Simone Lück-Hildebrandt
Was macht blind? Anmerkungen zum Kommentar von Christoph von Marschall „Rechts-Links-Denken macht blind“ im „Tagesspiegel“ vom 29.05.2016 Die Aufgabe, die sich von Marschall in diesem Kommentar stellt – zu diagnostizieren, warum es zu diesem Aufstieg von „Rechtspopulisten“ in Europa und den USA gekommen ist – macht neugierig. Nur wenn seine Diagnose zutreffend sei, meint Christoph von Marschall, bestehe Aussicht auf Therapie und Besserung. Die vom Autor geweckte Hoffnung erfüllt sich jedoch nicht. Die Gründe für die Enttäuschung des Lesers werden in den folgenden Punkten dargelegt: 1. Als Ausgangspunkt seiner Diagnose formuliert von Marschall die Hypothese, dass diese besondere Form von Populismus gar nicht so „rechts“ zu verorten sei. Es gäbe vielmehr „Gemeinsamkeiten in den Gedankenwelten am rechten und am linken Rand des politischen Spektrums“. Undefiniert bleibt beim Autor jedoch, bis wohin der linke und der rechte Rand reicht. Handelt es sich beim linken Rand um die sog. Linksautonomen oder den „schwarzen Block“? Sind auch die Parteigänger der Partei „die Linke“ sowie linke Sozialdemokraten und Jungsozialisten einbezogen? Begrenzen den rechten Rand Parteien wie die NPD, die AfD bzw. Bewegungen wie Pegida, oder sind auch Teile der CSU und möglicherweise der CDU gemeint? Christoph von Marschall spricht lediglich ungenau von „linken Sozialisten“ auf der einen Seite des Spektrums und „rechten Nationalisten“ auf der anderen. 2. Noch viel gefährlicher als die unzulänglich beantwortete Frage nach der Reichweite des politischen Spektrums ist jedoch die undifferenzierte Gleichsetzung von "Linken" und "Rechten". Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Die Beweggründe, die zur Ablehnung der Globalisierung und damit zur Ablehnung von TTIP bei Vertretern der "Linken" geführt haben, haben überhaupt nichts mit der „nationaltümelnden“ Abschottung gegenüber Fremden oder dem Ausland bei "Rechten" zu tun. Die Ablehnungsgründe der "Linken“ leiten sich vor allem aus den negativen Begleiterscheinungen der Globalisierung ab. Sie lassen sich unter den Stichworten „Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich“ oder auch „Prekarisierung der Arbeits-verhältnisse“ zusammenfassen. Die Front derjenigen, die die Sanktionen gegen Russland ablehnen, reicht weit über die von Christoph von Marschall als „deutschnationale Putinver-steher“ bezeichneten hinaus und schließt auch Unternehmer sowie Teile der SPD bis hin zum Wirtschaftsminister Gabriel und Außenminister Steinmeier ein. Bis vor einigen Wochen wäre deren Zuordnung zu den „deutschnationalen Putinverstehern" undenkbar gewesen. Nun scheint diese Auffassung unberechtigterweise „salonfähig“ zu sein. Der Kommentar von Christoph von Marschall hat dazu beigetragen. Seine „Denkrichtung“ hält Christoph von Marschall auch in seinem Kommentar vom 21.06.2016 zu den Äußerungen Steinmeiers zum Nato-Manöver in Polen bei. Die Warnungen vor einer zu „laxen“ Haltung der SPD gegenüber Putin, die obendrein noch als Wahlkampfmanöver abgetan wird, verstellen dem Leser den Blick auf die tatsächliche Gefahr eines neuen Ost-West-Konflikts, die mit einer ständigen Nato-Präsenz in Polen und den baltischen Staaten am Horizont heraufzieht. 3.Die These, dass in der heutigen Zeit die Gegnerschaft zwischen "Linken" und "Rechten" vom Gegensatzpaar „liberales, weltoffenes Bürgertum in der Mitte“ versus „Anhänger an beiden Rändern“ des Parteienspektrums abgelöst wor-den sei, hält einer kritischen Analyse nicht stand. Ist es nicht gerade der Versuch der beiden großen Parteien, ihre Wählerschaft ausschließlich aus dieser „Mitte“ zu rekrutieren, der die Bundesrepublik in diese Art von Sackgasse gebracht hat, eine um sich greifende Wahlabstinenz befördert und die AfD und Pegida ermöglicht? 4. Die populistischen Bewegungen in Großbritannien, in Österreich und in den osteuropäischen Ländern in das gleiche Erklärungsschema wie die Entwicklung in Deutschland zu pressen, ist unverantwortlich, denn die Bedingungen, die zu dem scheinbar gleichen Phänomen geführt haben, sind vor allem in Bezug auf die osteuropäischen Länder völlig unterschiedlich und bedürften einer ausführlicheren Analyse bzw. „Diagnose“. Dem interessierten Leser, dem etwas über die spezifischen Voraussetzungen des Populismus in den genannten Ländern erklärt werden sollte, wird auf diese Weise nicht weiter geholfen. 5. Als besonders bedenklich betrachte ich den Hinweis, dass es kein Zufall ist, „dass Linke wie Rechte gleichermaßen gegen die freie Marktwirtschaft und die Handelsfreiheit zu Felde ziehen und eine liberale Wirtschaftsordnung als ‚Neoliberalismus‘ verteufeln“. Abgesehen davon, dass die Bandbreite zwischen „sozialer Marktwirtschaft“ und der „angebotsorientierten Marktwirtschaft“ nach dem Muster der Agenda 2010 sehr groß ist, wird überhaupt nicht erwähnt, dass die wirtschaftliche Ausrichtung der AfD keineswegs darauf hinausläuft, sich vom Neoliberalismus abzuwenden. D.h. genauso wie die NSDAP am Ende der Weimarer Republik hängt sich die nationalistisch und neoliberal ausgerichtete AfD bloß ein „sozialistisches Mäntelchen“ um und zielt damit auf linkes Wählerpotential. 6. Wenn man die Frage stellt, warum die „Abwanderung“ von links nach rechts damals wie heute zu beobachten ist, müsste man auf die Rolle der SPD in der jeweiligen Situation eingehen: Damals hatte die SPD - aus Angst vor einer Fortsetzung der Revolution - den „Pakt mit dem Teufel“, d.h. mit dem Vertreter der Obersten Heeresleitung, Groener, geschlossen und damit die Spaltung der Partei provoziert. Die Unfähigkeit auf Seiten der SPD wie auch der KPD, aufeinander zuzugehen, hat zumindest dazu beigetragen, dass sich Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums von der „Linken“ ab- und den Nationalsozialisten zuwandten. Auch noch 27 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands kommt es in weiten Teilen der SPD einem Tabubruch gleich, sich mit dem Gedanken einer rot-roten Koalition auf Bundesebene auseinanderzusetzen – wiederum aus Angst. Aber wovor hat die SPD eigentlich Angst, dass die alte SED wieder erstehen könnte, dass sie die „westdeutsche“ Wählerschaft verliert, dass sie sich den Ärger der USA zuzieht? Man weiß es nicht genau, aber es würde sich lohnen, genaueres darüber zu erfahren. All diese Punkte müssten in einer der Kommentierung vorausgehenden ausführlichen Analyse dargelegt werden. Als geschäftsführender Redakteur des Tages-spiegels hätte Herr von Marschall die Möglichkeit, eine solche ausführliche Analyse zu publizieren, damit die Leserschaft an der von ihm eingeforderten Therapie teil haben kann. Die viel beschworene „liberale Mitte“, auf die er hofft, ist nur so lange handlungsfähig wie sie selber einen relevanten Teil der Bevölkerung hinter sich weiß. Sollten sich am unteren Rand der „liberalen Mitte“ Auflösungstendenzen bemerkbar machen, weil sich z.B. junge Akademiker von Zeitverträgen zu Zeitverträgen hangeln müssen oder weil sich Teile der Mittelschicht nicht mehr ihre bisherige Wohnung leisten können, ist es möglicherweise mit der Verteidigung der Weltoffenheit und der Liberalität schnell vorbei. Abschließend ist noch die Frage zu beantworten, was zur Blindheit beiträgt. Auf jeden Fall der Artikel von Christoph von Marschall, der genau die oben aufgeführten Überlegungen nicht anstellt, um seine Leserschaft vor plattem Schematismus zu bewahren. Warum von Marschall der wichtigen Aufgabe des „seriösen“ Journalismus nicht nachkommt – so wie gerade in eben jenem oben zitierten Kommentar vom 21.06.2016 zum „riskanten Manöver der SPD“ geschehen –, bleibt offen. Post scriptum: Mein in weiten Teilen mit diesem Text identischer Brief an Herrn von Marschall ist bis zu diesem Tag von seiner Seite unbeantwortet geblieben. Einerseits mag es ver-ständlich sein, dass er durch den Präsidentschaftswahlkampf in den USA extrem beschäftigt ist, andererseits ist ein solches Schweigen von Seiten eines angesehenen Journalisten nicht ohne Gefahr: es könnte z.B. gerade die rechtspopulistische Stimmungslage befördern, die Herr von Marschall beseitigen möchte. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/bbf7513ea19449e3ab5662b5c2ab9c01" width="1" height="1" alt="" />
0 Kommentare
Michael Seibel
Es wird gesagt, die Möglichkeiten Deutschlands, Flüchtlinge aufzunehmen, seien begrenzt. Selbstverständlich sind alle Ressourcen begrenzt. Selbst Wasser und Luft. Die Aussage wird erst dann zu einem Argument, wenn man begründete Angaben darüber macht, wo die Grenzen liegen und warum sie dort liegen. Wie viele Asylanten kann Deutschland also aufnehmen? Offensichtlich hängt eine mögliche Antwort darauf nicht allein von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ab, sondern stellt zugleich die Frage nach der Verteilung der Wirtschaftsleistung. einerseits ... Ein Standpunkt kann sein – und viele Menschen nehmen ihn ein – dass Fremde generell das Zusammenleben einer bestehenden Nachbarschaft stören. Wird dieser Standpunkt zur Grundlage gemacht, kann die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit so erheblich sein, wie sie will, bereits der erste Asylant wäre ein Asylant zu viel. andererseits ... Das gegenteilige Extrem wäre ein gelebtes striktes Gleichheitsideal. Es könnte der Maxime folgen, dass es letztlich keinen Grund gibt, der rechtfertigen kann, dass jemand unter schlechteren Bedingungen zu leben gezwungen ist als ein anderer. Dieser extrem egalitäre Standpunkt würde nicht nur politisches Asyl anbieten, sondern auch wirtschaftliches, weil es keine guten Gründe gibt, von einem Menschen zu verlangen, er dürfe nicht anstreben, seine Lebensverhältnisse zu verbessern, solange andere wesentlich auskömmlicher leben. Leistungsfähigkeit am Bruttosozialprodukt gemessen Unser Bruttosozialprodukt liegt bei mehr als 3,7 Billionen USD und verteilt sich auf ca. 80 Mio. Einwohner, also fast 50.000 USD/Einwohner/Jahr. Die Türkei etwa kommt kaum auf 12.000 USD/Einwohner/Jahr. Das deutsche Bruttosozialprodukt würde also für gut 300 Mio. Menschen reichen, ginge es einzig um ein striktes Menschenrecht auf Gleichheit. Diesen radikalen Standpunkt nimmt niemand ein. Er reicht allerdings, um zumindest gedanklich einen gewissen Abstand zu der These einzunehmen, wir könnten nicht alle 60 Millionen Menschen aufnehmen, die gegenwärtig auf der Welt auf der Flucht sind. Wir können sehr wohl. Ein Asylrecht für alle ist rein unter dem Aspekt unserer ökonomischen Leistungsfähigkeit durchhaltbar. Aber wir wollen nicht. Da wir es nicht wollen, sollten wir uns Rechenschaft über die Gründe ablegen, aus denen wir es nicht wollen. Einige mögen schlecht sein, andere mögen uns und anderen akzeptabel erscheinen. Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge liegt gegenwärtig rein theoretisch irgendwo zwischen Null und mehr als 200 Millionen Menschen. Und offenbar hängt das von einer Reihe ganz unterschiedlichen Dimensionen ab, von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, den Wertmaßstäben, die wir ansetzen und – dem nachgeordnet – sicher auch von unseren praktischen Versorgungskapazitäten vor Ort. Einige Bewertungsmaßstäbe sind: Ein generelle Fremdenfeindlichkeit, konkrete Nächstenliebe, der Anspruch auf den Erhalt der öffentlichen Ordnung, der Anspruch auf Besitzwahrung, politisches Mehrheitsmanagement, der Einwanderungsbedarf der Wirtschaft, ein stabiles Sozialrechtssystem, das Festhalten am unbedingten Menschenrecht auf Leben oder radikaler, das Festhalten am unbedingten Gleichheitsgrundsatz Mir ist persönlich nicht plausibel, warum das Leben durch Verhungern weniger gefährdet sein soll als durch politische Verfolgung. Die Liste ist ergänzungsbedürftig. Aber da sie einige zentrale Begründungstypen benennt, mag sie zunächst hinreichen. Gegen generelle Fremdenfeindlichkeit sprechen praktisch alle anderen Positionen. Selbst jemand, dem es vor allem um die Wahrung seines Besitzes geht, wird seinen Besitz im Austausch mit anderen weit effektiver wahren als durch Abschottung. Fremdenfeindlichkeit zielt nicht wirklich auf Besitzerhalt, sondern nimmt eine aggressive Position ein, in der sich der Fremdenfeind persönlich wohl und von anderen bestätigt fühlt. Nächstenliebe, Empathie von Fall zu Fall, im Nahbereich bedingungslos, wird in der Ferne unbestimmt. Der seinen Nächsten liebt wird sagen, dass er ihm gibt, solange er es nötig findet und solange er kann. Und er wird ihm in die Augen schauen können, wenn er nicht mehr kann. Er beansprucht nicht, angeben zu können, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen kann. Fern ab jedes moralischen Rigorismus ist das offenbar Antrieb vieler Helfer, die konkret eingeschritten sind, als Flüchtlinge in Massen ankamen. Irritierte Sozialstaatserwartungen deutscher Bürger Irritierend wirkt dann, Flüchtlinge in menschenunwürdigen Verhältnissen zu sehen. Es ist einerseits eine Sache des Mitleids. Es ist andererseits schwer erträglich, sich selbst in einer Ordnung lebend wahrzunehmen, in der Menschen massenweise gezwungen sind, in Regen und Kälte auf der Straße zu übernachten. Diese Ordnung, auf die wir uns als Deutsche verlassen möchten, hält ihr Schutzversprechen nicht. Und diese Ordnung scheint gefährdet. Hier mag von manchen eine Grenze der Aufnahmefähigkeit gesehen werden, um den Gefährdungseindruck loszuwerden. Adäquat allerdings und bei weitem überzeugender (sowohl zur Angstbewältigung wie im Sinne realer Hilfe) wäre, zusätzliche Betreuungs-möglichkeiten zu schaffen und durchzuhalten. Viele Grenznennungen, wenn nicht die meisten, sind jedoch Sache ambivalenter Geschmacksurteile, die um Argumente verlegen sind. Viele solcher Grenznennungen rekurrieren auf keinerlei eigenen Erfahrungen mit Flüchtlingen und bieten sich als Ziel medialer Kampagnen geradezu an. Kampagnen des Typs: Lasst uns dem Flüchtling ein Gesicht geben, um die allgemeine Akzeptanz zu erhöhen oder in gegenteiliger Stoßrichtung: Hunderte moslemischer Flüchtlinge liefern sich stundenlange Schlägereien mit Christen. Anspruch auf Besitzwahrung Ein mächtiges Argument ist der Anspruch auf Besitzwahrung. Es ist wahr: die Betreuung von Flüchtlingen verschlingt in jedem Fall Ressourcen, schmälert also zunächst den zu verteilenden Reichtum. Das Thema ist deshalb sensibel, weil niemand Wert darauf legt, durch Flüchtlingsbetreuung Verteilungskonflikte zu bekommen, die den Rahmen wesentlich ausweiten, in dem Steuergesetzgebung, Arbeitgeber und Gewerkschaften die sich alljährlich neu stellende Verteilungsfrage lösen und die sich im Lauf der Jahre in Gesetzesform verfestigt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass die Frage, wer die Lasten tragen soll, sensibler ist als die Frage, wie hoch die Lasten in absoluten Zahlen sein dürfen. Die Aufgabe der Flüchtlings-betreuung aktualisiert ältere Verteilungskonflikte, die innergesellschaftlich und auf europäischer Ebene seit langem bestehen rund um die Frage offener Grenzen für Güter, Kapital und Menschen. Eingespielte Routinen der Eigentumsumverteilung Politik geht mit Verteilungskonflikten und nicht nur mit absoluten Kosten- und Leistungsgrößen um und ist dabei auf Wählerstimmungen, Kompromisse und Koalitionsbildung angewiesen, die es einer medialen Dauerbearbeitung unterzieht. Der Handlungsrahmen von Politik ist zugleich durch die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und durch bestehende Rechtsrahmen beschränkt. Politisch hängt die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge, da sie eine Sache von weit mehr als einer Legislaturperiode ist, stark von erreichbarer Zustimmung ab. Um sie wird täglich gestritten und sie ist wohl kaum längerfristig prognostizierbar. Ich vermag nicht sicher zu unterscheiden, ob hier überhaupt Raum für so etwas wie Grundwerte bleibt oder ob die Rede davon letztlich nur Teil der medialen Bearbeitung von Wählerstimmungen ist. Systemträgheit im Umgang mit Asylanten Die Aufnahmefähigkeit wird weiter begrenzt durch das Maß an bürokratischen, organisatorischen und rechtlichen Widerständen und dem sich daraus ergebenden Zeitbedarf, die der Flüchtlingsaufnahme konkret entgegenstehen, durch die Systemträgheit des Rechtsstaats. Hier auch nur näherungsweise zu sagen, welche Wirkungen etwa allfällige Genehmigungsverfahren auf die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge haben, fehlt mir die Fachkenntnis. Ökonomische Gründe für ein Einwanderungsgesetz Der Ruf nach einem neuen Einwanderungsgesetz versucht, so ökonomisch richtig er in der Sache wohl ist, die Flüchtlingsaufnahme in eine ökonomische Chance umzumünzen. Weil diese Begründung rein ökonomisch ist, hat sie mit Fragen der Menschlichkeit und im Grunde mit der Flüchtlingsfrage selbst nichts zu tun. Ein Flüchtling und ein Green-Card-Einwanderer haben nichts miteinander gemein, außer dass beide Ausländer sind. Die verbindende Assoziation ist ein Ressentiment. Hier Ausländer, die Geld kosten, dort solche, die Geld bringen. Hier wird von der Politik eine Größenordnung möglicher Einwanderer um 100.000 pro Jahr angegeben und es scheint bei einer kleiner werdenden deutschen Bevölkerung nachprüfbare, diskussionsfähige Argumente für solche Zahlen zu geben. Verfasstes Asylrecht Für das Festhalten am unbedingten Menschenrecht auf Leben in Form des Asylrechts gibt es nur eine wirklich relevante Zahl, nämlich die Zahl der Kriegs- und politischen Flüchtlinge weltweit, bzw. derer von ihnen, die bei uns ankommen. Deutsche Politiker unterschiedlicher Lager versuchen gegenwärtig, diese Zahl so klein zu machen wie möglich, etwa in der Debatte über sichere Herkunftsländer. Das Argument, wir könnten nicht alle aufnehmen, ist nicht per se richtig. Wir könnten es durchaus bezahlen, aber wir scheuen die damit aufkommenden Verteilungskonflikte der Deutschen untereinander. Künftig vorstellbare Verteilungskonflikte zwischen jetzt schon sozial schlechter gestellten Menschen und Zuwanderern verschieben nur den Austragungsort des eigentlich brisanten Konflikts nach unten. Ich sehe keine ernstzunehmenden Gründe in einer zu begrenzten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands, aus denen wir uns der Integrationsaufgabe nicht stellen könnten. Erreichbarer Konsens Die unbekannte kritische Größe ist der erreichbare Konsens in Verteilungskonflikten, die aufkommen, sobald die notwendigen Integrationsleistungen nicht mehr aus dem Steueraufkommen eines wirtschaftlich besonders erfolgreichen Jahres bezahlt werden können. Einsparungsopfer aus vorhersehbarer Konfliktscheu werden vermutlich die Flüchtlinge selbst und andere sozialschwache Gruppen sein, also Sozialleistungsempfänger. Man wird erneut vor wachsender Kriminalität, sozialer Kälte, ungestrichenen Schulklassen und Löchern im Asphalt warnen. Selbst die Befürchtung, die Deutschen würden als Wertegemeinschaft durch den Islam in Frage gestellt, reflektiert noch die Ahnung, dass wir Deutschen keine so einige Wertegemeinschaft sind, wie wir es uns in Erinnerung an unser kulturelles Erbe ständig bestätigen. Unsere Einigkeit kann an genau den Stellen von außen in Frage gestellt werden, wo sie keine ist, wo wir dünnhäutig sind, das ist eher nicht in den Kirchen, sondern im Wirtschaftsleben, in Fragen des fair trade, an den Arbeitsplätzen und bei der Vermögensverteilung. All das sind Themen, bei denen wir nicht immer gute Gründe haben und für das wir ständig eine möglichst reibungslose Konjunktur brauchen, um auch mit weniger guten Gründen sozialen Frieden zu wahren. Die Angst, dass befremdliches Verhalten von einer Kultur getragen sein könnte, ist begründet. Nur muss es keine uns fremde Kultur sein. Saufende deutsche Jugendliche sind Kollateralschäden des deutschen Kulturerbes, dass seit Jahrhunderten locker mit Alkohol umgeht. (Goethe trank bekanntlich zwei Flaschen guten Rheinweins täglich). Indem wir in den letzten Jahrzehnten die Rechte von Frauen gestärkt haben und unsere Homophobie ein Stück weit abgebaut haben, haben wir unter uns selbst bemerkt, dass Kulturkämpfe einer nicht nachlassenden Anstrengung bedürfen. Sicher kommt einiges auf uns zu, wenn wir uns jetzt auch noch dafür interessieren sollen, was unter Muslimen z.B. den Chauvinismus gegenüber Frauen verfestigt. Und unter uns: fremde Kulturen sind keineswegs immer und für jeden eine Bereicherung. Und selbstverständlich ist die Rolle der Frau im Islam für uns weder maßgeblich, noch letztlich tolerierbar. Toleranz, dem anderen gegenüber gibt ihm nicht die Erlaubnis zum Übergriff. Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, kommen aus einer Position der Schwäche, der Verfolgung. Deutschland als aufnehmendes Land ist in der Position der Stärke. Und nichts zwingt dazu, diese Position aufzugeben, es sei denn Selbstaufgabe. Integration ist nicht Selbstaufgabe. Ganz im Gegenteil. Es hat mit Selbstaufgabe nichts zu tun, eine Burkaträgerin oder den Klang der arabischen Sprache neben sich zu ertragen, selbst dann nicht, wenn er wesentlich häufiger zu hören ist als bisher. Hier können wir von den New Yorkern lernen, einer Stadt, in der auf vielen Strassen fast nur noch spanisch gesprochen wird, ohne dass jemand schockiert wäre. Selbstaufgabe wäre es, wenn die sich in der Tat ungebeten stellenden Integrationsaufgaben nicht konsequent gelöst würden. Spracherwerb, Jobs, bezahlbarer Wohnraum, Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben sind die Felder, die über Gettoisierung oder Integration entscheiden. Und in der Tat konsequente Strafverfolgung nicht nur von Armutskriminalität, sondern vor allem auch von rechter Gewalt. Es gibt, wie aus Duisburg zu hören, durchaus wieder Orte, an die sich nach Einbruch der Dunkelheit selbst mancher Polizist nicht traut. Aber selbst das ist kein genuines Ausländerproblem, sondern ein Ausgrenzungsproblem, selbst wenn es in Duisburg tatsächlich Ausländer sind, die Probleme machen. Der Ruf nach mehr Polizei an diesem Ort ist diskutierbar und vermutlich richtig, aber damit allein kommt Integration nicht voran (Ohne sie allerdings wahrscheinlich auch nicht). Es verwundert, wie viel Sinn für komplexe Zusammenhänge die meisten Menschen haben, wenn es um Technik geht. Jedem ist klar, das Hunderte von Zulieferern am Bau eines Fahrzeugs beteiligt sind und dass tausende von Fragen geklärt werden müssen. Doch kaum geht es um soziale Konflikte, schnurrt der Sinn fürs Komplexe zusammen auf den Ruf nach mehr Polizei oder schärfere Richter und aufs Monitum, man müsse doch einmal auf die Probleme mit Ausländern hinweisen können, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden. Man müsse, so heißt es unter Politikern, für die „Sorgen der Menschen“, gemeint sind deutsche Wähler, Verständnis haben. Daran ist etwas wahr. Verantwortung wahrzunehmen beginnt damit, dass man hinschaut und klar ausdrückt und bespricht, wo Handeln nötig ist, dass man Sorge trägt. Zu bemerken und es öffentlich auszusprechen, wenn etwas im Zusammenleben mit Ausländern schief läuft, gehört in der Tat nicht in die rechte Ecke. Oft allerdings nennt sich Sorge, was aus der Nähe besehen ein Gefühl der Überforderung ist oder fremdenfeindliches Ressentiment. Woran kann man das unterscheiden? Sorgen, die nach Lösungen suchen, haben es an sich, dass sie fähig sind, richtig zu gewichten. Überforderte Besorgnis kann das nicht und sieht sich selbst übergroß, Fremdenfeindlichkeit will das nicht. Was z.B. ist die Sorge einer Deutschen, vermehrt dem Chauvinismus arbeitsloser islamischer Jugendlicher ausgesetzt zu sein im Vergleich mit der Sorge einer Syrerin um ihre Familie im Krieg? Jemanden, dem es schwer fällt, in dieser Frage richtig zu priorisieren, würde ich als überfordert betrachten. Wenn ich dann noch bemerken müsste, dass sich diese Verletztheit und Schwäche in Gesellschaft anderer in aggressiver Pose gefällt, müsste ich von einem Ausländerfeind sprechen. War die Deutsche, die sich sorgt, je selbst von den in Rede stehenden Chauvinismen betroffen? Sie war es zumeist nicht. Und fragt man weiter, von welcher Seite im Laufe ihres Lebens ihre Rechte als Frau in Frage gestellt wurden oder von wem sie Übergriffe zu erleiden hatte, wird sie ehrlicherweise antworten, dass es deutsche Männer waren. Aufnahmebereitschaft und Verteilungskonflikte Wo die zahlenmäßige Grenze liegt, an der man massenhaft auf kaum zu lösende Situationen treffen würde, hängt durchaus nicht von bestehenden hohen deutschen »Aufnahmebereitschaft« und auch nicht primär von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ab, sondern von unserer Fähigkeit, zu neuen Lösungen unserer internen Verteilungskonflikte zu kommen. Denn das – und nicht Goethe unterm Kopfkissen oder das Kreuz an der Wand – ist das, was in Deutschland kultiviert oder eben nicht kultiviert ablaufen kann, ist die deutsche Leitkultur. Wenn die Wirtschaftsleistung im guten Jahr vielleicht um 3% zunimmt und im besonders schlechten um 1 % zurückgeht, dann sind das die Größenordnungen, an deren Verteilung wir gewohnt sind. Von den anderen 98% lassen wir die Finger. Sie unterliegen außer im Katastrophenfall einem strikten Eigentumsschutz, den viele im Zweifelsfall wahrscheinlich höher bewerten als den Schutz von Asylanten. Wenn wir die Integrationsleistungen, die zu erbringen sind, um einem Flüchtling mittelfristig in die Lage zu versetzen, selbstständig in für ihn und seine Familie befriedigenden Verhältnissen zu leben, aus dieser alljährlichen Marge finanzieren wollen, ist die Aufnahmefähigkeit für Asylanten allerdings beschränkt. Fachleute mögen genauer rechnen, ich schätze man kommt auf etwas unter eine Million Menschen jährlich. Wir gehen Verteilungskonflikte nicht an und werden möglicherweise mehrheitlich bereit sein, grundgesetzlich garantierte Menschenrechte dafür zu beschneiden, selbst wenn wir uns in der folgenden Runde von Verteilungskonflikten nicht einmal mehr auf unsere eigenen elementaren Rechte berufen können. Wir hätten das Recht auf Eigentum über das Recht auf Leben erhoben und über den Gedanken, dass Eigentum verpflichtet. Aber glauben wir wirklich, die Flüchtlingsbewegung würde aufhören, wenn wir das Recht auf Asyl aus dem Grundgesetz streichen würden? An den Fluchtgründen würde das nichts ändern. Ich habe also drei Zahlen zu bieten, die eine gewisse Plausibilität haben: Wir können uns Null Flüchtlinge leisten oder ca. 1 Million oder sämtliche 60 Millionen Kriegsflüchtlinge der Welt. Die Wirtschaftsleistung reicht für alle drei Zahlen. Möglicherweise sind wir viel freier, als uns lieb ist, eine dieser drei Zahlen zu wählen. Wir bestimmen dadurch, was wir sein wollen und nicht nur, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen wollen. Die delphische Forderung: Erkenne dich selbst, ist auf diese Wahl anwendbar. Abschreckung Noch ein Wort zum Versuch, als Aufnahmeland ein möglichst abschreckendes Bild nach außen abzugeben: Dabei denke ich an die Fabel von den beiden Männern, die ein bissiger Hund verfolgt. 'Warum', fragt der eine, 'läufst du weg? Der Hund ist eh schneller als du.' - 'Aber ich muss doch gar nicht schneller sein als der Hund, ich muss nur schneller sein als du!' Was will man, einfach nur nicht das freundlichste Aufnahmeland sein? Wirklich unattraktiv für Flüchtlinge ist das Land, aus dem sie geflohen sind. Will man das noch unterbieten, um sicher zu sein, dass niemand mehr kommt? Eine Frage, die bleibt <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/f982ab46bc23448c87ab28148c195694" width="1" height="1" alt="" /> Je länger sich der Ukraine-Konflikt hinzieht und die Spirale von Aktion und Reaktion weiter vorangetrieben wird, desto schwieriger gelingt es, einen klaren Blick auf die Anfänge des Konfliktes zu bewahren. Dies ist jedoch unerlässlich, wenn es darum geht, einen wirklichen Ausweg aus der Neuauflage des Kalten Krieges zu suchen.
1. Schüsse auf dem Maidan Nachdem im November 2013 der ukrainische Präsident Janukowitsch wegen ungeklärter finanzieller Implikationen den Assoziierungsvertrag mit der EU abgelehnt hatte, protestierten demokratisch gesinnte Ukrainer voller Euphorie auf dem Maidan in Kiew mit dem Ziel, einen gesellschaftlichen Neuanfang ohne Korruption in Gang zu setzen. Ab Januar 2014 zeichnete sich jedoch eine in der Ukraine seit der gescheiterten "orangen Revolution" wohlbekannte Verschiebung der Kräfteverhältnisse ab. Zivilgesellschaftlich engagierte Menschen (Künstler, Studenten, Priester oder Menschenrechtsaktivisten) wurden vom Maidan verdrängt und an ihre Stelle trat das zunächst verdeckt agierende Klientel der Oligarchen („Der Maidan wirkt nach“ – Text auf: https:// www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/ frontnews/2014/07/14). Sie warben für einen Generalstreik (Vitali Klitschko), verlangten Neuwahlen (Arsenji Jazenjuk, ein enger Vertrauter von Julia Timoschenko) und plädierten für eine Annäherung der Ukraine an "den Westen". Juri Lutsenko, der einst führende Organisator der "orangen Revolution", warf dem Präsidenten Janukowitsch vor, "nur die Sprache der Gewalt" zu kennen. Die Freiheit der Ukraine stehe auf dem Spiel (Tagesspiegel, Die Sprache der Gewalt, 21.1.2014). Das Klientel der Oligarchen zeigte wenig Scheu, zusammen mit rechtsradikalen und nationalistischen Kräften ("Rechter Sektor", "Patrioten der Ukraine", "Ukrainische Nationalversammlung - Verteidiger der nationalen Unabhängigkeit", "Dreizack", "Sozial-Nationale Partei der Ukraine" später "Swoboda-Partei") gegen die amtierende Regierung unter Ministerpräsident Nikolai Asarow und Präsident Janukowitsch zu agieren. Auf dem Maidan und in den angrenzenden Straßen sahen sich die demokratisch gesinnten Kräfte zunehmend durch bewaffnete Schlägertrupps der Swobodapartei an den Rand gedrängt. Die von Janukowitsch erlassenen Antiterror-Gesetze verschärften die Situation. Pflastersteine und Molotow-Cock-tails flogen auf Polizisten und Polizeibusse. Sie wurden mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen beantwortet. In außer Kontrolle geratenen Straßenkämpfen waren erste Tote zu beklagen. Bürgerkrieg lag in der Luft. Verhandlungen zwischen Abgesandten der "Protestler" auf dem Maidan und der Regierung blieben ergebnislos. Vitali Klitschko drohte der Regierung mit einer "Offensive". Arsenji Jazenjuk sagte, die Opposition sei bereit, die Regierung zu übernehmen, aber nur, um das Land in die Europäische Union zu führen. Der Staatsmacht glaube man kein einziges Wort. Der bis 1970 maßgeblich vom US-amerikanischen Geheimdienst finanzierte und weiterhin im Einflussbereich von Nachrichtendiensten vermutete Sender "Free Europe-Radio Liberty" berichtete direkt vom Platz und heizte die Stimmung weiter an. Abgesandte der USA und der EU reisten an und unterstützten auf dem Maidan den Aufruhr gegen den Präsidenten Janu-kowitsch; unter anderem der deutsche und der US-Außenminister (Eugen Ruge, Verständnis für Russland, bitte!, Die Zeit, 6.3. 2014). Nach einer gefährlichen Zuspitzung der Lage in den ersten Tagen des Februars 2014 zwischen der Bereitschaftspolizei und Oppositionskräften auf dem Maidan reisten am 20./21. 2. 2014 die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands nach Kiew und vereinbarten mit Präsident Janukowitsch einen Vertrag über vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen sowie die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" innerhalb von zehn Tagen (Nina Jeglinski, Lage in Kiew außer Kontrolle, Tagesspiegel, 21.2.2014). Zugleich einigte sich die EU auf Sanktionen gegen Gewaltverantwortliche (Einreiseverbote und Einfrieren von Konten). Die noch in Haft befindliche Julia Timoschenko forderte die Opposition auf, nicht mehr mit Janukowitsch zu reden. Er verantworte den Einsatz von Scharfschützen gegen die Demonstranten auf dem Maidan am 20. 2. 2014. Wer jedoch die Scharfschützen befehligte, blieb zunächst unklar. Es konnten sowohl unter Janukowitschs Befehl stehende Scharfschützen gewesen sein wie auch angeworbene Söldner, die entweder auf eigene Rechnung oder im Auftrag der Opposition handelten. Zu erkunden, aus welcher Richtung die Schüsse abgefeuert wurden, gab mehr Aufschluss. Wurden die Getöteten vom Eingang des Regierungsclubs, also von vorn erschossen, konnten es Scharfschützen der Sondereinheit Berkut unter dem Oberbefehl Janukowitschs gewesen sein. Wurden die Opfer jedoch im Rücken getroffen, waren die Täter offenbar angeworbene Söldner, die aus dem Musik-Konservatorium schossen und hinter den Demonstranten postiert waren. Die Ärztin Olga Bogomolez, von der die Verletzen und Getöteten behandelt wurden, berichtete von Einschüssen mit unterschiedlichen Kalibern und unterschiedlichen Ausschusslöchern (Christian Esch, Leichen in der Hotellobby, Frankfurter Rundschau, 21.2.2014). Videomitschnitte vom Platz vor dem Konservatorium und ein abgehörtes Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet "nähren den Verdacht, dass mehrere Berkut-Polizisten und Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, also nicht auf Befehl von Janukowitsch" (Andreas Heinemann-Grüder, Ukraine: Revolution und Revange , Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6, 2014, S.40). Entweder wurden Berkut-Polizisten, die versuchten, Demonstranten am weiteren Vormarsch zu hindern, von vorn getroffen und die von ihnen zurückgedrängten Demonstranten von hinten, oder unter die Soldaten der Berkut-Sondereinheit hatten sich Scharfschützen gemischt. Nina Jeglinski gab die Aussage eines bekannten ukrainischen Politologen wieder: "Dass sich Männer der Selbstverteidigung oder gar des rechten Sektors unter die Soldaten von Janukowitsch gemischt haben sollen, ist abenteuerlich. Vieles deutet daraufhin, dass die Männer aus dem Ausland geschickt wurden." (Nina Jeglinski, Abgehörtes Unerhörtes, Tagesspiegel, 7.3.2014). "Der neue Innenminister, Arsen Awakow, räumt[e] vieldeutig ein, dass eine 'dritte Macht' (jenseits der staatlichen Berkut-Kräfte und der Demonstranten) eine 'Schlüsselrolle' auf dem Maidan gespielt habe. Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ermittelte gegen die Scharfschützen, gab aber nur bekannt, dass es sich um ukrainische Staatsbürger handele." (ebd.).1 Im Internet findet inzwischen eine ausgedehnte Kontroverse über den Schusswechsel auf dem Maidan statt. "Die detaillierte Analyse der Bilder vom Verlauf der Handlungen durch den kanadisch-ukrainischen Politikwissenschaftlicher Ivan Katchanovski von der Universität Ottowa hat ergeben, dass auch die Oppositionskräfte Scharfschützen einsetzten und dabei nicht nur Polizisten, sondern auch die eigenen Leute vom Konservatorium aus unter Feuer nahmen. Nach seinen Aussagen führt die Spur zum Rechten Sektor." (http://www.heise.de/tp/artikel/43/43590/1.html). 2. Der Putsch gegen den Präsidenten Janukowitsch - Elitenwechsel oder Völkerrechtsverletzung Kaum hatten die drei Außenminister Kiew wieder verlassen, übernahmen Regierungsgegner in der Nacht vom 20. zum 21. 2. 2014 unter Anwendung militärischer Gewalt die Macht. Der Befehlshaber der bis zu 60 000 Kämpfer umfassenden Nationalgarde Samoobrona, Juri Parubi, torpedierte zusammen mit dem Chef des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, den Vertrag der drei Außenminister mit Janukowitsch und erzwang den sofortigen Machtwechsel (Ulrich Krökel, "Bis zum Sieg", Frankfurter Rundschau, 15./16.3.2014). Janukowitsch sprach von einem Staatsstreich, flüchtete unmittelbar vor seiner bevorstehenden Gefangennahme aus seiner Residenz und verließ das Land in Richtung Russland. Ihm wurde später von Adam Daniel Rotfeld, ehemaliger Außenminister Polens, vorgeworfen, dass er sich nicht den anrückenden Putschisten entgegen gestellt hätte. Als aufrechter Präsident hätte er weder die Gefangennahme noch den Tod fürchten dürfen. Aus der Flucht Janu-kowitschs leitete Rotfeld absichtlich irreführend ab, dass den Putschisten die Macht in die Hände gefallen sei. Man könne deshalb gar nicht von einen Putsch sprechen (Adam Daniel Rotfeld, Podiumsmitglied auf der Tiergarten Konferenz der Friedrich Ebert Stiftung, Berlin, 11. 9. 2014). Ähnlich argumentierte Jochen Bittner von der Wochenzeitung "Die Zeit", der die "These vom 'Putsch' gegen Viktor Janukowitsch" aus der New York Times in seinem Zeit-Artikel "Absurdes Kino" übernahm und nicht nur zitierte. Laut "eindrucksvoller Recherche" der New York Times hätte sich Folgendes ereignet: "Nach dem Massaker vom 20. Februar 2014 an rund hundert Demonstranten auf dem Maidan, so das Ergebnis, seien Polizisten und Elitesoldaten zu Hunderten von Janukowitsch abgefallen. Das Übergangsabkommen mit der EU sei daraufhin nichts mehr wert gewesen, weil der Präsident seine Macht bereits verloren habe." (Die Zeit, 8.Januar 2015). Bittner hätte sich in der Zwischenzeit über die Herkunft der Scharfschützen kundig machen können, aber daran hat er offenbar kein journalistisches Interesse. Gleiches gilt für die Recherche der New York Times. Wichtiger für ihn ist offensichtlich, wenn er schon den Putsch nicht leugnen kann, die Übereinkunft der drei Außenminister mit Janukowitsch als wertlos zu bezeichnen. Stephan Meuser, Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, meinte, der Putsch sei nur ein Elitenwechsel gewesen ("Was wir in der Ukraine aktuell erleben, ist bisher sicherlich keine Revolution, sondern ein Elitenwechsel." Stephan Meuser, Ukraine: "Das ist keine Revolution", veröffentlicht am 24.02.2014 in "Internationale Politik und Gesellschaft"). Die Putschisten hingegen betrachteten ihre Aktion durchaus als revolutionären Akt. Sie seien berechtigt, neues Recht zu schaffen. Andreas Heinemann-Grüder äußerte sich zu den Folgen des Putsches: "Jede Revolution untergräbt die Legitimität staatlicher Herrschaft. Der Sturz Janukowitschs machte das staatliche Gewaltmonopol und die ukrainische Verfassung obsolet." (Andreas Heinemann-Grüder, Ukraine: Revolution und Revange ... a.a.O. S.38). Was von den Revolutionären in Anspruch genommen wurde, hatte jetzt aber auch Gültigkeit für alle Teile des Volkes der Ukraine. Wenn die russischsprachige und sich mit Russland eng verbunden fühlende Krim-Bevölkerung die neue Regierung in Kiew als Bedrohung empfand und beanspruchte, sich aus dem Staatsverband der Ukraine zu lösen, war dies ebenfalls mit einem revolutionären Akt gleichzusetzen. Klaus Kreß und Christian J. Tams bezeichneten in ihrem Artikel "Dichtung und Wahrheit" Putins spätere Bekräftigung, dass die Russische Föderation bei der Abtrennung der Krim das Völkerrecht respektiert hätte, jedoch als "rechtsirrig" (IP - Internationale Politik, Mai/Juni 2014, Nr. 3, s.16). Zum Putsch gegen Janukowitsch stellten die beiden Autoren (Kreß als Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht an der Universität Köln und Tams Professor für Internationales Recht an der Universität Glasgow) zunächst fest: "Zum Zeitpunkt des angeblichen Ersuchens [um Hilfe, d.Verf.] war Janukowitsch nach Russland geflüchtet und in Kiew eine neue Regierung gebildet worden. Nach Ansicht der Russischen Föderation war dieser Regierungswechsel verfassungswidrig und deshalb völkerrechtlich unbeachtlich. Es spricht tatsächlich viel dafür, dass der Machtwechsel in der Ukraine die Bahn der ukrainischen Verfassung verließ. Doch wäre er deswegen völkerrechtlich nicht irrelevant. Die Regierung eines Staates im Sinn des Völkerrechts bildet, wer tatsächlich die Herrschaft ausübt" (ebd.S.17). In der Interpretation der beiden Autoren überführte also der Machtwechsel lediglich die Macht auf die neuen Machthaber. Er stellte keine Verletzung des Völkerrechts dar, sondern war lediglich ein Elitenwechsel. Laut Völkerrecht ist diejenige Regierung rechtmäßig, die tatsächlich die Herrschaft ausübt. Mit dieser Aussage wischten die Autoren den Vertrag der Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs, den sie mit dem amtierenden Präsidenten Janukowitsch wenige Stunden vor dem Putsch vereinbart hatten und der baldige, in demokratischen Bahnen verlaufende Neuwahlen vorsah, vom Tisch und uminterpretierten den Staatsstreich einer nicht legitimierten militanten Gruppe zum friedlichen "Elitenwechsel". Er verließ für sie zwar "die Bahn der ukrainischen Verfassung", aber stellte deshalb keinen Bruch des Völkerrechts dar. Im Sinne des Völkerrechts, meinten sie, hat nur die Herrschaft im Staat von den alten zu den neuen Machthabern gewechselt. Ihrem Kommentar fügten sie an: "In der jüngsten Zeit hat die Staatengemeinschaft die Bereitschaft zu erkennen gegeben, von diesem Effektivitätsprinzip eine eng umrissene Ausnahme zugunsten der Legitimität zu machen. So hat der UN-Sicherheitsrat 1997/98 am demokratisch gewählten Präsidenten Sierra Leones, Ahmad Tejan Kabbah, festgehalten, als dieser durch einen Militärputsch zu Fall gekommen war. Doch wie auch immer man den ukrainischen Volksaufstand beurteilt - mit einem Putsch wie im Falle Sierra Leones lässt er sich nicht gleichsetzen. Deshalb betrachten die allermeisten Staaten die neuen Machthaber in Kiew mit Recht als die Regierung der Ukraine im Sinn des Völkerrechts." (ebd.). 3. Rückkehrwunsch der Krim-Bevölkerung nach Russland Ganz im Gegensatz zur Interpretation des Putsches als "friedlichen Elitenwechsel" definierten sie das Referendum der Krim-Bevölkerung und die Abtrennung der Krim von der Ukraine jedoch als Völkerrechtsverletzung: "Es bleibt die Frage", notierten sie, "ob die russischen Streitkräfte der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim bei der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Beistand leisten durften. Hierin verschob sich am Ende der Schwerpunkt der völkerrechtlichen Argumentation Russlands. Doch ebenso gewiss ist, dass es seinem Inhaber keine Befugnis gibt, den Austritt aus einem bestehenden Staatsverband zu verlangen und mit Gewalt durchzusetzen." (ebd. S.17/18). Die Krim-Bewohner hätten kein Recht gehabt, meinten sie, in der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts den Austritt aus dem bestehenden Staatsverband zu verlangen. Für die Autoren war unerheblich, ob sich die Mehrheit der russischen Krim-Bewohner gegen die durch einen mit militärischer Gewalt durchgeführten Machtwechsel und aus Furcht vor ihrer Benachteiligung durch die neuen Machthaber gegen die weitere Zugehörigkeit zur Ukraine und für den Anschluss an Russland entschieden. Sie sprachen der unbewaffneten Mehrheit der Krim-Bewohner das Recht auf einen Anschluss an Russland ab und definierten den Wechsel zu Russland als Völkerrechtsverletzung. Die Bevölkerung der Krim vollzog jedoch in der gleichen Weise einen revolutionären Akt, wie es die Kiewer Usurpatoren der Macht vorexerziert hatten. Jede Revolution untergräbt die Legitimität staatlicher Herrschaft. Dies traf sowohl für die revolutionäre Aktion der Machtusurpatoren wie für die auf Selbstbestimmung pochende Krim-Bevölkerung zu. Für ihr künftiges Wohlergehen innerhalb der Ukraine hatte die Krim-Bevölkerung von den neuen Machthabern tatsächlich nichts Gutes zu erwarten. Gegen die auf der Krim stationierte ukrainische Militärmacht, die jetzt unter dem Oberbefehl der Usurpatoren stand, baten ihre Repräsentanten um Schutz, denn ob die auf der Krim stationierten ukrainischen Armeeeinheiten mit militärischer Gewalt die Abtrennung der Krim verhindern würden, war ungewiss. Daraufhin verließen die im Marinehafen Sewastopol stationierten russischen Soldaten - in Tarnuniform und ohne Hoheitsabzeichen - ihre Unterkünfte und fuhren nach Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Sie wurden von der dortigen Bevölkerung mit Willkommensgrüßen empfangen und als Schutz vor einem möglicherweise bevorstehenden ukrainischen Militäreinsatz empfunden. Im Interview mit Matthias Nass antwortete Helmut Schmidt auf die Frage, ob die Hinwendung der Krim zu Russland ein Bruch des Völkerrechts sei: "... ein Bruch des Völkerrechts gegenüber einem Staat, der vorübergehend durch die Revolution auf dem Maidan in Kiew nicht existierte und nicht funktionstüchtig gewesen ist" (Matthias Nass, Putins Vorgehen ist verständlich, Die Zeit, 27.3.2014). Schmidt fügte noch an, dass "das Ganze nicht ausschließlich als Rechtsproblem betrachtet werden kann" (ebd.). Gerd Held kommentierte hierzu: "Das Völkerrecht ist kein Staatenbildner. Weder im Sinn der Unantastbarkeit von Grenzen, noch im Sinn der Selbstbestimmung von Völkern. Das sollte man bedenken, bevor man im Namen eines angeblich höheren Rechtsgebots nun in eine neue Spannungspolitik ohne Ausweg schlittert" (Gerd Held: Das Völkerrecht bildet keine Staaten, Novo Argumente Online, 26.5.2014). Eugen Ruge beklagte die einseitige Berichterstattung in den deutschen Medien: "Wenn sich die Bevölkerung einer autonomen Republik von Russland abzuspalten wünscht - wie im Falle Tschetscheniens -, findet dies den ungeteilten Zuspruch der westlichen Politik. Wenn aber die Mehrheit der Bevölkerung einer autonomen Republik sich mit Russland zu vereinigen wünscht, dann wird dies als Katastrophe angesehen?" (ebd.). In den nächsten Wochen und Monaten meldeten sich noch weitere Völkerrechtler zu Wort. Stefan Talmon von der Universität Bonn wies auf die Besonderheit des Völkerrechts hin, das den Staaten durch Biegen und Brechen der Regeln die Schaffung neuer Regeln ermöglicht: "Das Völkerrecht verändert sich ständig, weil die Regeln durch die Staaten gemacht werden und weil es keine Zentralinstanz gibt, die das Völkerrecht verbindlich auslegt und durchsetzt." (Stefan Talmon, Biegen und Brechen, Die Zeit, 6.11.2014). Talmon rief alle beteiligten Staaten zur Einhaltung des Völkerrechts auf. Jede Seite müsse Völkerrechtsbrüche seiner Verbündeten anprangern und nicht nur die der Gegenseite. "Im Ukrainekonflikt berufen sich westliche Staaten auf territoriale Integrität, Gewaltverbot und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Aber warum sollten diese Prinzipien nur gegenüber Russland gelten, nicht auch zugunsten Assads?", fragte Talmon (ebd.). Katar und Saudi-Arabien hatten die Rebellen Syriens mit Waffen beliefert und fanden hierbei die Unterstützung der USA und der EU. Der eigentliche Dammbruch gegenüber den etablierten Regeln des Völkerrechts sei in der Kosovo-Frage geschehen. Damals habe sich die Nato "klar über das Völkerrecht hinweggesetzt" (ebd.). Abschließend stellte Talmon fest: "Der Völkerrechtler kann die Schwächen des Systems erklären, aber er kann sie nicht beseitigen. Das kann nur die Politik." (ebd.). Zur Diskussion stand, wer die Deutungshoheit über das vielfältig biegsame und durch Regierungshandeln veränderbare Völkerrecht erringen würde. Wenn der gewaltsame Putsch gegen Janukowitsch, der sich mit den drei westlichen Außenministern auf einen baldigen demokratischen Machtwechsel verpflichtet hatte, nur als friedlicher "Elitenwechsel" bezeichnet wurde und kein Völkerrechtsbruch darstellte, war auch die mit friedlichen Mitteln eingeleitete Abtrennung der Krim von der Ukraine nicht als Völkerrechtsbruch zu bezeichnen. Mit dem Putsch war die revolutionäre Periode der Ukraine eröffnet worden. Die Loslösung der Krim fand in diesem revolutionären Zeitraum statt. Beendet wurde die revolutionäre Zeit erst durch die Wahl Poroschenkos zum neuen Staatspräsidenten am 25. Mai 2014. 4. Divergierende Ansprüche auf Deutungshoheit 4.1 Transformation diskursiver in hegemoniale Formationen und hegemoniale Praxen Den eigenen Staatsinteressen universelle Gültigkeit verleihen zu wollen und dafür zu sorgen, dass sie von der Gemeinschaft aller Staaten akzeptiert werden, erfordert auf der Ebene der konkreten gesellschaftlichen Machtverteilung, dass alle Einflussfaktoren eingesetzt werden, um die Deutungshoheit über das, was für das Zusammenleben der Staaten von Bedeutung ist, zu gewinnen. In die Einflussnahme einbezogen ist an erster Stelle die Ebene der Diskursivität, auf der Theorien gebildet werden, angefangen von der Auslese des wissenschaftlichen Personals über die Finanzierung von Forschungsaufgaben bis hin zu geeigneten Verbreitungsmethoden in Fachzeitschriften und -büchern sowie auf gesponserten Fachtagungen und -konferenzen durch Gutachter, gesellschaftlich renommierte Verlage und Stiftungen. Vorrangiges Ziel ist, die beanspruchte Deutungshoheit in hegemoniale Formationen umzusetzen und relevant für die Beziehungen der Staaten untereinander werden zu lassen. Hegemoniale Formationen entstehen auf der Ebene der Diskursivität – bzw. der wissenschaftlichen Theoriebildung – als Erweiterung diskursiver Formationen. Eine diskursive Formation (Foucault) ist ein Ensemble differentieller Positionen, das sich durch eine “Regelmäßigkeit in der Verstreuung” auszeichnet. Das Ensemble differentieller Positionen soll, so ist die Annahme, in der empirisch erfassbaren Realität vorzufinden sein. In ihr muss es also die unterstellte „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ geben. Der Gesamtzusammenhang, in den eine diskursive Formation eingebettet ist, hängt also von sehr unterschiedlichen Faktoren ab. Die “Regelmäßigkeit in der Verstreuung” setzt jedoch kein ihr äußeres System voraus, in das sie selbst einbezogen ist.2 In ihrer Praxis muss eine hegemoniale Formation sowohl auf Veränderungen Acht geben, die in den in ihr inkorporierten Systemen von Differenzen, Äquivalenzketten (z.B. innerwestliches Dreieck [USA/Großbritannien, kontinentaleuropäische Staaten und Japan] versus BRICS [Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika]) und in Formen der Überdeterminierung [Existenz von Über- und Unterordnungsverhältnissen sowie Herrschaft und Beherrschung]) stattfinden als auch auf Veränderungen ihres Terrains reagieren, auf dem sie tätig ist. Damit wird deutlich, dass hegemoniale Formationen niemals abgeschlossen sind. Ohne diese Unabgeschlossenheit gäbe es keine Zugewinn- und Verlustmöglichkeiten. Obwohl oder gerade weil sich die Repräsentanten einer hegemonialen Formation der Unabgeschlossenheit als Voraussetzung ihres Handelns bewusst sind, umgeben sie sich und das von ihnen ausgewählte aktuelle Arrangement stets mit der Aura des Universellen. Ihre hegemoniale Praxis stellen sie selbst gern als alternativlos dar. Vorrangig fokussieren sie sich auf die aktive Ausformulierung und Gestaltung der ihnen zu Grunde liegenden hegemonialen Formationen und den Ausbau und die Erhaltung des Terrains, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat, sowie auf die daraus unmittelbar folgende Verwirklichung eines bestimmten Ensembles relativ stabiler sozialer Formen. In der Zeit der Besitzergreifung ihres Terrains restrukturieren sie die internationalen Beziehungen und be- und verdrängen bis dato anerkannte Staatsinteressen sowie das von jenen beanspruchte Terrain. 4.2 Verabschiedung des Einflusssphärenkonzepts als exemplarisches Beispiel Mit der Verabschiedung des Einflusssphärenkonzepts, von Angela Merkel mit ihrem Satz "Dieses Denken ist mir fremd und ist uns in der Europäischen Union fremd" auf den Punkt gebracht und von Bundespräsident Joachim Gauck weiter ausformuliert - "Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Länder militärisch unterstützen." - wird das Denken und Handeln in Einflusssphären als veraltet betrachtet und längst vergangenen Weltordnungen des 19. und 20. Jahrhundert zugeordnet. Nun ist es jeder Machtelite unbenommen, ihre machtorientierte Praxis normativ zu überhöhen. Wenn jedoch der Glaube an die proklamierten Normen unfähig macht, existierende Kräfteverhältnisse adäquat einzuschätzen und darauf abgestimmte Handlungskalküle zu entwickeln, wird der Glaube an Normen kontraproduktiv. Sich selbst und anderen Regierungen das Normengefüge von "Good Governance" überzustülpen, die Regierungspraxen anderer Staaten nur noch daran zu messen, ob sie den gesetzten "Good Governance"-Normen entsprechen und darüber die Einschätzung von Kräfteverhältnissen zu vernachlässigen, hat Niederlagen zur Folge, was die EU in ihrer Ukrainepolitik schmerzhaft registrieren musste. Ernüchterung und Entrüstung sind die Folgen solcher Fehleinschätzungen. Sie münden in der Wiederaufnahme des Kalten-Kriegs-Denkens: Drohung, Einschüchterung, Abschreckung, Gegenmaßnahmen, Sanktionen gegen die vermeintlich schwächere Seite (Russland) und untertäniges Schweigen bei allen Maßnahmen der überlegenen Macht (USA). Der Arbeitskreis internationale Sicherheitspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung analysierte in seiner Schrift "Über den Tag hinaus denken" die widersprüchliche Politik der EU und insbesondere Deutschlands gegenüber Russland, einerseits "die energiepolitische Anbindung Europas an Russland" zu fördern und andererseits die "fortgesetzte NATO-Osterweiterung" in der Hoffnung voranzutreiben, Russland vollständig in den "Westen" einzubinden. "Demütigungen durch die historische Wende, die Russland sowohl als gefühlten wie auch mit Blick auf den früheren Weltmachtstatus der Sowjetunion als tatsächlichen Verlierer zurückließ", sagt die Denkschrift, wurden nicht genügend einkalkuliert. "Eine echte »europäische Sicherheitsarchitektur« mit der NATO als Kern, der EU als zivilmilitärisch handlungsfähigem Pfeiler, der OSZE als verbindender Klammer und Russland als konstruktivem und verlässlichem Mitspieler hat es nie gegeben", ist das Fazit der Denkschrift. Statt dessen wurde eine zweigeteilte Strategie in die Praxis umgesetzt, die Joseph S. Nye von der Aspen Strategy Group in den folgenden Sätzen auf den Punkt brachte und üblicherweise als Containment-Strategie bezeichnet wird: "Zwar muss der Westen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin entgegentreten, der mit der nach 1945 geltenden Norm bricht, keine gewaltsamen Territorialansprüche zu erheben, doch er darf Russland nicht völlig isolieren; ein Land, mit dem der Westen sich überschneidende Interessen in Bezug auf nukleare Sicherheit, Nichtverbreitung, Terrorismusbekämpfung, die Arktis und regionale Angelegenheiten wie Iran und Afghanistan teilt. Hinzu kommt, dass Putin schlicht aufgrund der Geographie bei einer Verschärfung des Konflikts in der Ukraine im Vorteil ist." (Joseph S. Nye, Ukraine: "Wut ist keine Strategie!", © Project Syndicate Veröffentlicht am 10.09.2014). Innerhalb der Containment-Strategie übernehmen die USA, die weiter wie bisher an der globalen Ausdehnung ihrer Hegemonie arbeiten, die Rolle des Demütigenden und missachten die andersartigen Interessen der EU gegenüber Russland. Mit ihrem Vorpreschen bei weiteren Sanktionen gegen Russland zwingen sie die von ihnen vielfältig abhängigen EU-Staaten zum Nachvollzug, verschärfen die EU-Russland-Beziehungen und schwächen insgesamt die von der EU (und darin insbesondere die von Deutschland) angestrebte eigenständige Rolle in der Welt. In der vermeintlichen Hoffnung, dass Putin letztlich zum Nachgeben gezwungen sei, ertragen die EU-Staaten die von den USA in Szene gesetzte Sanktionsspirale und kalkulieren weder ein, dass China Russland zur Hilfe eilen muss, um nicht nach dem Zerfall Russlands das nächste Opfer der Weltmachtstrategie der USA zu werden, noch dass Indien als weiterer BRICS-Staat stärker an die Seite Chinas und Russlands rückt. Dass sie selbst im neuen Ost-West-Konflikt als Verlierer dastehen könnten, scheinen sie bisher nicht in ihr Kräftekalkül einbezogen zu haben. 1 Die Bekanntgabe der Generalstaatsanwaltschaft erfolgte erst, als der Putsch gegen Präsident Janukowitsch bereits stattgefunden hatte und die Putschisten die Macht an sich gerissen hatten. Die unter neuem Oberbefehl handelnde Generalstaatsanwaltschaft ermittelte zwar die Identität der Scharfschützen, wurde aber offenbar daran gehindert, deren Auftraggeber dingfest zu machen. 2 Beim Kampf um die Erringung und Erhaltung der Deutungshoheit und dem Ringen um Einwirkung auf die internationalen Beziehungen unterliegt sie acht zu berücksichtigenden Ausgangsbedingungen, wobei die Unabgeschlossenheit diskursiver Formationen eine Voraussetzung für jede hegemoniale Praxis ist: Jeder ausdifferenzierte einzelne Begriff sowie die Gesamtheit der strukturierten Totalitäten/Formationen bleiben notwendigerweise unabgeschlossen. Weder die Basissätze einer Deduktion können empirisch restlos bewiesen werden, noch muss die Logik des Modells der immanenten Logik des Objekts entsprechen. Die von Kant gegen missbräuchliche Resultate der reinen Vernunft ins Feld geführten Verstandesbegriffe können Widerspruchsfreiheit lediglich in der theoretischen Analyse garantieren, nicht jedoch im Objekt möglicherweise enthaltene oder bereits vorgefundene. Im Entstehungs- und Verfallsprozess einer endlichen Struktur ist zwar die Spur ihrer Vergänglichkeit immanent eingezeichnet, aber in der Pluralität der zu jedem Zeitpunkt möglichen Arrangements bleibt sie verborgen. Es ist unentscheidbar, welche der möglichen Arrangements ihr am nächsten kommen. Je komplexer endliche Strukturen beschaffen sind, desto weniger lässt sich das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten überschauen, vorhersagen und daraufhin überprüfen, welche der veränderbaren Komponenten die Lebensdauer der Struktur optimieren. Neue diskursive Formationen werden deshalb sorgsam interessenbezogen daraufhin überprüft, ob sie für aktuell erforderliche Arrangements der internationalen Machterhaltung dienen. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/47c588c11cc44172990e02d786916b12" width="1" height="1" alt="" /> |
AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
|