heinrich Wefing speichert die Nationale Sicherheitsagentur der USA (NSA) „hunderte Milliarden Daten“ jeden Monat. „Sie kann abhören, wen sie will, rund um den Globus“ und greift hierbei auf die „gewaltigen Datensammlungen“ der US-amerikanischen „Digital-Giganten“ Google, Microsoft, Facebook, Amazon u.a. zu, die sich in der Herausgabe von Daten der Anweisung eines einzigen, geheim tagenden und völlig überforderten Gerichts in Washington fügen müssen (Heinrich Wefing, Wehe dem Mutigen, Die Zeit, 13.6.2013). Das Echolon-Spionage-Netzwerk überwacht seit langem mit riesigen Antennen die Satelliten-gestützte Kommunikation, Spionage-U-Boote zapfen Untersee Glasfaserleitungen an und der britische Geheimdienst GCHQ „kopiert aus den Nervensträngen des Internets sämtliche Datenströme, speichert sie und scannt auf verdächtige Muster“ (Marin Majica, Die Kontrollgesellschaft, Frankfurter Rundschau, 25.6.2013). Die britische Regierung macht noch nicht einmal halt vor dem systematischen Abhören von Gipfeltreffen, die auf britischem Boden stattfinden, um den erzielten Informationsvorsprung in Verhandlungen für sich auszunutzen ((Matthias Thibaut, London ließ Regierungen abhören – Agenten spionierten bei G-20-Gipfel, Tagesspiegel, 18.6.2013). Die Abschöpfung des Datenstroms misshandelt die Bürgerrechte großer Teile der Weltbevölkerung und macht auch nicht vor Wirtschaftsspionage halt (ebd.). Gerechtfertigt wird das Grundrechte missachtende Überwachungssystem mit der Abwehr terroristischer Angriffe auf Gesellschaften, die sich der Freiheit des Individuums besonders verpflichtet fühlen. In den USA wurde mit den Patriot Act eine Sicherheitsarchitektur geschaffen, „die jeden Bürger als Verdächtigen, seine Privatsphäre als Refugium eines potentiellen Kriminellen und persönliche Daten als kriminalistische Spuren bewertet“ (Christian Bommarius, Obamas totalitäre Wende, Frankfurter Rundschau, 12.6.2013). Wer die heimliche Ausforschung aller Geheimnisse zum obersten Staatswohl erhebt und als schützenswertes Gut bezeichnet, untergräbt im Namen der nationalen Sicherheit die Freiheit der demokratischen Gesellschaftsordnung und verfällt dem Totalitarismus (ebd.). Das Streben nach totaler Sicherheit vor Terrorangriffen zerstört die Freiheitsrechte der Bürger und verfälscht das Prinzip der Repräsentation zum Instrument der Unterdrückung. Der sogenannte Krieg gegen den Terror wird zum obersten Ziel der Erhaltung anglo-amerikanischer Hegemonie über Rivalen wie China und die gesamte übrige Staatengemeinschaft.
Weiterführende Literatur: Reinhard Hildebrandt, Globale und regionale Machtstrukturen – Globale oder duale Hegemonie, Multipolarität oder Ko-Evolution, Peter Lang Edition, Juni 2013.
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1 Mit einer negativen Unterstellung kommentierte hingegen Bernhard Bartsch am 23. Mai 2013 in der Frankfurter Rundschau den Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in Indien. „Wenn Lis Auftritt in Indien etwas darüber aussagt, wie Peking sich in der Region zu positionieren versucht, dann das: Die Volksrepublik will die Rolle des asiatischen Patriarchen spielen, der gütig zu all jenen ist, die seine Macht nicht herausfordern und seine Motive nicht hinterfragen.“
Gegensätzlich zu Raghavans positiver Sichtweise hatte im April 2013 auch Luba v. Hauff unter dem Titel „A Stabilizing Neighbor?“ die chinesische Politik in der gesamten zentralasiatischen Region negativ beurteilt. Der Untertitel ihres Artikels lautete: „Auswirkungen des chinesischen Engagements in Zentralasien auf die regionale Sicherheit“ (DGAP-Analyse (Nr. 3, Hrsg. Eberhard Sandschneider). Sie beklagte mit vielen ausführlichen Zitaten, dass sich die Beziehung zwischen autoritär regiertem Staat und Gesellschaft in den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan und deren wachsender Verflechtung mit der Volksrepublik China zu einem „akuten Unsicherheitsfaktor“ in der gesamten zentralasiatischen Region entwickelt habe. „Diese Entwicklung“, fügte sie an, „hat das Potential, die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um die Schaffung von Sicherheit und den Aufbau eines funktionierenden Staates in Afghanistan zu beeinträchtigen.“ (ebd.S.1). Hiermit legte sie dem Leser nahe, dass weder Fehleinschätzungen der Nato noch gegen die Zivilbevölkerung Afghanistans gerichtete Kampfeinsätze der Nato-Streitkräfte für das Scheitern der NATO ursächlich seien. Sie suggerierte stattdessen: Der „wahre“ Schuldige am Versagen der Befriedungsaktion „des Westens“ sei die chinesische Nachbarschaftspolitik in der zentralasiatischen Region. China habe an einer demokratischen Entwicklung Afghanistans keinerlei Interesse. Chinas Politik müsse deshalb für die Niederlage „des Westens“ in Afghanistan verantwortlich gemacht werden.
29. Juni 2013
Reinhard Hildebrandt
China – An Attempt at Understanding a Complex Power Structure
1. Travel impressions
Visitors to China familiar with Europe’s unhurried pace are taken aback at the hectic pace of China’s metropolises, with populations of several million apiece. Having milling crowds around make one feel hemmed in, and negotiating pavements crammed with stalls, bicycles, electric scooters and numerous vehicles as calmly as the Chinese is, one soon finds, beyond one’s adaptability and sense of well-being. Just crossing one of the multi-lane and, for the most part, hopelessly jammed roads, seems to the visitor – unlike for the locals – a dangerous obstacle course. What is more, pedestrian crossings do not seem to make any difference to drivers turning right, who insist on their right of way over pedestrians. Having to fight for every centimeter of space in jam-packed buses and metros during peak hours very quickly sends one into a sweat. And panic grips the visitor when, while queuing at entrances to railway stations, he finds himself relentlessly pushed towards the x-ray machines by fellow-passengers from behind, to have his hand baggage checked for dangerous objects.
It is with surprise that the visitor notes the – at times – unrestrained consumerist behavior on the part of those Chinese who have grown rich, their predilection for luxury cars and their tendency to insulate their residential complexes by erecting high fences, walls and security checks at the entrance. “The number of billionaires has doubled in the last two years.” (Sandy Group, © süddeutsche.de, 7.9.2011). Face to face with growing consumerism among the newly affluent middle classes (Thomas Lindner, “Ohne China stagniert die Welt”, Schätzung: 140 Millionen Menschen, Tagesspiegel, 8.9.2011), the visitor has to remind himself that until a little over fifty years ago, the Chinese had to suffer famine across the country. “Does anyone today know what hunger feels like”, asks an elderly Chinese, quoted by Bernhard Barsch (Frankfurter Rundschau, 27/28.8.2011). Today he has standing in his home a TV, an AC and a large deep-freeze, and even this does not make him wealthy in the eyes of his children. The fact that even people from low-income groups are happy about the wide range of items on sale in shopping arcades, even if they cannot afford to buy them, is a pointer to the high social value that consumption enjoys for preserving social peace in present-day China.
Were the visitor to glance up at the innumerable bare facades of high-rise buildings standing cheek by jowl, he would find it difficult to imagine how the Chinese – despite their very legitimate complaints about the high cost of accommodation – welcome the prospect of swapping what had hitherto been their homes in a hutong (street) – homes with neither a toilette nor a bath of their own – or in a hopelessly run-down four-storied building of the fifties and sixties for a home, for instance, on the 13th floor, offering modest comfort. “…the explosion in prices last year made it particularly difficult for the growing middle class to realize its dream of owning a larger home.” (Peer Junker, Träume aus beton, Tagesspiegel, 18.6.2010). In Shanghai, the prices for residential accommodation rose by 50% last year (Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010). But those who had rented flats in buildings that had been demolished against the will of the occupants to make way for the construction of high-rise structures reacted with protests and with deep disappointment. Entire localities in the urban areas have been flattened and turned into new settlements. Often, those uprooted search in vain for new accommodation or are forced to accept something far from the area they had resided in until then. By contrast, Chinese who have come into wealth buy up several flats at one go and speculate on them.
The visitor is amazed to see the Chinese looking at the numerous representative buildings with admiration. No doubt they reflect an architecture that is unique in the world, but as isolated buildings standing on their own without in any way connected with each other, they do not form a harmonious urban landscape.
But, spontaneous criticism apart, if the visitor were to ask himself how he would satisfactorily meet the needs of a population of 1.3 billion; what kind of infrastructure would be required to meet the demands of the present and the future; in what way he would placate fears relating to accommodation, jobs and placements for training, he would quickly find himself at a loss. His European yardstick, meant for far smaller dimensions, fails in the face of the socially explosive problem of growing wealth among a few Chinese and the impoverishment and mass alienation of the rural population, which pours into the economically prosperous cities of the east as migrant labor (more than 200 million of them), to then live there in inhuman conditions (survive or be eaten up!) and find their children left without seats in state-run schools. This sobering picture is also true of the political liberties conceded by the country’s leaders to its people – liberties that are truly modest by European standards. The visitor may be somewhat familiar with the relationship between self-interest and public welfare that underlies the scope for individual freedom in Europe, but which yardstick would be suitable for the dimensions that apply to China?
Thus, for instance, the visitor who views the situation from the European perspective is irritated by the measures adopted by the Ministry of Culture in Beijing to purge the Internet of songs deemed „harmful to national cultural security“ (Frankfurter Rundschau, 26.8.2011). From where do the Chinese authorites obtain their yardstick to judge with certitude what is beneficial to „national culture“ and what is damaging, and what for instance is „intellectually corrupting“? (Martina Meister, Keine Orte, nur noch Worte, Tagesspiegel 14.10.2009). A circular of the State Council of China clearly shows the extent to which the Chinese leadership appears to be divorced from the people. The Circular calls for „increased openness in government affairs to ensure officials continue to work in a lawful and efficient manner“ (China Daily, August 3, 2011). The Circular further decrees: “We should stick to a lawful, scientific and democratic policy-making and increase the scope of publicity, especially for major reform plans, policies and projects that are directly related to the people’s interests”. The Circular also complains of a „lack of information, non-standardized publicity procedures, poorly designed information-sharing systems, problems regarding the distinction between classified and public information.” It further demands that “local government departments must make more efforts to ensure transparency in government affairs in order to protect the people’s rights to know about and supervise the government”.
But from the European point of view, the joint responsibility of the people “extends far beyond merely “supervising” the government. It is not just confined to watching over the executive implement measures decided in organs far removed from the people. Joint responsibility means participating in the process of formulating the “interests of the people”. In the Circular, the State Council insists on the interests of the people being defined on behalf of the “people”. What are the powers that the People’s Congress has in this matter? Who decides which of the people’s interests have priority and which of them are but secondary? The Circular provides no answers to these questions.
2. The Exercise of Power in China
2.1 Constitutional Provisions
During the Energy Dialogue with Shell AG on 9th June 2010 in Berlin, Norbert Röttgen, the Federal Environment Minister of the CDU-FDP coalition, mentioned that he had returned from China with a new understanding of the situation there: Since the social structure prevailing in China is – unlike in the case of European societies – unable to offer democratic discourse as a mediating element in the dialogue between the government and the people, argues Röttgen, great care must be taken while deciding on the scale of climate-friendly technologies and while selecting them, that primarily such technologies are deployed that have no negative impact on purchasing power, or that actually even enhance it. The reduction in carbon dioxide emissions should on no account be at the expense of mass purchasing power, if unrest is to be avoided, Röttgen further argues.
Inquiring into the absence of democratic discourse in China leads one first and foremost to the Chinese constitution. Art. 2 declares the “people” to be holders of all power (Art. 2: All power in the People’s Republic of China belongs to the people) while at the same time declaring that the people had ceded their hold on power to the dominant “proletarian class “ (Art. 1: The People’s Republic of China is a socialist state under the democratic dictatorship of the people, which is led by the proletariat and rests on the alliance between the proletariat and the peasants (the Constitution of the People’s Republic of China of 17th January 1975). Despite its ceding power to the “proletariat”, the “people as a whole” remain the reference point of the proletariat-led state and, like the “people”, the “proletarian class” is also not defined in more precise terms. Though the “proletarian class” hands over its own power to the “alliance of workers and peasants”, state power continues to refer to the “people as a whole”. From this we infer, on the one hand, that
- real power in the state lies with the leaders voted by the rank and file of the “alliance of workers and peasants”, and, on the other hand
- that on the basis of its responsibility towards the “people” and the “proletariat”, state leadership can also act against the will of those who elected it into office.
Unlike in parliamentary democracies, the ruling state power in China has so far lacked the capacity to voluntarily curtail its all-encompassing powers and turn them into a self-commitment. Keeping discourse open to a range of theories and approaches, and assuring it an existence with, against, among and through each other at all times (through which formless counterbalance is established in Chinese society – in just the same way as through the diverse practices of companies, associations, parties and communities) does not seem to be indispensable to this state power. From the perspective of the state, the unconditional opening up of public space, and the realm of discourse therein, to the activation and reactivation of fluctuating elements do not form part of the vital duties of the state. A closer look at Chinese philosophy reveals that such a reaction could hark back to a millennia-old tradition.
2.2 Philosophy and Power
In his book “Chinese Philosophy – Chinese Political Philosophy, Metaphysics, Epistemology and Comparative Philosophy” published in January 2010, Wen Haiming is of the view that both Chinese and Western philosophy pose the same questions to society and politics, and address problems related to epistemology and weltanschauung in much the same fashion (ibid. p.1). Chinese philosophy is distinct from Western philosophy only by virtue of its unique “Chinese philosophical sensibility”. What this means for the exercise of power will be examined more closely below.
Haiming starts out with the Confucian emphasis on the family as the root of human existence (“Family reverence is the root of human beings” (ibid. p.3). “ In short, Confucius thinks that a human being can only fulfill him or herself by beginning with family reverence, the starting point of all relationships (ibid. p.25). “Confucius claims that if a leader treats his family and friends well, others will follow his example.”(ibid. p.26/27). For Confucius, the family is the source and reference point of his political philosophy which is rooted in humanity; later, this was to be defined by the philosopher Menzius in precise terms as “ruling states by humanity and love” (ibid. p.3). For Menzius, the family had a higher standing than the state, with even social justice being ranked lower than close family ties (ibid. p. 32). But although for Menzius, solidarity among family members takes precedence over the law (ibid. p.32), willingness to show loyalty towards the family is measured by upholding morality. In doing so, Menzius subjects both the state and the family to the primacy of morality (Heiner Roetz, Mit Konfuzius für die Demokratie, Frankfurter Rundschau, 10.12.2010).
The high standing enjoyed by the family right up to the present is evident in the following quotation: “In Imperial China, the upbringing of the child rested almost entirely in the hands of the family, whose coexistence depended on the father-son relationship. Described by the term “reverence” (Xi-ao) in Chinese culture, the father-son relationship is regarded as the highest virtue in Confucianism and as the spiritual link between generations. Even today, it is of great importance to the Chinese family” (KeYu, Chinesische Spitzenschüler, Frankfurter Rundschau, 1.2.2011).
Laozi to an extent carries forward the basic ideas of his two predecessors, while at the same time drawing attention to “dao”: “Dao is the road on which people walk, and the words people say.” (Wen Haiming, loc.cit. p.37). „Dao is not a name, it is the way-making that humans travel, linking them to the world as soon as they begin to walk and talk.“(ibid. p.37)
Laozi compares the path of life („dao“) with the incessant spurting of water from a spring and its exuberant search for a course immediately thereafter. The country’s leadership should be just as flexible and agile as water in thought and deed („Dao is like water“): benevolent towards its subjects and strict with itself, „wandering at ease without oneself“, as Zhuangzi was to later add (ibid, p.3). The leadership of a large state should follow the example of a cook who fries a small fish carefully, turning it as little as possible in order not to ruin it (ibid. P. 41). But the state should, as far as possible, not inform the people, says Laozi. Like Confucius, he describes as being ideal a manner of governing where the people are not informed: „Confucius shares a similar idea that people should be asked to do what they should, but there is no need to explain their purpose“ (ibid. p. 42). „The best way to govern“, argues Laozi, is to allow the people to participate in the decision-making processes as little as possible, but at the same time to ensure that they are able to lead a healthy and contented life. Based on this fundamental idea, Chinese political philosophy assumed a variety of forms in the centuries that followed.
The philosopher Mozi advises the country’s leaders to reject all war-like behavior and instead lay emphasis on a peace-loving policy based on universal love between all people – an idea that harks back to Menzius. Xunzi, on the other hand, represents a thinking that is opposed to Menzius’: Man is by nature not good but evil. Hence, the country’s leaders must control the people at all times, and make it mandatory for them to observe rituals as a way of exercising self-control over their actions. Here, a parallel to the contrast between Thomas Hobbes and Jean-Jacques Rousseau is not difficult to define. The philosopher Hanfei praises the combination of three leadership qualities: a sense of power, justice and statecraft (ibid. p. 4).
The philosophy of Zhouyi interprets „dao“ as movement between „yin“ and „yang“ (ibid. p. 14): „Yin and Yang stand relative to one another…Zhouyi puts forth a yin-yang contextualizing paradigm quite different from Western models of separate opposing parts.” (ibid. p. 15) From the perspective of European philosophy, the difference between the quality and quantity of yin and yang should be investigated into. If yin and yang in their mutual embrace – represented by the symbol of two closely intertwined fish within a circle – have yin not only facing yang as an independent entity but also being present in yang as its core (in the form of a tiny dot), then the following two avenues of interpretation result there from:
- Yin and yang act as qualities like plus and minus. If yin decreases in quantity, it at some point of time goes beyond the boundaries of non-existence in its self-effacing movement. Its quantity veers towards zero and, once there, destroys the quality of yin. If the movement does not halt at zero but continues beyond non-existence, then yin advances further as the progressively increasing quantity of yang, ultimately attaining its full quality. The opposing qualities of yin and yang not only condition each other (the quality of plus cannot be conceived without the quality of minus) but face each other as entities, with each quality at the same time flowing into the other (that is, into its counterpart) during the process of movement. Of significance in this process are not the varying qualities of yin and yang but the crucial contrary movement whereby one quality flows into the other.
- At the same time, yin and yang begin their own self-effacing movement. Plus moves towards zero and, once there, finds itself directly adjacent to the smallest unit of minus. Minus in turn moves towards zero and, once there, finds itself adjacent to the smallest unit of plus. The two processes of movement run in their respective directions, quantitatively filling up the two opposing qualities again. The two entities are now immediately adjacent to each other, without however penetrating each other. At their common boundary line, the one quality does not take over the other, though both entities are dependent on each other. Plus is inconceivable without minus; a solitary plus or minus would not be viable. Plus must have its opposite number as part of itself just as minus has its opposite number in itself. Here, it is not the movement that is most important but the increasing and decreasing quality of two conflicting and mutually dependent entities.
In line with the first mode of interpretation, the Chinese philosopher Zhouyi advises people to bring their personal “dao” in tune with that underlying Nature: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world … ‚Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ibid. p.16/17). These people, Zhouyi maintains, are in a position, “to manipulate the world” (ibid. p.18). Whether the special sensibility that characterizes Chinese philosophy is expressed therein is uncertain; what is amply clear is the reference to the high standing that educated people enjoy until today. “From as early as the end of the 6th century, the recruitment of higher officials – mandarins – in Imperial China was conducted through a tiered system of examination open to all men without class discrimination. These examinations revolved exclusively around the works of Confucius. With these examinations for the post of mandarin, power was secured and at the same time legitimized“ (Ke Yu, ibid.).
In the succession of Chinese dynasties that held sway over millennia, rulers time and again sought out the philosophers of their time to legitimize and consolidate power with their help, but only rarely did they show themselves capable of tolerating any criticism of their despotic ways. On this Wen Haiming was to write: There were many other cases in which intellectuals had no control, for Chinese leaders lacked political tolerance for those who opposed them.“ (ibid. p. 73). In this respect, the Tan Dynasty with Xi’an as capital is time and again praised as the only exception. Even today, the impressive figures standing around the old imperial palace are testimony to the tolerance that prevailed in this dynasty. Till today, they are a favorite motif for photographs in China; the Chinese love to be photographed leaning on the figures. Is this a sign of secret longings?
In his book “Big Power’s Responsibility – China’s Perspective“ (China Renmin University Press 2011), Jin Canrong projects a picture that is opposed to Wen Haiming’s: Canrong refers to his country as „harmonious China“ (ibid. p. 2), which diplomats from all over the world look up to as the ideal country. In its foreign policy, China, Canrong believes, does not need to establish hegemony at all. Further, the multifarious nature of Chinese culture, saturated with historical experience, provides the country’s leadership an ideal benchmark for China’s relations with its neighbors and fellow-players on the global stage. „As the essence of traditional culture, the concept of harmony and collaboration has directly influenced China’s foreign policy of peace and friendship and shaped the image of a responsible country. „ (ibid. p. 24). Jin Canrong makes a specific mention of Laozi’s vision, which has harmony reigning between Man and Nature. Man adopts Nature as his model; Nature unfurls itself on the firmament; the firmament has a significant impact on the path of life (dao) and every man is in perfect harmony with Nature (ibid. p. 24). Jin Canrong postulates that „ harmonious China“ is the perfect manifestation of this closed loop, which is valid both for China as well as for its relations with other countries. Whether the relationship between the ruler and the ruled in China can be characterized as complete harmony and whether the claim to power manifest in the term „democratic dictatorship of the people“ gets completely dissolved therein calls for further analysis.
2.3 The Ideal Superordinate-Subordinate Relationship
Every ruler aims for an ideal superordinate-subordinate relationship. In a relationship of this kind, power is invisible. Absolute harmony prevails between the power-holder and the power-subject. But if a ruler like Muhammed Abu Minyar al-Gaddafi had played off the chiefs of the various clans against each other for 42 years, and insists at the end of his rule that the „people“ love him, he not only mistakes the chieftains of the tribes for the people of Libya as a whole but also mistakenly takes minions around him to be the people. Or when the former Minister of State Security of the GDR and head of the state security service, Erich Mielke, declared to the people shortly before the fall of the GDR: „We do really love you all“, he did not understand that, in a power relationship, the love of the people for the ruler cannot be arbitrarily demanded, and that his love evokes reciprocal feelings in the wooed subjects only when the latter feel fully recognized and secure in the love felt by their ruler.
In an ideal superordinate-subordinate relationship, power rests on the measure of subordination demanded always corresponding with the measure of willingness to serve. Hegel, for instance, postulates an absolute congruence between the measure of solicitude shown by the master towards his servant and the servant’s desire for recognition, protection and gratitude from the master (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, loc. cit. 153f). Niklas Luhmann treats the behavior of the power-subject in just the same manner: „ The power-subject is expected to be someone who chooses his own action, which offers him the possibility of self-determination…“ (Luhmann, Niklas, 1988, 2nd reprit: Macht, Stuttgart, p.21. His anticipative behavior „is linked not only to the reactions of the power-holder in the event of his wishes not being complied with, that is, to prevention strategies, but also to the wishes themselves. The power-holder does not need to command in the first place; even his uncommanded commands will be followed. Even the initiative to command can be shifted to the power-subject; the latter will enquire if he is not clear as to what the command would entail.“ (Luhmann,loc. cit., p.36).1
For the care and ministration provided by the superordinate to be on a par with the gratitude of the subordinate in „harmonious China“, subordination rituals must be so deeply ingrained in the population that they even seep into the people’s subconsciousness and instinctive behavior. In this case, the orders of the power-holder would not only be carried out consciously and voluntarily but would, in addition, also evoke in the subordinate a deep feeling of gratitude. This is also the direction of Ke Yu’s thinking: “In linking together the creation of state allegiance and ‚reverence’ through education and upbringing on the basis of Confucian writings, the structural unit of state and family is time and again reproduced.“ (Ke Yu, ibid.). To bolster his argument, Ke Yu points out that the word „state“ (guo-jia) in Chinese is made up of the two characters for state (guo) and family (jia).
The scope of action open to the superordinate vis-a-vis the subordinate knows no bounds when conscious, subconscious and reflex behavior get completely enmeshed. An ideal superordinate-subordinate relationship of this kind would no doubt satisfy every superordinate’s wishful thinking, but it does not materialize for the most part because the consciousness of the power-subject, characterized both by servility and recalcitrance, thwarts its realization.
2.3.1 Two Manifestations of the Consciousness of the Power-Subject
The basic aspect determining the consciousness of the subordinate identifies this consciousness – in Hegelian terms – as inevitably having its counterpart (that is, the consciousness of the superordinate) as a negative part of itself and at the same time as an independent entity outside of itself.
This comprehensive definition contains four narrower ones:
1.The consciousness of the power-subject is defined by the consciousness of the superordinate existing outside of it and
acting for it, and bows down in a combination of self-sacrificing and grudging obedience.
2. In order to not just put up with the behavior of the superordinate without comprehending it, but to recognize its claim to superiority and adequately respond to it, the consciousness of the subordinate must be capable of perceiving the consciousness of the superordinate in itself – as a part of itself. This occurs in two ways. It may be brought to mind that subordinates are not born as such but only become so in the course of a painful process riddled with setbacks and reverses. This painful experience of what superordination can inflict on the subordinate gets ingrained in the latter’s consciousness as a fear-beset „superego“, and becomes a point of orientation for the subordinate’s future behavior – a measure of his self-sacrificing service. The consciousness of the superordinate that suffuses the subordinate helps him identify that consciousness outside of himself and acting for him, and acknowledge it as such. Fear constitutes an integral phenomenon in the development of subordinate consciousness. Its extends to its very roots, starts with a feeling of insecurity in the one who feels inferior, his moorings – believed to be firm until then – coming untethered. Servility, good faith, self-delusion, voluntary adjustment, patient endurance, silence and mimicry are oft-encountered patterns of behavior in individuals with subordinate consciousness.
3. The possibilty of resistance emerges from the third characterization of subordinate consciousness. The individual who
expends his labour goes through the experience of externalizing a part of himself in a creative and formative way, identifies with the product of his activity and, with the pride he feels in the work he has performed, gains in self- esteem. It is this self-esteem that enables him face up to the superordinate side with confidence and expect from it in return recognition in material and immaterial form. If this is not forthcoming, or granted merely in inadequate measure, then the prick of distance and alienation is felt.
4. Where the superordinate-subordinate relationship comes to an end, the fourth characteristic of subordinate consciousness comes to the fore: the appropriation by the superordinate of the work performed by the subordinate
If, of the four distinctive characteristics of subordinate consciousness, the second (the self-sacrificing service of the superego) dominates, there emerges a fear-stricken individual with the tendency to be introverted. If, on the other hand, the third characteristic of subordinate consciousness – namely the individual who finds himself reflected in his various actions and is proud of the work he has performed – dominates, there emerges an individual who is ready to defy fear, maintain an inner and outer distance towards the superior side, protest, boycott, rebel, strike and even take isolation and ostracism in his stride.
Both independent forms of subordinate consciousness represent a pair of absolute contrasts. Absolute fear completely rules out resistance, and absolute resistance knows no fear. Nevertheless, both forms together constitute the consciousness of the subordinate, both qualitatively and quantitatively. The level of subordination in consciousness is determined by how much or how little of the one or the other is present. Should fear dominate over resistance, then the consciousness of the power-subject will be marked by servility. If resistance dominates over fear, we have a subordinate consciousness that is rebellious. A subordinate consciousness containing not an iota of resistance runs the risk of being snuffed out by self-sacrifice. Conversely, a subordinate consciousness made up of resistance alone terminates the relationship with the superior side, thereby risking its fall. Generally, there is almost always a mix of both. A superordinate-subordinate relationship with an optimal tilt towards the superordinate largely rules out rebellious behavior on the part of the subordinate, makes practically no demands on the superordinate, though inducing in him unrestrained behavior towards the subordinate. If in a relationship that is ideal for him the subordinate always feels amply remunerated by the superordinate, this excessive remuneration can make his expectations soar, turning the superordinate-subordinate relationship on its head.
2.3.2 An Assessment of the Ratio of Mix among the Chinese
2.3.2.1 The Dominance of Servility
If it is true that the Chinese attach great importance to cohesiveness within the family and to the hierarchy reigning therein, without considering the individual to be important, and if in addition they have a weak I-consciousness and are very afraid of losing face, this would be indicative of a consciousness in which servile behavior is far more predominant than the rebellious. This is borne out by the „students regarding low marks, not to speak of failing in exams, more as a loss of face before their parents than as a squandering away of their own future. The family is the strictest and coldest of institutions in which parents mutate into rigorous, even monstrous, teachers“ (Ke Yu, ibid.).
He Weifang, a Professor of Law banished to the countryside, has this to say when asked what the majority of the Chinese think about the present situation: „I think the majority would not find China’s present situation all that bad. For, ultimately, what matters to the majority of the people is only that which plays a role in their own lives. But at the same time they are very conscious of their own weakness and know that it will be difficult for them to protect their rights should they be violated.“ (Bernhard Bartsch, „China will vor allem Angst einflößen“, Frankfurter Rundschau, 17./18.7.2010).
The founder of the organization „Tiananmen Mothers“, Ding Zilin, has been hoping since many years that the Party will admit for the first time to having made mistakes in Tiananmen. She continues with her undaunted struggle, but is forced to accept that even her former neighbors and colleagues are increasingly avoiding her: „They cross the road when they see me“, says Ms. Ding (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel 4.6.2009).
Behavior of this kind reflects a servile, subordinated consciousness of the kind described in the report on China opening its doors to churches (Tagesspiegel 24./25.4.2011) in which Birgit Wetzel records her observations of the seminar conductor, Father Daniel, at the National Seminar for Priests in Daxing: “Our challenge is to get the students interested. They have not learnt to think on their own but they can do it. They think about their friends, families, perhaps about business or games. But not about history, philosophy, literature and art.“ Reverend Daniel mentions the behavioral characteristics of his seminary student participants. They would spend the entire week together, in the classroom, in church, in the dining hall. Yet they did not trust each other. „Every person here is an island. There is a tendency for each one to isolate himself, to preserve his own space.“
„Unhappy though the Chinese at times are with their leadership“, writes Angela Köckritz, „there is no alternative institution to the party, which succeeds in holding the people together with the promise of growth and advancement“ ((Aus dem Rahmen, Die Zeit, 11. 8. 2011). As long as there are many among the Chinese who link up this promise with their own rise, servile subordinate consciousness will often be in evidence ((Thomas E. Schmidt, Der Stress der Mittelklasse, Die Zeit, 29.7.2010).
2.3.2.2 The Dominance of Rebelliousness
The example cited below is illustrative of rebellious subservient consciousness. When, following a visit to the „Art of the Enlightenment“ exhibition in Beijing, Chinese students held that Chinese enlightenment had been driven by the reformers of the Qing Dynasty, and that the economic and social system of China was quite different from that of the West (Angela Köckritz, Nachhilfe für Peking?, Die Zeit, 28.4.2011), their reaction appeared suggestive of a subservient consciousness. But a closer look reveals that this distanced view of the West also mirrors the aspect of rebellious subordinate consciousness.
An outstanding representative of such a consciousness is the literary historian Wang Hui. He does not deem the Enlightenment of the West to be a signpost in the evolution of Chinese thinking, but is convinced of a modern Chinese mode of thinking (Georg Blume‚ Mit Konfuzius in die Zukunft, Die Zeit, 10.1. 2009). As early as in 1997, Wang Hui published his pamphlet on the ideational constitution in present-day China and the question of modernity – a pamphlet that was directed against the liberal market approach of radical reformers in the Communist Party of China. Warning therein against the uncritical adoption of Western thinking, Wang Hui used the term „neo-Enlightenment“ to counter this policy approach. The starting point was the plan initiated by the radical reformers to privatize farmland and create large agricultural units. With one sweep, some 800 million farmers, now landless, were compelled to seek work as migrant labor in the industrial regions of China. The egalitarian land reform of 2002 brought down the number of migrant laborers to 600 million. Nonetheless, in the years that followed, 200 million of them were forced to migrate to the towns to escape the growing shortage of food in the countryside. „We have just about enough not to starve“, complained a farmer. Her son added, „We earn almost nothing from agriculture.“ (Harald Mass, Klassenkampf auf Chinesisch, Frankfurter Rundschau, 6.3.2004).
Wang supported the student revolt of 1987, was penalized by being banned to the countryside in 2007 and lost his job as editor of the socially critical journal Dushu. The repressive treatment meted out to dissidents is abhorrent to him; yet at the same time he opposes the human rights policy pursued by Europe and the US against China. Such a policy, Wang argues, is politically motivated and overlooks the overall improvement in the human rights situation in China over the last 30 years. It also smacks of superiority and a lack of information.
In his book „Xiandai Zhongguo sixiang de xingqi” (The Rise of Modern Chinese Thought), published in 2004, Wang attempts to infuse fresh life into Confucian philosophy and turn the spotlight on hitherto forgotten system critics and early democrats from past dynasties. China, feels Wang, is “far more diverse, flexible and multiculturally accommodating than has hitherto been revealed.” He resolutely opposes the uncritical reverence in the Western media for Lamaism, with its regressive character and feudal structures. It is not the return to religion but secularization which will bring progress to Tibet, Wang believes.
In her article “Sammeln was sonst untergeht” that appeared in the weekly “Die Zeit” on 22.9.2011, Angela Köckritz points to yet another example. In setting up a private history museum, the millionaire Fan Jianchuan indicates that he does not want to leave the Communist Party of China in sole charge of mapping China’s collective memory. For, whoever has wandered through the lower floors of the National Art Museum in Beijing and seen the numerous portraits of party leaders, the heroic scenes from the time when the Communist Party had seized power and the Cultural Revolution was unleashed under Mao, is witness to a telling example of the Party seizing possession of collective memory. Fan Jianchuan’s rebelliousness also extends to photos of the humiliated and the mocked – the ugly face of power – being displayed alongside the relics of the Cultural Revolution. Köckritz writes: “Often, Fan operates at the very limits of the permissible without any intention of crossing these limits. At times, however, he does cross them; in such an instance, a part of his museum is ‘harmonized’, in other words, “censured”.
Angela Köckritz cites yet another example of rebellious consciousness. Shortly after the collision of two high-speed trains in July 2011, the Chinese government issued the following instruction to journalists: “No journalist may give independent interviews. Do not write any reports on the development of high-speed trains. Do not analyze the reasons for the accident. Use the information provided by the authorities as standard information. Do not reflect or comment on the matter. Do not question or give further explanations or make associations!” (Angela Köckritz, Aus dem Rahmen, Die Zeit 11.8. 2011). Very few journalists heeded these instructions. Many newspapers left a blank space on one of the news pages. The Chinese business paper had the following printed beneath the gaping white space. “Lies make your nose grow long”. The Beijing news reported – in a seemingly innocuous manner – on a precious bowl that has broken into six pieces. Which was precisely the number of wagons that had derailed during the accident.
From the above examples we may conclude that China by no means enjoys an ideal relationship between superordinates and subordinates as Jin Canrong had postulated with his ”Harmonious China”. Rather, we should assume that the superordinate-subordinate relationship is not balanced and no longer entirely without implications.
2.4 The Imbalanced Superordinate-Subordinate Relationship
In an imbalanced superordinate-subordinate relationship, subordination does build up anger and resentment in the power-subject and arrogance in the power-holder. But the absence of an immanent questioning means that suppression only remains a potential threat as long as no external discursive formation that characterizes the relationship of subservience undermines the “positive differential character” of the formation or challenges it. If not, any attempt to represent subordination as being “unfair” and get this generally recognized would fizzle out if there were not at least a trace of discontentment in the one subordinated.
What are the characteristics that point to an imbalanced superordinate-subordinate relationship in China?
During the global financial crisis of 2008, which also seriously impacted the Chinese export industry along the East coast and left an estimated 20 million migrant laborers jobless, employees reacted to the non-payment of salaries with protests. Migrant laborers, taxi drivers, farmers, teachers and policemen drew attention to their precarious position in demonstrations. And indeed, the extent to which they were left unprotected was amply evident during the crisis. “We are not lacking in laws but in implementation”, said Han Dongfang from the labor law organization China Labour Bulletin in Hongkong. “Further, there are no trade unions or works councils that actually represent the workers’ interests. “In response to the protests of taxi drivers, a local party chairman promised to provide higher subsidies. A member of the politburo called upon local governments to “nip (social problems) in the bud” ((Bernhard Bartsch, Chinas Massen proben den Aufstand, Frankfurter Rundschau 6./. 12. 2008).
When some 3000 workers responded to the privatization of their factory by bringing production to a halt and the designated chief of plant operations announced the retrenchment of 30,000 workers which was to follow shortly thereafter, he was beaten to death by incensed workers (Bernhard Bartsch, Chinas neuer Klassenkampf, Frankfurter Rundschau, 26.7.2009). It was only after this incident, described as a “mob episode”, that the provincial government brought privatization to a halt. “The phase of rapid economic growth has passed. For the first time the government is faced with the loss of confidence of the masses”, warned the thought leader of the Communist Party of Beijing, Shang Dewen (Georg Blume/Angela Köckritz, Herr Lu, Herr Li und die Krise, Die Zeit, 5.2.2009). The crisis affected not only the migrant workers but the middle classes as well, who feared for their jobs, and the 1.5 million university graduates who had not succeeded in finding employment until then. For it must be pointed out that over the last 11 years, the wage share dropped from 53% to 39.7% – a development that necessarily had implications for the purchasing power of the masses (Karl Grobe, Wachsendes Klassenbewusstsein, Frankfurter Rundschau, 26.7.2010).
The central government invested 460 billion euros in an economic stimulus plan for infrastructure expansion, in which the focus lay on improving connections between the eastern provinces and the less developed central regions. These measures were closely linked to China’s long-term development plan
- to reduce export dependency
- further the industrialization of the central regions
- increase domestic demand
- produce more sophisticated products in the industries already in place in the coastal provinces and raise the wage level there (transition to high-wage production and the service industry; increase in the minimum wage)
- halt the migration from the poor provinces to the rich and provide migrant workers jobs in their place of residence
- increase subsidies for agriculture and raise farmer incomes in order to boost demand in the rural areas
- reverse the negative environmental balance (16 of the 20 states with the highest levels of air pollution are in China).
The reform of the state-run health insurance led to a rise in consumption. Exorbitant hospital costs for operations sent even extended families into financial difficulties. A mere 18% of the Chinese population was covered by health insurance in 2009, with private health cover being too expensive for the majority (Peter A. Fischer, Mehr Staatsgeld für Krankenhäuser sollen Chinesen entlasten, Frankfurter Rundschau, 10./11. 1. 2009). “Only a stable social security system can gradually leave the people feeling secure enough not to feel the need to build up large savings. That is the best way to step up consumption“ , argues the academic Bi (.“(Frank Sieren, Was Herr Bi fordert, Die Zeit, 5.3.2009). Bi further calls for the patchwork of non-transferable urban, local and regional insurances to be replaced by a single national network.
The action plan for the better protection of the rights of the individual guaranteed by the Constitution, promulgated on 13.4.2009 by the central government, was one of the measures conceived to address rising public anger. “The two-year plan”, wrote Keith Bradsher in the Global Edition of the New York Times of 14.4.2009, “promises the right to a fair trial, the right to participate in government decisions and the right to learn about and question government policies. It calls for measures to discourage torture, such as requiring interrogation rooms to be designed to physically separate interrogations from the accused, and for measures to protect detainees from other abuse, from inadequate sanitation to the denial of medical care.” The high rate of inflation – 6.4% in July 2011 as against July 2010 – has proved to be the cause for growing discontentment among the Chinese, especially since the price of foodstuffs rose by 14.4% over the same period (Peer Junker, Chinas Führung bekommt die Inflation nicht in den Griff. Provinzen und Kommunen sind verschuldet, Tagesspiegel, 12. 7. 2011). The consumer feels the pinch of the price rise directly, and when it exceeds the increase in family income, the situation sparks off public anger. That this is a reality is reflected by the fact that the Chinese government declared the fight against inflation to be its topmost priority (Reuters, cited in the Frankfurter Rundschau, 13.9.2011).
Additional jobs in the growth-oriented industries only make those employed there happy. However, the greater the increase in productivity per worker deployed, the greater the number of workers retrenched. Further, if there is a slowdown in the global economy and a fall in demand for Chinese exports, there will be growing anger among the retrenched workers. Once back in their rural homes, they will have to face continuing scarcity in food supply, which does not even meet the requirements of the rural population. Employing surplus labor in the already overstaffed services sector would mean lowering the – as it is – low labor productivity, which could result in lower wages. Up to now, surplus labor had been absorbed on a massive scale through infrastructure expansion (roads, highways, railways, energy production, power lines, expansion of the drinking water supply network, wastewater disposal etc. This however had the negative effect of trapping the local and regional governments in a state of severe indebtedness, forcing them to curtail expenditure elsewhere and resulting in a drastic rise in the rate of inflation.
The prevalence of subordinate relations in a society cannot be equated with the presence of structural force. If, however, subservient relationships are transformed into pools of antagonism, then the subordinating side either has the option of responding with an argument that justifies the existing condition of subordination (in the process mitigating or altogether eliminating the cause of discontentment among the subordinates) or it can permit structural force. The latter characterizes power-control relations.
3. Structural Force as the Characteristic of Power-Control Relations
3.1 Definitions and Forms of Structural Force
Where subordinates are treated as adversaries, that is, where
- expressions of their discontentment are only met with arguments that keep subordination intact
- the democratic discourse is permanently disrupted
- power is institutionally protected
We may speak of structural force „when social orders are organized in such a way that social injustice, unequal life opportunities and glaring discrepancies in power positions and the avenues of influence linked thereto become the social principle of order and existence“ (D. Senghaas, Gewalt-Konflikt-Frieden, Hamburg 1974, p.117).
3.2 Structural Force as the Outcome of the Capitalist Economic and Social Structure
The economic process of transformation ushered in after the Cultural Revolution (1976), whereby the state-socialist social order was transformed into a capitalist economy under the control of a state party, led to growing disparities in income distribution and to social destabilization. Today, price formation almost always takes place in the market. This has resulted in forms of structural force typical of a capitalist economic and social system.
- Corporate managements, heads of associations and cadres of mass organizations assume that workers in factories, representatives in associations and members of mass organizations shall be subjected to firm, immutable subordination
- They take over the interpretation of the subordinates’ interests and filter their demands through the prism of their own interests, with the result that the subordinates are underrepresented in society as a whole
- For the benefit of the subordinates, they sanctify the arrangements they select with the aura of the universally valid.
Examples for both forms of structural force have already been provided in Chapter 2.4: non-payment of wages and retrenchment of 20 million migrant workers during the global financial crisis of 2008; lack of representation of trade union interests; overly long working hours with hardly any occupational safety measures in place; a drastic reduction in labor income share; insufficient insurance cover for work incapacity due to sickness; inadequate old age benefits and environmental pollution.
When power-holders resort to suppression, thereby provoking an incalculable measure of resistance in the suppressed, the point will be reached earlier or later at which the formless counterbalance snaps and can no longer be restored – this counterbalance having been created by the power formations among themselves on the basis of their varying periods of rise and fall, and their varying life expectancies. Such a development is not inconceivable for China either.
The assemblage of power formations active in different fields are by themselves not in a position to avoid such a development or divert it to other channels. Consequently, the state must intervene to preserve the formless counterbalance. Here the idea of justice on which the state proceeds in its intervention is but of secondary importance. Rather, it is the preservation of the formless counterbalance that is crucial to its intervention. The question as to whether the state can or should create justice is a matter to be discussed separately and has no causative linkage with the preservation of the formless counterbalance.
3.3 The Combating of Structural Force and the Preservation of Formless Counterbalance by the State
The vast range of state interventions for preserving the formless counterbalance include:
- keeping the realm of endless discursivity open for activating and reactivating fluctuating elements and new discursive formations
- support for emerging power formations and their practices as against already established ones, in cases where the latter do not tolerate any rivalry
- constantly exploring the scope and limits of flexibility of power formations, and the review and examination of their practices on destructive developments
- the observation and adjustment of relations between power-holders and power-subjects in relationships among power formations to avoid suppression that may foment unrest.
In their endeavor to expand and stabilize the ground that gave them the opportunity to develop and to ward off corrective intervention on the part of the state, power formations are perpetually tempted to join forces with others in the so-called chains of equivalence. In their public relations work, for lack of better information, these power formations create the impression that formless counterbalance does not rest on their time-staggered finite structures. Rather, they contend that a self-regulating infinite structure (market) is characteristic of this formless counterbalance and does not require corrective state intervention for maintaining public welfare. Victim to their own propaganda, these power formations are not aware of the growing fragility of formless counterbalance; for, the more successful they are in isolating themselves from newly created, emerging power formations, the fewer among them actually produce formless counterbalance. Oligopolistic and monopolistic formations can only delay the process of disintegration. In denying the state the support of still nascent emerging formations, they create increasing fragility in the formless counterbalance thanks to their strategy of isolation, thereby even accelerating the process of disintegration against their own professed intention.
Further, it is not predominantly from the concept of public welfare that aims at society as a whole that power formations derive the benchmark for exploring their leeway to suppress subordinates, but primarily from the analysis of a comparison between their situation and that of rival hegemonial formations. However, this mutual observation and adjustment of the situation of rival formations has consequences for shaping the public good. If, for instance, subordinates no longer consider the subordination they are subjected to as necessary but as an unjustified imposition and rebel against it, this could result in migration, unrest, strikes and rebellions, affecting not only the internal equations of the formation concerned but also those of the others.
This impairment of the public good is the reason why the state feels obliged to intervene in order to subject internal conditions to an analysis and, if need be, intervene in giving them final shape. The range and scope of state action is wide, extending from theory-based recommendations, which are non-binding in nature, to far-reaching legal measures such as provisions for occupational safety and the maintenance of conditions conducive to health, as well as directives for the introduction of the minimum wage.
Mediation by the state extends to all areas of social coexistence and banks on the rival parties voluntarily accepting the outcome of mediation. If the state is ousted by power formations from its extensive role as arbiter in social conflicts and is not considered trustworthy, brute force often takes the place of mediation.
Yet another indispensable task that falls to the state is the creation of public space in the social ensemble of relatively stable social forms, and the protection of this public space – a realm of activity into which it should incidentally also incorporate its own public relations work. A precondition for this is the protection of the private sphere. The public and private spheres are contingent on each other. The individual lives in both spheres and needs both to develop. If the private sphere is constantly intruded into, and if the public sphere extends up to the very boundaries of the private, the individual feels violated in his protective realm and involuntarily reaches out for strategies with which he tries to fend off the oppressive intrusion of the public sphere. The variously structured public sphere, which emerges through the self-representation of individuals, needs to be protected by the state to save it from the threat of destruction posed by the practices of power formations.
3.4 The Obstruction of the State Preservation of Formless Counterbalance
If in their misapprehension of the special relationship of the state with the formless counterbalance, highly placed power formations enter into a close alliance with the state, then either the state becomes their appendage, first and foremost furthering their practices, or a powerful state makes use of the preparatory and collaborative work of these power formations to further its own goals and activities. In the first case, the state loses its ability to intervene to preserve the formless counterbalance, and in the second, it believes it has an extensive steering capacity which it actually does not, due to the information it lacks on future requirements. Cadre-based parties with their rigid hierarchical structures provide the worst possible precondition for the development of a culture of errors, which is becoming increasingly important in complex societies (Wolf Singer). The centralization of decision-making powers typical of cadre-based parties not only encumbers the flow of information from the bottom to the top, but the complexity of the problems to be addressed prove well beyond the capacity of the few decision-makers at the top, leading to increasingly poor results. In the reality of China’s constitution, the hierarchically structured Communist Party of China is placed above the constitution and the people. Its position of power and its claim to supremacy in the state no doubt assure the Party its extensive rights of intervention, but whether it goes beyond preserving its own power to promote the development of the present social structure with its decisions, is a matter of doubt.
3.4.1 The Constant Disruption of the Democratic Discourse by the State
The use of force by the state results from Article 35 of China’s constitution (the right to freedom of opinion) being circumscribed by Article 51. This Article states that the right of the individual to freedom of expression may not harm the interests of the state, society, community, or the rights and liberties of his fellow-citizens granted by the law (Wu Hongbo, China’s Ambassador to Germany in an interview with Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 13.10.2009). The social and state structure that prevails in China assigns to the leadership cadres of the Communist Party the power to define the interests of the state. It lays down the extent to which freedom of expression shall be permitted. Thus, in individual cases, Chinese authorities have no qualms about making it clear to Chinese travelling abroad what they may say there and what not. As China’s Ambassador underlines: The Constitution has to be abided by one and all, and everyone is equal before the law, but as far as the power of definition goes, the Party is above the law. Han Dongfang, the founder of the first independent trade union, who was arrested without trial and later expelled from the country, observes: “Violence in China has ultimately always been the law.” (Bernhard Bartsch, Höllischer Frieden, Tagesspiegel, 4.6.2009).2
An extreme feature of state violence sanctioned by law is the death penalty still prevalent in China. Presently, five countries account for more than 90% of the death sentences pronounced worldwide, these being: China, Iran, Saudi Arabia, USA and Pakistan (Pierre Simonitsch, Die Oppositions-Killer, Frankfurter Rundschau, 27./28.2.2010). Human dignity is rooted in the right to life; the death penalty violates this dignity. Moreover, wrong judgments cannot be completely ruled out. The death penalty deprives the murderer of every opportunity to make up for the crime committed by him.3 Also falling within the realm of the law are the following forms of state violence in China:
- house arrest for civil rights activists alongside intimidation, kidnapping
- imprisonment of individuals without judicial sanction beyond a limited period of time, with their place of imprisonment kept undisclosed. A bill that would empower the police to actually detain suspects for six months in an undisclosed place is due for debate in the People’s Congress of China (Frankfurter Rundschau, 29.9.2011).
- conviction for „fomenting public unrest“ – In the case of Zhao Lianhais, his attempt to help victims of the milk scandal get due compensation earned him a two and a half year prison term (Bernhard Bartsch, Peking bestraft besorgten Vater, Frankfurter Rundschau, 11.11.2010).
- the government’s written instructions to publishers not to print a single line from a dissident (Bernhard Bartsch, Die subversive Freude am Zuhören, Frankfurter Rundschau, 4.3.2010).
3.4.2 Ways and Means of Preserving Subordination
The visitor to Beijing and other Chinese metropolitan cities is surprised to see how clean the roads and squares are. Bulldozers sweep up the garbage from the roads; battalions of cleaners are constantly clearing the pavements of articles thrown around carelessly. At night, the road dividers, painted white to guide the traffic, are given a fresh coat of paint by whole groups of painters.
But the sticky air of the urban canyon makes it difficult for the visitor to breathe, and the veil of smog screening the sun is an indicator of how heavily polluted the environment must be. After a downpour, a stream of dirty brown water flows into the sewers and, often enough, from there into the rivers and lakes which are drained dry by irrigation systems. The visitor heeds the advisory to boil tap water before drinking without fail, and he washes the fruits and vegetables he buys in the market before consuming them. But for the most part, he never learns what the toxic content of the foodstuffs is, which have been raised with high doses of artificial manure. The growing measure of environmental destruction affects the Chinese even more than it does the visitor. More than 10 million people put in complaints every year.4
China has traditionally enjoyed the right of petition, which on the one hand „is to provide the citizens with an opportunity to turn directly to the central government with their concerns, while at the same time offering the government insights which the local bureaucratic apparatus only seldom allows to be carried all the way up to Beijing“(Bernhard Bartsch, Wen hört Untertanen zu, Frankfurter Rundschau, 27.1.2011). „Frequent reasons for complaint are corruption, land expropriation and non-payment of wages. Handling these complaints is, however, a rather delicate business for the central government, for every intervention on behalf of the citizens means a confrontation with the local authorities and power networks. Moreover, the petitioners do not for the most part have the requisite funds and knowledge at their disposal to put forth their complaints in a legally correct form. Consequently, their prospects of success are slim. In an investigation conducted in 2006, the Supreme Court reached the conclusion that although 80% of the petitions are justified, only 2% of them actually get justice. But even in these cases, the judicial authorities of Beijing do not undertake investigations themselves but merely issue a form to the petitioner that demands a re-handling of the case by the local authorities. Which means that the petitioner invariably goes back to the very officials against whom he had lodged a complaint: those who were the source of the grievance were now supposed to redress it.“ (ibid.) Such a system of handling complaints perfectly serves the aim of the central government to gain an insight into social reality, although it does not permit free discourse and, consequently, is perpetually faced with the problem of obtaining sufficiently reliable, wide-ranging information on the concerned subjects. Such a government cannot endorse the idea of provincial governments sending policemen to Beijing to intercept petitioners in front of the complaints offices, to then lock them up in so-called „black prisons“. If China’s Prime Minister Wen Jiabao listened to the people’s grievances to then promise – „we must utilize the power in our hands to serve the interests of the people and help the citizens overcome difficulties in a responsible manner“ (ibid.), then his visit to a grievance centre cannot be interpreted as particular concern for the people but as a sheer necessity for the central government to directly obtain evidence of the realities of the country, without having to turn to local or regional state organs.
The urgency of widening the information base is amply reflected in the answer provided by Prof. Shi Yinhong, head of the premier Chinese training academies for government civil servants, to the question as to what China’s present-day needs were: „Until now, our greatest challenges are clearly within the country: we have massive social tensions, huge environmental problems and an extremely skewed development. Only when we can resolve these, will we become the country that is really attractive to the rest of the world.“ (Interview: Bernhard Bartsch, Frankfurter Rundschau, 5.3.2010).
The more powerful economic entities grow, the more conspicuous their vested interests, which they project to the small circle of leading cadres in the Communist Party of China as issues relating to public welfare that definitely need to be addressed. In the absence of a firm capacity for prognosis within the party, the leading cadres are inclined to turn the public welfare concerns brought before them into legally enforceable welfare measures for society as a whole.
4. Concluding Remarks
The Chinese philosopher Zhouyi recommended that every man bring his personal „dao“ in harmony with that guiding Nature: „Ideally, a person’s words and actions are harmonious with the running rhythm of the world… ‚Great people (Daren)’ are those whose actions catch the rhythms of the nature, those who understand the great dao of the cosmos, and those who enhance themselves with cosmological sensibility.”(ibid. p.16/17).This advice from the philosopher Zhouyi may have been useful to agrarian societies of previous centuries, which were still readily comprehensible in their structures. Present-day societies, on the other hand, are characterized by such a high degree of complexity that the country’s leadership cannot claim that the course it has adopted is in harmony with the rhythm that prevails in the universe. Attempts and mistakes accompany the chosen way (dao), and the sheer preservation of power on the part of the ruling party does not serve as a good guide for determining the way.
Is the way that has been embarked upon really the right one, asks Angela Köckritz in her article „War’s das, China?“ (Die Zeit, 6.10.2011). „For 30 years, China followed a path that promised great success: It relied on exports and a trade surplus to invest the capital earned within the country. That worked extremely well, for China was a poor country which needed roads, airports, hospitals.“ (ibid.) But, continues Köckritz, once China ceased to be a poor country, the question as to which investments are actually expedient to address the challenges of the future grow increasingly important. Köckritz further argues that only if domestic demand can be significantly increased can the Chinese economy grow further. But this would require a drastic redistribution of wealth from those who have grown wealthy to the mass of China’s population which has remained poor. Whilst only 30% of the Chinese who have come to acquire high purchasing power can afford to buy a flat, those who are truly affluent increasingly invest in real estate. They speculate that there will be a sufficient number of people looking for accommodation in future, to whom they could sell or rent out their flats, some of which have even been lying vacant for a long time.
However, several experts have prophesied that an insufficient rise in domestic demand could result in the real estate bubble bursting and a downturn setting in the economy. If, in addition to this, there should be a slowdown in exports due to Chinese goods encountering lower purchasing power in the countries they had hitherto been exported to, then a situation would arise where workers would have to be laid off in such large numbers that many of them would neither find an adequate income in the emergent industries of the Central Provinces nor in the agricultural sector. Even now, there is a steady decrease in agrarian land, the silting up of broad expanses of land has not been brought to a permanent halt, while the urban sprawl around the large cities is on the rise. By buying up increasing amounts of land in South America as a substitute for its declining agricultural production, China has not made itself exactly endearing.
Scenarios of this kind cannot really be dismissed outright. The Chinese leadership’s urgent appeal to the Europeans and Americans to get their difficult financial situation once and for all under control so that their markets are not permanently shut to Chinese exports is an indication of China’s growing concern. For, in the foreseeable future, China will continue to remain dependent on exports. The long-term development plan pursued by the Chinese leadership for China requires a considerable amount of time to be successfully implemented, and whether domestic demand would one day make export dependency completely redundant, is still very uncertain.
Until now, many Chinese linked up their personal advancement to that of the entire country. If China were to continue to advance on the growth path, but if an ever-increasing number of individuals were to be left behind with their hopes for the future remaining unfulfilled, even the biggest promises of harmony will not suffice to appease growing discontentment. If there are no political forums in which the Chinese could debate the best way forward in such difficult times, the call for the suppression of the discontented and the deployment of greater structural force against them would resound, making the risk of a downfall more likely.
„The culture of opposition needs time to evolve. And time, as one well knows, is scarce“, writes Jochen Hörisch in the Frankfurter Rundschau on 10.10.2011. „Generally, oppositions strengthen the system in which they operate, even if they are opposed to the form and manifestation of the system… Opposition renders systems more complex, and imparts to them the ability to learn; criticism almost automatically strengthens the one who is criticized. This motif stands the test, even when reversed. Militant, unconditional support is the worst that can happen to institutions, systems and persons.“ (ibid.)
A word about foreign journalists who, without opting to, become an outlet for oppositions’ opinions, which do not find any takers in the Chinese publishing world. To accuse them of failing to condemn – in a passage added on to every critical article on China – the double standards of European and American journals in their perspective on Saudi Arabia, for instance, would be hackneyed as long as these journalists do not commend China’s positive sides and resist instructions from their editors-in-chief back home to only report critically on China.
Notes and References
1. To this extent there is no difference between the self-projection of state power in China and the self-projection of the state in parliamentary democracy. If one were to understand the real public only as a „political idea of unity“ or as a concrete intellectual whole“ – as is the case with the interpretation of Article 20 Para 2 Sentence 1 of the Basic Law – this real public would be reduced to just the chimera of a concept. In referring to this abstract entity called „people“ and declaring this effete „holder of power“ to be its object of reference, the state reveals that it is turned unto itself and is only answerable to itself. Representing itself as its sole point of reference, the state is free to voluntarily curtail its all-encompassing powers to self-commitment, which is what actually occurs in the remaining articles of the Basic Law.
A member of the French Parliament once described the relationship between the French people and the state in drastic terms. Drawing upon Thomas Hobbes’ state contract theory, he argued that since the people had ceded all power to the state, they should not complain if they are now controlled by the same state. The state, he continued, was now only answerable to itself.
2. The restriction of freedom of opinion in China cannot be justified by referring to the restriction of freedom of opinion in the USA. The example, cited by the Ambassador, of the Director and other concerned persons in Voice of America being dismissed, merely points to restrictions on freedom of opinion in the USA. Shortly after 9/11, Voice of America had broadcast an interview with El-Qaida representatives. This example demonstrates the double standards often encountered in the Western media: severe in finding fault with others and lax while judging its own limitations.
3. The difference between the USA and China lies in the existence of a human rights commission in the USA, which ventures to pass judgment over other countries while accepting the death penalty existing in the USA.
4. The destruction of the environment represents a particularly insidious form of violence. In an article on “China’s Sun King” Huang Ming, Peer Junker relates how the fate of his daughter led Huang Ming to withdraw from the oil business, set up his own company and supply China with “solar water heaters” (Tagesspiegel 30.9.2011).
Translated by Madhulika Reddy, Bangalore (India)
10. Februar 2012
Reinhard Hildebrandt
Industrielle Entwicklung und Verortung Russlands in der globalen Machtstruktur
1. Vision einer Eurasischen Union
1.1 Die wirtschaftliche Situation Russlands
Russland empfindet sich als Teil Europas und Asiens. Es ist eines der beiden führenden Mitglieder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Hauptsitz in Peking (China, Russland, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan). Es gehört zu den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, China, Indien, Südafrikanische Union), die ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen untereinander ausbauen, sich schrittweise von der Dominanz des US-Dollars lösen und diese Währung nicht mehr als Transferwährung in ihrem Handelsaustausch untereinander verwenden (wie übrigens auch schon im Handel zwischen China und Japan sowie China und Iran geschehen).
Russland fördert und exportiert viele Rohstoffe (vor allem aber Erdöl, Erdgas) nach Europa und Ostasien und baut im Transportsektor seine Scharnierfunktion zwischen der EU und China aus. Ansätze zur Re-Industrialisierung sind erkennbar, aber auf absehbare Zeit wird die Förderung und der Export von Rohstoffen noch die Haupteinnahmequelle Russlands bleiben. “Basically”, notiert Piotr Dutkiewicz, “the 1990s were a period of rapid de-industrialization and ‘resourcialization’ of the Russian economy; the growth world fuel prices since 1999 seems to have reinforced this trend. The share of output increased from about 25 percent to over 50 percent by the mid 1990s and has stayed at that level since.” (Piotr Dutkiewicz, Missing in Translation: Re-conceptualizing Russia’s Development State, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin „Russia – The Challenges of Transformation“, New York 2011, S.9-40, S.11).
Aber nicht nur Erdöl und Erdgas verzeichneten einen steigenden Anteil am Export, sondern auch andere Rohstoffe, wohingegen der Anteil von Maschinen und Ausrüstung sank sowie die Ausgaben für Forschung und Entwicklung drastisch schrumpften: Gemäß Dutkiewicz wuchs der Anteil der mineralischen Produkte, Metalle und Diamanten von 52 Prozent im Jahr 1990 (Sowjetunion) auf 67 Prozent 1995 und auf 81 Prozent im Jahre 2007, wohingegen der Anteil der Maschinen und Ausrüstungsgüter am Export von 18 Prozent im Jahre 1990 auf 10 Prozent 1995 und unter 6 Prozent im Jahr 2007 sank. Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben verzeichneten in den späten achtziger Jahren noch einen Anteil von 3,5 Prozent am Bruttosozialprodukt und fielen auf 1,3 Prozent im Jahre 2010 (ebd.).
Als bedeutender Verursacher der De-Industrialisierung wird nicht nur der Niedergang des Militärisch-Industriellen Komplexes angesehen (Lev Gudkov, Russland in der Sackgasse – Stagnation, Apathie, Niedergang, Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.21-46, S.22), sondern auch das destruktive Verhalten der nach dem Ende der Sowjetunion zu privatem Reichtum gelangten Oligarchen: “After a wrenching transformation from communism to capitalism, Russia’s economy is extremely uneven; massive profits haven’t translated into either widespread economic opportunity or enough investment in new technology and other long-term sources of growth.”(Craig Calhorn, Forword of Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S. XI). Gefragt, warum die von ihm propagierte schnelle Transformation Russlands nicht die erwünschten Ergebnisse erbrachte, antwortete Jeffry Sachs: „Ich wollte, dass der Westen Russland mit einem Großprogramm aus der Krise hilft. Dass George Bush senior und später Bill Clinton und der Westen das ablehnten, ist deren Problem, nicht meins. Dass sie zuließen, dass die Korruption sich in Russland festsetzt, obwohl ich die Gefahr offen aussprach, als ich vom Beraterteam zurücktrat, ist auch deren Problem, nicht meins.“ („Amerika ist unzivilisiert“, Jeffrey Sachs im Gespräch mit Steven Geyer, Frankfurter Rundschau, 19.3.2012). Indirekt legte Sachs nahe, dass der Verfall Russlands zum Rohstoff- und Energielieferanten im Interesse der amerikanischen Führung lag: „Bush senior und Richard Cheney, Bill Clinton und Larry Summers erst als Weltbank-Chefökonom und dann als Vize-Finanzminister – und um das auch klar zu sagen: vor allem die russischen Eliten. Denn eines der Hauptprobleme im Land war die endemische Korruption.“(ebd.).
Es verwundert nicht, dass laut Valdimir Popov das Bruttosozialprodukt Russlands im Jahre 2009 als Folge der Finanzkapitalkrise um 8 Prozent fiel (Vladimir Popov, The Long Road to Normalcy: Where Russia Now Stands, in: Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.41-71, S.69). Die russische Börse verlor mehr als 70 Prozent an Wert (Florian Hassel, Für Putin sputen sich die Parlamente, Frankfurter Rundschau, 22./23.11.2008). Der weltweit größte Aluminiumproduzent des Oligarchen Deripaskas stand mit 16.3 Mrd. Dollar im Obligo. Sieben ausländische Banken waren die größten Gläubiger (Stefan Scholl, „Am dreckigsten geht es den Gierigen“, Frankfurter Rundschau, 4.2.2009). Das statt in der Erneuerung der russischen Industrie auf dem globalen Finanzmarkt investierte Kapital der Oligarchen erwies sich als Fehlinvestition und die stark sinkende globale Nachfrage nach Energie und Rohstoffen sowie nach industriell produzierten Waren traf die extraktive Produktion und die veraltete russische Industrie ganz besonders hart.
Mikhail K. Gorshkov analysierte die eingetretene Entwicklung. Er verschwieg nicht die negative Entwicklung der ersten zwanzig Jahre, aber erwähnte auch eine inzwischen eingetretene positive Entwicklung: „We should not deny the obvious problems: the Russian economy’s reliance on raw materials; the way Russia ignores the needs of consumers; the fact that its manufactured goods are extremely uncompetitive; the decline in production during the current crisis, which was relatively large in comparison with other national economies; those problems that limit Russia’s enormous potential for influencing global economic processes; its weak democracy and feeble civil society; negative democratic tendencies and ‘neo-Soviet’ social sectors; the existence of corruption leading to abuse of power; and, finally, the lack of freedom and justice … Nevertheless, we see that modern Russia ‘is no longer the semi-paralyzed semi-state it was ten years ago’” (Mikhail K. Gorshkov, „The Sociology of Postreform Russia, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O., S.145-189, S.152).
1.2 Bildung von Nationalbewusstsein in einem Vielvölkerstaat
Nach dem Zerfall der Sowjetunion trat an die Stelle des vorherigen imperialen Bewusstseins das russische Nationalbewusstsein. Der Anteil der russischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung betrug nunmehr 79,8 Prozent.“ (Dmitrij Fuhrman, Russlands Entwicklungspfad – Vom Imperium zum Nationalstaat, Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.3-20, S.14). Unberücksichtigt in der neuen Identität blieb jedoch, dass auch das territorial geschrumpfte Russland ein Vielvölkerstaat war und ein nur auf die russische Identität bezogenes Nationalbewusstsein von den vielen kleinen Völkern mit außereuropäischer Herkunft abgelehnt wurde. Auf der Suche nach einem für alle Völker adäquaten Nationalbewusstsein Russlands verständigte man sich zunächst auf den ebenfalls ungenauen Begriff „Russländer“. Schließlich mündete die Diskussion in den Begriff „eurasisches Nationalbewusstsein“. In diesem geopolitisch ausgerichteten Begriff kam stärker zum Ausdruck, dass Russland territorial ein eurasisches Land ist und europäischstämmigen wie asiatischen Völkern mit christlich-orthodoxem Glaubensbekenntnis sowie Anhängern des moslemischen und buddhistischen Glaubens eine Heimat bietet.
Vom eurasischen Nationalbewusstsein zur Bezeichnung Eurasische Union für ein Dreierbündnis Russland, Weißrussland und Kasachstan war der Weg nicht mehr weit. Der russische Präsident Putin propagierte schon seit längerer Zeit die Gründung einer Eurasischen Union. Aufbauend auf der Zollunion (in Kraft getreten Anfang Januar 2012) zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan wurde im November 2011 die Eurasische Union ins Leben gerufen. Bis 2015 ist ein barrierefreier Markt für den Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr geplant. „Sollte es gelingen, die Union als Bindeglied zwischen der EU und den asiatischen Märkten zu etablieren, könnte die russische Wirtschaft enorm von diesem Projekt profitieren.“ (Bericht des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft vom April 2012, in: http://www.ost-ausschuss.de).
Am 16. Dezember 2011 trat Russland der Welthandelsorganisation (WTO) nach 18 Jahren mit Hindernissen gespickter Verhandlungen als letzte der großen Volkswirtschaften bei. Für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Abkommens im Sommer 2012 werden positive Folgen für die russische Wirtschaft erwartet. Der Beitritt Russlands schafft die Grundlage für die Einrichtung einer Freihandelszone mit der EU. Die Weltbank schätzt die dadurch entstehenden Wachstumsimpulse auf elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2021.(ebd.).
Ob sich die nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig gewordenen zentralasiatischen Staaten Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan einer Eurasischen Union anschließen, ist zwar mehr als zweifelhaft, aber weniger fremdartig als beispielsweise die Auswahl des Namens „Russische Union“ klingt diese Bezeichnung in ihren Ohren schon. Prinzipiell könnte auch die Ukraine Mitglied der Eurasischen Union werden, zumal die Ostukraine und die Krim mehrheitlich von Russen besiedelt ist und sowohl dort wie anderswo “the overwhelming majority of Russians continue to regard the events and achievements of the Soviet era as major sources of national pride, ruling out any possibility of Russian society being divided in terms of value.” (Mikhail K. Gorshkov, ebd. S.174).
Wie groß der Widerstand in der West- und Zentralukraine gegen eine Mitgliedschaft jedoch ist, zeigte sich an der handgreiflichen Auseinandersetzung von Abgeordneten im ukrainischen Parlament, als die Einführung der russischen Sprache als zweite Amtssprache in der Ukraine zur Debatte stand. Russland bietet der Ukraine bisher die Mitgliedschaft in der Zollunion an. Die Ukraine hingegen hat bereits ein Freihandelsabkommen mit der EU unterschriftsreif ausgehandelt. Sollte es eines Tages in Kraft treten und Russland nach Vollzug seines Eintritt in die WTO ebenfalls ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließen, würde die Differenz der beiden Freihandelsabkommen darüber entscheiden, ob für die Ukraine eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der Zollunion möglich ist.
1.3 Die Eurasische Union als Schutz gegen die Infiltration fremder Interessen
Darunter versteht die russische Führung vornehmlich das Bestreben der USA, durch den Abschluss bilateraler Verträge mit den einzelnen Staaten Zentralasiens Einfluss auf deren Förderung von Rohstoffen und Energie zu gewinnen und durch die langfristige Stationierung von US-Truppen in Afghanistan den Weitertransport durch afghanisches und pakistanisches Territorium zum Indischen Ozean militärisch abzusichern (Valdai Discussion Club, Reconfiguration, Not Just a Reset: Russia’s Interests in Relations with the United States of America, Moskow, June 2009, p. 9/10). In der Verhinderung us-amerikanischen Vordringens nach Zentralasien existiert zwischen der russischen und chinesischen Führung Übereinstimmung, was nicht zugleich bedeutet, dass über die Aufteilung der Ressourcen Zentralasiens stets Einigkeit zwischen beiden Mächten besteht.
Für die Versuche der Europäischen Union, in Zentralasien Fuß zu fassen, hat sich bisher das EU-Bestreben, Russland in der Versorgung von Öl und Gas südlich zu umgehen (durch Georgien, Aserbaidschan und das Kaspische Meer nach Turkmenistan und Kasachstan) als Hinderungsgrund herausgestellt. Ohne die Zustimmung Russlands ist eine Durchquerung des Kaspischen Meeres von Aserbaidschan nach Turkmenistan oder Kasachstan nicht realisierbar. Der seit langem bestehende Vertrag zwischen den Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres über dessen Nutzung gewährt der russischen Führung ein Einspruchsrecht. Zudem haben sich Turkmenistan und Kasachstan bereits 2007 an Gasprom gebunden. Im Dezember 2007 beschlossen die drei Staaten den Bau einer Erdgasleitung am Ostufer des Kaspischen Meeres (Fertigstellung in vier Jahren) und damit den Anschluss dieser Leitung an das russische Pipelinenetz (Karl Grobe, Russlands Pipeline-Pakt klemmt Europa ab, Frankfurter Rundschau, 24./25.12. 2007). Nachdem Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan bereits zum Nabucco-Projekt auf Distanz gingen, zeigte auch der Iran kaum noch Interesse. Der Iran konnte die Beteiligung von Gasprom an der im Mai 2009 beschlossenen Iran-Pakistan-Indien-Gaspipeline gewinnen (Elke Windisch/Kevin P. Hoffmann, Russen kooperieren mit Iran (Tagesspiegel, 30.5.2009).
Nichtsdestoweniger hielt die EU im Verein mit den USA in den folgenden Jahren an der Umgehung Russlands fest. Westliche Konzerne wollten, wie Karl Grobe berichtet, insbesondere Turkmenistan für ihren Weltmarkt öffnen. „Das Nabucco-Projekt dient diesem Ziel. So wurde Georgien zum Teilnehmer im Gasröhrenpoker; die Rosenrevolution und der russisch-georgische Krieg haben Einiges damit zu tun.“ (Karl Grobe, Joschka Fischer inszeniert „Nabucco“, Frankfurter Rundschau, 27./28.6.2009). Während die von den USA vergeblich durch Druck auf Schweden hintertriebene Gaspipeline durch die Ostsee realisiert wurde, verringerten sich die Verwirklichungschancen für Nabucco immer mehr (USA wollen Ostseepipeline verhindern, Tagesspiegel, 13.9.2008). Trotzdem hielt die EU für den Fall eines Regimewechsels im Iran weiter an dem Projekt fest. Sobald jedoch die EU den Rohstoffförderländern zur Realisierung des Nabucco-Projekts konkrete Verhandlungen anbot, mussten jene Länder vor Verhandlungsbeginn entscheiden, ob die Nachteile, die ihnen in ihren umfangreichen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland entstehen würden, die Vorteile aus dem Geschäft mit Öl und Gas überwogen. Aserbaidschan musste sich bereits seit Eröffnung der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline mit der Frage befassen, ob im Falle eines kriegerischen Konflikts um Berg-Karabach russische Truppen die armenischen Streitkräfte unterstützen und ob dieser Nachteil die Vorteile aus dem Transport aserbaidschanischen Erdöls durch Georgien und die Türkei zum Mittelmeer überwiegt. Die Aufrüstung für einen Krieg gegen Armenien zur Rückeroberung von Berg-Karabach belastet die Finanzen des kleines Landes Aserbaidschan in einem hohen Maße. Je kostspieliger sie wird, desto weniger Geld steht für die Hebung des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung zur Verfügung.
In der Mitte des Jahres 2012 verschlechterten sich die Chancen für den Bau der Nabucco-Pipeline in der ursprünglich vorgesehenen Länge immer mehr, nachdem Ungarn als eines der Transitländer das Projekt aus Kostengründen gänzlich in Frage stellte. Schließlich gab das Konsortium für das Nabucco-Projekt Ende Juni 2012 bekannt, dass nur noch der Bau der Pipeline von Bulgarien nach Österreich und Tschechien von ihm finanziert wird. Am 26. Juni 2012 unterzeichneten die Türkei und Aserbaidschan ein Abkommen zum Bau der Transanatolischen Gas-Pipeline (TANAP), die das östliche Stück der ehemaligen Nabucco-Pipeline ist und vor allem die Türkei mit der von ihr gewünschten Gasmenge versorgt. Vergleicht man die vorgesehene Transportleistung von Nabucco (23 Mrd. Kubikmeter) und die jetzige von North Stream (55 Mrd.) sowie die geplante Verlegung eines oder sogar zweier weiterer Stränge entlang der bereits vorhandenen (82,5 Kubikmeter bis maximal 110 Kubikmeter), wird sich an der Versorgung Mittel- und Westeuropas durch russisches Erdgas wendig ändern (Kevin P. Hoffmann, An Russland vorbei, Tagesspiegel, 29.6.2012).
1.4 Die Eurasische Union als Instrument zur stärkeren Interessenwahrnehmung in Verhandlungen mit China
Die Versorgung Kasachstans mit Wasser ist abhängig von guten Beziehungen mit China. Rustem Zhangozha schreibt über das Staudammprojekt Chinas: “Since the late 1990s China has begun to take water from the Cherny Irtysh and Ili rivers, thereby threatening not just Kazakhstan but the whole ecosystem of that geopolitical region, of which Russia is part, with an environmental catastrophe. If one adds to that the fact that over the last few decades Kazakhstans’s water resources have fallen by twenty billion cubic meters and that this process is gaining pace, then the threat of reduced amounts of fresh water reaching Kazakhstan becomes increasingly immediate.” („Russia and the Newly Independent States of Central Asia: Relations Transformed“ in: „Russia – The Challenges of Transformation, edited by Piotr Dutkiewicz and Dmitri Trenin, New York University Press, 2011, 383-405, S.391).
Für China ist die Bewässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen in der nördlichen Dsungarei für die Nahrungsversorgung und die Elektrizitätsgewinnung von großer Bedeutung. Um einen fairen Interessenausgleich in der Aufteilung des Wassers zwischen dem Giganten China und dem bevölkerungsarmen Kasachstan zu erzielen, wäre für die kasachische Führung die Einbindung Russlands von Vorteil, zumal auch Russland von der Wasserknappheit mittelbar betroffen ist. Würde in die Vertragsverhandlungen auch die Belieferung Chinas mit Erdöl und Ergas aus Kasachstan, Russland und Turkmenistan einbezogen, stünden sich die Eurasische Union und China als fast ebenbürtige Vertragspartner gegenüber. Für ein beide Seiten befriedigendes Verhandlungsergebnis wäre das von Vorteil.
1.5 Die Eurasische Union als Scharnier zwischen der Europäischen Union und ChinaNach dem Zerfall der Sowjetunion drohte der Zusammenbruch der sowjetischen Infrastruktur. Verkehrswege verloren ihre ursprüngliche Funktion, weil sie jetzt von nationalen Grenzen durchschnitten wurden. Verkehrsströme änderten ihre Richtung und folgten der Herausbildung neuer nationaler Zirkulationssphären. Nationale Zollgrenzen behinderten den Transfer von einer zur anderen Zirkulationssphäre. Kaliningrad degenerierte zur Exklave Russlands und den Baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen drohte der Funktionsverlust ihrer Ostseehäfen für den Handel Russlands mit den EU-Staaten. Die vormals durch Weißrussland verlaufenden Verkehrsströme litten unter der zunehmenden Isolation des Landes. Die jetzt zur Ukraine gehörenden Schwarzmeerhäfen verloren für den Außenhandel Russlands an Bedeutung, wohingegen mit dem Staatsgebiet Russlands direkt verbundene Häfen an Bedeutung gewannen. Der zu Sowjetzeiten intensive Binnenhandel zwischen dem Zentrum und der Kaukasusregion erlitt erhebliche Einbußen und zu den selbständig gewordenen Südkaukasusstaaten Georgien, Aserbaidschan brach der Handelsaustausch teilweise völlig zusammen. Selbst zwischen dem europäischen Teil Russlands und den Regionen hinter dem Ural, aber ganz besonders zur Pazifikregion Sibiriens verringerte sich das Verkehrsaufkommen erheblich. Für kurze Zeit schien das gesamte russische Territorium in voneinander isolierte Einzelteile zu zerfallen. Gravierend wirkte sich für den Zusammenbruch des Personen- und Güterverkehrs das Ende der subventionierten Luft- und Eisenbahntarife aus. Empfand es zu Zeiten der Sowjetunion der Durchschnittsbürger als Normalität, mit dem Flugzeug oder der Eisenbahn zu verreisen, musste er jetzt aus Kostengründen auf den Besuch seiner Verwandten in weit entfernten Gebieten verzichten. Zwar verkehrte selbst in der Periode fast völligen Zusammenbruchs die transsibirische Eisenbahn und die Luftkorridore über Russland blieben funktionsfähig, aber Russlands Scharnierfunktion zwischen den Staaten der Europäischen Union und China erreichte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen Tiefpunkt.
Seit dem Ende der Jelzin-Ära hat sich die Situation verbessert. Jetzt verkehren z.B. regelmäßig Güterzüge zwischen Deutschland und China und erste Schritte sind in Vorbereitung, den Schienenstrang mit einem weiteren Gleis auszustatten. Der Transportweg ist sicherer und die benötigte Zeit ist sehr viel kürzer als der Schiffstransport. Selbst der Transport auf der im Sommer eisfrei gewordenen Schiffspassage durch das Nordpolarmeer kann damit nicht konkurrieren. In absehbarer Zeit wird ein durchgehendes Straßennetz vom europäischen Teil Russlands bis an den Pazifik führen und an der Grenze zwischen China und Kasachstan entstehen neue Übergänge. Der Personen- und Güterverkehr auf dem Luftweg von Europa nach China hat zugenommen.
Der Ausbau der Verkehrswege und ein verzweigtes Pipelinenetz für Rohöl und Gas bilden jedoch nur die Grundlage für die Scharnierfunktion Russlands. Hinzu treten müssten Bereiche der Veredelung von Rohstoffen und der Wiederaufbau einer industriellen Produktion, die wettbewerbsstark und in der Lage sind, den Eigenbedarf und auch die Nachfrage aus der EU und China zu befriedigen. Welche Probleme auf diesem Gebiet und insgesamt in der Transformation Russlands noch zu bewältigen sind, beschreiben die Autoren des von Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin herausgegebenen Sammelbandes „Russia – The Challenges of Transformation“, New York 2011.
2. Stand der Transformation Russlands
Georgi Derluguian gelangt in seiner Beurteilung des unter Jelzin begonnenen und durch Putin fortgesetzten Transformationsprozesses zu folgendem negativen Schluss: “In a fundamental sense, Putin’s restoration brought back the old Soviet dilemmas. If the enormous geopolitical costs of the Cold War and the external empire are now gone, the costs of bureaucratic self-serving inefficiency, paternalistic consumerism, and perverse class bargaining leading to subterfuge and corruption stand as huge as ever. Besides its sheer ongoing material and moral cost, bureaucratic arbitrariness renders futile any innovative economic initiative or an enormous class organization. This is now the major obstacle to the next technological modernization.” (Georgi Derluguian, The Soviet Bureaucracy in Russia’s Modernization, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.73-86, S.84). Auch der russische Unternehmer Alexander Lebedjew beklagte die Herrschaft der Bürokratie: “Überall sitzen Beamte, an denen man nicht vorbeikommt. Sie lassen den Unternehmen keine Freiheit, weil wir ihnen Konkurrenz machen. Der eine Vize-Premierminister hat eine Bank, der andere besitzt eine Fluggesellschaft, und der Gouverneur trägt ein Grundstück auf seinen Namen ins Grundbuch ein. Sie gehen ihren Geschäften nach, und wir sind für sie Konkurrenten.“ (Alexander Lebedjew im Interview mit Johannes Voswinkel, „Kein Plan, nur Taktik“, Die Zeit, 13.8.2009).
Derluguian und Lebedjew scheinen eine klare Vorstellung über gesellschaftliche, politische und rechtliche Bedingungen zu haben, unter denen technologische Erneuerung optimal stattfindet. Aus Derluguians Sicht zählen
- eine erneuerungsfeindliche bürokratische Selbstbedienungsmentalität,
- die von der Obrigkeit gestützte hemmungslose Konsumorientierung,
- die Hinnahme einer abnormalen Verteilung von Einkommen und Vermögen
Nun ist die Idealvorstellung einer Gesellschaft ohne Selbsttäuschung und Korruption nirgendwo auf Erden verwirklicht. Im weiten Spektrum zwischen den Extremen
- Plutokratie (Herrschaft der Reichen und Privatisierung des Staates für ihre Zwecke), in der das Gemeinwohl der Gesellschaft auf das Wohlergehen des Herrschers und seiner Familie bzw. der kleinen reichen Oberschicht insgesamt begrenzt ist, und dem
- demokratisch verantwortlich handelnden Staat, in dem ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung gesucht und stets gefunden wird,
Analysen des Transformationsprozesses kommen ohne Beurteilungsmaßstab nicht aus. Als ein Beispiel unter vielen ist der Transformationsindex BTI 2012 der Bertelsmann-Stiftung zu nennen. Unter der Hand avancieren in ihm die etablierten Demokratien Europas zum Vorbild. Als Vorbild erhalten sie den Status des Ideals, das scheinbar jeder Kritik stand hält und nicht mehr hinterfragt werden muss. In Korrespondentenberichten werden sehr oft die politischen und ökonomischen Verhältnisse Russlands scharf verurteilt, ohne zugleich den eigenen Beurteilungsmaßstab einer Kritik zu unterziehen. Das Ausmaß an Ignoranz über die oftmals fragile und dem offiziösen Anschein widersprechende Gesellschaftsstruktur ihrer Herkunftsländer und die Arroganz in der Verurteilung Russlands ist schon erstaunlich. Wie wenig Souveränität dem Volk z.B. im Grundgesetz zugemessen wird, scheint weitgehend unbekannt zu sein (Reinhard Hildebrandt, Öffnung des Staates zur Zivilgesellschaft – Abkehr von der Vorstellung der staatlichen Administration als heilige Ordnung (Hierarchie) und Aufbrechen der Hierarchie, in: ders., Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2011, S.153-202). Wie groß inzwischen die Selbstversorgermentalität der Parteien geworden ist, wird ebenfalls kaum wahrgenommen (Hans Herbert von Arnim, Die Selbstversorger – Die Parteien umgehen die Regeln der Parteienfinanzierung, indem sie ihren Stiftungen, Fraktionen und Stäben Gelder zuschanzen. Dadurch entfernen sie sich vom Bürger und verletzen die Chancengleichheit, Tagesspiegel, 1.7.2012).
Auch der geschichtliche Hintergrund darf, wie Georgi Derluguian betont, niemals außer acht gelassen werden und ebenso nicht die Divergenz zwischen dem glaubhaften Veränderungswillen politischer Persönlichkeiten und deren vergeblichen Kampf gegen überaus starke widerspenstige Institutionen: „Having re-centralized power, Putin and his successor Medvedev now face the question of what can be done with this power, or even how much power they can effectively deploy for any purposes besides the routine reproduction of bureaucratic privileges. … In the past, concentrations of power at the top served as prologues to great leaps forward. … In the present, such concentration by itself appears useless unless supported by the alternative charisma of a publicly trusted politician and the institutional strength of a modern publicly accountable state. The state is now back there, but will it move?” (Derluguian, S.84).
In diese Richtung zielt z.B. Richard Sakwa in seiner Abhandlung über “The Changing Dynamics of Russian Politics, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.87-113). Richard Sakwa unterscheidet zwischen “administrative regime” und “constitutional state”: “The tension between the transformative and the adaptive elements has still not been overcome and has imbued post-communist Russian politics with an acute developmental crisis, as the forces for change are stymied by conservative and nativist constituencies and sentiments.” (ebd. S.87/88). Die Pattsituation habe den zweigeteilte Staat hervorgebracht. “Entrenched social interests (notable, the bureaucracy and the security apparatus) are expressed in the form of an administrative regime, while the attempt to institutionalize the normative values of the post-communist experiment in liberal democracy is represented by the constitutional state. (ebd. S.87/88). Sakwa postuliert, dass die von ihm so bezeichneten “adaptiven Elemente” lediglich eine formelle Anpassung vornehmen, aber tatsächlich jegliche Transformation in Richtung Modernisierung hintertreiben. Er unterstellt, dass jene Kräfte rücksichtslos ihre eigene Machterhaltung im Blick haben, übersieht jedoch, dass sowohl die erwünschten Resultate der zur Erhaltung der Macht ergriffenen Instrumente wie die Maßnahmen zur Modernisierung in keiner Gesellschaftsordnung exakt prognostizierbar sind.
Der Transformationsprozess in Russland ist zu komplex, um den Machthabern im Vorhinein eine vollständige Übersicht über kurz- wie langfristig durchsetzbare Resultate zu gewähren. Sakwas Behauptung, es hätte sich eine Patt-Situation zwischen Administration und konstitutionellem Staat ergeben, ist und bleibt eine unbewiesene Unterstellung. Weder kann eine Politik, die ausschließlich die Erhaltung der Machtelite zum Ziel hat, den sicheren Weg zum Ziel bestimmen, noch zeigt sich eine vollkommen auf Modernisierung ausgerichtete Politik in der Lage, unerwünschte Resultate bereits im Vorgriff sicher zu vermeiden und den erwünschten Entwicklungspfad stets exakt zu treffen.
Nichtsdestoweniger trifft die folgende Aussage Sakwas über den „dualen Staat“ zu: „The two pillars of the dual state give rise to a distinctive type of hybrid regime, in which a type of ‘mixed constitution’ has emerged, combining two types of governmentality: the legal-rational proceduralism, and open political contestation and pluralism of the constitutional state, balanced by the shadow and arbitrary factional politics based on informal networks in the administrative regime.”(Richard Sakwa, ebd. S.87/88). Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Komponenten bezeichnet Richard Sakwa als entscheidendes Merkmal russischer Politik: “In the dual state, the normative/legal system based on constitutional order is challenged by the shadowy arbitrary arrangements of the administrative regime, populated by various conflicting factions. The tension between the two is the defining feature of contemporary Russian politics.” (Richard Sakwa, ebd. S.92).
Eine solche Zweiteilung der Macht verursacht zweifellos Reibungsverluste. Sakwa unterstellt jedoch, dass “legal-rational proceduralism“ per se bessere Resultate erzielt und vergisst, dass in Staaten, in denen die absolute Priorität des gesetzgebenden Regelwerks in der Verfassung festgelegt worden ist, dennoch meist unter der Hand Parallelsysteme der Machtausübung entstehen, was ebenfalls nicht nur Reibungsverluste erzeugt, sondern auch zu erheblichen Verzerrungen des Gemeinwohls führen kann. Die Belange hegemonialer Formationen umgehen oder durchkreuzen auch in etablierten Demokratien oftmals die Prozeduren des Gesetzgebungsprozesses.
Eine einseitige Konzentration der Analyse auf das Spannungsverhältnis zwischen dem administrativen Regime und dem konstitutionellen Staat sucht die Ursache für Fehlentwicklungen nur dort und nicht auch in Anlässen, die eine solche Zweiteilung erst ermöglichen und das Ausmaß an Willkürherrschaft legitimieren. Sakwa verweist selbst bereits auf Verhaltensweisen im politischen Bewusstsein der Bevölkerung, die eine solche Zweiteilung in der Machtausübung befördern. So äußerten im Jahre 2005 51 Prozent der Bevölkerung, dass “Russia needs a president to exert a ‘firm hand’ to govern the country”, wohingegen 44 Prozent die Meinung vertraten, dass der Präsident die Verfassung stets strikt beachten sollte (Richard Sakwa, ebd. S.95).
Wenn sich die Machtvertikale Putins auf die Zustimmung von 51 Prozent der Bevölkerung stützt und Putin unterstellt werden kann, dass er selbst für Modernisierung eintritt und keinesfalls bewusst die Restauration des Sowjetsystems befördert, werden seine einseitig auf bloße Machterhaltung pochenden Widersacher in der Politik auf seinen massiven Widerstand stoßen. “The presidency is at the heart of the administrative regime but is not limited to it. These forces come together in formal factions, notable in the form of two meta-groups conventionally labeled the ‘siloviki’ and the ‘liberal-technocrats’, which than can be subdivided into at least six other identifiable spheres of interest, if not into interest groups in the traditional meaning of the term.” (Richard Sakwa, ebd. S.95). Piotr Dutkiewicz stützt diese These, wenn er schreibt: “The current rulers in the Kremlin are convinced that they needed to restore, at the core, what was a traditional and central engine of social development in Russian history: the state.” (Piotr Dutkiewicz, Missing in Translation: Re-conceptualizing Russia’s Developmental State, ebd. S.20).
Schließlich muss daran erinnert werden, unter welchen Vorzeichen Putin die Ära Jelzin abgelöst hat. “Operation ‘Privatizing the State’ was well underway by the time of the financial collapse in 1998.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.21). “This means that most Russians expect the government to implement a model of state capitalism appropriate for an economically developed country.”(Mikhail K. Gorshkov, ebd. S.181). Offensichtlich hatte die Privatisierung des Staates unter Jelzin so gravierende Folgen für die Masse der russischen Bevölkerung, dass in ihr gegenwärtig die Meinung vorherrscht: “One of the most important objects of public attention for Russians – in a sense of indicative of the way they perceive the world – is the place and role of the state in the economy and society. Russians mainly support state domination of the economy and administration of property.”(ebd. S.181). Hierbei handelt es sich laut Mikhail K. Gorshkov vor allem um die Meinung der Unterprivilegierten bzw. völlig mittellos gewordenen Teile der russischen Bevölkerung: “The poor, particularly those who have become destitute, suffer not only from a lack of money but also from an inability to meet their own most basic human needs – adequate food, clothing, and housing. Moreover, research shows that the poor lose hope and resign themselves to living without many of the essentials they can no longer afford.”(ebd. S.158).
Mikhail K. Gorshkov nennt einige Gründe für ihre Unzufriedenheit: “Overall, many social groups are underprivileged as an indirect result of the institutional conditions of Russians’ lives, as well as of mistakes in health care reform and pension-fund policy. Inadequate provision for the elderly and restrictions on certain sectors in particular, are reflections of these mistakes.”(ebd. S.164). “Russian’ greatest dissatisfaction”, notiert er, “is caused by the extreme inequality in the distribution of property and income.” (ebd. S.170). Viele Russen tendieren deshalb für einen Rückzug in die private Nische: “Russians believe that the best policy in life is the organization of social and economic niches within their own immediate circles – niches in which people feel at home.” (ebd. S.181).
Tiefer reichend als Richard Sakwas Analyse eines dualen Systems ist die von Piotr Dutkiewiczs zur gegenwärtigen Situation Russlands: “The Kremlin, even though it fosters an aura of omniscience, continues to base its politics on what might be termed as a timid trial-and-error approach. Russia has a market system (as recognized by the EU and WTO), but the system of accumulation is to a large extent based on nonmarket political access.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.13).
Angesichts der oftmals unübersichtlichen Entscheidungssituationen bleibt als Vorgehensweise nur das Prinzip von Versuch und Irrtum übrig. Hinzu kommt, dass wenn die Medien zwar nicht per se frei sind, aber auch nicht unter der totalen Kontrolle des Staates stehen (mit der Ausnahme des Fernsehens), in der widersprüchlichen Gesamtberichterstattung sehr leicht der Eindruck entsteht, dass die Regierung zwar stark erscheint, aber die staatlichen Institutionen als ziemlich schwach angesehen werden (“The government’s rule is seen as strong, but the state’s institutions remain fairly weak [as evidenced by the existing corruption and noteworthy lack of accountability and transparency]).”(ebd.). Daraus folgt laut Dutkiewicz: “While the decisions of the Kremlin’s elite are seen by many as systemic manipulation – or just a massive PR exercise – many of them are real responses to the needs of the Russian people: strength and weakness in one. Russian politics is becoming increasingly assertive, but its implementation is anything but that. At the moment, there is neither stability nor change.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.13).
In die Zukunft weisend gelangt Mikhail K. Gorshkov zu folgendem Schluss: “Analysis of the dynamics of the public national consciousness shows that post-reform Russia is not only on its feet but indeed capable of self-determination and self-affirmation. Over the past seven or eight years, Russia has succeeded in taking control of itself and has turned into a country with an independent destiny and its own plans for the future.”(ebd. S.183/184). Gorshkov fordert die russische Führung zu folgender Politik auf: “Evidently, the way out of this situation should not just be an economic one, envisaging an ‘intelligent’ solution, capable of producing proprietary knowledge, importing the newest technology, and results of innovatory economic activity, but also modernization of the social system as a whole. This would, albeit gradually, resolve many of the most difficult questions – including such as how to withstand the global crisis and the challenges of competition, modernize the army, and govern a country that is both enormous and complicated in its national and cultural makeup. In the process, the country’s democratic institutions would be strengthened and its stability ensured.”(ebd. S.185).
2.1 Ablehnung der Machtvertikale Putins von Teilen der aufstrebenden Mittelschicht
Nach Mikhail K. Gorshkov hat sich in Russland eine erfolgsorientierte Mittelschicht gebildet: “A large middle class has developed in Russia over the reform years, which, though similar to the general population in terms of its principal features, places particular emphasis on achievement. This means that all resources are devoted to continuing professional development, leading ultimately to professional success. Sociologically speaking, the modern Russian middle class is made up of those who have been able to adapt successfully to the new social reality, are rightful proud of this, and, unlike then lower classes, feel in charge of their own destinies.” (Mikhail K. Gorshkov, S.164).
Es ist anzunehmen, dass diese neue Mittelschicht zu den 44 Prozent der Bevölkerung zählt, in der die Meinung verbreitet ist, der Präsident sollte die Verfassung stets strikt beachten. Dieser Teil der Bevölkerung, notiert Richard Sakwa, “began to be emancipated from state tutelage”, aber anders als in der Zeit der “anarcho-democracy” der 1990er Jahre “this time in a democratic guise, accompanied by the suffocation of independent civic self-organization of society and the stunt development of the individual as an autonomous citizen.”(Richard Sakwa, The Changing Dynamics of Russian Politics, S.87-113, S.95). Sakwa meint, dass der Staat die spektakuläre Entwicklung des Individuums zu einem autonomen, selbstverantwortlichen Bürger nicht nur behindert, sondern dass er die vielfältigen Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und Institutionen sogar erstickt. Ausländische NGOs müssen sich jedoch gefallen lassen, gegenüber dem russischen Staat Rechenschaftsberichte über die ins Land eingeführten Geldsummen und deren Verwendung zu liefern, allein schon aus dem Grund, nicht als Agenten ausländischer Dienst und Staaten abgestempelt zu werden.
Die aufstrebende Mittelschicht lebt vor allem in den zwei Hauptstädten Russlands (Moskau und St. Petersburg) und in den Städten mit mehr als einer Million Einwohnern. Laut Lev Gudkov beträgt der Anteil der Bevölkerung, der in Millionenstädten lebt – dreizehn insgesamt –, 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Sozial-, Kauf- und Freizeitverhalten, Lebensstil, der Zugang zu Informationen, Bedürfnisse und kulturelle wie politische Orientierung und damit auch der Charakter der sozialen Beziehungen würden sich zwischen Zentrum und Peripherie unterscheiden. Dies habe mit dem Einkommensgefälle wenig zu tun. (Lev Gudkov, in Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.21-46, ebd. S.22).
Sofern Putin auf das Produktivpotential der Mittelschicht aus den Metropolen für den Wiederaufbau der industriellen Basis Russlands angewiesen sein sollte, muss er, um Passivität aus Enttäuschung und Auswanderung aus Frustration zu vermeiden, deren Wünsche nach mehr Teilhabe und Teilnahme am politischen Prozess selbst dann berücksichtigen, wenn die Anzahl der Protestierenden kleiner als von der Presse behauptet sein sollte. „Das eigentliche Protestpotential“, registriert Lev Gudkov, „ist gering, deutlich geringer als die engagierte Presse und die Opposition, die damit ihre Hoffnung auf politische Veränderung verbindet, es darstellen.“ (Lev Gudkov, ebd. S.42). „Mittlerweile“, notiert Elke Windisch, „zweifeln sogar einige ihrer Anführer am Potential der Protestbewegung. Der Machtwechsel in Russland werde sich sehr langsam vollziehen, meint der Schriftsteller Boris Akunin. Die Zivilgesellschaft sei derzeit zu schwach, um Verantwortung übernehmen zu können.“ (Elke Windisch, Putins Getreue schlagen zurück, Tagesspiegel, 4.2.2012). Laut Jens Mühling dämmert es der Opposition, „dass sie weder konsensfähige Führungsfiguren noch inneren Zusammenhalt noch konkrete Ziele hat, die sich kurzfristig durchsetzen ließen – und der für ein langfristiges Engagement möglicherweise der Atem fehlt.“(Jens Mühling, Der Zar ist nackt, Tagesspiegel, 19.2.2012). Der Slogan „Für ein Russland ohne Putin“ sei der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bewegung, schreibt Claudia von Salzen, in „Für ein Russland ohne Putin“, Tagesspiegel, 13.6.2012. Niels Kreitmeier stellt fest: „Alte Liberale wie Nemzow können wenig mit dem offen zur Schau getragenen Patriotismus der jüngeren Generation um Nawalny anfangen. Und die wiederum hält den 52-jährigen Nemzow oder den Chef der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, für Politiker von gestern, die mit der neuen Art des Widerstands nicht mehr zurecht kommen.“ (Niels Kreitmeier, Moskauer Spaltpilze, Financial Times Deutschland, 22.12.2011).
Nach den Massendemonstrationen zeigte die Regierung erste Anzeichen für einen Dialog. Es solle einen Dialog geben, aber man könne mit keinem reden. Es gäbe keine einheitliche Plattform. Erstmals durfte jedoch auch der Chefredakteur des kritisches Radiosenders „Echo Moskau“ Fragen an Putin stellen. „Die Regierung reagierte mit der Ankündigung politischer Reformen. Die Direktwahl der Gouverneure soll wieder eingeführt und ein unabhängiges, öffentlich-rechtliches Fernsehen geschaffen werden. Im April 2012 wurde bereits die Zulassung von Parteien erleichtert. Zum anderen hat der neu gewählte russische Präsident Wladimir Putin in einem programmatischen Zeitungsartikel im Februar 2012 umfangreiche wirtschaftliche Veränderungen sowie die Privatisierung großer Staatsunternehmen in Aussicht gestellt. Bis 2020 soll eine diversifizierte, mittelstandsorientierte und global wettbewerbsfähige Wirtschaftstruktur mit einem höheren Anteil an modernen Technologien entstehen. Die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 unterstreichen diese positive Entwicklung ebenso wie der Beitritt zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung im Februar 2012.“ (Bericht des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, a.a.O.).
Denn einseitig auf Angst und Duldsamkeit der Mehrheit der Bevölkerung Russlands in der Provinz zu setzen und darüber die Unzufriedenen zu vernachlässigen, könnte ebenso fatale Folgen für die Vollendung des Modernisierungsprozesses haben wie die ausschließliche Orientierung an den Bedürfnissen der aufstrebenden Mittelschicht. Die russische Führung, ob Putin oder einer seiner Nachfolger, muss beide gesellschaftliche Bewegungen bedienen.
„Etwa zwei Drittel der Bevölkerung leben in Dörfern, Siedlungen sowie Städten mit bis zu 250 000 Einwohnern. Das Leben ist hier ganz anders als in den Megapolen und Großstädten.“ (Lev Gudkov, ebd. S.42.). Dieser Teil der Bevölkerung Russlands kann in seinem Beharrungsverhalten von der Führung des Landes nicht ignoriert werden. Ihn in den Modernisierungsprozess einzubeziehen, verlangt andere Vorgehensweisen als die Berücksichtigung und Einbeziehung der Mittelschichten. Andreas Schockenhoff bemerkt, dass „eine Mehrheit von Unzufriedenen ihr Land auf einem falsch Weg“ sieht, und ebenfalls eine Mehrheit wünscht „keine Veränderungen“ (Andreas Schockenhoff, Annäherung durch Wandel, Tagesspiegel, 27.11.2011).
Mehr Aufschluss über verbreitete Meinungen und Verhaltensweisen der russischen Bevölkerung vermittelt eine empirische Umfrage, die Mikhail K. Gorshkov, Direktor des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, erst vor kurzem durchgeführt und zuerst am 11. Juni 2012 in Berlin präsentiert hat.
2.2 Meinungsspektrum Russlands auf der Grundlage empirischer Befragungen – „Der russische Traum“
2.2.1 Traum und Wirklichkeit – Was ist ein erfülltes Leben ?
Vorab gesagt, die in der russischen Bevölkerung anzutreffenden Meinungen unterscheiden sich nur in wenigen Punkten erheblich vom Meinungsspektrum, das in mittel- und westeuropäischen Bevölkerungen vorherrschend ist. Gefragt, welche Träume bzw. Lebensperspektiven sie für sich erfüllt sehen möchten, nennen die Befragten jeweils ein Märchen, in dem sie ihre Lebenswünsche am ehesten interpretiert sehen.
40 Prozent der Interviewten heben das Märchen von Aschenputtel hervor. Offenbar identifiziert sich dieser Teil der Bevölkerung mit dem Mädchen, das von der Stiefmutter schäbig behandelt wird, alle Mägdedienste im Hause leisten muss, von ihren Stiefschwestern verspottet dennoch immer höflich und zuvorkommend alle aufgetragenen Arbeiten verrichtet. Sie entgeht ihrem traurigen Schicksal durch die Heirat mit dem Prinzen. Opfer- und Arbeitsbereitschaft sowie Hoffnung und geduldiges Erwarten eines glücklicheren Lebens sind die bestimmenden Faktoren für diese Gruppe von Menschen.
Im Leben der britischen Prinzessin Diana sehen 60 Prozent der russischen Frauen und 16 Prozent der Männer ihren Lebenstraum erfüllt. Wenn Frauen zu einem hohen Prozentsatz Anteil an der vom Ehemann lieblos behandelten Prinzessin Diana und ihren Selbstbefreiungskämpfen aus den gesellschaftlichen Verstrickungen nehmen, verweist diese Sympathie auf erfahrenes Leid in unglücklichen Ehen, den Wunsch auf ein glückliches Familienleben und die Befreiung von familienfeindlichen gesellschaftlichen Zuständen. Die 16 Prozent der Männer zieht offenbar die publizistisch vermarktete scheinbare oder tatsächliche Freizügigkeit im Leben Dianas an.
Das Märchen von Hans im Glück bezeichnen 25 Prozent der Bevölkerung als Erfüllung all ihrer Wünsche. Sie vertrauen vor allem dem Zufall und sehen kaum realisierbare Chancen, ihren Lebensumständen bewusst und durch eigene Tatkraft entgehen zu können.
20 Prozent der Befragten fühlen im Märchen von den drei Recken ihren Lebenstraum erfüllt. Arbeitsbereitschaft, Tapferkeit, Intelligenz und unbedingte Wahrheitsliebe zeichnen die drei Recken aus. Sie werden dafür auch vom Herrscher belohnt.
Eng mit den „Traumdeutungen“ verbunden sind folgende vier Wünsche in der russischen Bevölkerung:
- genügend Geld zum Leben
- Gesundheit
- eine gerechte Gesellschaftsordnung
- ein glückliches und geordnetes Familienleben.
2.2.2 Orientierungsmerkmale
Anders als in west- und mitteleuropäischen Gesellschaften existiert in 50 Prozent der russischen Bevölkerung der Hang zu einem messianischen Glauben, der entweder durch einzelne Führungspersönlichkeiten repräsentiert wird oder auf abstrakte Ziele ausgerichtet ist. Die andere Hälfte lehnt einen solchen Glauben ab. 25 Prozent der Bevölkerung sehen ihren Glauben durch Breschnew verwirklicht, als die Sowjetunion neben den USA zu einer anerkannten Weltmacht aufstieg und die global gültigen inner- wie intergesellschaftlichen Wertmaßstäbe entscheidend mitzubestimmen hoffte. In der Zeit davor, als Chruschtschow den baldigen Gleichstand mit USA verkündete und die Überholung des Konkurrenten versprach, erträumte die Mehrheit der Russen, bald den „kommunistischen Morgen“ zu erleben. Heutzutage glaubt ein Drittel an die Fähigkeit Putins, den früheren Weltmachtstatus wieder herstellen zu können.
Hinter dem Postulat der Gleichberechtigung stehen alle Bürger. Der Anspruch auf Gleichberechtigung drückt sich insbesondere in der Forderung nach gleicher medizinischer Versorgung für alle Bürger aus.
Unter Freiheit versteht ein Drittel der Russen, dass jeder seine angeborenen und zusätzlich durch gute Bildung und gute Arbeit erworbenen Fähigkeiten ausleben kann. Diese Lebensperspektive ist unter den bereits etablierten Bürgern ganz besonders stark verbreitet. 60 Prozent der Russen verhalten sich ich-orientiert und glauben an die Realisierung ihrer Träume, 50 Prozent setzen auf eigene Anstrengung und 50 Prozent auf das Eintreffen von Wundern. Für Mikhail K. Gorshkov wirft dieser Befund kein gutes Licht auf die Opposition. Die entstandene soziale Ungerechtigkeit wird anerkannt, aber zugleich vom Staat gefordert, dass er Maßnahmen zur Vermeidung von Exzessen ergreift. Vom Staat wird erwartet, dass er sowohl den Selbstverwirklichungswillen der Individuen tatkräftig unterstützt und zugleichgerechte Bedingungen für alle bereitstellt.
In welchen Widerspruch er gerät, wird daran deutlich, dass 79 Prozent der Bevölkerung für die Schaffung und Erhaltung sozialer Errungenschaften eintreten und die übrigen 21 Prozent eine solche Politik strikt ablehnen. Der Elite in Staat und Politik reichen bereits freie Wahlen zur Herstellung des sozialen Friedens aus, wohingegen von der Mehrheit der Bevölkerung vor allem funktionierende Institutionen und sozialstaatliche Einrichtungen gefordert werden. Festzuhalten bleibt, dass obwohl sozialkonservativ ausgerichtete Russen eine andere Vorstellung über die Zukunft Russlands hegen als liberal denkende, wird Putin in beiden Lagern akzeptiert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Meinungsspektrum widersprüchliche Erwartungen aufeinander stoßen. Auf welche Weise ein starker Staat für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit aller Bürger sorgen und zugleich die Freiheit des Einzelnen auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen garantieren soll, sprengt alle bisher praktizierten Maßnahmenkataloge von Staaten.
Dem widersprüchlichen Vorschlag von Thomas Hobbes zum Staatsvertrag kann als Antwort auf dieses Problem nirgendwo gefolgt werden. „Hobbes zerreißt die dem Selbsterhaltungsstreben der Individuen unzertrennlich zugrunde liegenden beiden Momente von Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz. Beide Momente konstituieren zusammen die Selbsterhaltung der Individuen. Ihre Selbsterhaltung geschieht weder ausschließlich in der Verfolgung von Eigennutz noch als reine Ausführung von selbstgesetzlichem Denken und Handeln.“ (Reinhard Hildebrandt, Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2009, S.18/19). Hobbes deformiert die realen Menschen zu Kunstfiguren. „Wenn Hobbes … den Individuen in willkürlicher Weise unterstellt, dass sie im Falle ihrer drohenden Selbstzerfleischung das Moment der Selbstgesetzlichkeit auf den absoluten Souverän übertragen und für sich selbst nur noch das Moment des Eigennutzes reservieren wollen, entzieht er sowohl dem absolut herrschenden Souverän wie den von ihm beherrschten Individuen einen unveräußerlichen Teil ihrer Selbsterhaltung. Weder kann der Souverän ausschließlich selbstgesetzlich handeln noch können die ihm unterworfenen Individuen nur nach Eigennutz streben und das Moment der Selbstgesetzlichkeit gänzlich vernachlässigen.“ (ebd.). Die gesellschaftliche Praxis Russlands wird zeigen, ob man schließlich einen, den Traditionen Russlands adäquaten Kompromiss findet.
3. Russland auf dem Weg vom Rohstofflieferanten zum Produzenten von hochwertigen Industrie- und Dienstleistungsprodukten – Eine Illusion?
3.1 Russlands gegenwärtige Wirtschaftsstruktur
Laut des Berichts des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft vom April 2012 konnte sich „die russische Wirtschaft … nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise dank anziehender Rohstoffpreise deutlich erholen. Auf ein negatives Wirtschaftswachstum von 7,9 Prozent im Jahr 2009 folgten 2010 und 2011 wieder Zuwachsraten von jeweils 4,3 Prozent. Auch für 2012 rechnen IWF, EBRD und Weltbank mit einem soliden Wachstum von 3,3 bis 4 Prozent. Die Staatsverschuldung in Russland bleibt mit rund 10 Prozent des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar.“(Bericht des Ost-Ausschusses, a.a.O.).
Im Bericht heißt es weiter: „Strukturell ist die russische Wirtschaft jedoch immer noch in hohem Maße von der Entwicklung der Öl- und Gaspreise abhängig. Rohstoffe stehen für ca. 80 Prozent der russischen Exporte und finanzieren zu rund 50 Prozent den Staatshaushalt.“ (ebd.). Z.B. bezieht seit 2009 der europäische Flugzeugbauer Airbus russische Titanerzeugnisse im Wert von 3,1 Milliarden Euros. Die russischen Titananteile werden für die Produktion des Airbus A 350 XWB benötigt (Tagesspiegel, 21.4.2009). An der Rohstoffausrichtung hat der angekündigte Modernisierungskurs des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew wenig geändert. Medwedew hatte im September 2009 für sein Land eine komplett neue Wirtschaftsstruktur und die Überwindung der Rohstoffabhängigkeit gefordert (Bericht des Ost-Ausschusses, ebd.).
Auch der in diesem Jahr wieder gewählte Präsident Wladimir Putin sieht in der verbreiteten Korruption eine größere Gefahr als im Auf und Ab der Öl- und Gaspreise. Im Bericht des Ostausschusses ist zu lesen: „Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung des größten Flächenstaates der Welt aus. Im Doing-Business-Index der Weltbank rangiert Russland im hinteren Mittelfeld (2012: Platz 120 von 183). Die russische Länderrisikoprämie ist höher als in allen anderen BRICS-Staaten. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer vergleichsweise niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. So hat sich Russlands Nettokapitalabfluss im Jahr 2011 von 27 auf rund 60 Milliarden Euro mehr als verdoppelt.“(ebd. )1.
Bereits in seinem Wahlprogramm hatte Wladimir Putin auf diese Entwicklung reagiert und den Schwerpunkt auf die Stimulierung von Investitionen, Schaffung neuer Produktionskapazitäten, umfassende Anwendung von Innovationen, Steigerung der Energieeffektivität und Entwicklung moderner Branchen gelegt. Dies solle unter anderem durch eine Herabsetzung der Zinssätze geschehen. Er kündigte außerdem eine Abkehr vom Modell des Wirtschaftswachstums an, „dem hohe Ölpreise bei der Nutzung von aus der UdSSR stammenden Produktionskapazitäten zu Grunde lagen.“ Stattdessen forderte er: „Die Entwicklung der Energiewirtschaft, der Industrie und der Agrarwirtschaft müsse auf ein neues technologisches Niveau angehoben werden. Außerdem versprach er: „Wir werden alle Bedingungen für die Förderung der Privatinitiative schaffen. Wir werden dem Unternehmertum helfen, indem wir den Kampf gegen bürokratische Barrieren fortsetzen.“ (Jana Lapikowa in RIA Novosti, 15:34 12/01/2012).
Nicht nur deutsche Unternehmen zogen erste Konsequenzen aus dem WTO-Beitritt Russlands und den sich dadurch ergebenden Investitionsmöglichkeiten. Auf der Webseite der US-Zeitung „The Wall Street Journal“ veröffentlichte die US-Außenamtschefin Hillary Clinton einen Artikel, in dem sie den WTO-Beitritt Russlands als eine „gute Nachricht“ für die US-Unternehmen und deren Angestellte bewertete, weil damit der Zugang zu einem der sich am schnellsten entwickelnden Märkte der Welt erweitert werde. „Der bilaterale russisch-amerikanische Handel hat sein ganzes Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft“, so Clinton. „Der US-Export nach Russland macht weiterhin weniger als ein Prozent unseres globalen Exports aus.“ (Moskau, 20. Juni 2012 (RIA Novosti).
Den US-Kongress forderte sie auf, das Jackson-Vanik-Amendment2außer Kraft zu setzen und damit die Prozedur des jährlich zu erneuernden Moratoriums zu beenden: „Jetzt ist es an der Zeit, dass diese Klausel endgültig Vergangenheit wird. Vier Jahrzehnte nach ihrer Annahme wird die Abstimmung über die Herstellung dauerhafter normaler Handelsbeziehungen mit Russland zu einer Abstimmung über die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Amerika.“ (ebd.). Der Valdai-Report vom Juni 2009 hatte diese Forderung schon angemahnt. Darin hieß es: „The key prerequisites for developing their economic cooperation should be the full cancellation of the Jackson-Vanik Amendment and all other limitations on Russian exports and on the development of trade and economic relations with Russia in general, and resumption of the bilateral agreement on peaceful nuclear cooperation” (ebd.S.22).
Hillary Clinton kündigte in ihrem Brief sogar eine umfassendere Neuorientierung des Verhältnisses der USA zu Russland an, indem sie schrieb: „Die WTO-Mitgliedschaft allein bringt nicht auf einmal die Veränderungen, nach denen das russische Volk strebt. In unserem langfristigen strategischen Interesse wäre es, die Zusammenarbeit mit Russland in den Bereichen fortzusetzen, in denen unsere Interessen identisch sind.“ (ebd.). Zur gleichen Zeit wurde bekannt, dass General Motors seine PKW-Produktion in Russland zu Lasten von Opel in Deutschland drastisch erhöht. Die Vorbehalte von General Motors beim Verkauf der Hälfte von Opel an das österreichisch-kanadische Unternehmen Magna (20%) und die russische Investorengruppe aus Gas und Sberbank (30%) im Jahre 2009 sowie die Verzögerungstaktik des damaligen bundesdeutschen Wirtschaftsministers von Guttenberg lassen sich erst jetzt aus dem aufgeschobenen Eigeninteresse General Motors erklären, dass zum damaligen Zeitpunkt wegen des in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Autokonzerns nicht realisierbar war (Marc Brost, Dietmar H. Lamparter, Johannes Voswinkel, Die Russen ziehen mit, Die Zeit, 30.4.2009 und James Kilner, As Russian car industry slips, fears of unrest rise, International Herald Tribune May 12, 2009).
3.2 Russlands Platz zwischen der EU und China
Wenn ein ausgewiesener Russland-Experte für sein Buch den Titel „Der kalte Freund“ wählt, stehen Besorgnisse sowohl über innerrussische Entwicklungen wie über gestörte Beziehungen mit Russland im Vordergrund (Alexander Rahr, Der kalte Freund, München 2011). Aus Alexander Rahrs Botschaft, jetzt eine umfassende Partnerschaft mit Russland anzustreben und nicht so lange zu warten, bis in Russland eine Demokratie entstanden ist, lässt sich entnehmen, dass der Autor das Zuwarten der Europäischen Union für kurzsichtig und nur ideologisch begründet ansieht und als strategische Fehlentscheidung kritisiert. Die Verweigerung einer weit über enge wirtschaftliche Beziehungen hinausgehenden Partnerschaft betrachtet er als gefährlich für Europas Anspruch, im Chor der globalen Mächte der eigenen Stimme Gewicht zu verleihen und langfristig ernst genommen zu werden. Die EU sollte Nutzen und Nachteile besserer Beziehungen zu Russland sorgfältig abwägen.
Rahr verurteilt sowohl den oftmals zu beobachtenden Rückfall in das im Kalten Krieg vorherrschende angstbesetzte Denken vieler Europäer wie auch die in der Amtszeit des russischen Präsidenten Jelzin dominierende Überheblichkeit gegenüber dem geschwächten Russland. Für die Wahrung europäischer Interessen seien weder Rücksichten auf strategische Befürchtungen des Militärs der USA vor einem europäisch-russischen Schulterschluss noch übertriebene Rücksichtnahme auf verständliche Rachegefühle der ehemals unter sowjetischer Herrschaft stehenden Osteuropäer zielführend. Allein ausschlaggebend sollte die Antwort auf die Frage sein, auf welche Weise Europas Position in einer veränderten Weltordnung am besten gewahrt wird.
Auf dem Hintergrund eines in der Zukunft immer härter werdenden Wettbewerbs der Weltmächte um den Zugang zu unentbehrlichen Rohstoffen und Energie ist zu verstehen, dass Rahr größten Wert auf den engen Verbund zwischen dem rohstoffarmen Europa und dem an Rohstoffen und Energie reichen Land Russland legt. Von den „Metallen der Zukunft“, die insbesondere von der High-Tech-Industrie benötigt werden, werden in Russland Tantal (Coltan), Germanium, Kobalt, Platin und Neodyn gefördert (Dirk Asendorpf, Die Metalle der Zukunft, Die Zeit, 22.10.2009). Zu bedenken gibt er, dass die Europäische Union ohne gute Beziehungen zu Russland weder in der Energieversorgung noch im Zugang zu seltenen Metallen auf langfristig sichere Quellen in der übrigen Welt zurückgreifen kann. Will die europäische Industrie also weiterhin technologisch führend in der Welt bleiben, muss sie ihre Beziehungen zu Russland ausbauen. Seiner Ansicht nach haben die global aufgestellten europäischen Unternehmen diese Herausforderung bereits begriffen und investieren in Russland. So hat Siemens mit dem russischen Unternehmen Power Machines OJSC im Sommer 2011 ein Gemeinschaftsunternehmen zum Bau von Gasturbinen gegründet und will mit der Produktion den Markt für Gasturbinen, Gaskraftwerke und kombinierte Gas- und Dampfkraftwerke bedienen (Tagesspiegel, 2.8.2011). Siemens engagiert sich im von Russland geplanten Innovationszentrum Skolkowo mit Biologie- und Energieforschung (Stefan Scholl, Partner sind keine Freunde, Frankfurter Rundschau, 16.7.2010). Außerdem unterzeichnete Siemens bereits 2010 Verträge von mehreren Milliarden Euro, in denen die russischen Staatsbahnen die Lieferung von 240 Regionalzügen und 200 Güterzügen orderten. Darüber hinaus sollte 2011 bereits die Auslieferung des Airport-Zubringers des Typs „Desiro“ beginnen (Tagesspiegel, 16.7.2010). Schon im Jahre 2006 beschloss Volkswagen in Kaluga südlich von Moskau den Bau eines Autowerkes für eine halbe Milliarde Euro und 3000 Arbeitskräfte. Es folgten Samsung, Volvo, Peugeot, Berlin-Chemie und Continental (Moritz Gathmann, Die Machtvertikale, Tagesspiegel, 4.12.2011). Deutsche Unternehmen erwarten im Jahre 2012 sogar noch bessere Geschäfte. „Während der Export deutscher Unternehmen im vergangenen Jahr weltweit um rund 13 Prozent zulegte, stieg er im Falle Russlands sogar um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr und dürfte nun ein Volumen von bis zu 74 Milliarden Euro erreicht haben“, sagte Cordes (Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Industrie). Da Russland von der Euro-Krise kaum so gut wie nicht berührt sei und im Sommer 2012 der WTO beitrete, seien die Aussichten für eine weitere positive Entwicklung gegeben (Tagesspiegel, 7.2.2012). Deutschland ist nach China der wichtigste Handelspartner Russlands (Elke Windisch, Zweierlei, Tagesspiegel, 18.7.2011).
Woran es mangelt ist die Unterstützung durch die Politik, die immer noch rückwärtsgewandt oder unverständlich zaudernd einen Schlingerkurs fährt zwischen einerseits realpolitisch begründeter Zuwendung zu Russland und andererseits einer werteorientierten bzw. auf die Erfüllung von „Good Governance“ pochenden Aufforderung an Russland, sich dem Modell der demokratisch strukturierten Gesellschaften Europas anzupassen. Am eigenen Gesellschaftsmodell festzuhalten, es in einem stetigen Prozess zu vervollkommnen und es anderen Gesellschaften als Möglichkeit des Zusammenlebens anzupreisen, ist eine auch von Rahr unterstützte Politik. Jedoch dieses Modell, das unter spezifischen Bedingungen entstanden ist, anderen Völkern oktroyieren zu wollen, bezeichnet man üblicherweise als Hybris.
Mit seiner Auffassung stimmt er mit der Sichtweise Vladimir I. Yakunis überein, der in seinem Nachwort „Russia and the West: Toward Understanding“ im von Dutkiewicz und Dmitri Trenin herausgegebenen Buch „Russia – The Challenges of Transformation“, S.433-458) schreibt: „Nations, states, and civilizations have developed for centuries under their unique conditions. They either survived or disappeared from history. Ways and means of survival were reinforced in memory, skills, traditions, and approaches; in ways of Life, culture, and law; in the structure of the state, the organization of labor, government, the rules of community life. That is how different (with the operative word being ‘different’) civilizations were born. But what was shared was the fact that the experience they accrued and reinforced as part of their identity was of the same kind: it was the experience of success. It is clear that nations and civilizations maximize their success only when they use their own formulae for success.“ (ebd.S.437). Jede Gesellschaft hat im Lauf ihrer Entwicklung ihr eigenes Profil geschaffen, das nicht einfach „schockartig“ ausgewechselt werden kann, wie es beispielsweise in der Jelzin-Zeit unter dem Ministerpräsidenten Jegor Gaidar mit Russland versucht wurde und von übereifrigen Vertretern der Global Governance Theorie immer noch gefordert wird (Tagesspiegel, 17.12.2009).
Nicht rundweg abzulehnen, sondern kritisch zu begleiten ist beispielsweise die Auseinandersetzung der russischen Führung mit den Demonstranten für mehr Demokratie in Russland. Es ist daran zu erinnern, dass die Entmachtung des russischen Parlaments bereits unter dem Premierminister Ryschkow im Jahre 2004 geschah. Als Folge des Terroranschlags in Beslan wurde das Konzept der „Machtvertikale“ durchgesetzt (Christian Esch, Teure Bühne, Frankfurter Rundschau, 1.12.2011). Schon zur Zeit der Auflösung des Obersten Sowjets im Oktober 1993 mit Panzern und schwerer Artillerie lieferten sich die Kontrahenten einen Richtungsstreit: „In Wahrheit war es eine gewaltsame Lösung für einen Richtungsstreit: Chasbulatow wollte eine soziale Marktwirtschaft, Jelzin deren Reinkultur (Elke Windisch, Die unvollendete Revolution, Tagesspiegel, 19.8. 2011).
Auf dem Petersburger Wirtschaftsforum im Juni 2012 griff Putin die Forderung nach mehr Demokratie in folgenden Sätzen auf: „Der Hunger nach Reformen treibt die Entwicklung des Landes natürlich voran, aber er wird kontraproduktiv und sogar gefährlich sein, wenn er zum Zusammenbruch der Bürgergesellschaft und des Staates führt. Jeder, der sich mit Politik beschäftigen will, jeder, der sich für einen Politiker hält, muss seine Position ausschließlich im Rahmen des Gesetzes zum Ausdruck bringen.“ (RIANovosti,22.06.2012 in http://de.rian.ru/ world/201220622/263850602.html).
Russland ist nicht mehr nur der Rohstoff- und Energielieferant sowie der Absatzmarkt der Europäischen Union, sondern unternimmt den Versuch, mit der Hilfe ausländischer Unternehmen die veraltete eigene Industrie zu erneuern und die Weiterverarbeitung von Rohstoffen und Energie in die eigene Hand zu nehmen. Die russische Führung, schreibt Elke Windisch, „hat es satt, stets nur die Rolle des Rohstofflieferanten zu geben, will daher bei deutschen Unternehmen als Investor einsteigen und erhofft sich so Zugriff auf Spitzentechnologien und Bares beim lukrativen Geschäft mit den westlichen Kunden“ (Zweierlei, Tagesspiegel, 18.7.2011).
Wladimir Putin stellte z.B. in einem Zeitungsartikel vom April 2012 wirtschaftliche Veränderungen sowie die nun anstehende Privatisierung großer Staatsunternehmen in Aussicht. Angekündigt war die Zusammenstellung der Liste bereits im Jahre 2010 (Frankfurter Rundschau, 27.7.2010). Eingeleitet würde eine diversifizierte, mittelstandsorientierte und global wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur mit einem höheren Anteil an modernen Technologien (Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, a.a.O.). Auf welche Unzulänglichkeiten die angestrebte Modernisierung stößt, benannte Johannes Voswinkel bereits 2010 in seinem Zeit-Artikel „Runderneuerung auf Russisch“ vom 6.5.2010. In Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft, Staat mangele es an Grundlagen für die innovative Wende. Die jüngere Generation fehle in den Hochschulen. Sie sei ausgewandert oder in die vor einigen Jahren boomenden Banken- und Investmentfirmen gewechselt. Die Bürokratie sei ein stark hemmender Faktor. Innovative Produkte kämen erst nach einem „Lizenzmarathon von bis zu 16 Behörden auf den Markt“ (ebd.).
Ruslan Grinberg, Leiter des Wirtschaftsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaft, fasste die Probleme in seinem Artikel „Wir brauchen den Dollar“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 9. 6. 2011 in folgenden Worten zusammen: „Deshalb ist für Russland eine eigene Industriepolitik existentiell. … Der Finanzkapitalismus hat Russland sehr geschadet. Manager denken heute nicht an eine langfristige Produktion, sondern ans schnelle Geld. Zudem haben wir in der Reformzeit unsren Markt zu früh geöffnet und damit den eigenen Produzenten geschadet. Dann wurden auch noch die staatlichen Subventionen abgeschafft – auf Rat von außen. Der Westen vertrat damals sinngemäß die Position: Macht, was wir sagen, aber macht nicht, was wir tun. Denn weder die Amerikaner noch die Chinesen oder die Deutschen sind an einem neuen Konkurrenten Russland interessiert.’ Gebt uns Öl, Gas, Metalle und Dünger’, sagen sie, ‚und wir liefern dafür alles, von der Wurst bis zum Computer’“. In bezug auf die Chinesen fügte er noch hinzu: „Die Amerikaner machen zwar manchen Unfug, aber man kann sie immerhin verstehen und ihre Handlungen vorhersehen. Im Gegensatz dazu wissen wir nicht, wie eine Pax China aussähe. Im Moment verfolgt China eine vernünftige und anständige Politik. Aber bleibt das so?“(ebd.). Damit es noch länger so bleibt, lässt Russland zu, dass China in Sibirien Betriebe errichtet, in denen Chinesen als Arbeitskräfte arbeiten. Außerdem liefert Russland nach Fertigstellung von Pipelines Öl und Gas zur dortigen Weiterverarbeitung (Karl Grobe, Das chinesisch-russische Tandem, Frankfurter Rundschau, 19.10.2009).
4. Russlands Einordnung in die globale Machtstruktur
Russland, merkte Boho Lo an, “has a messianic vision of Russia as an ‚independent’ pole in a multi-polar order, an Eurasian bridge between East and West, and a fully signed-up member of the Asian community.”(Boho Lo, Russia: The Eastern Dimension, in Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O., S.353-402, S.360).
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts maßen die selbsternannten „Sieger“ dem geschrumpften Russland jedoch eine sehr viel bescheidenere Rolle zu (mit der Ausnahme der deutschen Regierungen) und im Kampf gegen seine Degradierung isolierte sich Russland strategisch immer mehr (Dmitri Trenin, Die einsame Weltmacht, Die Zeit, 5.2.2009).
Als Zeuge für diese us-amerikanische Strategie gegen Russland eignet sich auf ganz besondere Weise Zbigniew Brzezinski. „Den strategischen Ausblick, den er vor 15 Jahren skizzierte, sah das Vordringen der USA und ihrer europäischen Verbündeten bis nach Zentralasien vor. Indem die EU sich nach Osten ausdehnen sollte, die Nato gleichfalls Richtung Georgien und Ukraine expandieren würde und Pipelinerouten durch verbündete Staaten bis ins kaspische Becken hineinverlegt werden sollten, hoffte Brzezinski eine Art neue Seidenstraße bis nach China etablieren zu können. Die entscheidende Bedeutung dieser neuen Handelsroute bestand für ihn darin, dass sie dem Westen erlauben würde, seinen Einfluss bis in das Zentrum des mit Abstand wichtigsten Kontinents der Welt – Eurasien – auszudehnen. Gelänge es, eine geopolitische Ordnung Eurasiens zu gestalten, so würde diese automatisch auch für andere Teile der Welt Verbindlichkeit erlangen. Zugleich würde dieses Vorgehen Russland – die größte Landmacht auf dem eurasischen Kontinent – an seiner Südflanke umgehen und so die ehemalige Supermacht zum Randstaat einer zukünftigen Weltordnung degradieren.“ (Hauke Ritz, Warum der Westen Russland braucht – Die erstaunliche Wandlung des Zbigniew Brzezinski, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7, 2012, S. 89-98, S.91).
Brzezinski propagierte lange Zeit im Verein mit den Neokonservativen die Vorstellung von Russland als einem gescheiterten Staat bzw. failed state (Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S.180). Er setzte sich für die Teilung Russlands in eine europäische, sibirische und fernöstliche Republik ein, um leichter Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten aufnehmen zu können. Die Einbeziehung Russlands in die westlich dominierte Weltordnung lehnte er ab und meinte: „Russland war eindeutig zu rückständig und durch den Kommunismus zu heruntergewirtschaftet, um ein brauchbarer demokratischer Partner der Vereinigten Staaten zu sein.“ (ebd. S.153)3. Die Einbindung Chinas in die von den USA vorangetriebene Globalisierung von Produktion und Handelsverkehr sah Brzezinski durch das von multinationalen Korporationen und Organisationen eng geknüpfte Netz gewährleistet (ebd. S.307).
Wie abwegig und der Lächerlichkeit preisgegeben mutete dagegen der neunjährige Versuch Jelzins an, Russland in den Westen zu integrieren. Auch Putins frühere Versuche, von den USA als gleichwertiger Partner anerkannt zu werden, um mit ihnen Geschäfte auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu tätigen (Rede Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007), musste an der Intransigenz der USA scheitern (Katrin Bennhold, Putin urges West and Russia to cooperate, International Herald Tribune, January 29, 2009). Dmitri Trenin schilderte die Reaktion der russischen Machtelite auf diese Zurückweisungen: „Weil Russland sich dem Westen nicht zu dessen Bedingungen anschließen wollte und weil es unfähig war, dem Westen die russischen Bedingungen zu diktieren, hat es sich für eine Position entschieden, die es eigentlich schon immer inne hatte: Es will einen Block postsowjetischer Staaten unter der Führung des Kremls schaffen.“ (Dmitri Trenin, ebd.). Dennoch unternahm auch der Nachfolger Putins im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, einen erneuten Anlauf zu einem Sicherheitsdialog in Europa mit dem Ziel, eine neue transatlantische Sicherheitsarchitektur zu errichten (Elke Windisch, Medwedew will euro-asiatische Sicherheitspartnerschaft, Tagesspiegel, 1.12.2009). „A new comprehensive European (Collective) Security Treaty would be the best option. It might include all states and the key international organizations (the EU, Nato, the CIS, and CSTO), operating in the Euro-Atlantc space, although it might be open for all the interested states.”(Valdai-Report, December, 2009, a.a.O. S.17).
Aber auch er scheiterte nicht nur am Unwillen der us-amerikanischen Machtelite, die eine weitere Hinwendung der EU zu Russland mit allen Mitteln zu verhindern suchte. (FAZ-Net, EU-Russland-Gipfel – Gegensätze unter „europäischen Freunden“, 22.5.2009). Dmitri Trenin sah den Fehler der russischen Sicherheitspolitik in der Fixierung auf die Vereinigten Staaten: „Amerika als Hauptfeind – diese Perspektive verdreht Moskaus strategische Weltanschauung. Sie führt dazu, dass Ressourcen verschwendet werden, und produziert Enttäuschung über das immense Ungleichgewicht zwischen den ehemaligen Rivalen des Kalten Krieges.“ (ebd.).
Aus der Einsicht, von den USA keinerlei Entgegenkommen erwarten zu dürfen, konzentrierte sich im nächsten Schritt die russische Führung zunächst auf die Bereinigung des Verhältnisses zu den vormals unter russischem Einfluss stehenden osteuropäischen Staaten. Wenn es gelang, insbesondere zu Polen und Tschechien ein besseres Verhältnis aufzubauen, konnten die USA jene Länder nicht mehr in ihrer Kampagne gegen ein engeres Verhältnis zwischen der EU und Russland instrumentalisieren, um insbesondere Deutschland daran zu hindern, über die Rohstoff- und Energiezusammenarbeit hinaus ein stärker partnerschaftliches Verhältnis zu Russland zu entwickeln. Seit langem fordert die Deutsche Energie-Agentur GmbH „Kooperation durch Verflechtung“, d.h. über den Rohstoff- und Energiehandel hinaus eine intensivere Zusammenarbeit in Industrie und Dienstleistung (Stephan Kohler, Kalter Krieg und Energie, Tagesspiegel, 24.9.2008, Walther Stützle, Russland muss an den Tisch, Frankfurter Rundschau, 2.4.2009). Selbst der ehemalige russische Präsident Gorbatschow erinnerte die EU nochmals an die notwendige stärkere Einbindung Russlands: „Europa kann nur dann zu einem starken Global Player werden, wenn es wirklich allen Europäern, im Osten und Westen, eine gemeinsame Heimat wird.“ (Frankfurter Rundschau, 6.11.2009). Im Zusammenhang mit der Raketenabwehr erinnerte auch Gernot Erler im Jahre 2012 nochmals an die Versäumnisse der Vergangenheit, als er fragte: „Warum hat der Westen das Angebot von Medwedew, in einen umfassenden Dialog über eine Euroatlantische Sicherheitsarchitektur einzutreten, ins Leere laufen lassen, um jetzt tatenlos zuzusehen, wie schon zum zweiten Male das Thema Raketenabwehr zu einem ernsthaften Konflikt zwischen USA, Nato und Moskau heranwächst? Warum wird die Bundesregierung hier nicht aktiv, obwohl Deutschland mit der Kommandozentrale in Rammstein bei diesem Konflikt in der vordersten Frontlinie stehen wird?“ (Frankfurter Rundschau, 7.5.2012). Erler erwähnte nicht die alleinige Souveränität der USA über Rammstein als Folge des weiterhin existierenden Truppenvertrages mit den USA, der Teile des Besatzungsstatut aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unbefristet verlängert. Was das jedoch für den Aufbau des Raketenabwehrsystems (Kommandozentrale in Rammstein und Stationierung der Raketen in Polen, Rumänien und auf Schiffen im Mittelmeer) bedeutet, zeigte bereits Christopher Ziedler auf, als er über die Machtvertikale innerhalb der Nato schrieb: „Entweder die europäischen Nato-Staaten machen mit oder bekommen ein US-System vorgesetzt.“ (Tagesspiegel, 23.4.2010).
Einsichtsfähiger als zuvor zeigte sich die amerikanische Führung erstmals, nachdem der Transport von militärischen und zivilen Gütern nach Afghanistan über pakistanisches Territorium immer unsicherer wurde und zentralasiatische Staaten für die Errichtung von Stützpunkten gewonnen werden mussten. Zum Stützpunkt in Kirgisistan konnte man jedoch zu Lande nur über Russland und das angrenzende Kasachstan gelangen. Zur Versorgung der Nato-Truppen öffnete das direkt an Afghanistan angrenzende Nachbarland Kirgisistans, Tadschikistan, im Januar 2009 einen Transitweg. „US-Kommandeur David Petraeus hatte zuvor gesagt, die Nato habe mit Kasachstan und Russland bereits eine Einigung erzielt.“ (Frankfurter Rundschau, 22.1.2009). Deren Zustimmung erreichte man jedoch nur mit Gegenleistungen, wozu unter anderem z.B. der Abschluss des Start-Abkommens über strategische Abrüstung zwischen den USA und Russland zählte (Klaus-Dieter Frankenberger, Was Russland braucht, Frankfurter Allgemeine, 17.9. 2010).
Bezogen auf die der iranischen Führung von den USA unterstellte Entwicklung von Atomwaffen, der man mit einem erzwungenen oder von außen unterstützten Regimewechsel begegnen möchte, und auf den immer mehr in einen Bürgerkrieg ausartenden Konflikt in Syrien wurde deutlich, dass die USA bis in die Gegenwart an einem Containment Russlands wie Chinas arbeiten und die Europäische Union mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln (militärisch, ökonomisch und finanziell) ins gemeinsame Boot holen wollen. Warum lassen sich die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU immer wieder von den USA in eine Konfrontation mit Russland und China hinein manövrieren? Gelingt ein Regimewechsel in Syrien, muss Russland wahrscheinlich seinen letzten am Mittelmeer liegenden militärischen Stützpunkt aufgeben.
Für das Assad-Regime gilt jedoch wie für alle diktatorisch regierenden Machthaber im Nahen Osten (Saudi-Arabien, Bahrain, Iran, Sudan, einige Emirate): in ihrem Allmachtsglauben unterschätzen sie den massiven Einfluss der heutzutage verfügbaren Kommunikationsmöglichkeiten, die dank technologischer Entwicklungen alle Grenzen leicht überwinden. Durch diktatorische Maßnahmen erzeugte Unzufriedenheit in der Bevölkerung kann zusätzlich von außen entflammt und kanalisiert werden.
Der Irak könnte künftig sowohl von der Türkei wie von Syrien aus in die Zange genommen werden und gezwungen sein, die Bindungen an den Iran zu kappen. Die Einkreisung des Irans wäre mit den drei Ausnahmen an den Grenzen zu Armenien, Turkmenistan und (über das Kaspische Meer) zu Russland perfekt. In der Versorgung mit Öl weist die us-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton die bisherigen Abnehmer iranischen Öls darauf hin, dass Saudi-Arabien und die Emirate ihre Förderungsmenge erhöhen können. Das feudale und demokratiefeindliche Regime Saudi-Arabiens stand noch nie im Blickpunkt us-amerikanischer Menschenrechts- und Demokratiepolitik und der Einmarsch saudischer Truppen in Bahrain wurde zwar nicht gerechtfertigt, aber weitgehend von den im Falle Syriens so stark um die Menschenrechte besorgten USA und Europäern mit Stillschweigen übergangen. Ob und wie viele Menschen in Syrien schon oder künftig noch durch Waffen getötet werden, die von Saudi-Arabien und den Emiraten finanziert und mit Hilfe der CIA nach Syrien über die Türkei eingeschleust werden, zählt in der medialen Öffentlichkeit weit weniger als die Menschen, die von der syrischen Armee und Milizen bereits jetzt und in den weiter aufflammenden Gefechten noch dem Tod ins Auge sehen müssen. Sollte es den USA gelingen, den ölreichen Nahen Osten wieder völlig zu kontrollieren, wird der Druck auf die zentralasiatischen Republiken, sich dem Einfluss der USA zu öffnen, wieder zunehmen. Die dauerhafte Stationierung us-amerikanischer Truppen in Afghanistan dient – wie schon erwähnt – auch diesem strategischen Ziel. Wenn Menschenrechtspolitik und Empörung über Gräueltaten der Durchsetzung von Interessen dienen, ist Vorsicht angesagt.
Die Eindämmung Chinas wird aller Wahrscheinlichkeit nach am Konflikt im südchinesischen Meer ansetzen und könnte zu einem späteren Zeitpunkt dazu führen, dass europäische und japanische Unternehmen ultimativ von den USA aufgefordert werden, wie im Falle Irans ihre Geschäftsbeziehungen mit China einzuschränken und später ganz aufzugeben. Als schwachen Ersatz für die ausfallenden Exportmärkte würde man womöglich den vielleicht dann wieder etwas aufnahmefähigeren US-Markt anbieten.
Der Druck auf den Euro und die Verschärfung der Schuldenkrise südeuropäischer Euro-Länder bewirkt eine Schwächung Kontinentaleuropas und könnte, wenn keine Lösungen gefunden werden, den USA und Großbritannien zur Wiedererlangung der Dominanz ihrer anglo-amerikanischen Hegemonie verhelfen, einschließlich erneuter vom Finanzkapital erzeugter globaler Krisen und einer noch mächtigeren Position des militärisch-industriellen Komplexes der USA.
Dieser – insgesamt für die kontinentalen Staaten Europas – abträglichen Entwicklung kann wirksam begegnet werden, wenn die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU ihre Selbständigkeit stärker als bisher erkennen, die strategische Partnerschaft mit Russland durch eine industrielle Verflechtung ergänzen, zugleich chinesischen Investitionen im Euroraum keine Steine in den Weg legen und mit allen verfügbaren Mitteln darum kämpfen, die Banken- und Staatsschuldenkrise in den Griff zu bekommen. Denn eines ist klar: Der nordamerikanische Kontinent und die als „Flugzeugträger“ der USA dienende Insel Großbritannien verlieren an Stärke, wenn sich die Staaten Kontinentaleuropas und Asiens auf ihre gemeinsamen Interessen verständigen und Russland als Rohstoff- und Energielieferanten sowie als industriell potentes Scharnier voll einbinden. Die russische Führung ist sich der Brisanz der Entwicklung übrigens bewusst. Sie hat sich dafür ausgesprochen, den prozentualen Anteil des Euros an ihren Devisenreserven, der nach Putin ungefähr 50 Prozent ausmacht, beizubehalten.
Sollten allerdings Machteliten einiger westeuropäischer Staaten immer noch – wie vor dem ersten Weltkrieg und in den darauf folgenden zwanziger Jahren – stillschweigend eine Politik der Eingrenzung Deutschlands favorisieren (Aufforderung des französischen Präsidenten Mitterrand an die USA im Jahre 1990, zur Sicherheit Frankreichs weiterhin Truppen in Deutschland zu stationieren), würden sie dazu beitragen, dass Europa in der multipolaren Machtstruktur der Zukunft eine immer unbedeutendere Position einnimmt. Sehr erfreulich wäre, wenn sich diese Annahme als unbegründet erweisen sollte.
Endnoten1Darauf verweist auch Roland Götz in „Kapitalflucht aus Russland – Eine Gefahr für die Volkswirtschaft, in Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.83-94): „Kapitalflucht ist ein schneller Abzug von Kapital aus einem Land, in dem es gefährdet ist, in andere Länder, wo die Gefährdung geringer ist.“(ebd.S.86). Jedoch wird bei der simplen Gleichsetzung von Nettokapitalabfluss und Kapitalflucht übersehen, dass Russland als Rohstoffexporteur zugleich ein Kapitalexportland sein muss. Nicht jeder Kapitalabfluss ist mit Kapitalflucht gleichzusetzen. Verzeichnet ein Land z.B. positive Investitionsanreize, können inländische Banken normalerweise genügend Kapital zur Verfügung stellen.
2„Mit der Jackson-Vanik-Klausel waren 1974 Einschränkungen für den Handel mit der UdSSR eingeführt worden. Die Ursache für deren Billigung war das Fehlen der Reisefreiheit in der Sowjetunion. Seit 1989 beschließt der US-Kongress jährlich ein Moratorium über die Wirkung der Klausel, offiziell bleibt sie allerdings weiterhin in Kraft.“(ebd.).
3Nicht ganz so prononciert aber dennoch in die gleichen Richtung weisend erschallte es auf deutscher Seite in politikwissenschaftlichen Instituten der Universitäten (z.B. der Freien Universität Berlin), in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) (ausgenommen Alexander Rahr, der inzwischen die DGAP frustriert verlassen hat), dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), und wissenschaftlichen Beraterstäben in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ganz zu schweigen von der letztlich kontraproduktiven Einseitigkeit in der Berichterstattung führender Zeitungen und Journale.
16. Juli 2012
Reinhard Hildebrandt
Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten –
eine Konferenz in Berlin
„Coping with Transatlantic Divergence – Exploring Common Solutions: Missile Defense, Russia, and the Middle East“ (zu deutsch etwa „Leben mit der transatlantischen Divergenz − Suche nach gemeinsamen Lösungen: Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten“) − so lautete der komplizierte Titel der dritten Transatlantischen Konferenz, die von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt sowie der Friedrich Ebert Stiftung Berlin organisiert war. Die Tagung fand am 24./25.Juni in Berlin − parallel zur Nahost-Konferenz des Außenministeriums − in den Räumen der Hessischen Landesvertretung statt. Unter dem nüchternen Thema kamen höchst brisante Themen zur Sprache, die im folgenden Artikel zusammengefasst und kommentiert werden.
1. Einleitende Bemerkungen
Die zweitägige Konferenz beschäftigte sich mit der Frage, auf welche Weise Raketen zur Verteidigung eines Landes eingesetzt werden und wie wirksam die dadurch gewonnene Sicherheit ist. Zur Debatte stand, welche zusätzliche Sicherheit für die USA und Europa durch die Stationierung von Abfangraketen in Polen gewonnen werden kann und gegen wen die Raketen gerichtet sind. Diskutiert wurden außerdem die dadurch in Fragen der Sicherheit innerhalb des transatlantischen Verhältnisses entstehenden Differenzen und wie man sie bewältigt.
Die vier programmatischen Reden und die ihnen folgenden Diskussionsrunden basierten auf dem Erfahrungshintergrund der raketengestützten Angriffs- und Verteidigungssysteme des Ost-West-Konflikts. Daraus leiteten die Redner ihre Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Raketendebatte ab. Eine Detailanalyse des Ost-West-Konflikts fand jedoch nicht statt. Sie wäre notwendig gewesen, um die mit der gegenwärtigen Neuauflage des Konflikts verknüpften Probleme besser in den Griff zu bekommen. Zusätzlich zur Konferenzdiskussion wird deshalb im hier folgenden kommentierenden Bericht zunächst der Aktions- und Reaktionsmechanismus beschrieben, der im Ost-West-Konflikt das Sicherheitsdenken dominierte.
2. Raketengestütztes Sicherheitsdenken im Ost-West-Konflikt
Bis zum Verlust der atomaren Unverwundbarkeit im Jahre 1959 besaßen die USA eine gesicherte Erst- und Zweitschlagkapazität, während die Sowjetunion mit der Entwicklung von Interkontinentalraketen erstmals zu einem Angriff auf die USA ausholen konnte. Bis zum Beginn der amerikanischen Satellitenaufklärung im September 1961 stand der Sowjetunion sogar kurzzeitig eine geringe Zweitschlagkapazität zur Verfügung. Nach der Versenkung ihrer Raketen in Silos und dem Übergang zu Feststoffraketen gewann sie diese Kapazität im Jahre 1963 zurück.
In den folgenden Jahrzehnten kämpften die Kontrahenten stets um die Beibehaltung ihrer gesicherten Zweitschlagkapazität, wobei im Wettrennen um die höchstmögliche Zerstörungsfähigkeit mit dem Ziel eines Entwaffnungsschlags und verknüpft mit dem Versuch, die Zerstörung des eigenen Territoriums durch gegnerische Waffen möglichst gering zu halten, waren die USA immer darauf bedacht, ihren Vorsprung zu bewahren. Den nächsten Schritt im Aktions- und Reaktionsmechanismus leiteten deshalb zumeist die USA als erste ein. Im Rüstungswettlauf trieben sich beide Seiten mit zunehmender Zielgenauigkeit ihrer Raketen, dem Einsatz von Mehrfachsprengköpfen, der unverwundbaren Stationierung von Raketen zu Lande und auf dem Wasser, der Entdeckung von Überraschungsangriffen durch Beobachtungssatelliten und dem Streben nach kürzeren Vorwarnzeiten durch den Einsatz von Mittel- und Kurzstreckenraketen sowie Cruise Missiles und der Zerstörung des Angreifers durch zielgenaue Abfangraketen auf die jeweils nächsthöhere Stufe des Aktions- und Reaktionsmechanismus voran. In ihrem Ringen um die wirksamste Erst- und Zweitschlagkapazität bis hin zum Entwaffnungsschlag ging es immer darum, das Vernichtungsrisiko des Gegners gravierend zu erhöhen, so dass er vom Einsatz seiner eigenen Raketenstreitmacht Abstand nahm und − spieltheoretisch betrachtet − in Konfliktkonstellationen lieber einen für ihn ungünstigen Kompromiss akzeptierte als auf der Eskalationsleiter mit ungewissem Ausgang immer weiter voranschreiten zu müssen.
Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte jedoch eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Diese für eine duale Hegemonie ausschlaggebende Konstellation steht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht − nur durch den eigenen Willen begrenzt. In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren demnach beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potenzial an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. Da beide Seiten zu keinem Zeitpunkt exakt einschätzen konnten, welcher Handlungsspielraum für einen selbst und dem Kontrahenten tatsächlich zur Verfügung stand, führte das hohe Maß an Unsicherheit dazu, dass sie trotz härtester Konkurrenz zugleich ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der fragilen geopolitischen Stabilität und damit ihrer dualen Hegemonie entwickelten. Dieses Interesse trat insbesondere an geopolitischen Orten zutage, an denen unbedachte Schritte zu unkontrollierbaren Folgen führen konnten, wie z.B. zwischen West- und Ostberlin oder auf den Transitrouten durch die DDR, oder wenn nachgeordnete Mächte beabsichtigten, kurzzeitig in der etablierten Sicherheitsarchitektur des Ost-West-Konflikts auftretende ungeklärte Schwebezustände zum eigenen Vorteil zu nutzen (z.B. Emanzipationsbestrebungen vorwiegend der Westeuropäer im Gefolge des für die USA ungünstig ausgehenden Vietnamkrieges).
Im Widerspruch zum immer vorhandenen gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der geopolitischen Stabilität (Sicherheitsarchitektur) handelten beide Mächte zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen. Die USA betrachteten ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivalen, während sie sich selbst als obersten Verteidiger der Freiheit dekorierten. Die Sowjetunion trat als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse auf und unterstellte den USA feindlichste Absichten gegen den Rest der Menschheit. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, handelten sie im Sinne eines Nullsummenspiels. Sie kümmerten sie sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwendige Erhaltung der geopolitischen Stabilität und verschoben statt dessen − gedankenlos − die Grenzlinie zwischen den für beide Seiten verfügbaren Handlungsoptionen zuungunsten des jeweils anderen. Die Sowjetunion war kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts mit der Situation konfrontiert, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration. Jedoch auch die USA mussten − wenn auch erst einige Jahre später − akzeptieren, dass das Ende der dualen Hegemonie zugleich auch ihren hegemonialen Anspruch untergraben hatte.
2.1. Rüstungs- und Abrüstungsintentionen
Stellt man nach dieser notwendigen Erinnerung zum Verlauf des Ost-West-Konflikts die Frage nach der positiven oder negativen Einschätzung des Einsatzes von Raketen, fällt die Antwort zwiespältig aus. Die Freude der US-amerikanischen und sowjetischen Rüstungsindustrie fiel überschwänglich aus. Fast vierzig Jahre lang war es beiden gelungen, mit dem warnenden Hinweis auf den bereits nahezu uneinholbaren Vorsprung des Gegners die jeweils eigene Regierung zu Erhöhung des „Verteidigungs“haushalts zu bewegen.
- Rüstungsaufträge federten insbesondere in den USA die Kalkulation der parallel stattfindenden zivilen Forschung des in privater Hand befindlichen militärisch-industriellen Komplexes durch staatlich garantierte hohe Gewinnmargen ab und sorgten für die Auslastung der Kapazitäten selbst dann, wenn die konjunkturelle Entwicklung rückläufig war. Für den militärisch-industriellen Komplex der USA schien selbst Reagans „Krieg der Sterne“ noch ein großer Gewinn zu werden, obwohl erste Anzeichen darauf hindeuteten, dass die Modernisierung der Infrastruktur schon damals vernachlässigt wurde und immer weniger sogenannte Abfallprodukte der Militärtechnologie ihren Eingang in die heimische zivile Produktion fanden. Eine große Ausnahme bildete nur die Informationstechnologie, die ihren sinnfälligen Ausdruck im zunächst für militärische Zwecke entwickelten Internet fand, sowie die Eroberung des erdnahen Weltraums einschließlich der damit verbundenen Entwicklung satellitengestützter Navigationssysteme. Die aus dem Rüstungsvorsprung lange Zeit resultierende Vorreiterrolle für die gesamte Technologieentwicklung schrumpfte jedoch insbesondere gegenüber den europäischen und japanischen Mitbewerbern auf dem Weltmarkt immer mehr zusammen.
- Für die wirtschaftlich schon am Boden liegende Sowjetunion hingegen stellte sich bereits zu Beginn des Antiraketenprogramms der USA (Reagans Krieg der Sterne) die Frage, wie lange sie noch ihre zunehmend marode Infrastruktur sowie die Produktion von zivilen Gütern zugunsten des militärischen Nachholbedarfs benachteiligen wollte. Am Ende des Ost-West-Konflikts rangierte sie in der zivilen Technologie bereits auf einem Platz, der industriell eher wenig entwickelten Volkswirtschaften zukam. Ein weiteres Auseinanderklaffen des militärisch-industriellen Komplexes mit dem der Produktion von zivilen Gütern war absehbar und die Kosten für die Nachrüstung würden ins Unermessliche steigen. Am Ende war noch nicht einmal sicher, ob sowjetische satellitengestützte Beobachtungssysteme ausreichend exakt und die stationierten Abfangraketen zielgenau und schnell genug sein würden, um gegnerische Raketen frühzeitig zu entdecken und zu zerstören. Ihr amerikanischer Kontrahent stand zwar vor den gleichen Problemen. Sollte aber das satellitengestützte Raketenabwehrprogramm der USA scheitern, zerbräche daran nicht sofort die Wirtschaft der USA. Die negativen Folgen kämen erst mit längerer zeitlicher Distanz zum Vorschein.
2.2. Sinnlosigkeit des Aktions- und Reaktionsmechanismus
Die mit der Installation von Raketen und Antiraketen intendierte Abschreckung bzw. Einschüchterung des Gegners erfüllte immer nur vorübergehend die ihr zugedachte Rolle, denn nach jeder Aktion der einen Seite folgte die Reaktion der anderen. Sowjetische Aufholeffekte vernichteten regelmäßig die zunächst herausgeholten Vorsprünge der USA. Verteidigungsanstrengungen auf der Basis des Einsatzes von Raketen waren insofern immer nur vorläufiger Natur und erzielten nicht die insgesamt mit ihnen verknüpften Hoffnungen. Dieser einfachen Abfolge von Aktion und Reaktion das Etikett der „Notwendigkeit“ umzuhängen, wie es die früheren zwei Außenminister der USA Henry Kissinger und George Shultz zusammen mit dem früheren US-Verteidigungsminister Bill Perry und dem ehemaligen US-Senator Sam Nunn propagiert haben, ist Unsinn. Im umfassenden Sinn war nukleare Abschreckung niemals „rational und notwendig“, weder als Nullsummenspiel und schon gar nicht als Handlungsweise der Kontrahenten innerhalb einer dualen Hegemonie.
Der Rüstungswettlauf zwang zwar die Sowjetunion zuerst ökonomisch in die Knie, aber den USA blieb der Niedergang ihrer Hegemonialposition ebenfalls nicht erspart. Er ereilte sie jedoch erst, nachdem viele Jahre später Präsident George W. Bush im Krieg gegen den Terror die Ressourcen der USA nachhaltig geplündert hatte und die Finanzkrise den bereits eingetretenen Glaubwürdigkeitsverlust noch verstärkte. Wie soll man den Widerspruch zwischen dem späten Eingeständnis der vier für den Rüstungs- und Abschreckungswettlauf des Ost-West-Konflikts auf amerikanischer Seite Mitverantwortung Tragenden aufklären, dass sie jetzt die Vision einer von nuklearen Waffen freien Welt als bessere Alternative zur Abschreckung propagieren und zugleich darauf beharren, dass der damals von ihnen entscheidend vorangetriebene Aktions- und Reaktionsmechanismus „rational“ und „notwendig“ gewesen sei? Welcher eigenartigen Vorstellung von Rationalität folgen sie und wie sieht ihre Begründung für notwendiges Handeln aus?
2.3. „Abrüstungserfolge“
Angesichts des für die Kontrahenten des Ost-West-Konflikts niederschmetternden Ausgangs der Raketenüberrüstung sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass der Rüstungswettlauf für beide Seiten noch kostspieliger geworden wäre, wenn es zuweilen − trotz des Klimas der irrationalen Konfrontation − nicht gelungen wäre, in Abrüstungsverhandlungen einige offensichtliche rüstungstechnische Fehlentwicklungen von vornherein zu vermeiden. Der beiderseitige völlig sinnlose „overkill“ konnte so wenigstens in Grenzen gehalten werden.
Unerreichbar blieb jedoch ein weiteres Minimalziel. Die Begrenzung atomar gerüsteter Mächte auf fünf Staaten, zugrunde gelegt und verankert im
- Teststoppabkommen aus dem Jahre 1963,
- dem Verbot der Stationierung atomarer Waffen in der Antarktis, auf dem Meeresboden sowie im Weltraum sowie insbesondere
- im Nichtweiterverbreitungsvertrag vom Jahre 1968 (Non-Proliferation-Treaty),
3. „Missile Defense“ als Mittel des globalen Hegemonieanspruchs der USA
Adj. Prof. Dr. Bernd W. Kubbig, Direktor des Internetprojekts „Ballistic Missile Defense Research“ der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, bezog sich in seinem Vortrag zur Eröffnung der Konferenz auf den globalen Hegemonieanspruch der USA und das daraus resultierende unilaterale Handeln, wie er insbesondere unter George W. Bush zu Beginn des Irakkrieges als ultimative Aufforderung zur Teilnahme an der Seite der USA („coalition of the able and willing“) formuliert worden ist.
Der Anspruch basierte technologisch auf einer Raketenabwehr, die zu einem hohen Grad jedoch noch unerprobt und nicht ausreichend getestet war. Das amerikanische „antiballistic missile system“ sollte die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten vor einer begrenzten Anzahl anfliegender Angriffsraketen aus sogenannten Schurkenstaaten wie Nordkorea oder Iran schützen, aber nach Aussage einiger Experten war und ist es auch gegen China und Russland gerichtet.
3.1. Vorgetäuschte Effektivität von US-Abfangsystemen
Kubbig unterzog sich der Aufgabe, acht Jahre nach einer entsprechenden Behauptung des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers William Cohen (vom 26. April 2000) und sechs Jahre nach der einseitigen Aufkündigung des Vertrages über Anti-Ballistic Missiles (ABM) durch die Bush-Administration, die Wirksamkeit von Abfangsystemen zu untersuchen. Cohen hatte damals erklärt: „We have a retaliatory capability that if anyone should ever be foolhardy enough to launch a missile attack of a limited or expanded nature against the Unites States, they would be destroyed in the process. That ordinarily should be a sufficient deterrent for the North Koreans, Iran, Iraq or any other country that would seek to acquire this capability.“ (ibid. S. 15). Nachdem sieben Jahre später Daniel Fried vor einem Ausschuss des amerikanischen Kongresses als Begründung für die Aufstellung von Abfangraketen in Polen anführte, die USA wollten Europa von einer atomaren Bedrohung durch Iran beschützen, fragte sich Kubbig, ob Cohen im Jahre 2000 mit seiner Behauptung wider besseres Wissen von einem umfassenden Schutz für die USA und die Verbündeten ausgegangen sei und warum der Iran ausgerechnet seinen größten Handelspartner, die Europäische Union, mit Raketen bedrohen sollte? (ibid.)
Wie brüchig die amerikanische Argumentation damals war und bis heute ist, zeigte Kubbig an einem weiteren Zitat aus dem Entwurf des Pentagons „Doctrine for Joint Nuclear Operations“ aus dem Jahre 2005 auf. Darin beschränkte sich die Abwehr von Raketen nur noch auf die Ansammlung von Streitkräften (S.17). Am 23. April 2008 mussten die USA selbst bekennen, wie unzulänglich ihre bisherigen Systeme sind. Daniel Fried sagte vor dem Unterausschuss Europa des amerikanischen Kongresses: „Preemption has its downsides, rather serious ones. So does retaliation. When I think 25 years into the future, a modest missile defense system can be deeply stabilizing. A massive defense system is probably unachievable technologically. That is, if you’re trying to defend against the Russian strategic arsenal, can’t do it. So don’t try. Against smaller threats, there’s a strong strategic argument.“ (ibid. S.18). [zu Deutsch etwa: Das Angriffsvorrecht hat seine Nachteile, sogar sehr gewichtige, wie auch ein Gegenschlag. Wenn ich 25 Jahre in die Zukunft blicke, dann sehe ich, dass eine gemäßigte Raketenabwehr sehr stabilisierend wirken kann. Ein vollständiges Verteidigungssystem ist aber wohl technologisch unereichbar. So z.B. wenn man gegen das russische strategische Arsenal sich schützen wollte; das geht so nicht. Also sollte man es nicht versuchen. Für Verteidigung gegen kleinere Bedrohungen hingegen gibt es starke strategische Argumente.]
Kubbig schlussfolgerte, die Befürworter von Antiraketensystemen könnten ihre vollmundigen Versprechen nicht bis in die Gegenwart einhalten. Er überließ es der sich anschließenden Podiumsdiskussion zwischen amerikanischen und deutschen Teilnehmern, die Unterschiede in der Beurteilung dieser Systeme aufzuzeigen.
3.2. Technische Machbarkeit und Motivation der Aufstellung von Raketenabwehrsystemen?
3.2.1. Technische Machbarkeit
Im ersten Panel zur Frage der technischen Machbarkeit eines amerikanischen Raketenabwehrsystems für Europa (Teilnehmer: Dr. George Lewis, Cornell University, Ithaca, N.Y, Dr. Timur Kadyshev, Moscow Institute of Physics and Technology, Moskau, Dr. Jürgen Altmann, Technische Universität Dortmund) wurde insbesondere von Jürgen Altmann am Beispiel der möglicherweise vom Iran auf Europa abgefeuerten Raketen veranschaulicht, welche Probleme bei der rechtzeitigen Erkennung und beim Abschuss durch Antiraketen auftauchen. In der kurzen Phase, in der Antriebsmotoren die Raketen auf ihre ballistische Bahn in Richtung Europa schießen würden, könnten deren heiße Abgase sichere Orientierungsdaten liefern. Die Stationierungsorte der Antiraketen müssten jedoch nahe genug am iranischen Territorium liegen, damit sie ihr Ziel noch in der Brennphase der Angriffsraketen aufspüren und treffen können. Ideal wäre ihre Stationierung in Aserbaidschan, wie es die russische Regierung vorgeschlagen hat. Sind erst einmal die Raketenmotoren ausgeschaltet, fliegen die Raketen auf ihrer ballistischen Bahn in großer Höhe antriebslos und deshalb kaum zu orten weiter und können erst nach ihrem Wiedereintritt in den erdnahen Luftraum von in Polen startenden Antiraketen zerstört werden. Wenn sie bereits auf ihrer ballistischen Anflugbahn Richtung Europa mehrere, selbständig Ziele ansteuernde Sprengköpfe ausgestoßen haben, sind die ihnen entgegengeschickten Antiraketen nicht in der Lage, zwischen einer Vielzahl von Attrappen und den wenigen scharfen Sprengköpfen zu unterscheiden. Es müssten also schon sehr viele, mit hoher Geschwindigkeit fliegende Antiraketen bereitgestellt werden, um das in dem Beispiel unterstellte iranische Angriffspotential wirksam auszuschalten.
Ganz anders sähe laut Altmann die Situation aus, wenn die im Osten Polens stationierten Raketen nicht gegen anfliegende iranische Raketen eingesetzt würden, sondern gegen die gegenwärtig durch keinerlei Informationen zu begründendende Unterstellung, dass Russland Angriffsraketen gegen seinen wichtigsten Handelspartner, die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und darunter insbesondere Deutschland, in Stellung gebracht hat und auch mit ihrem Einsatz droht. Nebenbei bemerkt steuern russische Angriffsraketen, die auf amerikanisches Territorium zielen, über das Nordpolargebiet und nicht über Europa hinweg ihr Ziel an. Die russische Regierung sähe sich also im Falle der amerikanischen Antwort auf die Russland unterstellte Vermutung genötigt, in Vereinbarungen mit der weißrussischen Regierung gleich hinter der polnischen Grenze ebenfalls Antiraketen zu stationieren, um die kurze Brennphase der amerikanischen Antriebsmotoren für ihre Früherkennung und sichere Vernichtung zu nutzen. Außerdem wüsste sie nicht, ob den anfänglich stationierten Abfangsystemen nicht still und heimlich die Stationierung zielgenauer, bunkerbrechender amerikanischer Angriffsraketen folgt. Ob es sich zunächst um amerikanische Antiraketen handelt oder später um Angriffsraketen, der Luftkampf würde sich über polnischem Territorium abspielen und hätte unter Umständen verheerende Folgen für die dort ansässige Bevölkerung. Selbst eine polnische Regierung unter der Regie der beiden Kaczyński-Brüder wäre wahrscheinlich nicht in der Lage, die negativen Auswirkungen zu akzeptieren, sie der bedrohten Bevölkerung zu erklären und ihr plausibel zu machen, dass sie mit ihrem Leben für die ausschließlich im Interesse der USA in ihrer Nähe stationierten Raketen bezahlen soll. Keine von amerikanischer Seite angebotene Vergünstigung in der Ausstattung der polnischen Armee mit amerikanischen Waffensystemen würde wahrscheinlich lukrativ genug erscheinen, um der bedrohten Bevölkerung als Ausgleich für ihre potenzielle Vernichtung dienen zu können. Sie ist ja auch mehrheitlich gegen eine Stationierung. Ebenso dürfte die Europäische Union einen eventuellen Alleingang Polens als unfreundlichen Akt ansehen, durch den ihr Verhältnis zu Russland ohne ausreichenden Grund massiv beeinträchtigt wird. Die bereits erfolgte Zustimmung der tschechischen Regierung für die Stationierung eines amerikanischen Radarsystems ist unter dem gleichen Blickwinkel zu betrachten. Sie läuft ebenfalls Gefahr, das Gesamtinteresse der EU zu missachten und dient letztlich auch nicht dem wohlverstandenen nationalen Interesse Tschechiens. Auch hier lehnt eine Mehrheit der Tschechen das amerikanische Radarsystem ab.
3.2.2. Motive der USA
Naheliegend erscheint dem Berichterstatter folgende Schlussfolgerung: Die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Antiraketen in Polen (oder wie angedeutet in Litauen, für den Fall, dass Polen sich verweigert) ist Teil der Gesamtstrategie der USA zur Wiederbelebung des Ost-West-Konflikts und verletzt die grundlegenden Interessen Europas. Die anlässlich der Unterzeichnung des US-amerikanisch-tschechischen Vertrages zur Errichtung einer US-Raketenabwehranlage am 8. Juli 2008 in Prag von der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice gewählten Worte sind ein deutliches Zeichen. Sie unterstellte Russland, in Abchasien als Aggressor gegen Georgien vorzugehen und unterschlug sowohl die bisher − nach der Zeugenaussage eines deutschen Beobachters vor Ort − sehr zurückhaltende russische Verhaltensweise und vor allem das bereits zur Zeit der Sowjetunion gespannte Verhältnis der moslemischen Bevölkerung Abchasiens zum christlichen Georgien (dazu auch Karl Grobe, Radar gegen Papiertiger, Frankfurter Rundschau 9. Juli 2008). Schon in den achtziger Jahren betonten offizielle Vertreter Abchasiens gegenüber Gästen ihre exklusiven Beziehungen zu Moskau und deuteten damit an, dass die Zugehörigkeit Abchasien zu Georgien sehr unbeliebt sei.
Die amerikanische Vorgehensweise demonstriert beispielhaft, wie schwach und teilbar die EU von der Bush-Administration eingeschätzt wird und in welcher abfälligen Weise sie Europa zum Exerzierfeld ihrer globalen Interessen machen will. Nach der bitteren Erfahrung, welche die gesamte europäische Bevölkerung im vergangenen Ost-West-Konflikt gemacht hat, verdient eine solche Politik die Ablehnung aller Europäer (einschließlich der Bevölkerung Polens und Tschechiens) und fordert das Vereinigte Königreich (U.K.) auf, deutlicher als bisher zwischen seinen atlantischen und europäischen Interessen zu unterscheiden. Keine noch so große, obgleich unbegründete, Angst vor dem wiedervereinten Deutschland und einem engen deutsch-russischen Verhältnis, das von manchen als Last für die übrigen Europäer eingeschätzt wird, rechtfertigt die Auslieferung an globale Interessen der Bush-Administration. Wer diese Ängste pflegt, hat die Architektur des alten Ost-West-Konflikts nicht verstanden und trägt zur Entfaltung einer Entwicklung bei, die Europa einer Neuauflage des alten Konflikts näher bringt.
3.3. Zurückweisung des US-amerikanischen Hegemonieanspruchs
Das zweite Panel fragte nach der militärischen Notwendigkeit einer weltumspannenden Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika, den ihr zugrunde liegenden Motiven und der Beschreibung von Bedrohungen, die danach vom Iran, Russland und China ausgehen. Nachdem der Vertreter der USA, Prof. Dr. Kenneth Moss von der National Defense University Washington D.C., alle möglichen Arten von Bedrohungen aufgezählt und erläutert hatte, denen sich die USA ausgesetzt sähen und fortgesetzt erwehren müssten, entgegneten ihm die Diskutanten auf dem Podium einhellig, dass die den Bedrohungsanalysen zugrunde liegenden Hegemonievorstellungen der USA realitätsfern seien. Die USA sollten davon abrücken und zu einer realistischen Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage gelangen. Prof. Dr. Khalid Al-Dakhil von der King Saud University forderte die USA auf, Gespräche mit dem Iran aufzunehmen und nicht in Bedrohungsszenarien zu verharren, Dr. Alexander Pikayev vom Institute for World Economy and International Relations in Moskau bezog sich in seinem Diskussionsbeitrag vor allem auf die der Raketenstationierung in Polen zugrunde liegenden Bedrohungsanalysen, aber wies sie energisch zurück. Russland bedrohe die USA nicht, sondern wünsche gute Beziehungen mit den USA. Prof. Dr. Xia Liping vom Shanghai Institute for International Studies hob ebenfalls hervor, dass China für die USA keine Bedrohung darstelle und die USA sich endlich von nicht mehr aktuellen Hegemonievorstellungen lösen sollten. China müsse wenigstens sicherstellen, dass für den Fall eines amerikanischen Entwaffnungsschlages noch eine bzw. einige Raketen unversehrt übrig bleiben. Nicht mehr und nicht weniger strebe China an. Daraus könne keine Bedrohung der USA abgeleitet werden. Paul Schäfer von der Fraktion der Linken im Bundestag erzählte von seinen Begegnungen mit iranischen Politikern anlässlich seines Aufenthalts in Teheran. Er hätte den Eindruck gewonnen, dass iranische Politiker zwar sehr selbstbewusst, aber keinesfalls selbstgerecht und selbstmörderisch seien. Der Westen sollte mit ihnen ernsthaft verhandeln und die Sicherheitslage, so wie sie sich dem Iran darstelle, in seinen strategischen Überlegungen berücksichtigen und in die Verhandlungen mit dem Iran einbeziehen.
3.4. Erhöhen US-Raketenabwehrsysteme die internationale Sicherheit?
Das dritte Panel hatte die Konsequenzen der gegenwärtigen amerikanischen Pläne für Rüstungskontrolle und internationale Stabilität zum Inhalt. Ungeachtet der vorherigen Diskussionen über die Machbarkeit eines amerikanischen Raketenabwehrsystems und der disfunktionalen Stationierung von Antiraketen in Polen gegen iranische Raketen vertrat der eine Teil der Diskutanten die Meinung, dass die Stationierung von Antiraketen in Polen in jedem Fall der Rüstungskontrolle und internationalen Stabilität diene, während der andere Teil seine Zweifel an der Richtigkeit der Raketenstationierung äußerte. Zu den Befürwortern zählte Dr. Oliver Thränert von German Institute for International Politics and Security in Berlin und Dr. Uzi Rubin, Fmr. Sen. Director for Proliferation and Technology, Israeli National Security Council, Tel Aviv. Beide betonten, dass Verhandlungen über Rüstungskontrolle an der Stationierung von Antiraketen in Polen nicht scheitern müssten. Nicht nur Wirtschaftssanktionen gegen den Iran seien geeignet, der iranischen Führung vor Augen zu führen, wie risikoreich die Pläne der (dem Iran unterstellten) atomaren Aufrüstung seien. Zwar unausgesprochen, aber dennoch im Hintergrund präsent war die Mahnung an die russische Führung, angesichts der Stationierung von Antiraketen in Polen und der daraus folgenden negativen Implikationen für Russland den westlichen Sanktionen gegen den Iran nicht mehr nur verbal zuzustimmen, sondern Taten folgen zu lassen.
Juri Schneider vom Prague Security Studies Institute in Prag gehörte zur zweiten Fraktion. Er sprach sich vehement gegen den Bau von Radaranlagen in Tschechien und die Stationierung von Antiraketen in Polen aus, befürwortete aber Rüstungskontrollverhandlungen und die Einhaltung des Nichtweiterverbreitungsvertrages für Atomwaffen.
3.5. Wie wirksam sind Antiraketensysteme gegen den Katjuscha-Raketenwerfer und Mittelstreckenraketen?
Das vierte Panel beschäftigte sich mit der Sicherheitsproblematik auf regionaler Ebene (Iran, Hamas und Hezbollah) und suchte nach Antworten auf die Frage, ob Antiraketen gegen Kurzstreckenraketen wirksam eingesetzt werden können. Uzi Rubin, vielleicht bereits in Kenntnis israelischer Tests zur Raketenabwehr von primitiven Kurzstreckenraketen (Katjuscha-Raketenwerfer) und Mittelstreckeraketen mit Mehrfachsprengköpfen, vertrat die Auffassung, dass man Raketenangriffen aus dem Gazastreifen oder von Libanon und dem Raketenbeschuss aus dem Iran künftig wirksam begegnen könne, während sein israelischer Kollege Pedatzur die Entwicklung solcher Abwehrsysteme als nicht realisierbar ansah. Pedatzur hielt Rubin die primitive Machart von Katjuschas entgegen, die in sehr großer Anzahl hergestellt und von Gaza oder dem Libanon aus auf die Grenzgebiete Israels abgeschossen werden könnten. Werde Israel mit Mittelstreckenraketen angegriffen, die kurz vor ihrem Wiedereintritt in die erdnahe Luftschicht eine Vielzahl von Attrappen und scharfen Sprengköpfen ausstoßen könnten, gäbe es dagegen keine wirksame Verteidigung. Die aus diesen unterschiedlichen Betrachtungsweisen resultierenden Antworten auf Raketenangriffe waren eindeutig. Der eine befürwortete eine harte Haltung gegenüber Iran, Hamas und Hezbollah, während der andere den Verständigungsfrieden mit den Nachbarn Israels suchte. Ob Israel in der Zwischenzeit tatsächlich ein wirksames Abwehrsystem gegen Raketenangriffe entwickelt hat, wird erst die Zukunft zeigen. Die bloße Ankündigung zielt entweder auf Einschüchterung oder erwünscht sich vielleicht eine panikartige Reaktion, in der die Führer von Hamas den momentanen Waffenstillstand nicht mehr gegen Untergruppen durchsetzen können.
4. Keynote Speeches
Vor und zwischen den Panels hielten Dr. Hans Blix, Fmr. Director General, IAEA, und Frm. Minister for Foreign Affairs, Kingdom of Schweden, Stockholm, H.H. Prince Torki M. Saud Al-Kabeer, PhD., Deputy Minister for Multilateral Relations, Kingdom of Saudi Arabia, Riyadh, und Dr. Mohammed Javad A. Larijani, Fmr. Debuty Foreign Minister of the Islamic Republic of Iran und Director of the Institute for Studies in Theoretical Physics and Mathematics, Keynote Speeches.
4.1. Hans Blix: Abrüstungsvisionen und die Aussicht auf eine von Massenvernichtungswaffen freie Zone im Nahen Osten
Blix betonte die positiven Effekte der zunehmenden Interdependenz und ökonomischen Integration zwischen Japan und China, Europa und Russland. Dadurch werde die Versuchung, in den gegenseitigen Beziehungen auf Bedrohungsszenarien und den Einsatz militärischer Mittel zurückzugreifen, reduziert. Die beteiligten Mächte hätten begriffen, dass militärische Konfrontation nicht förderlich ist für ihr weiteres Zusammenwachsen. Mit nachdrücklichem Verweis auf die Sicherheitsdoktrin der USA erwähnte er jedoch pessimistische Stimmen, die insbesondere in Ministerien der Verteidigung beheimatet seien und aus deren Sicht die Entsendung von Kriegsschiffen und Flugzeugen immer als Option zur Bekämpfung von Konflikten vorgehalten werden müsse. Auf indirekte Weise sprach Blix damit die hegemonialen Bestrebungen der USA an, mittels einer neuen Containmentstrategie die Strukturen des vormaligen Ost-West-Konflikts wieder zu beleben und Russland und China aus der sogenannten Liga der Demokratien auszuschließen. Im Gegensatz dazu strebte Blix eine Politik der aktiven Kooperation an, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts für einige Jahre betrieben wurde (z.B. beim Verbot chemischer Waffen im Jahre 1993). Nach dem ersten Dämpfer im Jahre 1998 durch die Zurückweisung des Atomteststopp-Abkommens im amerikanischen Senat sei sie nach dem 11.9.2001 ganz aufgegeben und von einer Politik der Überlegenheit US-amerikanischer militärischer Macht abgelöst worden, die ihren prägnanten Ausdruck im − internationales Recht verletzenden und ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats begonnenen − gegen den Irak geführten Krieg gefunden hätte. Inzwischen sei jedoch das Vertrauen in die militärische Überlegenheit sowohl im Irak wie im Libanon verloren gegangen und die Vereinten Nationen seien gestärkt aus der Entwicklung hervorgegangen. Als Beispiele führte er die Verhandlungen mit Nordkorea und dem Iran an, setzte jedoch im Falle des Irans ein vorsichtiges „Bisher“ hinzu.
Blix gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass mit den vorbereitenden Verhandlungen zur Verlängerung des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) im Jahre 2010 erneut eine Periode der aktiven Kooperation beginnen könne. Voraussetzung sei, dass die auf Bush folgende neue amerikanische Administration sich aufgeschlossener zeige, bereit sei, die gegenwärtig vergifteten amerikanisch-russischen Beziehungen zu verbessern und die Verhandlungen mit Nordkorea und dem Iran erfolgreich abgeschlossen werden können. Noch viel wichtiger sei, dass die atomar gerüsteten Staaten endlich mit der Reduzierung ihrer Waffenarsenale begäinen. Nur dann gingen sie mit gutem Beispiel für den Besitz von Atomwaffen voran.
Als Ratschlag gab er den Politikern auf den Weg, die europäische Strategie gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen aus dem Jahre 2003 zu beherzigen. Darin heiße es: „The best solution to the problem of proliferation of WMD is that countries should no longer feel they need them. If possible, political solutions should be found to the problems, which lead them to seek WMD. The more secure countries feel, the more likely they are to abandon programs …“. [zu Deutsch etwa: Die beste Lösung des Problems der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist, wenn Länder nicht mehr meinen, dass sie diese bräuchten. Wenn möglich, sollten politische Lösungen für die Probleme gefunden werden, welche Länder dazu bringen, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Je sicherer sich die Länder fühlen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Abrüstungsprogrammen zustimmen.]
In diesem Sinne solle man, so Blix, den israelisch-arabisch/iranischen, den nordkoreanisch-amerikanischen und den indisch-pakistanischen Konflikt entschärfen. Im Falle Israels könne man Israel als Gegenleistung für die Abschaffung israelischer Atomwaffen die Nato-Mitgliedschaft anbieten, so dass der gesamte Nahe Osten atomwaffenfrei und der Iran alle eventuellen Bestrebungen nach Atomwaffen aufgeben könne.
Blix kam abschließend zu folgenden Schussfolgerungen:
Wenn man vom Iran nicht mehr das Ende der Urananreicherung fordere, bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen, die Belieferung mit angereichertem Uran für die zivile Atomwirtschaft garantiere, seine Unterstützung für den Beitritt des Irans zur WTO verspreche, Investitionen im Iran vornehme und die bestehenden Sanktionen aufhebe, sei man einer friedlichen Lösung des Konflikts näher gekommen. Blix wunderte sich darüber, dass man gegenüber dem Iran bisher als Gegenleistung für den Verzicht auf nukleare Anreicherung keine Garantie abgegeben habe, ihn künftig nicht anzugreifen und keinen Regimewechsel herbeizuführen. Genau jene Garantien hätte man Nordkorea gegeben, um Nordkorea von der Produktion von Atomwaffen abzubringen. Blix beendete seine Ansprache mit der Feststellung, er verstehe nicht, dass man alle diplomatischen Bemühungen als bereits ausgeschöpft erklären könne, bevor man nicht auch diese Garantien auf den Verhandlungstisch gelegt habe. So naheliegend seine Forderung auch ist, scheint Blix hier zu übersehen, dass die geographische Lage Nordkoreas nicht vergleichbar ist mit derjenigen des Iran. China kann außerdem gegenüber dem nordkoreanischen Regime auf eine erhebliche Zahl von Druckmitteln zurückgreifen.
Das Ende aller amerikanischer Bestrebungen nach einem Regimewechsel im Iran würde bedeuten, darauf zu verzichten, im Iran ein USA-freundliches Regime nach dem Muster des Schahs zu etablieren, das den USA den Zugriff auf die iranischen Erdöl- und Erdgasvorkommen offeriert (wie jetzt bereits von der irakischen Regierung gefordert). Außerdem wäre es das Ende für alle amerikanische Versuche, über iranisches Territorium Zugang zu den zentralasiatischen Öl- und Gaslagerstätten zu erhalten. Blix scheint den bisher trotz aller Niederlagen ungebrochenen Anspruch der Bush-Administration auf Aufrechterhaltung einer hegemonialen Position zu unterschätzen.
4.2. H.H. Prince Torki M. Saud Al-Kabeer: Eine gemeinsame Sicherheitsstrategie für den und im Nahen Osten bzw. in der Golfregion
Bereits vor dem Vortrag verdeutlichten anwesende Vertreter Saudi Arabiens die arabische Grundposition im arabisch-israelischen Konflikt. Ihrer Ansicht nach wäre es möglich, den Teufelskreis von „Vertreibung der Vertreiber, der Vertriebenen durch die Vertriebenen“ mit einer gemeinsamen arabisch-israelischen Sicherheitsstrategie zu durchbrechen. Die Grundposition lässt sich in folgenden Sätzen zusammenfassen:
Nach der Jahrhunderte zurückliegenden Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat und der Besiedelung der entleerten Gebiete durch Araber, deren Nachgeborene nicht für die Vertreibung der Juden verantwortlich gemacht werden können, rechtfertige auch das entsetzliche Verbrechen an den Juden in Nazideutschland (Holocaust) nicht die Errichtung eines rein jüdischen Staates, aus dem Teile der angestammten Bevölkerung unter Zwang vertrieben wurden, andere freiwillig gingen und einige des im Lande verbliebenen Teils über einen minderen gesellschaftlichen Status klagen. Akzeptabel und human wäre es gewesen, ein Zusammenleben der angestammten mit der zugewanderten Bevölkerung in einem Staat zu organisieren, der von beiden Gruppen gemeinsam und einvernehmlich getragen wurde und Jerusalem zur Hauptstadt erklärte.
(Das dies möglich gewesen wäre, beglaubigten noch im britischen Protektorat Palästina geborene Juden. Zum Beispiel zeigten sich einige unter ihnen unmittelbar nach dem Sechstagekrieg im Jahre 1967 entsetzt über die nunmehr Platz greifende Auffassung unter ihren Mitbürgern, dass ein Zusammenleben mit den Arabern niemals mehr möglich sein werde. Für sie war damit der Weg eines andauernden Zerwürfnisses mit bitteren Folgen für Israelis und Araber vorgezeichnet.)
Vor dem Hintergrund der arabischen Grundposition entwarf Prince Torki M. Saud Al-Kabeer eine Sicherheitsstrategie, die Israelis und Palästinenser über ein Nebeneinander zum Miteinander führt. Aus einem friedlichen Nebeneinander von Israel und Palästinensischem Staat könne jedoch nur dann ein gemeinsamer Staat werden, wenn der noch zu gründende palästinensische Staat lebensfähig sei und Israel seine Siedlungspolitik bis zu den Grenzen von 1947 zurücknehme. Die fortdauernde Einverleibung palästinensischen Gebietes in das Stadtgebiet von Jerusalem sei der Todesstoß für jede gemeinsame Sicherheit. Für Prince Torki M. Saud Al-Kabeer hätte eine dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts Signalcharakter für die gesamte Golfregion.
4.3. Mohammed Javad A. Larijani: Wege zu einer sinnvollen Interaktion zwischen dem Iran und dem Westen
Larijani bezog sich während seiner umfangreichen Ausführungen über die iranische Politik, die auf den fünf Grundwerten der Pancasila
- Nationalismus,
- Humanismus/Internationalismus,
- Beratung,
- Soziale Wohlfahrt,
- Prinzip der all-Einen göttlichen Herrschaft
Das Existenzrecht der israelischen Bevölkerung darf danach nicht verwechselt werden mit dem beanspruchten Existenzrecht eines israelischen Staates. Der Holocaust kann nach dieser Grundposition nicht als Rechtfertigung für die Aufteilung von Israelis und Palästinenser in zwei unterschiedliche Staaten genommen werden. Als Irans Präsident Ahmadinedschad das Ende des israelischen Staates gefordert habe, habe er nicht den Holocaust geleugnet.
Der Newsletter der israelischen Botschaft sah in den Ausführungen Larijanis „eine Iranische Hetze gegen Israel“ (Yedioth Ahronot, 26.06.08). Die Konferenz habe ein Forum für antiisraelische Hetze geboten. Wörtlich hieß es: „Ein wirklich schlimmer Skandal… und das in der Hessischen Landesvertretung in Berlin!!!!!!!!!!“. Laut Yedioth Ahronot hätte der frühere stellvertretende Außenminister des Iran, Mohammad Javad Ardashir Larijani, „zur Annullierung des ‚zionistischen Projekts‘ aufgerufen, das in den vergangenen 60 Jahren … zu einem „fehlgeschlagenen Plan“ geworden sei, das „nur Gewalt und Grausamkeiten“ geschaffen habe.“1
Auf wen diese harsche israelische Reaktion zielte, nahm Larijani bereits in seinen Ausführungen indirekt voraus, als er seinen Eindruck nach Gesprächen mit europäischen Politikern schilderte. Wenn er mit ihnen über Konfliktlösungen spreche, hätte er jedes Mal den Eindruck, dass in ihren Hinterköpfen trotz aller Bereitschaft zum Zuhören und Durchdenken von Lösungsmöglichkeiten immer die bange Frage zirkuliere, was werden die Israelis dazu sagen? Larijani fragte sich, mit welcher Berechtigung sich Israel zum Vordenker der Europäer mache und aus welchen nicht unmittelbar einsichtigen Gründen die Europäer den Israelis diesen Status zubilligen?
Larijani forderte dazu auf, „wenigstens für eine Weile“ den paranoiden Umgang mit dem Iran auszusetzen. „Wir sind offen für Verhandlungen, aber nicht offen für Befehle“.
5. Abschlussbetrachtung
Die Konferenz zeichnete sich durch die Präsentation eines bemerkenswert hohen Maßes an Expertenwissen und den toleranten Dialog zwischen den Vortragenden untereinander sowie zwischen den Panellisten und dem Publikum aus. Im Unterschied zur Regierungskonferenz im Auswärtigen Amt nahmen an ihr auch Vertreter Syriens und des Irans teil.
Der gesamte Diskussionsverlauf war weder durch Antiamerikanismus noch durch Antisemitismus bestimmt, es sei denn, Diskussionsteilnehmer verwechselten Kritik an US-amerikanischen und israelischen Positionen mit solchen Geisteshaltungen. Zustimmung und Kritik begleitete alle vorgetragenen Positionen in der gleichen Weise. Dennoch bleibt ganz allgemein festzuhalten: Es fällt offenbar einer auf Hegemonie pochenden Macht schwerer als einer allseits Anerkannten, kritische Äußerungen nicht nur zu dulden, sondern als in sich berechtigt anzuerkennen und mit gewichtigen Gegenargumenten zu kontern. Noch schwerer fällt es offenbar Vertretern Israels, zwischen der von ihnen beabsichtigten und der durch ihre Intervention tatsächlich erzielten Resonanz zu differenzieren. Wenn es der vom französischen Präsidenten Sarkozy geförderten Mittelmeerunion gelänge, das israelisch-arabische Verhältnis zu entkrampfen und beide Seiten in konstruktiver Weise miteinander ins Gespräch zu bringen, könnten Maximalforderungen zurückgenommen werden und ganz nebenbei fiele auch von Europa eine niederdrückende Last ab.
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1 Die Hessische Stiftung verwahrte sich gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus und betonte, dass sie vergeblich versucht habe, als Gegengewicht zu Larijani Minister der israelischen Regierung als Vortragende für die Konferenz zu gewinnen. Nur der ehemalige hohe Regierungsbeamte Dr. Uzi Rubin und Dr. Reuven Pedatzur von der Universität Tel Aviv vertraten die israelische Position, beide Israelis offensichtlich wegen der israelischen Absagen gleich auf zwei Panels. Rubin betonte ausdrücklich, dass er seine private Meinung vortrage.
17. Juli 2008
Reinhard Hildebrandt
Die EU – eine Ellipse mit zwei Brennpunkten
Vorliegender Text wurde am Tag der Europawahlen als Kommentar aus deutscher Sicht in einem französischen Online-Magazin veröffentlicht. Die europäische Entwicklung von der Gründung der Montanunion bis zur EU wird dabei in den größeren weltpolitischen Kontext eingeordnet.
1. Etappen der räumlichen Entfaltung
Die Entstehung der Europäischen Union hat zwei Geburtshelfer. Nach dem Ende des II. Weltkrieges sollte die Kohle- und Stahlindustrie Deutschlands eng mit der westeuropäischen verschmolzen werden, um nicht wieder wie nach dem ersten Weltkrieg als Nukleus einer erneuten deutschen Aufrüstung zu dienen. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bzw. Montanunion entstand ein enger Verbund der westeuropäischen Schwerindustrie mit weitreichenden Folgen für die verarbeitende Industrie, den Handel und den gesamten Dienstleistungsbereich. Die Zukunft Deutschlands war fortan unabänderlich mit der ganz Westeuropas verkettet.
Der zweite Geburtshelfer waren die USA. Sie wollten sich künftig auf dem europäischen Kontinent fest verankern und benötigten dafür einen einheitlichen und durch keine Grenzen zerschnittenen Wirtschaftsraum. Nur ein solcher Raum bot us-amerikanischen Unternehmen längerfristig geeignete Absatz- und Investitionschancen.
Der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) lag ein Interessenausgleich zwischen Frankreich und Deutschland zugrunde: Die EWG öffnete der wieder aufstrebenden deutschen Industrie einen zollfreien Absatzmarkt und im Ausgleich dafür wurde die französische Agrarwirtschaft durch hohe Agrarsubventionen gestützt; wobei anzumerken ist, dass Frankreich seinen Widerstand gegen die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EWG erst aufgab, nachdem die französische Wirtschaft allein als Gegengewicht zur gewachsenen deutschen Wirtschaftskraft zu schwach geworden war.
Der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks im Jahre 1973 eröffnete den Reigen der stufenförmigen Ausdehnung der EWG. Die Erweiterung ging zunächst in südliche Richtung (Griechenland 1981) und dann in südwestliche Richtung (1986: Spanien, Portugal). Diese beiden Erweiterungen geschahen in der Absicht, diktatorisch geprägte Gesellschaften aus ihrer Rückständigkeit zu befreien und sie beschleunigt ökonomisch und politisch an Europa anzubinden.
Nach Gründung der Europäischen Union (1992) traten die zuvor in der EFTA (Europäische Freihandelsassoziation) versammelten und der Neutralität verpflichteten Länder Österreich und Schweden der Union bei (1995). Im gleichen Jahr wurde auch das bis dahin ökonomisch auf die Sowjetunion orientierte und jetzt nach neuen Absatzmärkten und Sicherheit ausschauende Finnland Mitglied der EU.
2004 begann mit Slowenien die schrittweise Angliederung der Konkursmasse des zerfallenen Jugoslawiens an die EU. Die Aufnahme Zyperns und Maltas im gleichen Jahr (2004) demonstrierte das stärker werdende Bestreben der EU, künftig im gesamten Mittelmeerraum präsent zu sein.
Mit dem ebenfalls 2004 erfolgenden Beitritt der Länder aus dem vormaligen Staats- und Einflussgebiet der Sowjetunion (Baltische Länder, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) überwand die EU die jahrzehntelange Teilung Europas in ein sowjetisch geprägtes Mittel- und Osteuropa und ein auf die USA orientiertes Westeuropa.
Die bis 2007 verschobene Aufnahme von Rumänien und Bulgarien arrondierte diese Entwicklung und versetzte die noch nicht zur EU gehörigen westlichen Balkanstaaten in eine Binnenlage innerhalb des von der EU umschlossenen Territoriums.
Als Schlussfolgerung ergibt sich folgendes Bild:
Die Ost- und Südostausdehnung der Europäischen Union hat die Geographie der EU entscheidend verändert. Ihr Schwergewicht wurde in Richtung Osten verschoben. Aus der EU mit Frankreich als Herz und dem Mittelpunkt Paris ist eine Ellipse mit Deutschland als zweitem Standbein der EU und Berlin als zweitem Brennpunkt geworden. In den beiden Brennpunkten Paris und Berlin konzentriert sich seit einigen Jahren das Kräftefeld der neuen EU.
2. Folgen der Vertiefung der Europäischen Union – am Beispiel der Einführung des Euros als Gemeinschaftswährung
Bereits lange vor der Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 empfanden andere Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Geldpolitik der deutschen Bundesbank als stark einschränkende Kraft für ihre eigene Konjunktur- und Fiskalpolitik. Die Deutsche Währung war zur faktischen Leitwährung Europas aufgestiegen und die Bundesbank nahm zunehmend inoffiziell die Rolle einer europäischen Zentralbank ein. Der Unwillen der übrigen Mitgliedsländer verstärkte sich erheblich, als dann auch noch die Vereinigung Deutschlands vorwiegend mit geldpolitischen Mitteln betrieben wurde.
Die von Frankreich gewünschte Einführung des Euro als neue europäische Gemeinschaftswährung – im Jahre 1999 zunächst als Buchgeld und ab 2002 als gesetzliches Zahlungsmittel – sollte diesen unbefriedigenden Zustand definitiv beenden. Als Gegenleistung erklärten sich alle Gründungsländer der neuen Währung lediglich damit einverstanden, dass die Ausgestaltung der Europäischen Zentralbank (EZB) nach dem Muster der Bundesbank erfolgen sollte und künftig vorwiegend der Bekämpfung inflationärer Entwicklungen zu dienen hatte.
Auf die Einschränkung ihres geldpolitischen Handlungsspielraums reagierte nun die deutsche Seite mit dem Instrument der Lohnstückkostensenkung. Im Verein mit der deutschen Wirtschaft und unter stillschweigender bzw. teilweise unter öffentlichem Druck erfolgenden Duldung der deutschen Gewerkschaften unterlief sie die von den übrigen Mitgliedsländern beabsichtigte Reduzierung traditioneller deutscher Wettbewerbsvorteile. Der Ausbau eines Niedriglohnsektors und die frühzeitige Verlagerung lohnintensiver Produktionsbereiche in die künftig zur EU gehörigen ost- und südosteuropäischen Länder senkte die Lohnstückkosten unter das Niveau der Nachbarländer. Dank der neu gewonnenen Wettbewerbsvorteile eroberte die bundesdeutsche Wirtschaft immer mehr Bereiche des EU-Binnenmarktes und avancierte schließlich sogar global zum „Exportweltmeister“. Dabei verlor der Euro seine abschreckende Wirkung und entwickelte sich sogar umgekehrt zur Stütze des bundesdeutschen Exportmotors auf dem Weltmarkt. Für lange Zeit verhallten kritische Stimmen völlig wirkungslos, von denen die einseitige Ausrichtung der bundesdeutschen Wirtschaft auf den Export beanstandet und als drückende Last für die deutschen Lohnempfänger beklagt wurde. Selbst mahnende Worte der Nachbarländer, ob etwa die deutsche Wirtschaft noch nachträglich das Ziel des ersten Weltkriegs – die wirtschaftliche Dominanz im ost- und südosteuropäischen Raum – anstreben wolle, verklangen ohne ausreichenden Widerhall. Angesichts der von den USA ausgehenden Globalisierung der Finanz- und Realwirtschaft sei man zum Handeln gezwungen und müsse die eigene Wettbewerbsposition unter allen Umständen stärken – so die Kommentare von Vertretern der Wirtschaft und Politik.
3. Bestrebungen zur Schaffung einer sicheren und diversifizierten Versorgung mit Energie für die expandierende EU
Hatte schon die Einbeziehung des Baltikums in die EU den Argwohn Russlands hervorgerufen, verstärkte sich das russische Misstrauen noch mehr, als Pläne zur Umgehung Russlands in der Versorgung der EU mit Erdöl und Erdgas publik wurden.
Anstatt die bestehenden Pipelines auszubauen und Russland als sichere Versorgungsquelle zu nutzen, unterstützte die EU den von den USA geförderten Bau von Pipelines für den Transport von Erdöl und Erdgas vom Kaspischen Meer durch Aserbeidschan, Georgien zum Schwarzen Meer (Supsa) und die Türkei zum Mittelmeer (Ceyhan) und projektierte außerdem eine weitere Gaspipeline (Nabucco), die ebenfalls vom Kaspischen Meer durch Georgien, die Türkei und Bulgarien bis nach Ungarn führen sollte. Damit wurde russischen Territorium gezielt umgangen. Als ein deutsch-russisches Konsortium die Verlegung einer Gaspipeline durch die Ostsee von Russland nach Deutschland plante, stieß es auf vorwiegend politisch motivierten Widerstand vor allem in den Baltischen Staaten und Polen und darüber hinaus zusätzlich auf ökologische Bedenken in Finnland und Schweden.
Die Ostausdehnung der EU auf das vormals zur Sowjetunion gehörende Baltikum und das damals im sowjetischen Einflussbereich liegende Polen behinderte die EU in der Aufnahme gut nachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland. Mit der Ostausdehnung nahm die EU Länder auf, die nicht in der EU-Mitgliedschaft, sondern in der Aufnahme enger Beziehungen zu den USA ihre Sicherheit gewährleistet sahen. Die Mitgliedschaft in der Nato war für sie der Garant ihrer Unabhängigkeit und selbst bevorzugte deutsch-russische Beziehungen stießen auf ihren massiven Widerstand. Als Folge beider Entwicklungen,
- dem Versuch, Russland in der Versorgung mit Öl und Gas aus dem kaspischen und zentralasiatischen Raum zu umgehen, und
- aus der Sicht einiger osteuropäischer Staaten die USA als ihren maßgeblichen Schutzpatron zu betrachten,
Den USA unter der Führung des Präsidenten Bush Jr. gelang sogar die Herabstufung einiger Mitglieder der EU zum Erfüllungsgehilfen us-amerikanischer Hegemonialbestrebungen. Die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Antiraketen in Polen war Teil der Gesamtstrategie der USA zur Wiederbelebung des Ost-West-Konflikts und verletzte die grundlegenden Interessen Europas. Die USA avancierten außerdem zum Beschützer einiger Balkanstaaten und schwächten damit die Präsenz der EU auch in diesem Gebiet. Ihre Vorgehensweise demonstrierte beispielhaft, wie schwach und teilbar die EU von der Bush-Administration eingeschätzt wurde und in welcher abfälligen Weise sie Europa zum Exerzierfeld ihrer globalen Interessen zu machen versuchte. Zur Zersplitterung der EU trug auch die lange Zeit verfolgte Strategie bundesdeutscher Regierungen bei, eine Mittlerposition zwischen Frankreich und den USA einnehmen zu wollen. Berlin als neuer östlicher Brennpunkt der EU verlor in dieser Zeit drastisch an Wirksamkeit. Erst die von den USA ausgehende Finanzkrise bewirkte eine Umkehr zugunsten der EU.
4. Stärkung der EU als Resultat der Schwächung des Finanzplatzes London
Eine mit den USA gleichwertige Position erlangte die EU zu einem Zeitpunkt, als das anglo-amerikanische Finanzimperium erste Schwächeerscheinungen zeigte und neben der Wall Street auch der Finanzplatz London an Bedeutung verlor. Britische Regierungen hatten in der Vergangenheit ausschließlich die Stärkung des Finanzplatzes London vor Augen. So lange z.B. die City von London der Labourregierung genügend Steuereinnahmen einbrachte, um ihre Sozialprogramme zu finanzieren, beharrte sie auf ihrer Sonderstellung zu den USA und übernahm jede Maßnahme – sinnvoll oder nicht -, die über den Atlantik herüberschwappte. Britische Regierungen unterschieden nie deutlich zwischen ihren Interessen, die ihnen aus ihrer Mitgliedschaft in der EU erwuchsen, und ihren transatlantischen Interessen, die sie als Teil der anglo-amerikanischen Hegemonie formulierten. In Konfliktfällen saß ihnen das „transatlantische Hemd“ immer näher als der „europäische Rock“. Bei der Aufrechterhaltung von Steueroasen, die unter britischer Oberhoheit standen, und in der Deregulierung von Finanzoperationen transnationaler Unternehmen und weltweit agierender Investmentbanken vertraten sie stets deren Interessen. Die von den USA ausgehende Globalisierungsstrategie fand ihr volle Unterstützung. Bisher ist nicht absehbar, wann und unter welchen Bedingungen Großbritannien den Interessen der EU Vorrang einräumen wird. Eine Rückkehr zum Neuaufbau von Industrien wäre eine der zu erfüllenden Bedingungen. Eine andere bestünde in der Einbettung der Londoner Finanzwelt in die Geld- und Handelsgeschäfte Kontinentaleuropas, z.B. durch eine enge Kooperation zwischen den Börsen von London, Paris und Frankfurt. Voraussetzung dafür wäre die Abkehr vom Euro-Dollar und die Hinwendung zum Euro, ob mit oder ohne Beibehaltung des Pfund Sterling.
5. Wechselbeziehung zwischen europäischer Identität und kollektivem Gedächtnis
Es wäre vermessen zu behaupten, heutzutage bestünde bereits eine ausgeprägte europäische Identität auf der Grundlage eines allen Europäern gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses. Das britische Beispiel zeugt geradewegs vom Gegenteil. Es wird noch sehr lange dauern, bis das Beispiel eines deutsch-französischen Geschichtsbuchs durch ein englisch-französisches oder englisch-deutsches ergänzt sein wird. Es wird noch sehr viel länger dauern, bis ein solches gemeinsames Geschichtsbuch seinen Weg in die Schulen findet und die national begrenzten kollektiven Gedächtnisse zusammenführt. In den gegenwärtig existierenden kollektiven Gedächtnissen dominiert noch die Ausgrenzung der anderen und in nicht wenigen Fällen sogar die Schuldübertragung für gesamteuropäische Fehlleistungen auf die jeweils anderen. Trotz vieler gemeinsamer Werte, die den Europäern erst dann richtig bewusst werden, wenn sie sich in anderen Kulturen begegnen und mit der Andersheit anderer Kulturen auseinandersetzen müssen, scheitert die Entfaltung einer gemeinsamen Identität immer noch an den unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Bei der Erzeugung eines gemeinsamen europäischen kollektiven Gedächtnisses kommt den beiden Brennpunkten der europäischen Ellipse eine herausragende Bedeutung zu. Paris und Berlin haben hier ihre ureigene Aufgabe noch nicht voll erkannt, aber der Anfang ist bereits gemacht.
11. Juni 2009
Reinhard Hildebrandt
Die EU zwischen transatlantischer Partnerschaft und engeren
Beziehungen zu Indien-Russland-China
Die deutsche Politik ist gegenwärtig hinsichtlich der langfristigen strategischen Ausrichtung in der Außenpolitik von grundsätzlich divergierenden Positionen zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen Amt geprägt. Um es zugespitzt zu formulieren: Während Angela Merkel die deutsche und europäische Position eher innerhalb eines revitalisierten Dreiecks USA-EU-Japan sucht, strebt Frank-Walter Steinmeier die engere Verflechtung Europas mit dem strategischen Dreieck Russland-Indien-China an. Dieser Artikel beleuchtet diese Divergenzen vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung seit dem II.Weltkrieg und wirft die Frage auf, wie lange es sich Europa noch leisten kann, keine eigenständige Rolle in der neuen weltpolitischen Lage zwischen einem „atlantischen und eurasischen Dreieck“ zu entwerfen, und stattdessen entweder unentschieden zwischen den Fronten zu schaukeln oder sich sogar einer möglichen neuen Containment-Politik der USA gegenüber Russland und China anzuschließen. Diese Frage wird insbesondere vor dem Hintergrund der ökonomischen Schwächung der USA und dem gleichzeitigen ökonomischen Aufstieg Asiens virulent.
1. Einleitung: Steht ein Strategiewechsel der EU an?
Günter Hofmann erkundigte sich in der Wochenzeitung Die Zeit vom 11. Oktober 2007 nach der Stellungnahme der Bundesregierung zu der Frage, ob ein neues Containment der USA gegenüber Russland und China bevorstehe und wie sich die schwarz-rote Koalition dazu verhalten werde. „In den USA jedenfalls“, schrieb Hofmann, „ist häufig bereits nicht nur von ‚Werten’ und ‚Demokratie’ die Rede, sondern zugespitzt auch von einer neuen Containmentpolitik gegenüber Moskau und insbesondere Peking.“ „Geht es insgeheim“, fragte Hofmann, „auch hierzulande hinter der Formel von der stärkeren ‚Werteorientierung’ um eine neue Containmentpolitik, eine unausgesprochene Eindämmungspolitik gegenüber Russland und China?“ Hofmann forderte zwar nur direkt die Bundesregierung, aber letztlich auch die gesamte Europäische Union dazu auf, bei dem Bemühen um ein gleichberechtigtes Kooperationsverhältnis zu den USA auch die Beziehungen zu anderen Mächten wie China und Russland im Blick zu behalten.
Eng mit der Klärung der Containmentfrage verknüpft ist in der Tat die seit dem Irak-Krieg immer drängender gewordene europäische Antwort auf den weiterhin bestehenden hegemonialen Anspruch der USA. Hat die Bush-Administration gegenüber der EU bzw. ihren einzelnen EU-Mitgliedern Sanktionsmechanismen in der Hand, um ihre hegemoniale Ambition durchzusetzen oder kann sie nur noch auf das den Europäern vertraute transatlantische Bewusstsein setzen, aus dessen Sicht die USA als eine wohlwollende informelle Hegemonie erscheint? Lange Zeit vorherrschendes abhängiges Bewusstsein reicht in der Regel in seiner Wirkungsmacht über veränderte reale Verhältnisse hinaus und verfälscht den Blick auf die neuen Realitäten. Berater der rot-grünen Regierung hielten beispielsweise dem damaligen Bundeskanzler Schröder entgegen, er überschätze den gegenüber den USA gewonnenen bundesdeutschen Spielraum. Für die Proklamierung einer gleichgewichtigen Partnerschaft der EU mit den USA sei es noch zu früh und erst recht verbiete sich eine scharfe deutsche Distanzierung von der amerikanischen Irakpolitik.
In der Tat entsprachen die hinter dem Vorhang der offiziellen Politik erfolgenden außenpolitischen Aktionen der Schröder/ Fischer-Regierung nicht immer der demonstrativ gegenüber den USA zur Schau gestellten Eigenständigkeit. Teilweise waren sie das genaue Gegenteil davon (vgl. z.B. die Gefangenentransporte). Dabei wurde niemals klar benannt, warum man sich beugte oder ob man aus inzwischen obsolet gewordenem Bewusstsein, gleichsam im vorauseilenden Gehorsam, handelte.
Mit dem Antritt der schwarz-roten Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel verabschiedete sich die Regierung vom offiziell engen Zusammenspiel mit dem französischen Partner und schickte sich an, die traditionelle Vermittlerrolle zwischen den USA und Frankreich wieder stärker aufzunehmen, darauf vertrauend, dass auch Präsident Nicolas Sarkozy die antiamerikanische Karte spielen würde. Außerdem spekulierte man auf eine weitere Vermittlerrolle im Konflikt um die nukleare Aufrüstung des Iran zwischen der scharfen antiiranischen Position der USA und den sehr zurückhaltenden Stellungnahmen Russlands und Chinas.
Beide Vermittlerrollen stellten sich sehr bald als Fata Morgana heraus. Sarkozy wird zwar nie wie Blair der Pudel Bushs werden, aber um freundschaftliche Beziehungen zu den USA ist er mindestens ebenso bemüht wie Bundeskanzlerin Merkel. Die Positionen Russlands, Chinas und der USA gegenüber dem Iran lassen zur Zeit auch keine deutsche Vermittlerrolle zu. Diplomatie lebt zwar vom Glauben, prinzipiell Unverereinbares zu einer einvernehmlichen Lösung zusammen zu schweißen, aber manchmal reicht es eben noch nicht einmal für einen sogenannten „Formelkompromiss“. Während der russische Präsident Putin und die chinesische Führung darauf bestehen, dass der Iran das verbriefte Recht zu nuklearer Forschung und Energieversorgung hat, sieht Bush in der iranischen Anreicherung von Uran bereits die Vorboten nuklearer Bewaffnung. Der Verhandlungsspielraum ist denkbar gering, wenn die eine Seite jede weitere Stufe in der Anreicherung von Uran durch immer stärkere Sanktionen verhindern will und die andere Seite erst den klaren Beweis für den Bau einer Atombombe zum Anlass nimmt, dem Iran das Vertrauen zu entziehen und auf Sanktionen umzuschalten.
Günter Hofmann fragt also mit Recht nach der Substanz einer eigenständigen Außenpolitik der Bundesregierung. Welche Position bezieht man, wenn die Bush-Administration das Beharren des Iran auf Atomenergie dazu benutzen sollte, gegenüber China und Russland eine neue Containmentpolitik einzuleiten, um die Handelsbeziehungen Europas und Japans wieder stärker auf die USA zu konzentrieren und die starke ökonomische Verflechtung Europas mit Russland und China aufzubrechen. Als Muster dient hier die ultimativ geforderte Beteiligung der Europäer an der Durchsetzung von Exportverboten für strategisch relevante Technologie im Jahre 1949 als Gegenleistung für Marshallplangelder und Warenlieferungen aus den USA, die ab 1946/47 trotz Überflusses an Kapital vom zunehmend florierenden Tauschhandel zwischen den west- und osteuropäischen Staaten wegen des Devisenmangels der europäischen Volkswirtschaften ausgeschlossen blieben.1
Zum heutigen Zeitpunktwürde man selbstverständlich nicht mehr mit Exportverboten für Technologie drohen können, aber mit Ausschlussdrohungen für den Zutritt zum großen amerikanischen Markt, wie es jetzt bereits für den europäischen Handelsaustausch mit sogenannten Schurkenstaaten geschieht, ist allemal zu rechnen. Angesichts der fortschreitenden Entindustrialisierung der USA,(nicht immer durch eine adäquate Ausdehnung des Dienstleistungsbereichs kompensiert), der begrenzten Aufnahmefähigkeit des amerikanischen Marktes für Exportprodukte, der keinesfalls kurzfristig beizulegenden Krise am Finanzmarkt und der damit eng zusammenhängenden uferlosen Verschuldung stellt sich die Frage, welchen Nutzen man sich von einer Wiederbelebung des innerwestlichen Dreiecks USA, Japan, Europa verspricht?
Den Europäern und Japanern als Ersatz für den chinesischen und russischen Markt engere Handelsverflechtungen mit einem scheinbar prowestlichen Indien „vorzugaukeln“, erweist sich bereits jetzt als dritte Fata Morgana. Indien hat sich längst – seine ureigenen Interessen erkennend – auf intensive Handelsbeziehungen des interregionalen Dreiecks Indien-China-Russland sowie mit den ASEAN-Staaten eingestellt und ergänzt gerade seinen intensiven Import von russischer Energie (Erdöl und -gas) und Militärgütern durch eine enge Zusammenarbeit in hochtechnologischen Sektoren (Produktion von Transportflugzeugen und Entwicklung einer gemeinsamen Raumfahrt). In den Zeiten einer Neuauflage des Ost-West-Konflikts kann Indien nicht damit rechnen, gerade im sicherheitsempfindlichen IT-Bereich, seiner eigentlichen Stärke, der bevorzugte Partner des Westens zu bleiben. Dazu dürfte bei den Machteliten des Westens gegenüber Indien als ehemals führendem blockfreien Land die Vertrauensbasis fehlen.
Im Verhältnis zu den USA müssten sich die Europäer bei nüchterner Betrachtung folgende Fragen stellen:
- Warum waren sie bisher weder in der Lage, die Sperrminorität der USA im Internationalen Währungsfonds zu beenden noch der amerikanischen Verschuldungspolitik ein Ende zu bereiten?
- Wie will man das neoliberale Dominanzstreben der Transnationalen Unternehmen und der weltweit agierenden Finanzgesellschaften wirksam begrenzen, wenn ihm nicht ein sehr viel breiteres Staatenbündnis als die bisherige teilweise unwillige angloamerikanische Allianz entgegengesetzt wird?
- Erfordert der Wunsch nach einem gleichgewichtigen Kooperationsverhältnis mit den USA als Gegenleistung unausweichlich die Teilnahme an einer erneuten Contain-mentpolitik?
2. Vierzig Jahre innerwestliches Dreieck USA-Japan-Westeuropa und der Ost-West-Konflikt als Basis US-amerikanischer Hegemonie
2.1 Geopolitische, ökonomische und militärische Ziele
2.1.1 Das innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan
Die Grundzüge einer langfristigen Aussenpolitik der Vereinigten Staaten reichen zurück bis in die Monroe-Doktrin vom 3. Dezember 1823. Unter dem Schlagwort „Amerika den Amerikanern“ proklamierte sie die Existenz zweier politischer Sphären (two-spheres), forderte ein Ende aller Kolonialisierungsbestrebungen in der westlichen Hemisphäre (non-colonization) und kündigte ein Eingreifen der USA für den Fall an, dass die europäischen Kolonialmächte diese politischen Grundsätze ignorieren sollten. Der geopolitischen Verortung Lateinamerikas als amerikanisches Hinterland folgte die allmähliche Umorientierung der Handelsbeziehungen der süd- und mittelamerikanischer Staaten auf die USA und zu Beginn des Zweiten Weltkrieg auch deren militärische Absicherung. Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatten die USA ihren Markt für die vom kolonia-len Mutterland kriegsbedingt getrennten afrikanischen und asiatischen Kolonien geöffnet und Entkolonialisierungsbestrebungen unterstützt. Im Namen der Befreiung vom Kolonialismus entzogen sie den europäischen Kolonialstaaten das ihnen bis dahin verbliebene Hinterland, begrenzten die ökonomischen und militärischen Aktionsmöglichkeiten der europäischen Mutterländer immer stärker auf Europa und reihten sie zusammen mit den geschlagenen Kriegsgegnern Deutschland und Japan in die unter amerikanische Vorherrschaft gestellten Küstenregionen von Atlantik und Pazifik ein. Das innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan als einer der beiden künf-tigen Pfeiler amerikanischer Hegemonie nahm Gestalt an, als mit Hilfe des Marshall-plans, der Exportverbote für militärisch nutzbare Technologie und privater US-ameri-kanischer Kapitalexporte die Industrie und der Handel jener Regionen immer stärker auf die Zentralmacht USA ausgerichtet wurden. Die Vollendung dieses Eckpfeilers amerikanischer Hegemonie wäre jedoch nicht so reibungslos verlaufen, wenn nicht ein zweiter Pfeiler den ersten ergänzt und gestärkt hätte. Als dieser zweite Pfeiler diente den USA der Ost-West-Konflikt.
2.1.2 Der Ost-West-Konflikt als zweiter Pfeiler amerikanischer Hegemonie
Bereits im Herbst 1944 sahen sich die USA von einem gemeinsamen britisch-sowjeti-schen Aufteilungsplan für den Balkan in ihren Nachkriegsplänen herausgefordert, der Rumänien und Bulgarien größtenteils zum sowjetischen Einflussbereich schlug und Griechenland vornehmlich zum britischen erklärte, während in Jugoslawien und Ungarn beide Seiten die Hälfte des Einflusses für sich beanspruchten. Dieser Aufteilungsplan zeigte den USA, dass sie es in der Nachkriegszeit mit zwei anderen Sie-germächten zu tun haben würden, die nicht nur auf ihre Autonomie pochten, sondern ebenfalls Hegemonieansprüche stellten. Zur Erreichung ihres Ziels demonstrierte die Armee der Sowjetunion z.B. ihre Fähigkeit, bis in die Mitte Deutschlands vorzudringen und kurz vor Kriegsende auch noch in den Krieg gegen Japan einzutreten.
Im Falle Großbritanniens standen den USA neben der längerfristig wirkenden Ent-kolonialisierungspolitik noch drei weitere Instrumente zur Verfügung, um das bereits stark geschwächte einstige britische Imperium weiter zu entkräften. Die britische Re-gierung hatte erhebliche Kriegskredite in den USA aufgenommen. Ihre Rückzahlung durch Guthaben der britischen Kolonialgebiete in den USA (entstanden aufgrund von Exportüberschüssen) verhinderten die USA. Aus der Weiterentwicklung von Atom-bomben und Raketen schlossen sie Großbritannien aus, obwohl die Briten die Initiative für die atomare Bewaffnung ergriffen und lediglich 1940 wegen befürchteter Kriegseinwirkungen die Verlegung ihrer Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen in die USA beschlossen hatten. In Bretton Woods setzten sie gegen John Maynard Keynes durch, dass der US-Dollar zur Weltreservewährung gegen das Pfund Sterling aufstieg. Bei der CIA-inszenierten Inthronisation des Schahs von Persien gegen den demokratisch gewählten Präsidenten M. Mossadegh im Jahre 1953 beseitigten sie nicht nur die Demokratie im Iran, sondern zugleich auch den britischen Zugriff auf die iranischen Ölquellen und im Suezkanalkonflikt des Jahres 1956 demütigten sie die britische Regierung durch ihre Weigerung, die Verstaatlichung des Kanals mittels militärischer Mittel rückgängig zu machen.
Im Falle der Sowjetunion konnten die USA nicht mit einer baldigen Aufgabe des hegemonialen Anspruchs rechnen. Napoleon und Hitler hatten erfahren müssen, dass die Sowjetunion aufgrund ihrer großen Landmasse ein nur sehr schwer zu eroberndes und dauerhaft zu besetzendes Land ist. Mit einem heißen Krieg war der sowjetischen Führung also nicht zu drohen. Andere Mittel schienen erforderlich, um sie von ihrem Hegemonieanspruch abzubringen und sich dem amerikanischen unterzuordnen.
Vorteilhaft für die nähere Zukunft fiel für die USA gegenüber der Sowjetunion ins Gewicht, dass deutsche Truppen auf ihrem Rückzug sämtliche Restbestände russischer Industrie und ein Großteil der Infrastruktur bis auf die in aller Eile im und hinter dem Ural errichteten Produktionsstätten zerstört hatten, während die USA ihre Industrie fernab von jeder Kriegsfront ungestört und auf höchstem technologischen Niveau entfalten konnten. Bei ihrem Vormarsch auf Gebiete, die später zur sowjetischen Besatzungszone gehören würden, waren der US-Armee zudem die deutschen Raketenexperten (u.a. Wernher von Braun) und sämtliche Produktionsanlagen von V-2 Raketen im Südharz in die Hände gefallen. Auf der Grundlage ihres Wissens kalkulierte die amerikanische Militärführung für die atomare Bewaffnung der sowjetischen Armee mit einer Dauer von mindestens zehn Jahren und für den Aufbau einer eigenen sowjetischen Raketenstreitmacht mit mehr als zwanzig Jahren. Kurz- bis mittelfristig würde also das Atomwaffenmonopol und die sofortige Einsatzfähigkeit von Langstreckenbombern den USA einen von der sowjetischen Seite nur mühsam auf-zuholenden Vorsprung garantieren; längerfristig könnte man außerdem noch zur Erhaltung des eigenen Vorsprungs auf die rechtzeitige Entwicklung von Langstreckenraketen zurückgreifen. Angesichts des gesicherten Polsters schien es sogar sinnvoll zu sein, die US-Armee drastisch zu verringern und die entlassenen Soldaten zum Ausbau der wirtschaftlichen Dominanz zu nutzen.
Bis zur Mitte des Jahres 1949 hatten es die USA also mit einer Sowjetunion zu tun, die krampfhaft bemüht war, die von ihr besetzten Gebiete Ost- und Mitteleuropas auch gegen massiven Widerstand der Bevölkerungen zu halten. Entsprechend unbeliebt machte sie sich auch bei der gesamten europäischen Bevölkerung. Die Blockade der Westsektoren von Berlin verdeutlichte zwar einerseits ihre Schwäche, erzeugte jedoch andererseits durch ihr Vorgehen gegenüber den Westberlinern bei allen Europäern Angst und Schrecken.
Die USA dagegen stiegen zur Schutzmacht nicht nur der Bevölkerung der Westsektoren von Berlin auf, sondern konnten sich in fast ganz Europa als Beschützer der Freiheit gegenüber sowjetischem Eroberungsstreben etablieren. Mit dem Ende der Berlin-Blockade war der Ost-West-Konflikt als zweiter Pfeiler amerikanischer Hege-monie im Bewusstsein der amerikanischen und europäischen Bevölkerung fest ver-ankert worden. Beides zusammen, wirtschaftliche und militärische Überlegenheit, sorgten dafür, dass die USA die ihnen gegenüberliegende Küstenregion des Atlantik erfolgreich ihrem Herrschaftsbereich zuordnen konnten.
Nach der Machtergreifung der kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1949 und der Annäherung Chinas an die Sowjetunion gelang gleiches im pazifischen Raum. Um den Kern des besetzten und ökonomisch auf die USA ausgerichteten Japans und die seit 1898 von den USA beherrschten und später in die formale Selbständig-keit entlassenen Philippinien herum gruppierten die USA die von ihnen kontrollierte pazifische Küstenregion, die sie in den nachfolgenden Jahren noch erweitern konnten:
- Südkorea (1953),
- Südvietnam (1955 nach dem Abzug Frankreichs aus Indochina)
- Indonesien (1965 nach dem Militärputsch, verbunden mit der Beherrschung der Malakkastraße und der Meerenge zwischen Bali und Lombok).
2.2 Entfaltung einer dualen Hegemonie zwischen den USA und der Sowjetunion
Die Explosion der ersten sowjetischen Atombombe im Jahre 1949 durchbrach das amerikanische Atomwaffenmonopol überraschend früh und zwang die USA zu einer Neueinschätzung ihres Verhältnisses zur Sowjetunion. Bisher musste die US-Militärführung in ihren Planspielen lediglich auf die Option verzichten, sowjetisches Territorium zu besetzen. Die schiere Größe des Landes verbot ein solche Vorgehensweise. Jetzt war außerdem damit zu rechnen, dass im Falle eines Konfliktes der sowjetischen Militärführung auch die Option des Abwurfs einer Atombombe auf amerikanische Ziele zur Verfügung stand, die sich nicht allzu weit vom sowjetischen Einflussbereich befanden. Das amerikanische Kernland (außer Alaska) lag zwar weiterhin außerhalb der Reichweite atomarer Angriffe des sowjetischen Militärs. Jedoch nach der Zündung der ersten sowjetischen Mittelstreckenrakete im Jahre 1955 war absehbar, wann sowjetische Interkontinentalraketen der sowjetischen Führung dieses Drohpotential in die Hände legen würden. 1959 verloren die USA ihre bis dahin vorhandene atomare Unverwundbarkeit und erlangten dieses Status nie wieder. Fortan rangen die USA und die Sowjetunion immer nur um die Beibehaltung ihrer gesicherten Zweitschlagkapazität, wobei im Wettrennen um die höchstmögliche Zerstörungsfähigkeit, verknüpft mit dem Versuch, die Zerstörung des eigenen Territoriums durch gegnerische Waffen möglichst gering zu halten, die USA immer darauf bedacht waren, ihren Vorsprung zu bewahren und deshalb den nächsten Schritt meistens als erste taten.
Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Dies steht eigentlich im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht – nur durch den eigenen Willen begrenzt. In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren jedoch beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potential an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. In jedem Falle war die jeweilige Kraftentfaltung – militärischer, geopolitischer oder ökonomischer Art – entscheidend.
Auf dem Hintergrund einer so gearteten strategischen Situation signalisierten die USA (zusammen mit Großbritannien und Frankreich) im August 1961 fünf Tage vor dem Bau der Mauer durch Berlin der Sowjetunion, „dass der Flüchtlingsstrom die größte unmittelbare Gefahr für den Frieden darstellt“. Jede Lösung des Problems würden die westlichen Regierungen „mit Eifer und Dankbarkeit begrüßen“ (Kurt L. Shell, Bedrohung und Bewährung, Westdeutscher Verlag Berlin 1965, S. 36). Da bis zum August 1961 bereits drei Millionen von 17 Millionen Einwohner der DDR geflohen waren, drohte ihr totaler Zusammenbruch und damit eine drastische Veränderung der Europa bestimmenden Sicherheitsarchitektur zwischen den USA und der Sowjetunion. Bezogen auf Europa entwickelten beide hegemonialen Mächte ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der strategischen Architektur.2
Dieses gemeinsame Interesse des amerikanisch-sowjetischen Hegemoniegespanns zeigte sich auch in den 1972er Verhandlungen zur Beilegung des Berlinkonflikts und der darin zum Ausdruck kommenden Formulierung, dass beide Seiten darin übereinstimmten, in der rechtlichen Regelung des Status von Berlin nicht überein zu stimmen (to agree to disagree). Es war die passende Zustandsbeschreibung für die Sicherheitsarchitektur einer duale Hegemonie, in der die Westeuropäer am höheren Lebensstandard der USA und die Osteuropäer am niedrigeren der Sowjetunion Anteil hatten und beide zusammen auf der Grundlage des geteilten Berlins und Deutschlands die geopolitische Stabilität garantierten.
Beide Mächte empfanden die duale Hegemonie jedoch nicht als Dauerzustand. Im Widerspruch zu ihrem momentanen gemeinsamen Interesse handelten sie zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts, in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen und die USA beispielsweise ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivale betrachtete und sich selbst als oberster Verteidiger der Freiheit. Die Sowjetunion hingegen begriff sich als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse und unterstellte den USA ebenfalls feindlichste Absichten. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, handelten sie im Sinne eines Nullsummenspiels. Sie kümmerten sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwen-dige Erhaltung der geopolitischen Stabilität und verschoben statt dessen gedankenlos die Grenzlinie zwischen verfügbaren und verwendbaren Handlungsoptionen zugunsten des jeweils anderen. Die Sowjetunion war kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts mit der Situation konfrontiert, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration.
Jedoch auch die USA mussten – wenn auch erst einige Jahre später – akzeptieren, dass das Ende der dualen Hegemonie zugleich auch ihren auf zwei Pfeilern beruhenden hegemonialen Anspruch untergraben hatte.
3. Wirtschaftliche und militärische Globalisierung sowie die Ausnutzung von Konflikten als Instrumente der USA zur Entfaltung ihrer global ausgerichteten Hegemonie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
3.1 Schwächung der Partner des innerwestlichen Dreiecks
In ihrem Siegerbewusstsein nahmen die USA zunächst nicht mehr wahr, dass ihr hegemonialer Anspruch auf beiden Pfeilern, dem innerwestlichen Dreieck USA-West-europa-Japan und dem Ost-West-Konflikt, beruht hatte. Brach einer der beiden weg, war auch der andere in seiner Substanz angegriffen, unabhängig davon, ob die USA den Ost-West-Konflikt als Sieger oder als Verlierer verließen. Mit der Zerschlagung der Sowjetunion verflüchtigte sich auch die Angst der Europäer und der Japaner vor der „roten Gefahr“. Hatten sie bis dahin Zuflucht bei den USA gesucht, forderten sie jetzt von ihnen ein kooperatives Verhalten im Rahmen eines gleichgewichtigen partnerschaftlichen Beziehungsverhältnisses.
Diese Forderung beantworteten die USA mit dem Versuch, die Europäer und Japa-ner zu schwächen. Sie nutzten die Uneinigkeit der europäischen Staaten in der Be-friedung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens und verstärkten durch entsprechende Abkommen (Aufteilung nach Ethnien) das bereits bestehende Konfliktpotential. Das Streben Nordkoreas nach Atomwaffen und die scharfe Reaktion der USA darauf beschäftigte die Japaner mit einem Konflikt direkt vor ihrer Haustür.
Gleichzeitig propagierten die USA wieder die Schaffung der „Einen Welt“, – ein Konzept, das sie erstmals unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet hatten, diesmal jedoch in der Gestalt der Globalisierung formuliert. „Globalisierung“ bedeutete für die USA die Ausbreitung amerikanischer Wirtschaftsmethoden über den gesamten Globus, d.h. Globalisierung wurde mit Amerikanisierung gleichgesetzt. Die weltweite Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftsmethoden und des damit verknüpften Gesellschaftsmodels zielte auf
- die Beseitigung des europäischen Sozialstaats und
- die Öffnung der dahin noch von ausländischen Kapitalinvestitionen abgeschotteten Kapitalmärkte in Japan, Südkorea und den ASEAN-Staaten.
Unter Präsident Clinton diente die Menschenrechtspolitik als zusätzlicher und sehr wirksamer Begleiter der amerikanischen Globalisierungsbestrebungen. Sie wurde jedoch sehr selektiv eingesetzt, beispielsweise nicht gegen Saudi-Arabien.
Die Einführung der militärischen Komponente amerikanischer Globalisierungspolitik erfolgte jedoch erst unter seinem Nachfolger im Präsidentenamt – George W. Bush – und firmierte als Neokonservatismus. Entsprechend jahrzehntelanger amerikanischer Überzeugung schafft erst die militärische Interventionsmacht die Voraussetzung für die wirtschaftliche Dominanz der USA. Beide Komponenten werden immer als Einheit betrachtet.
Die Globalisierungsstrategie, in die frühzeitig Transnationale Unternehmen und das weltweit nach Anlagemöglichkeiten suchende Finanzkapital eingebunden waren, endete nicht vor den Toren Chinas und Indiens, den beiden größten asiatischen Staaten, und konfrontierte die Hochlohnökonomien der alten Industriestaaten mit Wettbewerbsbedingungen, unter denen ihre tradierten sozialstaatsorientierten Modelle nicht mehr finanzierbar erschienen. Für die Europäische Union bedeutete der Globalisierungstrend außerdem die neoliberale Ausformung des europäischen Binnenmarktes und die noch stärkere Ausrichtung der osteuropäischen Beitrittsstaaten im neoliberalen Sinne.
3.2 Ungeplante Effekte der Globalisierungsstrategie
Die Formel „Globalisierung gleich Amerikanisierung“ hatte jedoch nicht zur Folge, dass die USA-Ökonomie vom schärfer werdenden Wettbewerb um niedrigere Löhne und geringere Soziallasten verschont blieb. Erstmals war nicht mehr gültig, was Jahrzehnte lang für einen unumstößlichen Glaubenssatz angesehen wurde: Was gut ist für General Motors ist gut für Amerika! Die tiefgreifenden Auswirkungen der Öffnung des amerikanischen Binnenmarktes für Mexiko, China, Indien und Vietnam demonstrierte der US-amerikanischen Bevölkerung die negative Seite der Globalisierungsstrategie. Als besonders gravierend stellte sich heraus, dass Transnationale Unternehmen keine Rücksicht auf ihre Herkunfts- bzw. Stammländer nahmen und im scharfen Wettbewerb untereinander um die günstigsten Produktionsbedingungen kämpften. Der amerikanische Binnenmarkt wurde – anders als ursprünglich erwartet – voll und ganz in den Globalisierungstrend einbezogen. Globalisierung, ursprünglich als elegante Stärkung der USA gegenüber allen anderen Konkurrenten gedacht, hatte nicht zur Folge, dass nach dem siegreichen Ende des Ost-West-Konflikts die Fesseln der dualen Hegemonie abgestreift und durch eine auf die Bedürfnisse der Zentralmacht USA zugeschnittene globale Hegemonie der USA ersetzt werden konnten. Aus der aufkeimenden Einsicht über die fehlgeschlagene Globalisierungs-strategie, parallel zur Einsicht über die Begrenztheit militärischer Interventionen am Beispiel des Irakkriegs, entstand der Versuch, den vormals zweiten Pfeiler amerika-nischer Hegemoniebestrebungen wieder zu beleben und einen neuen Ost-West-Konflikt in Gang zu bringen, – nur diesmal mit China als Gegenmacht.
4. Die Wiederauflage des Ost-West-Konflikts in neuer Form
4.1 Der nicht gewinnbare Krieg gegen den „Terror“
Nach der Zerstörung der Zwillingstürme des World Centers am 11. September 2001 schien die „Krake des Terrors“ ihre Fangarme um die USA zu schlingen. Das absolut Böse in Gestalt der Terroristen, hatte den USA – so propagierten es Bush und die Neokonservativen – den Krieg erklärt. Das Gute, die USA, musste zurückschlagen und das Böse vernichten. Krieg gegen Terroristen kann man aber nur führen, wenn sie auf einem spezifischen Territorium zu greifen sind. Treten sie als kleine und über den gesamten Globus verstreute Gruppen auf, müsste man konsequenter-weise allen Ländern, die ihnen freiwillig oder fahrlässigerweise Unterschlupf gewähren, den Krieg erklären oder zumindest damit drohen. Da die Zerstörer des World Trade Centers für länger Zeit unerkannt in Hamburg gelebt hatten, wäre der Vorwurf der Fahrlässigkeit und die Drohung mit antiterroristischen Maßnahmen an Deutschland zu richten gewesen.
Statt dessen bot sich Afghanistan für den Krieg gegen den Terror an. Die Taliban, von den USA und Saudi-Arabien großgezogen und finanziell indirekt über Pakistan fi-nanziert, hatten Afghanistan inzwischen fest im Griff und gewährten terroristischen Zellen und ihren Anführern wie Bin Laden freiwillig Unterschlupf. Außerdem hatten sie sich ostentativ dem US-amerikanischen Wunsch verweigert, auf afghanischem Territorium den Bau von Pipelines von Zentralasien nach Pakistan zu dulden. Die USA konnten ihren Einfluss auf die zentralasiatischen Staaten nur dann ausdehnen, wenn es ihnen gelang, die dortigen Gas- und Erdölquellen anzuzapfen und den Ab-transport von Erdgas und -öl nach Süden sicherzustellen.
Nach der Zerschlagung der Talibanherrschaft in Afghanistan hätte man deren Rückzugsgebiete in Pakistan angreifen müssen. Pakistan war aber einer der engsten Verbündeten der USA. Über Druckausübung hinaus verbot sich ein militärischer Zugriff auf das pakistanische Territorium; nicht jedoch auf den von Saddam Hussein diktatorisch regierten und als Schurkenstaat disqualifizierten Irak, der zwar keine Terroristen beherbergte, aber dem man gefahrlos eine solche Unterstützung unterstellen konnte. Ein militärischer Angriff auf den Irak verstärkte die These, dass prinzipiell alle Schurkenstaaten Terroristen Unterschlupf gewähren würden. Außerdem lagerten unter irakischem Territorium große Erdöl- und Gasreserven, die man für amerikanische Erdölgesellschaften erschließen konnte. Ein militärischer Angriff auf den Irak ließ sich darüber hinaus auch als willkommene Verbreitung der Demokratie plaka-tieren und ganz nebenbei hatte eine schnelle Eroberung des Irak den Effekt, der übrigen Welt zu demonstrieren, dass die USA zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort in der Lage sein würden, einen Krieg erfolgreich zu beginnen, durchzuführen und das besetzte Territorium und die besiegte Bevölkerung danach wieder zu befrieden. Alle bereits genannten Argumente wurden außerdem von der Behauptung übertroffen, dass mit der Vernichtung Saddam Husseins der maßgebliche Widerstand gegen eine Lösung der Palästinafrage im amerikanisch-israelischen Sinne aus dem Weg ge-räumt werde. Gegen diese Vielzahl von Begründungen mit dem Argument ankämpfen zu wollen, Terroristen seien Kriminelle, gegen die man keinen Krieg führe, sondern nach ihrer Ergreifung zu Gericht sitze, war ein vergebliches Unterfangen.
Entgegen vor allem amerikanischer, aber auch teilweise britischer Erwartungen, empfing die irakische Bevölkerung die amerikanischen Invasoren nicht mit Blumen- sträußen, sondern abwartend und skeptisch. Ihre Haltung schlug letztendlich in Ablehnung um, nachdem die Besatzungspolitik der USA ihr zwiespältiges Gesicht gezeigt hatte. Zum heutigen Zeitpunkt löst sich der Irak innerhalb eines Bürger-krieges in seine drei ethnisch unterschiedlichen Teile auf und sein Territorium ist tatsächlich zum Experimentierfeld von Terroristen geworden. Aus dieser verfahrenen Situation, die sich bereits seit 2004 deutlich abgezeichnet und Bushs Krieg gegen den Terror zu einem nicht gewinnbaren Krieg gemacht hat, bietet sich als Befreiungsschlag ein neuer Ost-West-Konflikt an, – nur diesmal nicht mit dem zwar an Energie reichen aber ansonsten schwachen Russland, sondern mit China und erst in dessen Schlepptau auch mit Russland.
4.2 Eine neue duale Hegemonie zwischen den USA und China?
Gefragt, welche Herausforderung China für die USA darstellt, antwortete die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice im Juli 2005: „I really do believe the U.S. – Japan relationship, the U.S. – South Korean relationship, the U.S. – Indian relationship, all are important in creating an environment in which China is more likely to play a positive role than a negative role. These alliances are not against China; they are alliances … that put China [on] a different path to development than if [it] were simply untethered, simply operating without that strategic context.” (Siddharth Vardarajan, America, India and Outsourcing Imperial Overreach, The Hindu, July 13, 2005). In dieser Antwort steckt der Versuch der USA, gegenüber China nach dem Muster der ehemaligen Containmentpolitik des Ost-West-Konflikts eine Eindämmungspolitik einzuleiten, an der sich möglichst alle Anrainerstaaten Chinas und insbesondere auch Indien beteiligen. Hintergrund der neuen Strategie ist die Erkenntnis der Bush-Administration, dass sich unter der Ägide der Globalisierung China zwar dem Weltmarkt gegenüber geöffnet hat, aber nicht – wie angenommen – daran ökonomisch zerbrochen ist, sondern in schnellen Schritten seine zurückgebliebene Wirtschaft wettbewerbsfähig gestaltet hat und nach geraumer Zeit mehr Produkte in die USA exportierte als von den USA nach China importiert wurden. Transnationale Unternehmen haben die Öffnung des chinesischen Marktes zur drastischen Kostenreduzierung benutzt und legen jetzt größten Wert auf die enge Verzahnung Chinas mit den Absatzmärkten für chinesische Produkte. Der ständig in Meilenstiefeln wachsende chinesische Außenhandel beschert der chinesischen Zentralbank einen enorm steigenden Devisenzufluss insbesondere in US-Dollar. Die Bush-Administration kommt nicht umhin, Chinas ökonomische Herausforderung als sehr ernst anzunehmen. Die chinesischen Führer vermeiden jedoch, in die Fußstapfen der Sowjetunion zu steigen und das gleiche Schicksal wie jene zu erleiden. Sie lassen sich nicht auf einen militärischen Kräftevergleich ein. Offensichtlich trauen sie amerikanischen Politikern und Strategen nicht zu, zwischen den Erfordernissen einer dualen Hegemonie und der Verfolgung eines kräfteverschleißenden neuen Ost-West-Konflikts unterscheiden zu können, in dem jede Seite vornehmlich die jeweils andere zu schwächen sucht, um schließlich als Sieger das Feld der Auseinandersetzung verlassen zu können. Die chinesischen Führer sandten schon frühzeitig Signale nach Indien, sich nicht in eine Eindämmungsstrategie der USA einbinden zu lassen und erhielten letztlich von Indien eine positive Antwort.
4.3 Indien in der Zwickmühle
Als einer der Führer der Blockfreienbewegung wurde der politischen Elite Indiens schon sehr früh bewusst, welche Art von Hegemonie die USA und die Sowjetunion im Ost-West-Konflikt miteinander gebildet hatten. Sie erkannten die drei Aspekte der dualen Hegemonie – ideologische Feindschaft, Kooperation vorwiegend in Europa und Rivalität in anderen Teilen der Welt -, unternahmen jede Anstrengung, nicht in das Räderwerk der Rivalität der beiden um neue Einflussgebiete zu geraten und waren letztlich auch erfolgreich in der Bewahrung ihrer Souveränität. Indische Strategen haben auch frühzeitig den Versuch der USA entdeckt, mit und gegen China einen neuen Ost-West-Konflikt zu erzeugen. Als die Bush-Administration Indien einlud, auf der Seite der USA daran teilzuhaben, schien zunächst die Versuchung sehr groß zu sein, aber die bessere Einsicht in die Gesamtzusammenhänge haben die indische Führung letztlich davor bewahrt, der amerikanischen Einladung zu folgen, obwohl bis in die Gegenwart immer wieder Angebote gemacht werden.
In der Tat konnten die USA den Indern ein sehr lukratives Angebot offerieren. Sie würden trotz indischer Nichtunterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages für Atomwaffen die Nuklearmacht Indien anerkennen und das seit der Zündung der ersten indischen Atombombe bestehende weltweit angewandte Embargo gegen Indien in der Belieferung mit nuklearem Brennstoff aufheben. In den unverzüglich beginnenden Verhandlungen zu einem zivilen Nuklearabkommen zeichnete sich auch eine Einigung ab. Die USA schienen Indien tatsächlich als gleichwertigen Partner anzuerkennen, aber in der Ausformulierung des sogenannten Kleingedruckten („Hyde Act“) ließen die USA dennoch erkennen, dass im Falle von Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen des Vertrages einseitig auf Indien erhebliche Strafmaßnahmen zukommen würden.
Außerdem sprachen sich die USA strikt gegen den Bau einer Gaspipeline von Iran über Pakistan nach Indien aus und gefährdeten damit die indischen Pläne nach mehr Versorgungssicherheit mit Energie. Würden sie unter den bestehenden Gegebenheiten mit den USA für eine Eindämmungspolitik gegen China votieren, hätten sie nicht nur China zum Feind, sondern gefährdeten auch die bis dahin guten Beziehungen zu Russland. Russland als traditioneller Waffenlieferant Indiens könnte künftig sehr viel weniger Rüstungsgüter nach Indien liefern, wenn die USA zum bevorzugten Waffenlieferanten Indiens aufstiegen. Im Falle des Wirksamwerdens einer amerikanisch-indischen Eindämmungspolitik gegenüber China würden die Chinesen außerdem engere Beziehungen mit Russland anstreben, was zur Folge hätte, dass Indien weder über eine Gaspipeline mit billigem iranischen Gas versorgt werden könnte, noch mit Flüssiggas aus Russland und weiterhin einseitig von Gas-lieferungen aus dem unter amerikanischen Einfluss stehenden arabischen Raum abhinge. Sich mit China in eine kräftezehrende Eindämmungspolitik zu begeben, ohne von den USA adäquate Gegenleistungen zu erhalten, war für die indische Führung unakzeptabel. In einem neuen Ost-West-Konflikt würden die USA und China eine neue duale Hegemonie bilden und ihre jeweiligen Verbündeten dieser Hegemo-nie auf der einen oder anderen Seite zuordnen. Aus der gleichgewichtigen strategi-schen Partnerschaft mit den USA würde bestenfalls ein Über- und Unterordnungs-verhältnis, schlimmstenfalls ein Herrschafts- und Beherrschungsverhältnis zu Lasten Indiens entstehen.
5. Indiens Triangelstrategie (Indien, China, Russland)
5.1 Strategische Partnerschaft zwischen Indien und China
Chinas strategische Berater haben Indien schon seit geraumer Zeit zur Bildung einer strategischen Partnerschaft eingeladen. Beide Großmächte Asiens, Nachbarn mit einer gemeinsamen Landgrenze, sollten sich mit Respekt für die jeweils andere Position im freundschaftlichen Wettbewerb miteinander messen, ihren bilateralen Handelsaustausch auch über Land verstärken (Grenzübergang Sikkim/Tibet), in Streitfäl-len Kompromisse schließen und gemeinsam eine interregionale Asienpolitik initiieren. Bei ihrem Vorschlag konnten sie sich auf gelegentliche indische Signale stützen, die immer wieder einmal in Richtung China ausgesandt wurden und nicht nur den Handelsaustausch betrafen, sondern auch Grenzstreitigkeiten ansprachen. Eine strategische Partnerschaft bedeutete, dass beide Seiten auf jegliche Hegemonie verzich-teten und in ihrem Verhältnis zueinander ihre jeweiligen Optionen stets zum Aus-gleich brachten. Sie mussten sich insbesondere über ihre strategischen Ziele im Indi-schen Ozean, im südchinesischen Meer und im Pazifik einig werden, um nicht von den USA gegeneinander ausgespielt zu werden.
Von großer Wichtigkeit war auch ein Einverständnis in der Behandlung der Transnationalen Unternehmen und des Finanzkapitals, die beide den chinesischen und indischen Markt zu durchdringen trachten, und hierbei nicht zimperlich vorgehen.
Regierungen gegeneinander auszuspielen, indem man die gewährten Vorteile der einen gegen die angebotenen Vorteile der anderen ausspielt, um letztlich beide Regierungen zu schwächen, gehört zum Alltagsgeschäft global tätiger Unternehmen. Auch der größte Binnenmarkt schützt nicht vor solchen Methoden.
5.2 Russlands Beitritt zur strategischen Partnerschaft Indien-China
Für geraume Zeit hatte die russische Führung eine enge Anlehnung an die Europäische Union favorisiert, ohne selbst Mitglied sein zu wollen. Voraussetzung für eine solche Partnerschaft war die Anerkennung der engen Anbindung der ehemals zur Sowjetunion gehörigen Staaten Ukraine und Weißrussland an Russland und die europäische Zurückweisung amerikanischer Versuche, der Ukraine sowie Georgien die Mitgliedschaft in der NATO anzubieten. Mit dem Beitritt der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zur Europäischen Union (und zur NATO) war man bereit sich abzufinden, wenn die EU mäßigend auf die Außenbeziehungen der drei Staaten zu Russland einwirkte.
Die russische Führung veränderte jedoch ihre strategische Ausrichtung angesichts folgender Entwicklungen:
- Insbesondere Polen und Tschechien nahmen einen erheblichen Einfluss auf die Außenbeziehungen der EU und traten – neben Rumänien und Bulgarien – als vehemente Vertreter von US-Interessen auf.
- Die EU bezweifelte nach der Unterbrechung der Gaslieferungen in die Ukraine die sichere Erdgasversorgung der EU mit russischem Erdgas.
- Die EU startete zusammen mit den USA den Versuch, auf der Südschiene durch Aserbeidschan und Georgien hindurch Erdgas aus den zentralasiatischen Republiken unter Umgehung Russlands nach Europa zu transportieren.
Russland hat in China und Indien sichere Abnehmer seiner Gas- und Ölproduktion gewonnen und ist dabei, die Transportwege auf der Schiene, durch Pipelines und auf dem Schiffswege zu erweitern. Indien bezieht beispielsweise aus Sachalin verflüssigtes Erdgas, nachdem zuvor die Förderrechte westlicher Ölgesellschaften drastisch beschnitten wurden. Indien und China sind außerdem Abnehmer russischer militärischer Produkte. Russland verzichtet sehr bald auf den kasachischen Abschussplatz Baikonur und wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Vereinbarungen mit Frankreich über die künftige Benutzung des südamerikanischen Abschlussplatzes im fran-zösischen Cayenne nicht Realität werden lassen. Statt dessen ist Russland bereits mit Indien über die gemeinsame Benutzung eines äquatornahen Abschussplatzes für Weltraumraketen sowie die Produktion von Transportflugzeugen handelseinig geworden. Indien schließt sich den russischen GPS-System an.
Nachdem die Gaspipeline durch die Ostsee von Estland, Finnland und Schweden zunehmend in Frage gestellt wird, verteuert Russland die Überflugrechte über russisches Territorium nach China und Afghanistan. Sollte außerdem die deutsche Regierung ihren Druck auf den Iran erhöhen, müsste Lufthansa Cargo den weiten Umweg über den Indischen Ozean nehmen und Bundeswehrtransporte nach Usbe-kistan wären unbezahlbar. Ihr Stützpunkt im Süden Usbekistans wäre sinnlos geworden.
5.3 Perspektiven der Dreierallianz Indien-China-Russland
Vorübergehend sprach man in westlichen Kommentaren fälschlicherweise von einem Wiederaufleben der Blockfreienbewegung und vergaß völlig, dass weder China noch Russland je dazu gehört haben. Die Dreierallianz führt die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Erde China und Indien mit dem Energieriesen Russland zusammen. Der Handelsaustausch zwischen diesen drei strategischen Partnern wird selbst dann erheblich zunehmen, wenn sich Transnationale Unternehmen amerikanischen, japanischen und europäischen Ursprungs aus dem Markt zurückziehen und auf die Wiedererstarkung des innerwestlichen Dreiecks USA-Europa-Japan konzentrieren sollten. In ihrer Produktpalette ergänzen sich die drei Länder hervorragend und treten deshalb nicht als Konkurrenten auf dem Weltmarkt auf. Mit dem Iran als zusätzlichem Energieversorger, Australien als weiteren Rohstoffproduzenten und den ASEAN-Staaten als weiterer Handelspartner für Fertigprodukte würde der interregio-nale asiatische Markt komplettiert. Investitionen zum Ausbau der Infrastruktur aller Regionen sind in Hunderten von Milliarden Euro notwendig. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die in Europa und Japan beheimateten TNCs aus diesem zukunftsträchtigen Markt zurückziehen werden, der inzwischen prozentual denjenigen der USA weit übertrifft (z.B. USA = 9% des deutschen Exports, China = 10%, zusätzlich die Exportanteile Russlands, Indiens und der ASEAN-Staaten).
5.4 Isolation der USA
Auch unabhängig von der Neustrukturierung des Mit- und Gegeneinanders der globalen Mitspieler droht den USA wegen ihrer internen ökonomischen Schwierigkeiten und der uferlosen Verschuldung tatsächlich eine Isolation. Sie drängen deshalb mit allen erdenklichen Mitteln die Europäer dazu, die von ihnen programmierte Eindämmungsstrategie gegenüber Russland und China mitzutragen und scheinen bei der Bundeskanzlerin Merkel auch Erfolg zu haben, nicht jedoch beim Außenminister. Im Außenministerium sieht man die Lage völlig anders und ist mit der deutschen Wirtschaft der Meinung, die Kontakte zur Dreiländerallianz Indien, China, Russland keinesfalls zu verringern.
Die USA drängen Indien mit allen verfügbaren Mitteln dazu, aus der Allianz mit Russ-land und China auszusteigen und statt dessen mit den USA, der EU und Japan engere Beziehungen aufzunehmen. Wenn selbst Henry Kissinger nach Bengalen aufbricht, um mit der dortigen kommunistischen Regionalregierung über die bisher verweigerte Unterschrift unter das amerikanisch-indische Nuklearabkommen zu verhandeln, zeigt dieser Vorgang, wie ernst es den USA schon unter den Nägeln brennt. Inszenierte Unruhen in Bengalen, die den Rückhalt der mit großer Mehrheit gewählten kommunistischen Regierung bei der bengalischen Bevölkerung untermi-nieren sollen, zeigen an, mit welchen Methoden die Zentralregierung Indiens unter Druck gesetzt wird. Kann sie nicht mehr auf die Abstinenz ihres kommunistischen Koalitionspartners verweisen, muss sie den fertig ausgehandelten Nuklearvertrag mit den USA unterschreiben, der bisher zu ihren Lasten geht.
6. Schlussfolgerungen
Als ursprünglich britische Kolonie und zugleich freie Siedlerrepublik strebten die USA in ihren Anfängen nach Unabhängigkeit ihres eigenen Territoriums und des gesam-ten amerikanischen Kontinents, um schließlich sogar darüber hinaus auch die den USA gegenüberliegenden Küstenregionen von Atlantik und Pazifik in ihren Einfluss-bereich zu bringen. Trotz dieses Strebens nach Erweiterung ihres Herrschaftsbereichs waren die USA nie in der Lage, ein Imperium zu bilden. Sie wurden frühzeitig gezwungen, mit der Sowjetunion eine duale Hegemonie einzugehen und diese auf zwei Pfeiler zu gründen: das innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan als ersten Pfeiler sowie den Ost-West-Konflikt als zweiten. Die Einschränkungen in ihrer Handlungsfreiheit, die den USA vor allem durch den Ost-West-Konflikt auferlegt wurden, glaubten sie nach der Zerschlagung der Sowjetunion im Zeichen der Globalisierung abschütteln zu können. Da die Globalisierung jedoch nicht zugleich auf eine Amerikanisierung des gesamten Globus hinauslief und sie selbst als Zentralmacht voll unter deren negative Auswirkungen zu leiden hatten, versuchten sie als Ausweg einen neuen Ost-West-Konflikt zu initiieren. Nachdem die chinesische Führung sich nicht verleiten ließ, mit den USA eine duale Hegemonie zu errichten, trugen die USA der indischen Führung an, ihnen bei der Eindämmung Chinas behilflich zu sein und dafür entsprechende Gegenleistungen empfangen zu dürfen. Nach reiflicher Überlegung schlug Indien das Angebot der USA aus und bildete statt dessen zusammen mit China eine strategische Partnerschaft, der sich Russland inzwischen angeschlossen hat. Gegen dieses indisch-chinesisch-russische Dreieck versuchen die USA jetzt das „alte“ innerwestliche Dreieck USA-Westeuropa-Japan in Stellung zu bringen. Ihre Ausgangsposition ist jedoch denkbar schlecht, weil sie sich in einer kritischen ökonomischen Phase befinden und gegenwärtig nicht besonders attraktiv für die transnationalen Unternehmen und das global agierende Finanzkapital sind. Weder letztere noch die hofierten Partner von einst (Westeuropa und Japan) wollen sich von sicheren Energiequellen und reichen Produktions- und Absatzmärkten sowie lukrativen Finanzplätzen trennen. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. die jetzige Bundeskanzlerin Merkel und die britische Regierung) streben sie danach, den Vorstellungen der USA nicht zu folgen. Gegen die drohende Isolierung wird die amerikanische Administration mit allen verfügbaren Mitteln ankämpfen und sich trotz Guantanamo und Foltervorwürfen als der Hort der Freiheit und der Demokratie präsentieren.
Anmerkungen1. Zu diesem Zweck wurde ein in Paris angesiedeltes Koordinationskomitee (COCOM) gebildet, das bis nach dem Ende des Ost-West-Konflikts funktionierte.
2. Großbritannien und Frankreich signalisierten durch ihre Teilnahme, dass sie ihre inzwischen fort-geschrittene Abhängigkeit von den USA (Suezkanalniederlage 1956) als weniger gravierend betrachteten als eine eventuelle Vereinigung Deutschlands.
8. Dezember 2007
Reinhard Hildebrandt
What unites the European Union and Ukraine? –
The search for identity!
Although a comparison between the European Union and Ukraine does not appear compelling at first glance, there is one thing they have in common: their marginal position within larger groupings. The EU forms part of the Transatlantic-Pacific alliance, and extends to its easternmost borders, while the U.S. still perceives itself as the center of the triangle. The ever-declining importance of the inner-western triangle compels the EU to develop its own identity. Ukraine also finds itself in the position of a border state vis-à-vis the EU and Russia, alternately inclining more towards Russia or the EU, or at times being co-opted more heavily by the one or the other side.
1. The EU: A marginal position in the inner-western triangle
During the East-West conflict, the Western European states generally toed the US line without major dissent. When the Soviet Union disintegrated in 1991, they certainly felt liberated from their fear of the Soviets, and increasingly dwelt upon their nation-state identities; yet – initially at least – they made no attempts to leave the inner-western triangle comprising the USA – Japan – EU. Although these West European states demanded a greater say vis-à-vis the United States, they continued to perceive themselves as an integral part of the „West“, secure in the community of values they shared with the US.
During the Clinton era, the West European members of the EU complained more frequently about Britain’s special position, with Britain perceiving itself as a part of the Anglo-American hegemony, often operating as an agent of U.S. interests in the EU. But it was not until the following two periods of Bush Jr.’s presidency – which were marked by the unilateral nature of his politics – that the EU became more involved in the formation of a pan-European identity, without this aspect becoming relevant to the political practice of the day. Many EU members still viewed themselves and assessed the rest of the world predominantly from the perspective of the Transatlantic partnership, holding a privileged relationship with the United States to still be indispensable. This attitude only changed gradually, when the EU came under the full impact of the severe repercussions of the financial crisis emanating from the U.S. The member states of the EU had – in fact still have – to realize that their continued behavior as subordinates of the United States weakens the role and status of the EU on the international stage. What sparked off this realization was the declining importance of the inner-western triangle and the rise of India and China, whose ruling elites treated the EU with nothing short of disdain.
Some select examples – among many:When Wang Xi, Professor of History at Peking University, was asked at the February 8th 2010 event on „The relationship between the U.S., China and the European Union“, organized by the Berlin John F. Kennedy Institute, why the EU was rated so low as a global player by the international community, he replied by pointing to the EU’s lack of identity to date. Since the EU does not appear to be a player acting independently of the US, China prefers to turn directly to the latter and would rather contact individual members of the EU for day-to-day business. At the „Indo-European Dialogue“ organized in Brussels and Paris by the Brussels Foundation for European Progressive Studies in November 2009, India’s response to the EU was unabashedly similar. When Banning Garrett, Director of the Asia Program of the Atlantic Council, condescendingly remarked at the said event organized by the John F. Kennedy Institute that a strong EU is obviously much better for the United States than a weak one, the other members of the panel (Eberhard Sandschneider, Professor at the Free University of Berlin and Director of the German Society for Foreign Policy; Moritz Schularick, Professor of Economics at the Free University of Berlin; Andreas Etges, Professor of History at the John F. Kennedy Institute, Free University of Berlin) as well as the audience reacted with an embarrassed silence. Banning Garrett seemed to be unaware that the U.S. cannot have both: a strong EU and a debilitated one – debilitated by the close cooperation between Wall Street and the City of London, and the strategy of playing off the so-called „old“ (Western) and „new“ (Eastern) Europe against each other. Surprisingly, no panelist drew Banning Garrett’s attention to his contradictory stand; neither did anyone counter him with an independent EU standpoint. Consequently, the impression created was that the panelists wholly concurred with Banning Garrett in holding the EU solely responsible for the weak position it was said to be in. At any rate, even after this critical juncture, the panelists continued to affectionately refer to Banning Garrett as „Banni“.
The behavior of American banks like Goldman Sachs and JPMorgan Chase also contributed to the weakening of the EU. These banks helped Greek and Italian politicians cover up the growing indebtedness of both countries by allocating real, but obviously also dubious, derivatives. In return for the cash infusions, the two governments pledged their future revenue, in the case of Greece revenue from airport taxes and lotteries. As early as in 2001, Goldman Sachs had helped the Greek government cover up its deficit. Shortly after Greece’s entry into the euro area, Goldman Sachs lent Greece several billions of dollars against hefty fees. This was simply recorded as a currency transaction (swap) rather than a loan (Newspaper article: Wall Street, “Athens helped conceal the crisis”, in: Zeit Online – DPA News ticker, 14.2.2010/Mark Schieritz, “Chasing the Fortune-Hunters”, in: Die Zeit, 25.2.2010).
Robert von Heusinger is no doubt right when he accuses the former German Finance Minister, Theo Waigel, of resorting to the same tricks. Like the Greek government, Waigel also sought to meet the debt criterion of the monetary union by selling telecom and postal shares to the state-owned bank KfW, „(Frankfurter Rundschau, 16. 2. 2010). What is more, one of his successors, Hans Eichel, used the same trick again in 2005. But unlike Greece and Italy, Waigel and Eichel did not bring the U.S. banks into the picture. Unlike their two southern European counterparts, they did not provide the American investment banks and hedge funds with massive leverage which these banks could then use while betting against the solvency of the EU members, the stability of the euro or against unpalatable EU recommendations for regulating financial transactions.
Some approaches to a solution: The European Union can effectively overcome its marginal situation vis-à-vis the US only if it
- supports the European Parliament in its resistance to unequal agreements and – as in the case of the SWIFT agreement – refuses to meet U.S. demands for the handover of all data;
- identifies and plugs all exploitable weaknesses of individual members in good time;
- urges the British government to clarify its relationship with the EU;
- closes ranks as a single entity on the basis of the Lisbon Treaty and prevents the possibility of one member being played off against the other;
- aims at the integration of financial policy which has so far been entirely in the hands of individual EU members;
- works towards finding an identity for the EU.
2. The need for identity in Ukraine
In Ukrainian history, periods of strengthened national independence alternated with periods of a total loss of sovereignty, periods of expansion with periods of a drastic loss of territory. Just the name Ukraine signals that it is a classic peripheral state, perpetually subjected to the territorial ambitions of neighboring states.
Over the centuries, the Mongols, Poles, Lithuanians, Russians, Ottomans as well as the Habsburgs and the Germans preyed upon Ukraine. After occupation by German troops in 1941, the Ukraine was even controlled by the Reich Ministry for Occupied Eastern Territories (RMfdbO) for three years. But in 1945 the country was again incorporated into the Soviet Union as Ukrainian SSR. Nikita Khrushchev, a Ukrainian himself and therefore aware of Ukraine’s attempts to gain independence, bequeathed the peninsula of Crimea to the Ukrainian SSR in 1954, to mark the 300th anniversary of Russian-Ukrainian unity.
After the collapse of the Soviet Union Ukraine proclaimed itself an independent state on 24th August 1991. With this declaration of independence, Ukraine once again repeated the act it had taken recourse to at the end of Czarist rule. However, at that time, its aspirations for independence had been trampled upon by a revolutionary Soviet Union which soon reasserted its claims over Ukraine by once again annexing it.
The Ukraine’s tumultuous history saw the Russians, Poles, Romanians, Tatars, Belarusians, Bulgarians, Hungarians, Armenians, Jews and Germans – apart from the Ukrainians themselves – settle on Ukrainian soil. Following the extermination of Jews in German concentration camps and the expulsion of Germans and Poles after the Second World War, the population of Ukraine was mainly made up of Ukrainians and Russians. Although statistics put down 74.4 percent of the Ukrainian people as having mastery over the Russian language and Russian is the dominant language in both the east and the south, it is not accorded equal status. Ukraine’s identity problem gets reflected in the „language debate“ as well as in its varying religious affiliations. The two hostile Orthodox churches come under the Kiev and Moscow Patriarchate, while the Greek Catholic Church recognizes the pope as its head.
The post-independence period sees the representatives of West-leaning parties and the proponents of close cooperation with Russia standing bitterly opposed in politics. In the wake of the international financial crisis and the gas dispute with Russia, the NAK Naftohaz Ukrainy ran up 3.2 billion euros of debt, and by mid-February 2009 was even threatened by insolvency. The threat of financial bankruptcy jeopardized the transportation of Russian gas to the EU countries. The pro-Western parties put the blame for the conflict on Russia, while the pro-Russian side diagnosed failure on the part of Ukraine’s pro-West president.
As a result of persisting internal divisions, Ukrainian foreign policy has been working towards very different objectives since 1991. The pro-Western parties are in favor of early EU and NATO membership; the representatives of people living in the southern and eastern parts of Ukraine are for moving closer to Russia. After the privatization of the former socialist but actually state-owned enterprises, and the rise of some of the new owners as influential oligarchs, an additional phenomenon was discernible alongside the existing two: the division of the population into the mass of the impoverished landless and the wealthy few.
Under President Leonid Kravchuk (1991-94) and Leonid Kuchma (since 1994, re-elected 1999) Ukraine passed the first decade of its independence battling numerous setbacks. The initially high expectations of the people vis-à-vis the nation’s sovereignty were not met. The East Ukrainian population even suffered a double disappointment. Double-digit inflation, mass unemployment and a high external debt of almost 13 billion U.S. dollars (late 1990s) shattered all hopes of prosperity. Besides, they realized that their own Russian-oriented lifestyle was sidelined by the increasing dominance of the Ukrainian culture and language.
Their grievances, though understandable, were part of a long tradition of mutual contempt. Thus, under the Czarist regime, the Ukrainian-speaking population was subjected to the policy of Russification. By contrast, during the first twenty years of its existence, the Soviet Union promoted the culture and language of the Ukrainians. This policy was reversed again after the Hitler-Stalin Pact (1939-1941) by an increasingly aggressive strategy in favor of the Russian language, particularly in the former Eastern Polish region of Ukraine. This was followed by Khrushchev’s ambivalent tactic to increase the proportion of ethnic Russians in the Ukrainian SSR, with the aim of using them as an effective counterweight to the Ukrainian population.
After the elections in the beginning of 2010 it was only to be expected that the pro-West-oriented social forces would try to advance the Ukrainization of the entire country and push for a Western orientation of the Ukraine. When this policy did not yield the desired results, it was clear that the pro-Russian forces in Ukrainian society would unleash a countermovement. The dynamic of movement and countermovement continued to have an impact even after the presidential election of 2004 (Orange Revolution). More vigorously than ever before, the pro-Western forces under President Viktor Yushchenko of Ukraine sought closer ties with NATO and the EU, whilst the pro-Russian side waited for an opportunity to turn the tables again, following the elections in the beginning of 2010, hoping to build better relations with Russia under the new President Viktor Yanukovych.
Some approaches to a solution:This tussle between pro-Western and pro-Russian orientation will not come to an end until the Ukraine has found a distinct identity for itself. Despite the common origins it shares with Russia as part of the 10th century Kingdom of Kiev, the Ukraine is not a severed part of Russia; neither does Russia or Ukraine form part of the core area of Europe. Ukraine’s own identity rests on
- establishing parity between the Ukrainian and Russian languages;
- the tolerant co-existence of the hitherto antagonistic Orthodox Churches and the Roman Catholic Church on the basis of the Christian religion, common to all;
- the mutual respect and appreciation of different cultures;
- development of a middle class familiar with both languages and cultures;
- bringing together the different industrial regions into an independent economic sphere of circulation and
- integrating different collective memories and developing a common cultural memory.
3. Prerequisites for the development of good neighborly relations between the EU and Ukraine
3.1. Scenarios on the EU side
The first condition for good neighborly relations with Ukraine is for the EU to clarify its relations with the United States. If the EU as a whole, or some individual members, allow the US to control their policies, there is the danger of the EU’s relationship with Ukraine being subordinated to U.S. relations with Russia. President Bush’s desire to pave the way for Ukraine’s membership in the North Atlantic Treaty, at the NATO meeting in Bucharest in July 2008, is indicative of the pressure which the EU could come under if its priorities are not demarcated in time. The majority of the EU-members feared that their relations with Russia would drastically deteriorate if they acquiesced to the American plan to throw open NATO’s doors to Ukraine (and Georgia).
It was clear to one and all that it would be unthinkable for Russia to station the Russian Black Sea Fleet in a NATO country: for, once Ukraine joined NATO, the Black Sea port of Sevastopol in Crimea would be on NATO territory. It was feared that in the event of EU approval of Ukraine’s NATO entry, Russia would use all available means to prevent this materializing, for instance by estabilizing the country with the help of the Russian-speaking populations in the eastern and southern parts. Civil war in Ukraine would not only inflict severe damage on relations between EU and Russia, but also create conflicts within the EU between members who fully support the U.S. position and those who do not agree with the USA’s anti-Russia strategy. The long unclear position of the European NATO members led the Bush administration to hastily assume that the consent of the Europeans could be induced through massive pressure and surprise tactics.
Apart from the contentious issue of Ukraine’s candidature for NATO membership at a later date, the EU had since 1994 given the impression that Ukraine could become an EU member one day. In 1994, the EU negotiated an agreement on partnership and cooperation with Ukraine, with the intention of bringing Ukraine closer to the EU. In early 2005 a plan of action followed, which envisaged the convergence of the Ukrainian legal system with EU law, respect for human rights, creation of a market economy, stable political development and the creation of an FTA between the EU and Ukraine.
After Bush’s plan had been rejected, the EU negotiated an Association Agreement aiming at the gradual economic integration of Ukraine into the EU, and the deepening of political cooperation between both partners. One significant economic factor that propelled this agreement was the prospect of a large market of 46 million inhabitants. On 7 May 2009 the EU also invited Ukraine to take part in its „Eastern Partnership“ program with the intention of establishing Western democratic practices in Ukraine and expanding EU influence in Eastern Europe. Some commentaries on the treaty saw not only greater influence for the EU in Eastern Europe but also a positive impact on Russia. That this could lead to a further alienation of Russia was a possibility that was widely ignored in official commentaries.
If the EU were to even go so far as to accept Ukraine as an EU member and refuse Russia entry, relations with Russia would deteriorate significantly. This apart, if the EU were to also try to circumvent Russian territory in supplying oil and gas to the EU countries (Nabucco pipeline), and exclude Russia altogether while doing business with the Central Asian states, relations with Russia would be irreparably damaged. By pursuing an anti-Russia policy of this kind, the EU would be completely playing into the hands of the U.S, which under Bush Jr. sought to contain Russia. Besides, the EU would forfeit the advantage of achieving lower costs by using Russian transit routes to reach China and India. The fact that NATO failed to secure permission to fly its reconnaissance aircraft AWACS from Turkey via Georgia, Azerbaijan and Turkmenistan to Afghanistan, for deployment there against the Taliban, is testimony to the extent to which relations with Russia have deteriorated. Neither Azerbaijan nor Turkmenistan was willing to permit use of its air space. Quite obviously, they bowed to Russian pressure.
The EU will only be able to maintain good neighborly relations with Ukraine if it acts independently of the US and conducts itself as a global player, while ensuring that its policy towards Ukraine does not damage its relationship with Russia. Lending support to Ukraine in its search for a separate identity, and involving it in the process of developing a common Eurasian economic area would no doubt be beneficial to good neighborly relations.
3.2. Scenarios on the Ukrainian side
As a state bordering both Russia and the EU, close affiliation with either the EU or Russia would prevent Ukraine from developing its own identity. As long as the pro-Western forces in Ukraine look to the United States for protection against Russia and regard it as the guarantor of Ukrainian security, they will continue to support a policy of confrontation towards Russia while constantly trying to get the EU involved in this policy. If the very same social forces also look upon the EU as a source of financing urgently needed reforms in the Ukrainian state and society, they will by no means be closer to developing good neighborly relations with the EU. If, on the other hand, the pro-Russian forces seek close affiliation with Russia, they will only create fear and apprehension among the eastern and central European members of the EU and further alienation between the EU and Russia. Without developing an independent identity, Ukraine -while remaining a much sought-after border state -cannot contend with real support for overcoming its domestic crises or staving off external dangers. The development of a Ukrainian identity would – as stated above strengthen social cohesion and see the country evolve into a reliable partner for the EU and Russia.
4. Concluding Remarks
If the EU and Ukraine are successful in the search for an identity and the development of an independent strategy, they will proceed with confidence and the EU may be well on its way to becoming a Eurasian grouping. Ukraine will then be able to assume the role of a strong, stable bridge. However, if the EU remains passive in its peripheral transatlantic role and Ukraine fails to find its identity, then both face the threat of ruin. There is an urgent need to expand the policy of information regarding Ukraine, and not just report on the difficulties posed by the transportation of natural gas from Russia.
22. März 2010
Reinhard Hildebrandt
Was verbindet die Europäische Union und die Ukraine? –
Die Suche nach Identität!
Obwohl sich ein Vergleich zwischen der Europäischen Union und der Ukraine nicht auf den ersten Blick aufdrängt, haben beide eine Gemeinsamkeit: ihre Randsituation innerhalb größerer Zusammenschlüsse. Die EU existiert im transatlantisch-pazifischen Verbund am östlichen Rand und die USA nehmen sich nach wie vor als Zentrum dieses Dreiecks wahr. Die weiter abnehmende Bedeutung des innerwestlichen Dreiecks zwingt die EU zur Entfaltung einer eigenen Identität. Die Ukraine steht gegenüber der EU und Russland ebenfalls in einer Randstaatenposition, abwechselnd mehr Russland oder der EU zuneigend bzw. mal mehr von der einen oder der anderen Seite vereinnahmt.
1. Die EU am Rande des innerwestlichen Dreiecks
Zur Zeit des Ost-West-Konflikts ordneten sich die Staaten des westlichen Europas den Vorgaben aus den USA in der Regel ohne große Einwände unter. Nach dessen Ende (1990) fühlten sie sich von der Furcht vor der Sowjetunion zwar befreit und erinnerten sich verstärkt ihrer nationalstaatlichen Identität, aber unternahmen zunächst keine Versuche, aus dem innerwestlichen Dreieck USA – Japan – EU auszuscheren. Sie begriffen sich weiterhin als integraler Teil des „Westens“, aufgehoben in der Wertegemeinschaft mit den USA; allerdings begannen sie gegenüber den USA eine stärkere Mitsprache einzufordern.
So beklagten die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU in der Ära Clintons häufiger die Sonderstellung Großbritanniens, das sich selbst als Bestandteil der anglo-amerikanischen Hegemonie empfand und gegenüber den übrigen Mitgliedern der EU die Interessen der USA vertrat. Aber erst in den zwei folgenden unilateral bestimmten Amtsperioden von Bush Junior bemühten sie sich stärker um die Herausbildung einer gesamteuropäischen Identität, ohne dass ihr Anliegen bereits für die politische Praxis relevant wurde. Viele Mitglieder der EU betrachteten sich und ihre Einschätzung der übrigen Welt immer noch vorwiegend aus dem Blickwinkel der transatlantischen Partnerschaft und hielten privilegierte Beziehungen zu den USA weiterhin für unverzichtbar. Diese Haltung änderte sich erst allmählich, nachdem die einschneidenden Effekte der von den USA ausgehenden Finanzkrise die EU voll erfasst hatten. Die Mitgliedsstaaten der EU mussten und müssen schrittweise erkennen, dass ihr fortgesetztes vasallenhaftes Verhalten zu den USA den Stellenwert der EU auf dem globalen Parkett schwächt. Auslösend waren hierfür die abnehmende Bedeutung des innerwestlichen Dreiecks sowie der Aufstieg Indiens und Chinas, deren Machteliten der EU nur mit Geringschätzung begegneten.
Einige Beispiele unter vielen:
Als auf der Veranstaltung des Berliner John F. Kennedy Instituts vom 8. Februar 2010 zum Thema „Das Verhältnis zwischen den USA, China und der Europäischen Union“ Wang Xi, Geschichtsprofessor der Peking University, gefragt wurde, warum die EU als globaler Mitspieler international so gering eingeschätzt werde, antwortete er mit dem Hinweis auf die bisher fehlende Identität der EU. Weil die EU nicht als von den USA unabhängiger Mitspieler wahrgenommen werde, wende man sich lieber gleich an die USA und für die alltäglichen Handelsgeschäfte kontaktiere man bevorzugt einzelne Mitglieder der EU. Ähnlich ungeniert gegenüber der EU reagierten bisweilen auch Vertreter Indiens, wie beispielsweise auf dem Ende November 2009 in Brüssel und Paris von der Brüsseler Foundation for European Progressive Studies organisierten „Indo-European Dialogue“.
Auf die Bemerkung des Direktors des Asien-Programmes des Atlantic Council, Banning Garrett, der mit herablassender Geste auf der Veranstaltung im John F. Kennedy Institut betonte, dass den USA eine starke EU natürlich sehr viel lieber sei als eine schwache, reagierten die übrigen Podiumsmitglieder (Eberhard Sandschneider, Professor der Freien Universität Berlin und Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Moritz Schularick, Wirtschaftsprofessor der Freien Universität Berlin, Andreas Etges, Geschichtsprofessor am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin) sowie die Zuhörer mit betretenem Schweigen. Banning Garrett schien nicht bewusst zu sein, dass die USA nicht beides haben können: Eine starke und eine – durch die enge Kooperation zwischen der Wall Street und der Londoner City sowie das gegeneinander Ausspielen der sogenannten „alten“(West-) und „neuen“(Ost-) Europäer – geschwächte EU. Erstaunlicherweise wies kein Podiumsteilnehmer Banning Garrett auf seine widersprüchliche Position hin, und niemand vertrat ihm gegenüber einen eigenständigen EU-Standpunkt. So entstand der Eindruck, als ob sie – im Einklang mit Banning Garrett – die EU ausschließlich selbst für die ihr unterstellte Schwäche verantwortlich machten. Der von ihnen weiterhin liebevoll „Banni“ genannte Podiumsteilnehmer hatte jedenfalls mit keinerlei Einwänden zu rechnen.
Zur Schwächung der EU trug auch das Verhalten amerikanischer Großbanken Goldman Sachs und JPMorgan Chase bei: Sie halfen den für die griechische und italienische Politik verantwortlich zeichnenden Politiker bei ihrer Verschleierung der zunehmenden Verschuldung beider Länder durch die Vergabe von echten, aber offenbar auch anrüchigen Derivaten. Für die Geldspritzen verpfändeten die beiden Regierungen offenbar künftige Einnahmen wie beispielsweise im Falle Griechenlands die Einnahmen aus Flughafengebühren und Lotterien. Bereits im Jahre 2001 hatte Goldman Sachs der griechischen Regierung kurz nach ihrer Aufnahme in die Eurozone gegen kräftige Gebühren zur Verschleierung ihres Defizits mehrere Milliarden US-Dollar geliehen und dieses Geschäft nicht als Kredit, sondern als einfaches Währungsgeschäft (Swap) verbucht (Zeitung: Wall Street half Athen Krise zu verschleiern, in: Zeit Online – Newsticker der DPA, 14.2.2010/Mark Schieritz, Jagd auf die Zocker, in: Die Zeit, 25.2.2010).
Zwar ist Robert von Heusinger zuzustimmen, wenn er dem ehemaligen deutschen Finanzminister Theo Waigel die gleichen Tricks vorwirft. Wie die griechische Regierung habe auch Waigel mit seinem Verkauf von Telekom- und Postaktien an die staatseigene Bank KfW „das Schuldenstandskriterium der Währungsunion zu erfüllen versucht“ (Frankfurter Rundschau 16. 2. 2010). Einer seiner Nachfolger im Amt, Hans Eichel, wiederholte übrigens den gleichen Trick im Jahre 2005. Aber im Unterschied zu Griechenland und Italien holten weder Waigel noch Eichel amerikanischen Banken ins Boot. Sie gaben amerikanischen Investmentbanken und Hedgefonds nicht – wie die beiden südeuropäischen Regierungen – ein massives Druckmittel in die Hand, das sie bei Wetten gegen die Zahlungsfähigkeit von EU-Staaten, die Stabilität des Euro oder gegen unliebsame Regulierungsvorschläge der EU für Finanztransaktionen ausspielen können.
Einige Lösungsansätze:
Die Europäische Union kann ihre Randsituation zum amerikanischen Zentrum erst dann wirksam überwinden, wenn sie
- das Europäische Parlament in seinem Widerstand gegen ungleichgewichtige Abkommen unterstützt und – wie im Falle des SWIFT-Abkommens – nicht die Forderungen der USA nach Auslieferung aller Daten erfüllt;
- auszunutzende Schwächen einzelner Mitglieder rechtzeitig erkennt und beseitigt;
- die britische Regierung dringend ersucht, ihr Verhältnis zur EU zu klären;
- auf der Grundlage des Lissabonner Vertrages als Einheit auftritt und ein gegenseitiges Ausspielen vermeidet;
- die Integration der bisher von jedem EU-Mitglied allein verantworteten Finanzpolitik forciert;
- die Identitätsfindung der EU vorantreibt.
2. Die notwendige Identitätsfindung der Ukraine
In der Geschichte des Landes wechselten Perioden der gestärkten staatlichen Unabhängigkeit mit Zeitabschnitten des totalen Souveränitätsverlustes, Phasen der Ausdehnung des Landes mit Zeiten drastischer Gebietsverluste. Bereits der Name signalisiert, dass die Ukraine ein klassischer Randstaat ist, der stets den Eroberungsbestrebungen benachbarter Staaten ausgesetzt war.
Im Verlauf der Jahrhunderte nahmen sich Mongolen, Polen, Litauer, Russen, Osmanen, Habsburger und Deutsche die Ukraine als Beute. Nach der Besetzung durch deutsche Truppen im Jahre 1941 unterstand sie sogar für drei Jahre als Reichskommissariat Ukraine dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO), wurde aber 1945 als Ukrainische SSR wieder an die Sowjetunion angeschlossen. Nikita Chruschtschow, selbst Ukrainer und sich daher der Verselbständigungstendenzen der Ukraine bewusst, schenkte 1954 die Halbinsel Krim anlässlich des 300jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit an die Ukrainische SSR.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion proklamierte sich die Ukraine am 24. August 1991 als unabhängiger Staat. Mit dieser Souveränitätserklärung wiederholte sie den Akt, den sie bereits nach dem Ende des Zarenreichs vollzogen hatte, der jedoch von der Sowjetunion nach kurzer Zeit durch eine erneute Einverleibung des Landes wieder zunichte gemacht wurde. Als Folge der wechselvollen Geschichte haben außer Ukrainern auch Russen, Polen, Rumänen, Tataren, Weißrussen, Bulgaren, Magyaren, Armenier, Juden und Deutsche die Ukraine besiedelt. Nach der Vernichtung der Juden in deutschen Konzentrationslagern und der Vertreibung der Deutschen und Polen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzt sich die Bevölkerung der heutigen Ukraine hauptsächlich aus Ukrainern und Russen zusammen. Obwohl laut Statistik 74,4 Prozent der ukrainischen Bevölkerung Russisch beherrschen und Russisch in Osten und Süden die dominierende Sprache ist, gilt sie bisher nicht als gleichberechtigt. Im „Sprachenstreit“ manifestiert sich ebenso wie in der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit das Identitätsproblem der Ukraine. Die beiden untereinander verfeindeten orthodoxen Kirchen unterstehen dem Kiewer bzw. dem Moskauer Patriarchat, die griechisch-katholische Kirche erkennt den römischen Papst als ihr Oberhaupt an.
In der Politik bekämpfen sich seit der Unabhängigkeit die Vertreter der Westorientierung und die Befürworter einer engen Anlehnung an Russland erbittert. Aufgrund der internationalen Finanzkrise und des Gasstreits mit Russland häufte beispielsweise die NAK Naftohas Ukrajiny Schulden von 3,2 Milliarden Euro an und stand Mitte Februar 2009 vor der Zahlungsunfähigkeit. Der drohende Finanzbankrott gefährdete erneut die Durchleitung russischen Erdgases in die EU-Staaten und verführte die prowestlichen Parteien dazu, die Schuld für den Konflikt allein Russland zuzuweisen, während die andere Seite ein Versagen des prowestlichen Präsidenten der Ukraine diagnostizierte.
Als Folge der seit 1991 andauernden inneren Gespaltenheit strebt die ukrainische Außenpolitik sehr unterschiedliche Ziele an. Die prowestlichen Parteien befürworten eine baldige EU- und NATO-Mitgliedschaft, die Repräsentanten der im südlichen und östlichen Teil der Ukraine lebenden Bevölkerung setzen sich für eine Annäherung an Russland ein. Nach der Privatisierung der vormals staatssozialistischen Unternehmen und dem Aufstieg einiger der neuen Eigentümer zu einflussreichen Oligarchen kam als weiteres Moment die Aufspaltung in die Masse der verarmten besitzlosen Bevölkerung und die wenigen Reichen hinzu.
Unter den Präsidenten Leonid Krawtschuk (1991-94) und Leonid Kutschma (ab 1994, Wiederwahl 1999) legte die Ukraine das erste mit zahlreichen Rückschlägen gepflasterte Jahrzehnt ihrer Unabhängigkeit zurück, in dem die anfangs an die Souveränität geknüpften hohen Erwartungen der Bevölkerung nicht erfüllt wurden. Die ostukrainische Bevölkerung sah sich sogar zweifach enttäuscht. Statt der erhofften Wohlstandssteigerung sank ihr Lebensstandard. Zweistellige Inflationsraten, Massenarbeitslosigkeit und eine hohe Auslandsverschuldung von fast 13 Milliarden US-Dollar (Ende der 1990er Jahre) zerstörten alle Hoffnungen. Außerdem musste sie erkennen, dass ihre eigene russisch orientierte Lebensweise von der zunehmend dominant auftretenden ukrainischen Kultur und Sprache ins Abseits gedrängt wurde.
Ihre Beschwerden waren zwar berechtigt, aber was sie beklagten, reihte sich ein in die lange Tradition beiderseitiger Missachtungen. So hatte unter der Zarenherrschaft die ukrainisch-sprachige Bevölkerung unter der Russifizierungspolitik zu leiden. Dagegen förderte die Sowjetunion in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens die Kultur und Sprache der Ukrainer. Diese Politik wurde wiederum nach dem Hitler-Stalin-Pakt (1939-1941) von einer zunehmend aggressiven Sprachenpolitik zugunsten des Russischen im vormals ostpolnischen Gebiet der Ukraine abgelöst. Ihr folgte die ambivalente Umarmungstaktik Chruschtschows, den Anteil der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukrainischen SSR mit dem Ziel zu erhöhen, sie künftig als wirksames Gegengewicht zum ukrainischen Bevölkerungsanteil benutzen zu können. Zu erwarten war, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die prowestlich orientierten gesellschaftlichen Kräfte den Versuch unternehmen würden, die Ukrainisierung des gesamten Landes und seine Westorientierung voranzutreiben. Nachdem diese Politik nicht die erwünschten Resultate erbracht hatte, war klar, dass die prorussischen gesellschaftlichen Kräfte zur Gegenbewegung auffordern würden. Der Wechsel von Bewegung und Gegenbewegung setzte sich nach den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004 (orangene Revolution) ungebrochen fort. Intensiver als je zuvor strebten die prowestlichen gesellschaftlichen Kräfte unter den Präsidenten Wiktor Juschtschenko die Anbindung der Ukraine an die Nato und die EU an, während die prorussische Seite auf die Gelegenheit wartete, nach den Wahlen im Jahre 2010 den Spieß umzudrehen und unter dem neuen Präsidenten Viktor Janukowitsch wiederum ein besseres Verhältnis zu Russland aufzubauen.
Einige Lösungsansätze:
Dieses Wechselbad zwischen prowestlicher und prorussischer Orientierung wird erst dann ein Ende finden, wenn die Ukraine endlich zu einer eigenständigen Identität gefunden hat. Sie ist trotz des gemeinsamen Ursprungs mit Russland im Kiewer Reich des 10. Jahrhunderts kein abgetrennter Teil Russlands und ebenso wenig wie Russland gehört sie zum Kerngebiet Europas. Ihre eigene Identität erwächst ihr aus
- der Herstellung von Gleichberechtigung zwischen ukrainischer und russischer Sprache,
- dem toleranten Nebeneinander der bisher verfeindeten orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche auf der Grundlage der für alle gemeinsamen christlichen Religion,
- der wechselseitigen Achtung und Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen,
- der Entfaltung einer Mittelschicht, die beide Sprachen und Kulturen in sich vereint,
- der Zusammenführung der verschiedenen industriellen Regionen zu einer eigenständigen ökonomischen Zirkulationssphäre und
- der Integration der unterschiedlichen kollektiven Gedächtnisse sowie der Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur.
3. Voraussetzungen für die Entfaltung eines wechselseitig gut nachbarschaftlichen Verhältnisses zwischen der EU und der Ukraine
3.1. Szenarien auf Seiten der EU
Erste Voraussetzung für ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zur Ukraine ist die Klärung der Beziehungen der EU zu den USA. Lässt sich die EU als Gesamtheit oder lassen sich einzelne Mitglieder ihre Politik von den USA vorschreiben, besteht Gefahr, dass ihr Verhältnis zur Ukraine den Beziehungen der USA zu Russland untergeordnet wird. Das Beispiel der von der Bush-Administration gewünschten Aufnahme der Ukraine in die Nato zeigte auf, unter welchen Druck die EU gerät, wenn sie nicht rechtzeitig ihre Prioritäten festlegt. Die meisten EU-Mitgliedern befürchteten vor der Nato-Tagung in Bukarest im Juli 2008 eine drastische Verschlechterung ihrer Beziehungen zu Russland, wenn sie dem amerikanischen Wunsch folgten, der Ukraine (und Georgien) die Anwartschaft für einen Eintritt in die Nato zu öffnen.
Allen war klar: Es wäre für Russland unvorstellbar, die russische Schwarzmeerflotte in einem Land der Nato zu stationieren; denn nach dem ukrainischen Beitritt zur Nato würde der Schwarzmeerhafen Sewastopol auf der Krim Teil des Natogebiets. Zu befürchten war, dass Russland für den Fall einer EU-Zustimmung zum Natobeitritt den Versuch unternehmen würde, mit der Hilfe der russischsprachigen Bevölkerung im Osten und Süden des Landes die Ukraine zu destabilisieren. Bürgerkriegsähnliche Zustände in der Ukraine wären geeignet gewesen, nicht nur das Verhältnis der EU zu Russland drastisch zu beschädigen, sondern hätten auch innerhalb der EU Konflikte zwischen den Mitgliedern entstehen lassen, die sich voll hinter die Position der USA stellten und denen, die mit der antirussischen Strategie der USA nicht einverstanden waren. Die längere Zeit unklare Position der europäischen Nato-Mitglieder der EU verleitete die Bush-Administration zu der vorschnellen Annahme, dass mit massiver Druckausübung und Überrumpelungstaktik die Zustimmung der Europäer herbeigeführt werden könne.
Abgesehen von der strittigen Frage der Anwartschaft der Ukraine für eine spätere Mitgliedschaft in der Nato hatte die EU bereits seit 1994 den Eindruck erweckt, dass die Ukraine eines Tages Mitglied der EU werden könnte. Sie vereinbarte 1994 mit der Ukraine ein Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit mit dem Ziel, die Ukraine näher an die EU heranzuführen. Anfang 2005 folgte ein Aktionsplan, in dessen Verlauf die Konvergenz des ukrainischen Rechtssystems mit dem EU-Recht, die Einhaltung der Menschenrechte, die Schaffung einer Marktwirtschaft und eine stabile politische Entwicklung sowie die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der EU und der Ukraine vorgesehen waren.
Selbst noch nach der Absage an die USA auf der Nato-Tagung in Bukarest und vor dem Hintergrund der Kaukasus-Krise vereinbarten die Ukraine und die EU am 9. September 2008 ein Assoziierungsabkommen, in dem die allmähliche wirtschaftliche Integration und eine Vertiefung der politischen Zusammenarbeit angestrebt wurde. Ein nicht unerheblicher wirtschaftlicher Grund für dieses Abkommen stellte die Aussicht auf einen künftigen großen Absatzmarkt von 46 Millionen Einwohnern dar. Am 7. Mai 2009 nahm die EU die Unkraine in ihre „Östliche Partnerschaft“ mit dem Argument auf, dass sich damit der Einfluss der EU in Osteuropa vergrößere und eine westlich-demokratisch geprägte Ukraine eine positive Auswirkung auf Russland habe. Dass ihre Einflussvergrößerung im östlichen Europa auch die gegenteilige Wirkung, nämlich die weitere Entfremdung Russlands hervorrufen könnte, blieb in den offiziellen Kommentaren weitgehend unberücksichtigt.
Würde man sogar so weit gehen, die Ukraine in die EU aufzunehmen und gleichzeitig Russland den Eintritt verweigern, verschlechterte sich das Verhältnis zu Russland erheblich. Wenn außerdem versucht würde, in der Öl- und Gasversorgung der EU russisches Territorium zu umgehen (Nabucco-Pipeline) und mit den zentralasiatischen Staaten unter Ausschaltung Russlands Geschäfte abzuschließen, wäre die Beziehungen zu Russland endgültig zerrüttet. Durch eine solche antirussische Politik hätte man sich vollständig in die Hände der USA begeben, die beispielsweise unter Bush Junior gegenüber Russland eine Containmentstrategie verfolgten. Man verlöre obendrein das Privileg, kostengünstig über russische Transitrouten China und Indien zu erreichen. Wie gestört die Beziehungen mit Russland jetzt bereits sind, zeigte sich an dem gescheiterten Versuch der Nato, mit ihren Aufklärungsflugzeugen „Awaks“ von der Türkei über Georgien, Aserbeidschan und Turkmenistan nach Afghanistan zu fliegen und sie dort gegen die Taliban einzusetzen. Weder Aserbaidschan noch Turkmenistan erlaubten den Überflug. Offensichtlich beugten sie sich russischem Druck.
Gute nachbarschaftliche Beziehungen zur Ukraine wird die EU erst dann unterhalten können, wenn sie unabhängig von den USA als globaler Mitspieler auftritt und zugleich darauf achtet, dass ihre Politik gegenüber der Ukraine das Verhältnis zu Russland nicht verschlechtert. Hilfreich wäre, die Identitätsfindung der Ukraine zu unterstützen und sie in die Entfaltung eines gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraums einzubeziehen.
3.2. Szenarien auf Seiten der Ukraine
Als Randstaat zu Russland und zur EU verhindert der Anschluss an Russland wie an die EU die Entwicklung einer eigenständigen Identität der Ukraine. Solange die prowestlichen Kräfte der Ukraine bei den USA Schutz vor Russland suchen und sie als Garantiemacht ihrer Sicherheit ansehen, werden sie eine konfrontative Strategie gegenüber Russland favorisieren und die EU in diese Politik einzubinden versuchen. Wenn die gleichen gesellschaftlichen Kräfte außerdem in der EU den Zahlmeister für dringend durchzuführende Reformen in Staat und Gesellschaft erblicken, kommen sie der Entwicklung gut nachbarschaftlicher Beziehungen zur EU kein Stück näher. Sollten andererseits prorussische gesellschaftliche Kräfte der Ukraine den Anschluss an Russland anstreben, werden sie Ängste bei den ost- und mitteleuropäischen Mitgliedern der EU hervorrufen und einer Entfremdung zwischen der EU und Russland Vorschub leisten. Ohne die Entwicklung einer eigenständigen Identität bleibt die Ukraine zwar ein umkämpfter Randstaat, aber mit wirklicher Unterstützung zur Überwindung von innergesellschaftlichern Krisen oder der Abwehr außenpolitischer Gefahren kann sie nicht rechnen. Die Entfaltung einer ukrainischen Identität – wie oben dargelegt – würde den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Ukraine festigen und sie zu einem verlässlichen Partner sowohl für die EU wie für Russland werden lassen.
4. Abschließende Bemerkung
Sind EU und Ukraine in der Identitätsfindung und der Entfaltung einer eigenständigen Strategie erfolgreich, handeln sie selbstbewusst und die EU kann zum eurasischen Verbund aufschließen. Die Ukraine wird darin eine tragfähige Brückenfunktion einnehmen können. Verharrt die EU jedoch passiv in der transatlantischen Randposition und verfehlt die Ukraine ihre Identität, droht beiden der Zerfall. Es ist dringend an der Zeit, die Informationspolitik über die Ukraine auszuweiten und nicht nur über Schwierigkeiten in der Durchleitung von russischem Erdgas zu berichten.
3. März 2010