Simone Lück-Hildebrandt 08. November 2016
Jede Woche eine verbale Entgleisung politischer Vertreter der Bundesrepublik Deutschland? Gerade hat sich die Welle der Empörung über die menschenverachtenden Äußerungen des deutschen EU-Kommissars Oettinger über die Chinesen abgeschwächt, mussten aufmerksame Beobachter des politischen Geschehens am Sonnabend, dem 05.11.16 eine neue „Entgleisung“ zur Kenntnis nehmen: nämlich die von Innenminister de Maizière, wie mit den aus dem Mittelmeer geretteten Flüchtlingen umzugehen sei. Nach seinen Vorstellungen sollen sie auf ein anderes Schiff verbracht werden, das sie auf direktem Weg in ein anderes nordafrikanisches Land – z.B. das so „sichere“ Tunesien oder Ägypten – verbringt. Völlig unverständlich bricht jedoch – abgesehen von dem eher mäßigen Protest der Grünen Göring-Eckardt – keine Welle des Protestes los. Liegt es daran, dass diese Äußerung von den alarmierenden Meldungen aus der Türkei überdeckt wird? Dabei hängen diese ebenfalls menschenverachtenden Überlegungen mit den Vorgängen in der Türkei unmittelbar zusammen. Man befürchtet, dass der Deal mit der Türkei hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik wahrscheinlich nicht mehr lange aufrechterhalten werden kann. Demzufolge muss man wieder mit höheren Flüchtlingszahlen rechnen, möglicherweise mit schrecklichen Zuständen an den Grenzzäunen der Balkanroute, im Inland mit noch größeren Protesten gegen die Flüchtenden, größerem Zulauf zur AFD. Das von der CDU geleitete Innenministerium glaubt offensichtlich, der AFD auf diese Weise zuvorzukommen, um potentielle AFD-Wähler an sich zu binden. De facto kann das Gegenteil eintreten: Mit den Ideen von Herrn de Maizière fühlen sich AFD- und Pegida-Anhänger in ihrer Sichtweise bestärkt, noch mehr Flüchtlingsheime brennen, noch mehr Menschen mit Migrationshintergrund werden angegriffen. D.h. dieser Innenminister kommt der AFD nicht zuvor, sondern läuft ihr hinter her. Noch katastrophaler werden diese Überlegungen jedoch, wenn man sich an umherirrende Schiffe mit jüdischen Menschen, die in letzter Not den NS-Schergen entkommen sind, erinnert. Auf der „St. Louis“ z.B. näherten sich im Mai 1939 jüdische Menschen (937 – gerade der Pogrome in Deutschland entkommen) der Insel Kuba in der Hoffnung, dort aufgenommen zu werden. Da kurz vor der Ankunft des Schiffes die Visabestimmungen geändert wurden, zerplatzte diese Hoffnung wie eine Seifenblase. Auch in den USA wurde ihnen die Einreise im letzten Moment verweigert, so dass sie schließlich wieder den Weg in Richtung Europa aufnehmen mussten. Sie wurden dann zwar von Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien aufgenommen. Aber mit der Besetzung von Belgien, den Niederlanden und Frankreich durch die Nationalsozialisten befanden sie sich erneut in der gleichen gefährdeten Lage wie vor ihrer Abreise mit dem Schiff. Nach neueren Erkenntnissen wurden 254 von ihnen in den Gaskammern ermordet Bekannter noch ist das Schicksal der 4500 Juden, die nach ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern sich auf der „Exodus“ auf den Weg nach Palästina machten und denen die Ankunft dort jedoch durch die britische Militäradministration – aus Furcht vor dem Verlust ihrer Vormachtstellung in diesem britischen Mandatsgebiet – verwehrt wurde. Um die „Exodus“ an der Weiterfahrt zu hindern, zögerte die britische Militäradministration nicht, das Schiff unter Beschuss zu nehmen. Die aufgegriffenen Flüchtlinge wurden zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen in Internierungslagern auf Zypern festgesetzt, zum Teil wurden sie in Gefangenenschiffen in die Länder zurücktransportiert, aus denen sie gekommen waren. Wie geschichtsvergessen muss man sein, um eine Überlegung, wie die von Herrn de Maizière, in die Welt zu setzen – ohne sich an die geschilderten dramatischen Ereig-nisse jener Tage zu erinnern. Hat er nichts von den vielen gescheiterten Fluchtversuchen jüdischer Menschen in Gebiete, in denen sie sich in Sicherheit wähnten und von denen sie dann wieder zurück in die Arme der Nationalsozialisten getrieben wurden, in Erinnerung behalten? Wie kann man angesichts einer solchen „Entgleisung“ von den deutschen Jugendlichen verlangen, dass sie sich stets ihrer geschichtlichen Verantwortung bewusst bleiben sollen, wenn selbst ein Innenminister sich dieser Verantwortung nicht stellt? Zudem ist es doch ganz klar, dass Tunesien, das gerade selbst darum kämpft, das „zarte Pflänzchen der Demokratie“ trotz schrecklicher Attentate zu festigen, eine massenhafte Unterbringung von Flüchtlingen nun überhaupt nicht brauchen kann. Wie sollen die Tunesier die Flut von Asylanträgen bewältigen, wenn es noch nicht einmal den zur EU gehörenden Griechen gelingt, dieses Problem zu bewältigen? Für Ägypten gibt selbst das deutsche Außenministerium Reisewarnungen wegen der erhöhten Gefahr von Anschlägen aus. Die soziale Lage des Landes ist katastrophal. Können hier Geflüchtete einigermaßen sicher untergebracht werden? Werden nicht gerade hier neue Schlepper „geboren“, die sich von dieser „Tätigkeit“ einen kleinen Zuverdienst erhoffen? Alle diese Fragen hätte sich Herr de Maizière stellen können und müssen, bevor er die schnelle Lösung aus der Tasche zieht. Dass er dies nicht getan hat, weist ihn
Obwohl die Äußerungen de Maizières nun seit vier Tagen in der Welt sind, wird in den Medien nicht mehr darauf eingegangen, die politische Öffentlichkeit setzt sich nicht damit auseinander. Fast hat es den Anschein, als sollten diese problematischen Pläne „unter den Teppich gekehrt“ werden. Dass sie darunter aber möglicherweise weiter „wuchern“, scheint niemanden zu interessieren. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/71cefa716f1c460eae25649917be8996" width="1" height="1" alt="" />
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