Simone Lück-Hildebrandt
Was macht blind? Anmerkungen zum Kommentar von Christoph von Marschall „Rechts-Links-Denken macht blind“ im „Tagesspiegel“ vom 29.05.2016 Die Aufgabe, die sich von Marschall in diesem Kommentar stellt – zu diagnostizieren, warum es zu diesem Aufstieg von „Rechtspopulisten“ in Europa und den USA gekommen ist – macht neugierig. Nur wenn seine Diagnose zutreffend sei, meint Christoph von Marschall, bestehe Aussicht auf Therapie und Besserung. Die vom Autor geweckte Hoffnung erfüllt sich jedoch nicht. Die Gründe für die Enttäuschung des Lesers werden in den folgenden Punkten dargelegt: 1. Als Ausgangspunkt seiner Diagnose formuliert von Marschall die Hypothese, dass diese besondere Form von Populismus gar nicht so „rechts“ zu verorten sei. Es gäbe vielmehr „Gemeinsamkeiten in den Gedankenwelten am rechten und am linken Rand des politischen Spektrums“. Undefiniert bleibt beim Autor jedoch, bis wohin der linke und der rechte Rand reicht. Handelt es sich beim linken Rand um die sog. Linksautonomen oder den „schwarzen Block“? Sind auch die Parteigänger der Partei „die Linke“ sowie linke Sozialdemokraten und Jungsozialisten einbezogen? Begrenzen den rechten Rand Parteien wie die NPD, die AfD bzw. Bewegungen wie Pegida, oder sind auch Teile der CSU und möglicherweise der CDU gemeint? Christoph von Marschall spricht lediglich ungenau von „linken Sozialisten“ auf der einen Seite des Spektrums und „rechten Nationalisten“ auf der anderen. 2. Noch viel gefährlicher als die unzulänglich beantwortete Frage nach der Reichweite des politischen Spektrums ist jedoch die undifferenzierte Gleichsetzung von "Linken" und "Rechten". Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Die Beweggründe, die zur Ablehnung der Globalisierung und damit zur Ablehnung von TTIP bei Vertretern der "Linken" geführt haben, haben überhaupt nichts mit der „nationaltümelnden“ Abschottung gegenüber Fremden oder dem Ausland bei "Rechten" zu tun. Die Ablehnungsgründe der "Linken“ leiten sich vor allem aus den negativen Begleiterscheinungen der Globalisierung ab. Sie lassen sich unter den Stichworten „Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich“ oder auch „Prekarisierung der Arbeits-verhältnisse“ zusammenfassen. Die Front derjenigen, die die Sanktionen gegen Russland ablehnen, reicht weit über die von Christoph von Marschall als „deutschnationale Putinver-steher“ bezeichneten hinaus und schließt auch Unternehmer sowie Teile der SPD bis hin zum Wirtschaftsminister Gabriel und Außenminister Steinmeier ein. Bis vor einigen Wochen wäre deren Zuordnung zu den „deutschnationalen Putinverstehern" undenkbar gewesen. Nun scheint diese Auffassung unberechtigterweise „salonfähig“ zu sein. Der Kommentar von Christoph von Marschall hat dazu beigetragen. Seine „Denkrichtung“ hält Christoph von Marschall auch in seinem Kommentar vom 21.06.2016 zu den Äußerungen Steinmeiers zum Nato-Manöver in Polen bei. Die Warnungen vor einer zu „laxen“ Haltung der SPD gegenüber Putin, die obendrein noch als Wahlkampfmanöver abgetan wird, verstellen dem Leser den Blick auf die tatsächliche Gefahr eines neuen Ost-West-Konflikts, die mit einer ständigen Nato-Präsenz in Polen und den baltischen Staaten am Horizont heraufzieht. 3.Die These, dass in der heutigen Zeit die Gegnerschaft zwischen "Linken" und "Rechten" vom Gegensatzpaar „liberales, weltoffenes Bürgertum in der Mitte“ versus „Anhänger an beiden Rändern“ des Parteienspektrums abgelöst wor-den sei, hält einer kritischen Analyse nicht stand. Ist es nicht gerade der Versuch der beiden großen Parteien, ihre Wählerschaft ausschließlich aus dieser „Mitte“ zu rekrutieren, der die Bundesrepublik in diese Art von Sackgasse gebracht hat, eine um sich greifende Wahlabstinenz befördert und die AfD und Pegida ermöglicht? 4. Die populistischen Bewegungen in Großbritannien, in Österreich und in den osteuropäischen Ländern in das gleiche Erklärungsschema wie die Entwicklung in Deutschland zu pressen, ist unverantwortlich, denn die Bedingungen, die zu dem scheinbar gleichen Phänomen geführt haben, sind vor allem in Bezug auf die osteuropäischen Länder völlig unterschiedlich und bedürften einer ausführlicheren Analyse bzw. „Diagnose“. Dem interessierten Leser, dem etwas über die spezifischen Voraussetzungen des Populismus in den genannten Ländern erklärt werden sollte, wird auf diese Weise nicht weiter geholfen. 5. Als besonders bedenklich betrachte ich den Hinweis, dass es kein Zufall ist, „dass Linke wie Rechte gleichermaßen gegen die freie Marktwirtschaft und die Handelsfreiheit zu Felde ziehen und eine liberale Wirtschaftsordnung als ‚Neoliberalismus‘ verteufeln“. Abgesehen davon, dass die Bandbreite zwischen „sozialer Marktwirtschaft“ und der „angebotsorientierten Marktwirtschaft“ nach dem Muster der Agenda 2010 sehr groß ist, wird überhaupt nicht erwähnt, dass die wirtschaftliche Ausrichtung der AfD keineswegs darauf hinausläuft, sich vom Neoliberalismus abzuwenden. D.h. genauso wie die NSDAP am Ende der Weimarer Republik hängt sich die nationalistisch und neoliberal ausgerichtete AfD bloß ein „sozialistisches Mäntelchen“ um und zielt damit auf linkes Wählerpotential. 6. Wenn man die Frage stellt, warum die „Abwanderung“ von links nach rechts damals wie heute zu beobachten ist, müsste man auf die Rolle der SPD in der jeweiligen Situation eingehen: Damals hatte die SPD - aus Angst vor einer Fortsetzung der Revolution - den „Pakt mit dem Teufel“, d.h. mit dem Vertreter der Obersten Heeresleitung, Groener, geschlossen und damit die Spaltung der Partei provoziert. Die Unfähigkeit auf Seiten der SPD wie auch der KPD, aufeinander zuzugehen, hat zumindest dazu beigetragen, dass sich Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums von der „Linken“ ab- und den Nationalsozialisten zuwandten. Auch noch 27 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands kommt es in weiten Teilen der SPD einem Tabubruch gleich, sich mit dem Gedanken einer rot-roten Koalition auf Bundesebene auseinanderzusetzen – wiederum aus Angst. Aber wovor hat die SPD eigentlich Angst, dass die alte SED wieder erstehen könnte, dass sie die „westdeutsche“ Wählerschaft verliert, dass sie sich den Ärger der USA zuzieht? Man weiß es nicht genau, aber es würde sich lohnen, genaueres darüber zu erfahren. All diese Punkte müssten in einer der Kommentierung vorausgehenden ausführlichen Analyse dargelegt werden. Als geschäftsführender Redakteur des Tages-spiegels hätte Herr von Marschall die Möglichkeit, eine solche ausführliche Analyse zu publizieren, damit die Leserschaft an der von ihm eingeforderten Therapie teil haben kann. Die viel beschworene „liberale Mitte“, auf die er hofft, ist nur so lange handlungsfähig wie sie selber einen relevanten Teil der Bevölkerung hinter sich weiß. Sollten sich am unteren Rand der „liberalen Mitte“ Auflösungstendenzen bemerkbar machen, weil sich z.B. junge Akademiker von Zeitverträgen zu Zeitverträgen hangeln müssen oder weil sich Teile der Mittelschicht nicht mehr ihre bisherige Wohnung leisten können, ist es möglicherweise mit der Verteidigung der Weltoffenheit und der Liberalität schnell vorbei. Abschließend ist noch die Frage zu beantworten, was zur Blindheit beiträgt. Auf jeden Fall der Artikel von Christoph von Marschall, der genau die oben aufgeführten Überlegungen nicht anstellt, um seine Leserschaft vor plattem Schematismus zu bewahren. Warum von Marschall der wichtigen Aufgabe des „seriösen“ Journalismus nicht nachkommt – so wie gerade in eben jenem oben zitierten Kommentar vom 21.06.2016 zum „riskanten Manöver der SPD“ geschehen –, bleibt offen. Post scriptum: Mein in weiten Teilen mit diesem Text identischer Brief an Herrn von Marschall ist bis zu diesem Tag von seiner Seite unbeantwortet geblieben. Einerseits mag es ver-ständlich sein, dass er durch den Präsidentschaftswahlkampf in den USA extrem beschäftigt ist, andererseits ist ein solches Schweigen von Seiten eines angesehenen Journalisten nicht ohne Gefahr: es könnte z.B. gerade die rechtspopulistische Stimmungslage befördern, die Herr von Marschall beseitigen möchte. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/bbf7513ea19449e3ab5662b5c2ab9c01" width="1" height="1" alt="" />
0 Kommentare
|
AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
|