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Staat

Der zerfallende Staat, hegemoniale Formationen und die„Global Governance“-Theorie

2/19/2016

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1. Das Verhältnis zwischen hegemonialen Formationen und Staat

1.1. Freiwilliger oder erzwungener Verzicht des Staates auf die Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft

In diesem Aufsatz wird behandelt, dass und warum der schwächelnde Staat sich nicht mehr in der Lage sieht, die an ihn gerichtete Minimalanforderung – die Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft – durch sein Eingreifen sicherzustellen. Er verzichtet freiwillig auf die Erhaltung des formlosen Gegenhalts und ordnet sich den Aktionen und Reaktionen der hegemonialen und diskursiven Formationen nicht mehr als gleichwertige und gleichberechtigte Kraft zu und folgt dem falschen Diktum Joschka Fischers (Außenminister im Kabinett Gerhard Schröder von 1998 bis 2005): „Niemand kann gegen die Märkte Politik machen“. (1) In den vom damaligen Wirtschaftsminister Guttenberg zu Beginn der großen Koalition (2005 – 2009) formulierten „industriepolitischen Leitlinien zur Zukunft des Landes“ kommt diese Haltung des Staates durch folgende Schlagworte zum Ausdruck: „Entlastung der Unternehmen“, „Senkung der Lohnnebenkosten“, „Flexibilisierung des Arbeitmarktes“, Beseitigung von „Sonderlasten“. (2) Selbst wenn diese Leitlinien im weiteren Verlauf der Koalition zurückgenommen wurden, nimmt der Staat gegenüber den transnational tätigen Unternehmen eine unterwürfige Rolle ein.
Die freiwillige Unterordnung des Staates unter die Belange global tätiger Unternehmen und Finanzorganisationen hat auch gravierende Auswirkungen auf die durch „Kontingenz der Wahl- und Politikresultate“ bewirkte „Legitimität durch Verfahren, die a priori festgelegt sind“ und laut Wolfgang Merkel Demokratien als besonderes Qualitätsmerkmal gegenüber allen anderen Regierungsformen auszeichnen sollen. (3) Merkel beklagt zwar die „Delegitimierung“ der gesamten Ordnung, wenn Demokratien eine „Diskrepanz von formalem Geltungsanspruch der Normen und der politischen Wirklichkeit“ aufweisen (ebd. S.38) und die Bürger daraufhin enttäuscht mit Wahlabstinenz reagieren, aber noch weniger als Gunnar Folke Schuppert hinterfragt er, ob und inwieweit die in der Verfassung niedergelegten Verfahrensweisen den Einfluss von Macht überhaupt entschärfen können. (4) Merkel würde der Bildung von Ideologie Vorschub leisten, sollte er Demokratien ausschließlich im Prisma des normativen Seinsollens beurteilen. Schweigend ließ er z.B. in einer von der Friedrich Ebert Stiftung arrangierten Diskussion mit dem ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück dessen Meinung passieren, dass in Demokratien zwischen Norm und Realität nur sehr schwer Deckungsgleichheit herzustellen sei und Demokratietheoretiker sich dieser Problematik sehr bewusst sein sollten.
Ist der Staat bereits so schwach geworden, dass er seine Dienste hegemonialen Formationen sogar unfreiwillig zur Verfügung stellen muss, beschränkt er den Einsatz seiner Instrumente nur noch auf den Ausbau und die Erhaltung des Terrains der maßgebenden Formationen sowie der von ihnen formulierten Gemeinwohlbelange. Gemeinwohlbestimmung und Erhaltung des formlosen Gegenhalts treten auseinander, da der Ausgleich zwischen kontrastierenden Ansprüchen verschiedener gesellschaftlicher Kräfte per Gemeinwohlbestimmung nicht mehr hergestellt werden kann. Auf den Staat kommt zunehmend die Aufgabe zu, durch Zwangsmaßnahmen die unterlegenen hegemonialen Formationen und die mit ihnen korrespondierenden diskursiven Formationen den Ansprüchen der dominierenden zu unterwerfen. Der freiwilligen oder erzwungenen Schwäche des Staates geht also der fortschreitende Zerfallsprozess der Gesellschaft bereits voraus. Die Gesellschaft zerbricht schließlich an ihren eigenen Widersprüchen und reißt den Staat mit in den Abgrund. Übrig bleibt bestenfalls ein auf dekorative Zwecke beschränkter gescheiterter Staat. Der Zerfallsprozess durchläuft folgende Stationen.

1.2. Erste Station: Verweigerungshaltung etablierter hegemonialer Formationen gegenüber staatlich initiierten Maßnahmen zur Förderung nachwachsender Formationen

Hegemoniale Formationen schließen sich in der Erweiterung und Stabilisierung des Terrains, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat, zur Abwehr von korrigierenden Eingriffen des Staates mit anderen bereits etablierten hegemonialen Formationen in sogenannten Äquivalenzketten zusammen und propagieren beispielsweise bevorzugt diskursive Formationen, die dem Staat das Recht des Eingreifens zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts gänzlich absprechen.
Ein aktuelles Beispiel ist das Verhalten der vier großen Energiekonzerne, die in einer Anzeigenkampagne vehement gegen die geplante Brennelementesteuer agitieren und mit der Stilllegung von Atommeilern drohen. Ihre Vorgehensweise ist von der Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag, Künast, als das von „Besatzungsmächten“ bezeichnet worden. Jene hegemonialen Formationen unterlaufen gleichzeitig die in etablierten Demokratien a priori festgelegten Verfahren durch massive Lobbyarbeit. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit erwecken sie wider besseren Wissens den Eindruck, dass dem Markt eine sich selbst steuernde unendliche Struktur eigentümlich sei, die des korrigierenden staatlichen Eingriffs zur Erhaltung des Gemeinwohls nicht bedürfe und verschweigen, dass der formlose Gegenhalt auf ihren endlichen Strukturen basiert, mit deren zeitlich versetzten Ende der Gegenhalt immer fragiler wird. Oligopol- und Monopolbildungen können den Zerfallsprozess nur hinauszögern. Indem sie also dem Staat die Unterstützung noch junger aufsteigender hegemonialer Formationen verwehren, führen sie durch ihre eigene Abschottungsstrategie einen fortgesetzt fragileren Zustand des formlosen Gegenhalts herbei und treiben letztlich – gegen die eigene erklärte Absicht – den Zerfallsprozess sogar voran.

1.3.Zweite Station: Zunehmender Widerstand hegemonialer Formationen gegenüber staatlicher Auslotung ihrer Flexibilitäts-spielräume

Auf diesem Praxisfeld handelt es sich vorwiegend um Risikoabwägungen, die auch kontinuierlich von den hegemonialen Formationen im eigenen Interesse wahrgenommen werden, um das stets prekäre Verhältnis zu den von ihnen Hegemonisierten nicht durch zu starke Druckausübung zu gefährden bzw. um nicht Unterhaltungskosten einkalkulieren zu müssen, durch die sie – im Verhältnis zu ihren direkten und darüber hinaus zu den rangniedrigeren Konkurrenten – in einen Wettbewerbsnachteil geraten.
Ein ideales Hegemonialverhältnis ist vergleichbar mit einem idealen Unterordnungsverhältnis, in dem lediglich „eine Reihe differentieller Positionen zwischen den sozialen Agenten…“ errichtet wird. (5) Ein solches System von Differenzen, „das jede soziale Identität als Positivität konstruiert“, kennt keinen Antagonismus. Es gleicht einem „genähten sozialen Raum“ (6), wie ihn übrigens auf unterschiedliche Weise auch Hegel in seinem Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis und Niklas Luhmann entwickelt haben. Luhmann beschrieb die Verhaltensweise des Machtunterworfenen in den folgenden Worten: „Der Machtunterworfene wird erwartet als jemand, der sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat,…“ (7) Der Machtunterworfene befolgt bereits die unbefohlenen Befehle des Machthabers, was dazu führt, dass in einem idealen Unterordnungsverhältnis zu seiner Aufrechterhaltung keinerlei Kosten entstehen.
Ideale Unterordnungsverhältnisse existieren zuweilen, aber die gesellschaftliche Realität wird sehr viel häufiger von Unterordnungsverhältnissen bestimmt, in denen die Untergeordneten unzufrieden sind. Solche Verhältnisse sind nicht mehr kostenfrei. Je größer der Unmut der Untergeordneten gegenüber den Anmaßungen der Übergeordneten ausfällt, desto stärkere Besänftigungsmaßnahmen müssen schließlich eingesetzt werden, um das Verhältnis funktionsfähig zu erhalten. Solche Unterordnungsverhältnisse unterliegen außerdem stets der Gefahr, von der Unterordnung zur Unterdrückung überzuwechseln und ein Unterdrückungsverhältnis zu begründen.
Wenn Unterordnungsverhältnisse drohen, zu Orten von Antagonismen transformiert zu werden, ist entweder für die unterordnende Seite die Möglichkeit vorhanden, mit einer – das bestehende Unterordnungs-verhältnis – rechtfertigenden diskursiven Formation zu antworten (und gleichzeitig den Grund der Unzufriedenheit unter den Untergeordneten abzumildern) oder nur noch diskursive Formationen zu fördern, die ausschließlich der Unterdrückung dienen und darauf abzielen, den demokratischen Diskurs vorübergehend oder ganz zu unterbrechen und dieses Verhalten auch institutionell abzusichern. Beide Verhaltensweisen erfordern einen erheblichen finanziellen, organisatorischen sowie vor allem intellektuellen Aufwand und haben zur Folge, dass die stets knappen Ressourcen bereits für diesen Zweck verbraucht werden und nicht mehr zur Förderung anderer produktiver Leistungen zur Verfügung stehen. Je ausgeprägter das Unterdrückungsverhältnis wird, desto massiver steigen die Kosten seiner Unterhaltung. Der Niedergang der DDR ist hierfür ein prägnantes Beispiel.
Aber genau so wenig wie in der Praxis von Unterdrückungsverhältnissen der Antagonismus zwischen der unterdrückenden und der unterdrückten Seite für ewige Zeiten Bestand hat und die Beteiligten beider Seiten dauerhaft an ihn gebunden sind, ist auch die Grenze zwischen dem hegemonisierenden und hegemonisierten Bereich einer hegemonialen Formation nicht auf immer festgeschrieben, sondern unterliegt einem ständigen Prozess der Verschiebung einzelner Formationen von der einen zur anderen Seite, so dass sie zwar existent, aber dennoch zeitlich und räumlich nicht exakt fixierbar ist. Den Maßstab zur Auslotung des ihnen verfügbaren Flexibilitätsspielraums, mit dessen Hilfe die hegemonisierende Seite für ihre eigene hegemoniale Formation herausfindet, ob sie den ihr verfügbaren Spielraum überdehnt oder unzulänglich nutzt, entnimmt sie jedoch nicht primär dem auf die Gesamtgesellschaft abzielenden Gemeinwohl, sondern vorrangig der Analyse des Vergleichs ihrer eigenen Situation mit derjenigen konkurrierender hegemonialer Formationen.
Aus dieser wechselseitigen Beobachtung und Anpassung ihrer Konkurrenzsituationen ergeben sich jedoch Folgen für die Ausgestaltung des Gemeinwohls. Empfinden beispielsweise Hegemonisierte die ihnen abgeforderte Unterordnung nicht mehr als notwendig, sondern als ungerechtfertigten Zwang und rebellieren dagegen, kann es zu Abwanderungen, Unruhen, Streiks, Aufständen kommen, in deren Verlauf nicht nur das Binnenverhältnis der unmittelbar betroffenen hegemonialen Formation berührt ist, sondern auch dasjenige der übrigen Formationen.
Diese Beeinträchtigung des Gemeinwohls ist der Grund, warum der Staat sich zum Eingreifen genötigt sieht, um die Binnenverhältnisse einer Analyse zu unterziehen und gegebenenfalls in ihre Ausgestaltung einzugreifen. Das weit gefächerte Spektrum seines Handelns erstreckt sich von theoriegeleiteten Empfehlungen mit Unverbindlichkeitscharakter bis hin zu einschneidenden rechtlichen Maßnahmen in der Behandlung der Hegemonisierten durch die Hegemonisierenden. Zu ersteren zählen z.B. erfolgsorientierte Management- und Herrschaftstechniken, die in staatlichen Forschungsinstituten erarbeitet und kostenlos zur Verfügung gestellt sowie zur Übernahme anempfohlen werden. Zur letzterem gehören z.B. Maßnahmen zur Bestandssicherung hegemonisierter Formationen einschließlich ihrer Praxen durch Kartellgesetze und die Ausschaltung unlauteren Wettbewerbs, Maßnahmen zur Einhaltung der Koalitionsfreiheit in Industrie und Handel, Vorschriften zum Arbeitsschutz und der Gesunderhaltung, Anordnungen zur Einführung von Mindestlöhnen, um das Existenzminimum zu sichern.

1.4. Dritte Station: Nichtanerkennung staatlicher Schlichtertätigkeit und seines Gewaltmonopols

Bestünde die Gesellschaft aus sich selbst steuernden unendlichen Strukturen, oszillierte der formlose Gegenhalt in engen Grenzen um die Spur der Unendlichkeit. Da jedoch von Strukturen auszugehen ist, die in sich die Spur der Vergänglichkeit tragen, ist die logische Möglichkeit nicht auszuschließen, dass trotz der Pluralität der zeitlich versetzten Strukturen dennoch alle Entstehens- und Vergehenszeiten auf einen Zeitpunkt zusammenfallen bzw. die Verschränktheit der Strukturen untereinander dazu führt, dass nach dem Zusammenbruch einer Struktur alle anderen mitgerissen, in ihrer Lebenszeit verkürzt werden und der formlose Gegenhalt nicht mehr existiert. Umbruchzeiten sind ein mahnendes Zeichen dafür, dass auch der Gesellschaft immanent eine Vergänglichkeitsspur eingezeichnet ist. Um nicht fahrlässig oder gar völlig unvorbereitet in unkalkulierbare Umbrüche zu geraten und sich schicksalhaft den Ereignissen ausliefern zu müssen, wird dem Staat das Recht auf Eingriffe zugestanden und seine umfassende Schlichtertätigkeit anerkannt.
Die Schlichtertätigkeit des Staates erstreckt sich – wie oben beschrieben – auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens und setzt auf freiwillige Übernahme der Schlichtungsergebnisse durch die Konfliktparteien. So tritt der Staat z.B. häufig in Konflikten zwischen Großunternehmen auf, die sich mit der Beschaffung der Aktienmehrheit ihres Gegners wechselseitig bedrohen. In Tarifauseinandersetzungen zwischen der Unternehmens- und der Gewerkschaftsseite agiert er zuweilen als erbetener oder auch als selbsternannter Moderator. Innerhalb der Rechtsprechung besetzt er das den Gerichtsentscheidungen vorgelagerte Feld der friedlichen Konfliktaustragung. Wird der Staat aus seiner umfassenden Tätigkeit als Schlichter in gesellschaftlichen Konflikten von hegemonialen Formationen hinaus gedrängt und nicht mehr als vertrauenswürdig angesehen, zeigt diese Entwicklung einen fortgeschrittenen Zerfall der Gesellschaft an, in dem entweder außerstaatliche Gruppen und Institutionen zunehmend Schlichtungsaufgaben übernehmen (z.B. die friedliche Beilegung von Streitpunkten zwischen transnational tätigen Unternehmen sowie Finanzagenturen) oder rohe Gewalt an die Stelle der Schlichtung tritt.
Hat die Schlichtertätigkeit des Staates bereits einen erheblichen Vertrauensverlust erlitten, zeigt diese negative Entwicklung an, dass auch im umfangreichen Sanktionsbereich zunehmend Herablassung, Misstrauen und Missachtung gegenüber staatlichen Maßnahmen vorherrschen und staatliche Sanktionsversuche umgangen oder unterlaufen werden. Versucht er sich dennoch als Schlichter in Streitfällen, wird ihm unterstellt, dass er vornehmlich fremden Zwecken dient.

1.5. Vierte Station: Abnehmende staatliche Handlungsmöglichkeiten, die Sphäre der Diskursivität offen zu halten

Die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Schröder und alle Landesregierungen bestanden in falsch verstandener Achtung vor der Autonomie deutscher Universitäten in ihrer Amtszeit nicht darauf, dass Lehrstühle der Volkswirtschaft mit Professoren unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Theorien besetzt werden. Die fehlende Konkurrenz zwischen verschiedenen Ansätzen hatte zur Folge, dass die Vertreter der neoklassischen Theorie für lange Zeit die Deutungshoheit über volkswirtschaftliche Prozesse gewannen und in Beratungsrunden und -gremien der Regierungen und Parlamente sowie in Talkshows des öffentlichen und privaten Hörfunks und Fernsehens dominierten. Da Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen ebenfalls das gleiche Expertenwissen anforderten, konnte die monetaristisch ausgerichtete neoklassische Theorie über mehrere Jahre hinweg das gesamte Meinungsspektrum mit weitreichenden Folgen für die Ausrichtung des Gemeinwohls okkupieren. Diese einseitige Ausrichtung kam einer Schließung der Sphäre der Diskursivität auf dem Gebiet der Volkswirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik gleich und missachtete die Einsicht, dass im Entstehens- und Vergehensprozess einer endlichen Strukturdie Spur ihrer Vergänglichkeit verborgen bleibt. Sie wenigstens annäherungsweise zu treffen, bedarf der Pluralität der zu jedem Zeitpunkt möglichen Arrangements. Die Berücksichtigung anderer theoretischer Ansätze hätte Arrangements ermöglicht und Problemlösungen hervorgebracht, die der Vergänglichkeitsspur der existierenden Gesellschaftsstruktur näher gekommen wären.
Aus dem Blickwinkel der „Aufräumungsarbeiten“, die zur Überwindung der Finanzkapitalkrise – und ihren verheerenden Auswirkungen auf Wirtschaft und Staatshaushalte – notwendig geworden sind, ist dies eine bittere Erkenntnis. Sie stellt die Fähigkeit von Universitätsgremien in Frage, die ihr gewährte und von der Verfassung garantierte Autonomie – im Sinne der Gemeinwohlbestimmung – optimal zu nutzen und fällt zugleich ein vernichtendes Urteil über das unausgeglichene Verhältnis von Wissenschaftsfreiheit und Macht der Ordinarien in Hochschulgremien einerseits und den – staatlichem Einfluss zugänglicheren – Kuratorien andererseits, die solche Korrekturen anzumahnen hätten.
Von entscheidender Bedeutung und positiv hervorzuheben ist aber dennoch, dass, wenn eine Ebene der Diskursivität existiert, sie unentbehrliche Veränderungs-, Fortschritts-, Anpassungs- und Korrektureffekte für komplexe Gesellschaften hervorbringt. Auf dieser Ebene, die zwar prinzipiell getrennt vom gesellschaftlichen Ensemble relativ stabiler sozialer Formen existiert, aber gleichwohl vielfältig mit ihm verknüpft ist, werden nicht nur neue Theorien entwickelt, hinterfragt und verworfen, sondern Versprechungen und Prognosen für die Zukunft ausgestellt, die überhaupt erst eine theoriegeleitete Praxis sowie deren Rückkoppelung in der theoretischen Reflexion und ein Verzeihen von unvermeidlichen Irrtümern ermöglicht. In Kenntnis dieser Zusammenhänge wog das unterwürfige Verhalten der rot-grünen Regierung gegenüber der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ umso schwerer. Die Initiative hatte es verstanden, auf der Grundlage des Deutungsmusters der neoklassischen Theorie durch Manipulation der Öffentlichkeit eine hegemoniale Position zu erringen, sie rigoros gegen die Hegemonisierten in Stellung zu bringen und eine schwache Regierung für ihre Zwecke einzubinden. Das Beispiel zeigt auf, dass ein Staat die Sphäre der Diskursivität auch durch unterlassene Tätigkeit beschädigen und sich selbst dabei erheblich schwächen kann.
Ein bereits schwach gewordener Staat erhält keine Gelegenheit mehr, die Sphäre der Diskursivität offen zu halten. Ein solcher Staat muss z.B. private Hochschulen und Forschungsinstitute, die von dominanten hegemonialen Formationen finanziert werden, dulden und zusätzlich mit Geld aus Steuereinnahmen subventionieren, ohne als Gegenleistung Einfluss auf die Einhaltung der Pluralität zu erhalten. Ein schwacher Staat hat keine Instrumente mehr in der Hand, den Theorien der Erfolgreichen, so einseitig sie auch sein mögen, die Diskurshoheit zu entwinden und diskursive Formationen gegen sie zu fördern. Ihm fehlen schlichtweg die Mittel, das dazu notwendige Wissenschaftspersonal anzuwerben und finanziell sowie organisatorisch und institutionell auszustatten. Ein schwach gewordener Staat ist auch chancenlos geworden in der Aufdeckung von Interessengemeinschaften zwischen Vertretern der auf Diskurs- und Deutungshoheit bedachten Theorieproduzenten und Redakteuren wissenschaftlich anerkannter und angesehener Journale. Wenn letztere sich im Eigentum von hegemonialen Formationen befinden und die Eigentümer dafür sorgen, dass ihre Journale ein hohes Renommee unter publizierenden Wissenschaftlern erringen, greifen sie auch auf den Übergangsbereich zwischen der Ebene der Diskursivität und der Öffentlichkeit zu. Der gescheiterte, rein dekorative Staat sieht sich schließlich gezwungen, seinem Namen sogar für die Eigenwerbung hegemonialer Formationen herzugeben und die von jenen erstellten Publikationen als unmittelbar gemeinwohlrelevant zu deklarieren.

1.6. Fünfte Station: Zunehmende Behinderung des Staates, Öffentlichkeit herzustellen und den öffentlichen Raum offen zu halten

Öffentlichkeit im gesellschaftlichen Ensemble relativ stabiler sozialer Formen herzustellen und den öffentlichen Raum zu schützen, ist ein unverzichtbare Aufgabe des Staates, in die er im übrigen auch seine eigene Öffentlichkeitsarbeit einbeziehen muss.
Dieser Anforderung vorgelagert ist der Schutz der Privatsphäre. Privatsphäre und Sphäre der Öffentlichkeit bedingen einander. Das selbstbestimmte Individuum lebt in beiden Sphären und benötigt beide zu seiner Entfaltung. Unterliegt die Privatsphäre einer ständigen Einengung und stößt der öffentliche Raum bis an die Grenzen des intimen Bereichs vor, fühlt sich das Individuum in seiner schützenden Aura verletzt und greift unwillkürlich zu Strategien, mit denen es den ihn bedrängenden Zugriff der Öffentlichkeit zurück zudrängen versucht. Engt umgekehrt das Private bzw. die Intimsphäre der Individuen den öffentlichen Raum immer stärker ein, wächst die Gefahr von Tabubrüchen. Die Individuen empfinden sich in ihrer Selbstdarstellung, in der sie auf die wohlwollende, distanzierte bis hin zur Ablehnung reichende Anteilnahme der anderen Individuen angewiesen sind, zunehmend durch eine von Tabus beherrschte Gemeinschaft beschnitten.
Die mannigfach in sich gegliederte Öffentlichkeit, die durch die Selbstdarstellung der Individuen entsteht, bedarf außerdem des staatlichen Schutzes vor der Zerstörung, die ihr durch die Praxen hegemonialer Formationen droht. Jene sind zwar in ihrem Bestreben, die Meinungshoheit in der Öffentlichkeit zu erlangen, auf die Existenz der ersteren angewiesen, aber zur Etablierung ihrer Hegemonie können sie auch eine Veröffentlichungspraxis verfolgen, an deren Ende eine durchherrschte, ihrem Hegemonie-anspruch dienende Öffentlichkeit steht.
Dem schwachen Staat gelingt es immer weniger, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit zu erhalten und in letzterer den Machtanspruch hegemonialer Formationen zurückzuweisen. Seine eigene Veröffentlichungspraxis tritt schließlich in den Dienst der hegemonialen Formationen, unterscheidet sich immer weniger von jenen und verstärkt schließlich deren Herrschaft über den öffentlichen Raum.

1.7. Sechste Station: Völlige Aussperrung des Staates

Wird dem Staat von hegemonialen Formationen das Eingreifen in ihre Binnenverhältnisse nicht nur erschwert, sondern gänzlich versagt, begibt sich die Gesellschaft auf die abschüssige Bahn der Desintegration, die durch folgende Phasen gekennzeichnet ist:
  • die Duldsamkeit der Unterdrückten wird getestet,
  • staatliche Sanktionsmittel zur Niederhaltung von Kritik, aufkeimender Unruhe und massiven Aufständen werden in Anspruch genommen,
  • außerstaatliche Sanktionskräfte werden zu dem Zweck aufgebaut, die polizeistaatlichen Sanktionsmöglichkeiten zu ergänzen,
  • staatliche Institutionen und Organisationen sehen sich in einem schleichenden Vorgang durch private Gruppen und Einrichtungen ersetzt, die ihre Anweisungen und finanzielle Ausstattung direkt von den hegemonisierenden Kräften erhalten (z.B. Todesschwadrone),
  • im weiteren Verlauf zerfällt die Gesellschaft in Teilbereiche, die von unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften beherrscht werden;
  • als nächstes wird die staatliche Gesetzgebungskompetenz und Rechtsprechung völlig ausgeschaltet und der Staat auf rein dekorative Funktionen beschränkt,
  • zu guter Letzt wird die gesellschaftliche Einheit und staatliche Verfasstheit endgültig aufgekündigt.
Wie bereits in dem Aufsatz über das Thema „Der gemeinwohlorientierte Staat“ beschrieben beschleunigen Globalisierungsstrategien zur Schaffung entgrenzter Zirkulationssphären diese Entwicklung.


2. Der zerfallen(d)e Staat im Horizont von „Global Governance“-Theoretikern

Ganz im Gegensatz zur obigen Analyse unterbelichten „Global Governance“-Theoretiker die Existenz von Hegemonien. Dass ein gravierender Unterschied zwischen Verhältnissen wechselseitiger Abhängigkeit und hegemonialen Beziehungen besteht, entgeht ihrer Aufmerksamkeit und hat Folgen für ihre Definition des gescheiterten Staates.

2.1. Die Forderung nach „Good Governance“

Die „Global Governance“-Theorie sucht nach tragfähigen Formen des Regierens in einer Welt, die nicht mehr rein nationalstaatlich verfasst ist, die neben den Nationalstaaten mit schlagkräftigen transnationalen Organisationen und Institutionen als neu hinzu getretenen Akteuren zu rechnen hat und neue Normen des Regierens erfordert.
Oder wie es Thomas Risse in seinem 2005 erschienenen Artikel über „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit – ‚Failed states’ werden zum zentralen Problem der Weltpolitik“ formuliert hat:
„Humanitäre Katastrophen, Pandemien wie HIV/AIDS und die Bekämpfung von Hunger und Unter-entwicklung sind nicht mehr ‚nur’ isolierte Probleme der sogenannten Dritten Welt, sondern betreffen Sicherheit und Wohlfahrt der entwickelten Welt unmittelbar. Das gleiche gilt für die Klimaerwärmung und andere globale Umweltprobleme. Gleichzeitig steht die Welt vor neuen Sicherheitsbedrohungen, die von transnationalen Terror-Netzwerken und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln ausgehen. Bürgerkriege und Gewaltmärkte in den Krisenregionen der Welt – von Afrika südlich der Sahara über den Mittleren Osten, die Peripherie Russlands, Teile Asiens und Lateinamerikas – bedrohen nicht nur die Stabilität der jeweiligen Regionen, sondern die internationale Sicherheit insgesamt“. (8)
Unter „neue Formen des Regierens“ verstand Risse: „Damit ist erstens gemeint, dass nichtstaatliche Akteure direkt in die politische Steuerung einbezogen werden, zum Beispiel im Rahmen von öffentlich-privaten Kooperationspartnerschaften (Public Private Partnership). Zu solchen nichtstaatlichen Akteuren gehören Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ebenso wie Familienclans und klientelistische Netzwerke – vor allem in Räumen begrenzter Staatlichkeit.“(9)
Der ideengeschichtliche Hintergrund der „Global Governance“ geht laut Franz Nuscheler u. a. auf Willy Brandt und Bruno Kreisky zurück. Bereits vor 28 Jahren hätte Willy Brandt festgestellt, dass sich mit den globalisierten Problemen der heutigen Welt auch die Politik globalisieren müsse. Nuscheler meint, dass auch mächtige Hegemone wie die USA globale Probleme wie die Klima-, Energie, Finanz- oder Lebensmittelkrise nicht mehr alleine lösen könnten und auf internationale Kooperation und Koordination angewiesen seien. Darüber hinaus ließen sich globale Probleme längst nicht mehr nur durch staatliches Handeln lösen. Es bedürfe vielmehr einer Kooperation von staatlichen und privaten Akteuren, was nicht nur zivilgesellschaftliche Akteure wie die NGOs zur Mitarbeit auffordere, sondern auch multinationale Unternehmen mit ihrer staatliche Ressourcen übertreffenden Finanzkraft und ihrer transnational ausgelegten Organisationsstruktur. Der Staat könne also nur noch durch multilaterale Kooperation problemlösend handeln, bleibe aber nichtsdestoweniger als „Interdependenzmanager mit komplexen Organisationsaufgaben“ von zentraler Bedeutung, da etwa die Entwicklungszusammenarbeit und -hilfe ohne Staat nicht möglich wäre.
In diesem Sinn sei auch das Gerede vom Ende des Nationalstaats „dummes Zeug“, so Nuscheler. Es gehe vielmehr um erweiterte Handlungsfähigkeiten im Gegensatz zum „Pochen auf kleinkarierte Souveränitäten“ (zitiert in der Nachlese der 25. Internationalen Schlaininger Sommerakademie 2008 (6. – 11. Juli 2008) des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) zum Thema „Globale Armutsbekämpfung – ein Trojanisches Pferd?“). (10)
„Die ‚neuen Formen’ des Regierens zeichnen sich“ gemäß Risse „… dadurch aus, dass sie weniger hierarchisch ‚von oben nach unten’ ausgerichtet sind, sondern vor allem über Mechanismen weicher Steuerung erfolgen. Während die Rechtsdurchsetzung klassischer Nationalstaaten autoritativ und notfalls mithilfe einer sanktionsbewehrten Zentralgewalt erfolgt, stehen Räumen begrenzter Staatlichkeit diese Instrumente hierarchischer Steuerung nur begrenzt oder gar nicht zur Verfügung. Um zentrale Entscheidungen durchzusetzen, sind Regierungen daher auf die Kooperation der Betroffenen angewiesen. Formen weicher Steuerung reichen von Anreizsteuerung und ‚benchmarking’ über die Initiierung kommunikativer Lern- und Überzeugungsprozesse bis hin zu diskursiver Strukturierung und symbolischer Orientierung “. (11)
„Global Governance“-Theoretiker plädieren in der Lösung global anstehender Probleme für eine am Leitbild des „modernen demokratischen Rechts- und Interventionsstaats“ (12) orientierten Politik der internationalen Staatengemeinschaft, „das allen entwicklungspolitischen und Demokratieförderungs-programmen zugrunde liegt – von den Vereinten Nationen über die Weltbank und die USA bis hin zur Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten“. (ibid.) Sie setzen sich für ein von allen Staaten und sämtlichen nichtstaatlichen Beteiligten gemeinsam getragenes Normensystem ein und leiten daraus die Politik der „Good Governance“ ab.
Die Programme von „Good Governance“ nehmen an, dass „Entwicklungs- und Transformations-gesellschaften allmählich von der Logik moderner demokratischer Rechtsstaatlichkeit eingeholt werden“. Die Programme beruhen auf den folgenden acht Prinzipien: Partizipation – Rechtsstaatlichkeit – Transparenz – wechselseitige Ansprechbarkeit (responsiveness) – Konsensorientierung – Fairness und Einbeziehung aller Teile der Gesellschaft (equity and inclusiveness) – Effektivität sowie Förderung und Anerkennung von Leistung (effectiveness and efficiency) – Verantwortlichkeit. (13)
Mit ihrer an diesen Prinzipien orientierten Ausrichtung handelten sich die Verfechter der Global Governance-Theorie zwar die Ablehnung der Vertreter des realistischen Ansatzes in der Theorie der globalen Beziehungen ein, wie z.B. im Verdikt von Prof. C. Raja Mohan, außenpolitischer Redakteur des Indian Express, drastisch formuliert, dass „India has rediscovered Hobbes, while Europe has moved to Kant“. (14) Aber jene Kritiker nahmen nicht ausreichend zur Kenntnis, dass „Good Governance“ zwar den Anspruch auf die uneingeschränkte Souveränität und Handlungsfreiheit von Staaten in Frage stellt, jedoch zugleich auch Argumente liefert für hegemonial inspirierte Interventionen in sogenannten gescheiterten Staaten. Hierbei ist von entscheidender Bedeutung, wie gescheiterte Staaten definiert werden, d.h. welche Merkmale für die Funktionsfähigkeit von Staaten von den Verfechtern der „Good Governance“ als unverzichtbar angesehen werden. Bevor dies geschieht, ist jedoch zunächst zu verdeutlichen, was den Staat aus der Sicht der Global Governance Theorie zum Interdependenzmanager qualifiziert.

2.2. Der Staat als „Interdependenzmanager mit komplexen Organisationsaufgaben“ in der Global Governance-Theorie

Bezeichnet man den Staat wie Nuscheler als Manager „wechselseitiger Abhängigkeit“, impliziert diese Aussage, dass vor allem Interdependenz bzw. wechselseitig voneinander abhängige Kräfte Gesellschaftlichkeit erzeugen. Komplexe Verhältnisse zwischen Herrschenden und Beherrschten bzw. Hegemonisierenden und Hegemonisierten werden in dieser Definition von Gesellschaft auf das in ihnen existierende Moment der Wechselbeziehungen herabgestuft. Der für jene Verhältnisse entscheidende zweite Aspekt, der Antagonismus zwischen ihnen und die ungleiche Zuteilung von Optionen, bleibt jedoch unberücksichtigt, wird wegretuschiert oder verschwindet aus dem Bewusstsein. Bestenfalls werden herrschaftsorientierte Verhältnisse noch als ideale Unterordnungsverhältnisse registriert. (15) Als Folge dieses eingeschränkten Blickwinkels wird dem Staat lediglich die Anwendung der acht Prinzipien von „Good Governance“ als Maßstab seines Handelns auferlegt, wohingegen weiter reichende notwendige Maßnahmen gegenüber Aktivitäten hegemonialer Formationen der Aufmerksamkeit dieser Theorieanhänger entgehen.
Die Beachtung der acht Prinzipien von „Good Governance“ unterliegt in reinen Wechselverhältnissen anderen Kriterien als in Verhältnissen von Herrschaft und Abhängigkeit bzw. in Beziehungen zwischen Hegemon und Hegemonisierten in hegemonialen Formationen. Hat die Verwirklichung von „Good Governance“ die Auflösung von Herrschafts-Abhängigkeits-Strukturen zur Folge, muss damit gerechnet werden, dass die hegemonisierende Seite massiven Widerstand entwickelt und die Realisierung der Prinzipien am Bestandsinteresse des Hegemons scheitert. Wenn Nuscheler meint, dass selbst mächtige Hegemone wie die USA oder global engagierte Investmentbanken und transnationale Unternehmen globale Probleme wie die Klima-, Energie, Finanz- oder Lebensmittelkrise nicht mehr alleine lösen könnten, unterschätzt er die Hegemonen zur Verfügung stehende Vetomacht. Lösungen nicht mehr allein durchsetzen zu können, bedeutet nicht, dass an die Stelle von Hegemonialbeziehungen Verhältnisse wechselseitiger Abhängigkeit treten, in denen sich die Kontrahenten gegenseitig prinzipiell als gleichwertig anerkennen. Das Neben- und Durcheinander von Hegemonialbeziehungen und Verhältnissen wechselseitiger Abhängigkeit erschwert die Durchsetzung der acht Prinzipien von „Good Governance“ ganz erheblich, wenn es deren Vollstreckung nicht sogar ganz unmöglich macht.
In entgrenzten Zirkulationssphären kommen weitere Behinderungsgründe hinzu. Global agierende hegemoniale Formationen – wie Finanzagenturen und transnationale Unternehmen – dringen überall in die Zirkulationssphären von Nationalstaaten ein und begrenzen deren Fähigkeit und Willen, die eigene Regierungspraxis auf die Regeln von „Good Governance“ auszurichten. Dies trifft nicht nur für Staaten wie Großbritannien oder die Schweiz zu, wo laut Sony Kapoor die Bankbilanzen um ein Vielfaches größer sind als das ganze Bruttoinlandsprodukt dieser beiden Staaten, oder die Niederlande, in denen gemäß Wikipeda im Jahre 2009 der Umsatz der zwei größten transnationalen Unternehmen Royal Dutch Shell mit 278,19 Milliarden US-$ und Unilever mit 57,05 Milliarden US-$ zusammen 42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 794,77 Milliarden US-$ betragen hat. (16)
Wenn transnationale Unternehmen aus Kostengründen ihre Produktion z.B. nach China, Indien oder Vietnam verlagern, um die kostensteigernden Umweltauflagen traditioneller Industriestaaten zu vermeiden, verstärken sie in ihren neuen Standorten die negative Bilanz des Kohlendioxydausstoßes um ein Vielfaches. Mit ihrer Drohung, auf günstigere Produktionsstandorte auszuweichen, wenn in jenen Zirkulationssphären ebenfalls schärfere Umweltauflagen eingeführt werden sollten, stärken sie den Widerstand der von solchen Drohungen betroffenen Staaten gegenüber globalen Klimaabkommen. Ebenso können Finanzagenturen ihre Geldkapitalanlagen in Zirkulationssphären mit geringen Auflagen verlagern und mit ihrem Handeln die weltweiten Anstrengungen nach schärferen Regeln für die Anlage von Finanzkapital schwächen. Außerdem liegt nahe, dass Finanzagenturen, transnationale Unternehmen und nach Hegemonie strebende Staaten nicht darauf verzichten werden, selbst Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu gründen oder bereits vorhandene stillschweigend finanziell zu unterstützen, um sie für die eigenen Interessen einzuspannen.


3. „Good Governance“ – eine Forderung mit „idealistischem Beigeschmack“

3.1. Zurückweisung von „Good Governance“-Prinzipien durch China


Der Bundesumweltminister der Koalition von CDU und FDP, Norbert Röttgen, erwähnte beim Energie-Dialog der Shell AG am 9. Juni 2010 in Berlin, dass er aus China mit einer neuen Erkenntnis heimgekehrt sei. Die chinesische Regierung habe ihn darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur Chinas den demokratischen Diskurs als vermittelndes Element für den Dialog der Regierung mit der Bevölkerung nicht zur Verfügung stellen könne. Anders als in den europäischen Gesellschaftsstrukturen müsse man bei Umfang und Auswahl klimaschonender Techniken deshalb sehr viel stärker beachten, dass vor allem solche Techniken eingesetzt werden, die kaufkraftneutral oder sogar -steigernd wirkten. Die Reduzierung des Kohlendioxydausstoßes dürfe keinesfalls zu Lasten der Massenkaufkraft gehen, wenn man nicht Unruhen riskieren wolle.
Das Fehlen des demokratischen Diskurses in China weist zwar darauf hin, dass nach Art. 2 der Chinesischen Verfassung das „Volk“ der Eigentümer aller Macht ist (Art. 2. Alle Macht in der Volksrepublik China gehört dem Volk.), aber bestimmt zugleich, dass das Volk seine Verfügung über die Macht an die führende „Arbeiterklasse“ abgetreten hat (Art. 1. Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht. So die Verfassung der Volksrepublik China vom 17. Januar 1975.
Das „Volk“ bleibt ungeachtet seiner an die „Arbeiterklasse“ übertragenen Macht aber der ideelle Bezugspunkt des von der „Arbeiterklasse“ geführten Staates. Obwohl derrie Arbeiterklasse laut Verfassung die eigene Macht an das „Bündnis von Arbeitern und Bauern“ weitergeleitet hat, verbleibt das „Volk“ in seiner Gesamtheit weiterhin der ideelle Bezugspunkt der staatlichen Macht. Daraus folgt zum einen,
  • dass die reale Macht im Staat bei der von der Basis des “Bündnisses von Arbeitern und Bauern“ gewählten Führung liegt, die im Namen des gesamten „Volks“ sowie der gesamten „Arbeiterklasse“ handelt, und zum anderen,
  • dass sie aus ihrer Verantwortung gegenüber „Volk“ und „Arbeiterklasse“ auch gegen den Willen derer agieren kann, von denen sie in ihr Amt gewählt worden ist.
Indem sich die reale Staatsmacht auf die nicht näher spezifizierten abstrakten Verfassungskategorien „Volk“ und „Arbeiterklasse“ bezieht, die als unorganisierte Einheiten handlungsunfähig sind und keine Weisungen erteilen können, gibt sie zu erkennen, dass sie sich letztlich nur auf sich selbst bezieht, aus eigener Machtvollkommenheit handelt, Herrschaft ausübt und nur sich selbst gegenüber verantwortlich ist.
Insofern besteht zwischen der Selbstrepräsentation der Staatsmacht in China und der Selbstrepräsentation des Staates in parlamentarischen Demokratien kein Unterschied. In den Begriffen „politisch ideelle Einheit“ und „konkret geistige Ganzheit“ rangiert auch dort das reale Volk ebenfalls nur noch als begriffliche Schimäre. Sie als Quelle der Staatsgewalt zu bezeichnen bedeutet, dass der konkreten Gewalt des Staates ein abstrakter Volksbegriff als Ausgangspunkt seiner Macht gegenüber gestellt wird. Indem der Staat sich nur noch auf dieses Abstraktum „Volk“ bezieht und diesen handlungsunfähigen „Träger der Macht“ zu seinem Referenzobjekt erklärt, ist erkennbar, dass er sich ebenfalls nur noch auf sich selbst bezieht, nur noch sich selbst gegenüber verantwortlich zeichnet. Als auf sich selbst bezogener, sich selbst repräsentierender Staat steht ihm aber frei, seine allumfassende Gewaltbefugnis freiwillig in Selbstverpflichtung einzuschränken, was er in parlamentarischen Demokratien auch macht.
In China hingegen ist die herrschende Staatsmacht bisher dazu nicht bereit oder in der Lage, obgleich das Bewusstsein dafür bereits vorhanden zu sein scheint. Der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao rief zu wirtschaftsbegleitenden Reformen in der Politik auf, um das „Ziel der Modernisierung“ nicht zu verfehlen. (17) Bisher zählt das bedingungslose Offenhalten des öffentlichen Raumes und darin des Feldes der Diskurse für die Aktivierung und Reaktivierung flottierender Elemente nicht zu den unabdingbaren Aufgaben des Staates, um den formlosen Gegenhalt in der chinesischen Gesellschaft zu stützen. Sie muss daher auf andere Instrumente – wie eben die Erhöhung der Massenkaufkraft – ausweichen, um den sozialen Frieden zu erhalten.
Da sie die acht „Good Governance“-Prinzipien im eigenen Herrschaftsbereich nicht oder nur sehr unzulänglich erfüllt, widerstrebt es ihr auch, in ihren Beziehungen zum globalen Umfeld auf die Einhaltung der Prinzipen großen Wert zu legen. Sind andere Regierungen sowie global tätige Institutionen und Organisationen also gezwungen, in Verhandlungen mit China über nur global lösbare Probleme zu akzeptablen Ergebnissen zu gelangen, wird man bei Repräsentanten Chinas eine Geringschätzung dieser Prinzipien beobachten und muss damit rechnen, dass sie eine rein nationalstaatlich orientierte Interessenpolitik favorisieren. Für das Auffinden von Mitteln und Wegen, um mit China zu global wirksamen Vereinbarungen zu gelangen, ist es deshalb wenig hilfreich, bei der chinesischen Führung die Forderung nach „Good Governance“ anzumahnen. Eine solche Aufforderung wird sogar als unzulässige Einmischung in die innerchinesischen Beziehungen zurückgewiesen. Dies trifft im übrigen auch für Länder wie beispielsweise Indien, Brasilien, Russland zu, in denen „Good Governance“-Prinzipien jedoch nicht von vornherein als Fremdkörper angesehen und abgewiesen werden.

3.2. Der niedrige Stellenwert der acht „Good Governance“-Prinzipien in us-amerikanischen Hegemonialbestrebungen

Wie in allen übrigen demokratisch verfassten Gesellschaften steht die Anerkennung von „Good Governance“-Prinzipien in den USA außer Frage und wie in allen anderen klaffen oftmals Ideal und Wirklichkeit weit auseinander. Von Bedeutung ist jedoch, welchen Stellenwert die USA in der Praxis ihrer hegemonialen Bestrebungen „Good Governance“ zumessen. Die Aufrechterhaltung einer hegemonialen Struktur erlaubt selbst einer wohlwollenden Hegemonie nicht, den hegemonisierten Staaten die gleichberechtigte Teilhabe an den Entscheidungen des Hegemons anzutragen. In einer hegemonialen Struktur hat die Forderung des Hegemonisierten nach Transparenz aller Entscheidungen des Hegemons keinen Platz. In ihr muss die wechselseitige Ansprechbarkeit limitiert und die Leistungen des Hegemonisierten können nicht voll anerkannt werden.
Diese in der Natur eines hegemonialen Verhältnisses liegende ungleiche Zuteilung von Optionen ist selbst durch die freiwillige Rücksichtnahme gegenüber dem Hegemonisierten nicht grundlegend zu überwinden. Bezeichnet sich der Hegemon in seiner Selbstdarstellung außerdem als Verwirklicher des „Guten in der Welt“ schlechthin – wie von US-Strategen immer wieder einmal betont wird – und sieht er seine hegemonialen Ambitionen in den Dienst des „Guten“ gestellt, ist der Weg kritischer Selbstreflexion prinzipiell verbaut und die Instrumentalisierung von „Good Governance“ für hegemoniale Zwecke ist kaum noch zu vermeiden.
Ob man dann – wie es noch in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Dankwart Rustow sowie Samuel Huntington propagierten – lediglich Wirtschaftswachstum und Öffnung gegenüber den vom Hegemon zu großen Teilen beherrschten Weltmärkten fordert, oder zu Beginn des 21. Jahrhundert erklärt, Voraussetzung für die Modernisierung der hegemonisierten Staaten sei die gleichzeitige Durchsetzung von Demokratisierung, der Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen und die wirtschaftliche Liberalisierung, ändert an der Grundausrichtung wenig. Das ultimative hegemoniale Verlangen nach Anpassung des Hegemonisierten ist und bleibt eine Oktroyierung des Gesellschaftsmodells des Hegemons, das unter spezifischen Bedingungen gewachsen ist, auf die hegemonisierten Gesellschaften, deren Gesellschaftsstrukturen auf anderen Traditionen beruhen, aus anderen kulturellen Hintergründen erwachsen sind und andere Lösungen für gesellschaftliche Konflikte favorisieren als der Hegemon.
Denn grundsätzlich gilt: Ohne die vorurteilslose vorherige Anerkennung des Anderen als Anderem, ohne eine sorgfältige Analyse des in jenen Gesellschaften spezifischen Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt und ohne ausreichende Würdigung der Entwicklungsstrukturen, die zu jener Andersartigkeit geführt haben, besteht immer die Gefahr, dass sogar universelle Werte in ihrer je gesellschaftstypischen Erscheinungsweise übersehen oder missinterpretiert werden. In solchen Fällen führt die erzwungene Anwendung der Prinzipien von „Good Govenance“ zu verfälschten oder sogar gegenteiligen Resultaten, was von Staaten mit stabilen Gesellschaftsstrukturen intern noch korrigiert werden kann, aber in schwachen Staaten mit volatilen Gesellschaftsstrukturen chaotische Entwicklungen nach sich zieht. Wenn letzteres von einem auf Bewahrung oder Errichtung einer Hegemonie berauschten Staates zum Anlass genommen wird, im Namen von „Good Governance“ ordnend einzugreifen, ist das Argument schnell zur Hand, die fehlende oder auch nur unterstellte „effektive Gebietsherrschaft“ durch Intervention herbeizuführen.
Einen Anhaltspunkt, auf welche Weise dies geschehen könnte, gibt Risse mit dem Verweis auf „neopatrimoniale Herrschaftsformen“, in denen das, was an Staat noch vorhanden ist, privatisiert wird und seine Ressourcen und Institutionen zur privaten Bereicherung der Herrschenden und ihrer Klientel dienen. Solche gescheiterten Staaten hätten die Möglichkeit verwirkt, amerikanische Entwicklungshilfe zu erhalten, da sie „gewisse Vorleistungen im Hinblick auf ‚good governance’“ nicht erbracht haben. (18) Abgesehen davon, dass genügend Beispiele für ein gegenteiliges Verhalten der USA genannt werden können, liegt der Schluss nahe, dass von den USA die verweigerte Erbringung von Vorleistungen auch dazu benutzt werden kann, mittels Embargomaßnahmen und militärischen Interventionen diese Vorleistungen zu erzwingen.
Als Begründung für die Intervention könnte folgende Bemerkung dienen, die Risse jedoch nur unterschwellig als Interventionsgrund nennt: „Die Privatisierung und Kommerzialisierung von Sicherheit, die wir häufig in gewaltoffenen Räumen zerfallen(d)er Staatlichkeit beobachten, läuft darauf hinaus, dass sich transnationale Akteure in Zusammenarbeit mit lokalen Kriegsherren in Gewaltmärkten bereichern und dabei ein Interesse an der Aufrechterhaltung bürgerkriegsähnlicher Zustände entwickeln. Wenn dazu noch begehrte Rohstoffvorkommen in den entsprechenden Ländern kommen, lassen sich die Gewaltverhältnisse über die Gewinnbeteiligung an der Rohstoffausbeutung finanzieren und damit perpetuieren “. (ibid.)
Aus der Geschichte nur allzu bekannt sind Interventionen von Hegemonen zur Sicherung und alleinigen Beherrschung von Rohstoffvorkommen und ebenso bekannt sind die oftmals mitgelieferten fadenscheinigen Begründungen. Hier muss nicht mehr ausführlich auf die Interventionen der USA im Nahen Osten hingewiesen werden. Nicht nur der Einmarsch der USA in den Irak wurde mit dem Wunsch nach Verbreitung der Demokratie begründet.
In diesem Zusammenhang ist Gunnar Folke Schuppert ausdrücklich zuzustimmen, der in seinem Artikel über „Ressource Rechtsstaatlichkeit – Im Spiegel verschiedener Rechtsstaatsdiskurse betrachtet“ die Frage nach dem Maßstab für Interventionen aufwirft. Gemäß Schuppert stößt man in der Literatur über schwache, gescheiterte Staaten auf eine „reiche Fundgrube“. Es müsse geklärt werden, „worin die ‚failure’ dieser Staaten besteht, an welchem Maßstab also ihr Versagen gemessen wird. Noch interessanter ist, wer diese Maßstäbe setzt“, meint Schuppert, und stellt vor allem die zwei Kriterien „Stabilität und Berechenbarkeit“ heraus. (19) Er verbindet die Einhaltung der beiden Kriterien hauptsächlich mit der Existenz von Rechtsstaatlichkeit und verweist in diesem Kontext auch auf die Erfindung des Begriffs „Good Governance“ durch die Weltbank, die angesichts der „erklärungsbedürftigen Tatsache, dass sich trotz massiver Entwicklungsanstrengungen die ökonomische und soziale Misere im südlichen Teil Afrikas kaum verbesserte, und das deshalb die institutionellen Defizite in den Nehmerländern zunehmend in den Blick gerieten“. (ibid.)
Nun muss ein Jurist zwar kein ausgewiesener Weltökonom sein, aber etwas mehr Kenntnis über die gravierenden Folgen für die Nehmerstaaten müsste er schon aufbringen, um besser einschätzen zu können, welche Auswirkungen die lange Zeit von der Weltbank strikt abgelehnten Bemühungen um Importsubstitution in den entkolonialisierten Ländern und die einseitige Orientierung der Weltbankkredite auf Rohstoffgewinnung und deren Abtransport hatten. Ihm wäre dann zur Kenntnis gelangt, dass die Ausprägung eigenständiger Zirkulationssphären und die Entfaltung funktionsfähiger Staaten unerwünscht waren. Sich jetzt über die negativen Folgen zu beklagen und den Staatszerfall zum Interventionsgrund zu erklären, grenzt beinahe schon an Ignoranz.
Einen noch deutlicheren Hinweis, in welch fataler Weise „Good Governance“-Prinzipien gegenüber gescheiterten Staaten ausgespielt werden können, ohne zuvor die umfangreichen Gründe für ihren Zerfall zu erwähnen, hat Stephan Bierling in seiner Buchbesprechung des bei der World Peace Foundation/Brookings Institution von Robert I. Rotberg herausgegebenen Buches über „State Failure and State Weakness in a Time of Terror“ gegeben. (20) Unter Auslassung wesentlicher Details behauptet er als erstes: „Die Anschläge vom 11. September 2001 haben deutlich gemacht, dass der Zerfall von Staaten ein Problem darstellt, das Sicherheit und Wohlstand anderer Gesellschaften ernsthaft bedroht. So erlaubte erst das Fehlen einer legitimen staatlichen Autorität den Taliban im Verbund mit Al Khaïda, Afghanistan zu übernehmen und zu einem Hort der islamistischen Tyrannei und zu einem Stützpunkt des fundamentalistischen Terrors auszubauen. Afghanistan ist jedoch kein Einzelfall.“ (21)
Für Bierling ist es keine Silbe wert, dass die islamistischen Taliban-Kämpfer mit massiver us-amerikanischer und saudiarabischer Unterstützung gegen die sowjetische Besetzung Afghanistans auf pakistanischem Territorium ausgebildet, mit Waffen versorgt und finanziell unterstützt wurden und die Radikalität der Kämpfer bei ihren damaligen drei Förderern keinerlei Besorgnis erregte, sondern vielleicht sogar erwünscht war.
Bierling übernimmt sodann die Definition Rotbergs über „kollabierte“ Staaten, „in denen jede Form öffentlicher Ordnung zusammengebrochen ist und in denen die Regeln des Dschungels gelten“. (22) Er reiht dann Afghanistan für die späten achtziger Jahre in diese Staaten ein, ohne zugleich darauf zu verweisen, dass die Taliban-Kämpfer selbst Teil dieses Chaos waren und von ihren Förderern mit dem Ziel beauftragt waren, zur entscheidenden Ordnungsmacht Afghanistans aufzusteigen. Zu guter Letzt zeigt auch er sich nicht ganz hoffnungslos und meint treuherzig:
„Staaten zerfallen, weil inländische Gruppen und ausländische Parteien dies so wollen. Anhand Libanons, Tadschikistans, mit Abstrichen auch Somalias, zeigen die Autoren, dass kollabierte Staaten durchaus stabilisiert und langsam wieder aufgebaut werden können. Nur zu hoffen, Konflikte würden sich schon irgendwann ausbluten, sei zu wenig, konstatieren die Länderspezialisten. Das beherzte, mit großen Ressourcen erfolgende Mitwirken von Vereinten Nationen, internationaler Gemeinschaft und legitimierten Staaten ist erforderlich, um Staaten zurückzuholen oder ihren Absturz zu verhindern.“. (ibid.)
Hier reiht sich auch Bernd Ladwig vom Sonderforschungsbereich SFB 700 der Freien Universität Berlin ein. In seinem Beitrag zum 2007 erschienenen Buch von Thomas Risse und Ursula Lehmkuhl über „Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ betont er: „Normativ wie tatsächlich ist die Annahme irrig, man könne Ruinen von Staatlichkeit nach einem militärischen Eingriff zur Rettung von Menschenleben rasch wieder verlassen.“ (23)
Ganz auf dieser Linie liegt, dass die USA unter der Bush-Administration zur Wahrung ihrer Interessen für die Zeit nach ihrem Abzug der Kampfgruppen aus dem Irak wie aus Afghanistan die Einrichtung von Militärbasen auf unbestimmte Dauer forderten. An diesen Beispielen ist zu erkennen, dass in Hegemonialbeziehungen immer die Gefahr besteht, die Forderung nach „Good Governance“ der Interessenwahrung des Hegemons unterzuordnen. Den Vertretern der „Global Governance“-Theorie ist es jedenfalls bisher nicht gelungen, zwischen der ungleichen Optionsaufteilung in Hegemonialbeziehungen und der auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden wechselseitigen Abhängigkeit (Interdependenz) zwischen Kooperationspartnern zu differenzieren. Der Verweis auf Asymmetrien reicht hier keinesfalls aus, denn in Hegemonialbeziehungen existieren zwar Wechselbeziehungen, aber weder besteht Symmetrie zwischen dem Hegemon und dem Hegemonisierten noch Asymmetrie.

3.3. Das Bekenntnis der Europäischen Union zu „Global Governance“ und die Folgen für die Nachbarschaftspolitik der EU

Wie in allen übrigen demokratisch verfassten Gesellschaften steht die Anerkennung von „Good Governance“-Prinzipien in den EU-Mitgliedsländern außer Frage und wie in allen anderen klaffen in der Praxis oftmals Ideal und Wirklichkeit weit auseinander. Anders als die USA versteht sich die EU jedoch selbst nicht als Hegemonialmacht und anders als China verfolgt die EU – ihrem eigenen Bekenntnis nach – auch keine vorwiegend an nationalen Interessen orientierte Politik. Am Beispiel der von der EU propagierten „Östlichen Partnerschaft“ können die Probleme veranschaulicht werden, die aus dieser Orientierung an der „Global Governance“-Theorie erwachsen.
So wie die 27 Mitgliedsstaaten intern kooperativ zusammenarbeiten und die Verantwortung zwischen ihnen geteilt ist, stellt die EU in ihrer auf Osteuropa, den Kaukasus und Zentralasien ausgerichteten Nachbarschaftspolitik das gleichwertige und gleichgewichtige Miteinander in den Vordergrund. Die Anfang 2009 ins Leben gerufene „Östliche Partnerschaft“ der EU hat sich zum Ziel gesetzt, die Nachbarschaftspolitik mit dem südkaukasischen Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie mit Belarus, der Ukraine und Moldawien zu erweitern und zu vertiefen.
Die EU bietet bilaterale Verhandlungen über Assoziierungsabkommen an, die umfangreiche Freihandelsabkommen enthalten können. Die Europäische Kommission stellt Gespräche über Visaerleichterungen, Grenzsicherungsmaßnahmen sowie Energiesicherheit in Aussicht. Zur Förderung multilateraler Kooperation schlägt sie vier Gesprächesbereiche vor: 1. Demokratie und Gute Regierungsführung (Good Governance), 2. wirtschaftliche Integration, 3. Energiesicherheit und 4. Förderung gesellschaftlicher Kontakte. Außerdem sind bis 2013 für die Zielländer als finanzielle Unterstützung 600 Millionen Euro zur Stärkung staatlicher Institutionen und Grenzkontrollen vorgesehen. (24)
Sortiert man das Verhandlungsangebot der EU nach attraktiven und fordernden Anteilen, sind für die Partnerstaaten die Erleichterungen bei der Visumerteilung, die Unterstützung in Grenzsicherungs-maßnahmen, die Einladung zu wirtschaftlicher Integration und die Förderung gesellschaftlicher Kontakte als attraktiv zu bezeichnen, während die Forderung nach Demokratie und guter Regierungsführung in den meisten Partnerschaftsländern auf wenig Gegenliebe stoßen dürfte und selbst bei der Ukraine Skepsis hervorrufen könnte.
Im Bereich Energiesicherheit kann die EU Partnerschaftsländern zwar fortschrittliche Technologien für den Ausbau erneuerbarer Energien anbieten und ebenso bei der Förderung und Verarbeitung von Kohle. Da die EU selbst aber kein Exportland für Gas und Erdöl ist, müssen sich die Gesprächsinhalte weitgehend auf das Angebot von moderner Technik für Transport und Verarbeitung dieser Rohstoffe beschränken. Im Falle der stärkeren Sicherung der Gas- und Erdölimporte aus Russland oder anderen Exportländern – wie beispielsweise der Bau von Pipelines durch das Schwarze und das Kaspische Meer sowie die Türkei – wären auch die Interessen der involvierten Länder in den Gesprächen zu berücksichtigen; was zur Folge hätte, dass jene Länder zu den Gesprächen hinzugezogen werden müssten.
Bisher knüpfte die EU Erleichterungen in der Visumerteilung nicht nur an den Ausbau der Grenzsicherungsmaßnahmen zu den Nachbarstaaten der Partnerländer (Russland, Türkei, Iran sowie Kasachstan und Turkmenistan jenseits des Kaspischen Meeres), sondern auch an rigidere Einreise- und Zuwanderungsbestimmungen. Visafreiheit wird daher noch für lange Zeit ein unerfüllter Wunsch bleiben und die fortbestehende Visumpflicht dürfte auch weiterhin die Förderung gesellschaftlicher Kontakte beeinträchtigen. Beide Angebote verlieren deshalb für die Partnerländer an Attraktivität.
Als wertmindernd für das Angebot der EU zu wirtschaftlicher Integration wirkt sich auch der Ausschluss künftiger EU-Mitgliedschaft aus. Die 600 Millionen Euro, die unter anderem zur Stärkung staatlicher Institutionen vorgesehen sind, unterliegen unausgesprochen der EU-Forderung nach Einführung von Demokratie und guter Regierungsführung und werden bei den jeweiligen Regierungen nicht nur Freude aufkommen lassen.
Zwar kann im Bereich Energiesicherheit die EU den Partnerschaftsländern beim Ausbau erneuerbarer Energien helfen und fortschrittliche Technologien bei der Kohleförderung und der Verarbeitung von Gas- und Erdöl anbieten, aber beim Hilfsangebot für den Bau von Pipelines durch das Schwarze und das Kaspische Meer und über türkisches Territorium wäre nicht nur eine klare Abgrenzung von gleichlautenden Hegemonialbestrebungen der USA nötig, sondern gegenüber den Förderländern dieser Rohstoffe (Russland, Iran und zentralasiatische Länder) müsste die EU begründen, warum ihre Hilfsangebote keine pure Interessenpolitik der EU darstellen, sondern altruistisch gemeint sind.

3.3.1. Notwendige Distanzierung der EU von us-amerikanischen Hegemonialbestrebungen

Die Beziehungen der EU zur Ukraine und Georgien stellten 2008 ein warnendes Beispiel für die Folgen einer zu späten Distanzierung der EU von amerikanischer Hegemonialpolitik dar. Das Beispiel der von der Bush-Administration gewünschten Aufnahme der Ukraine in die Nato zeigte auf, unter welchen Druck die EU geriet, wenn sie nicht rechtzeitig ihre Prioritäten festlegte. Die meisten EU-Mitglieder befürchteten vor der Nato-Tagung in Bukarest im Juli 2008 eine drastische Verschlechterung ihrer Beziehungen zu Russland, wenn sie dem amerikanischen Wunsch folgten, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für einen Eintritt in die Nato zu öffnen. Allen war klar: Es wäre für Russland unvorstellbar, die russische Schwarzmeerflotte in einem Land der Nato zu stationieren; denn nach dem ukrainischen Beitritt zur Nato würde der Schwarzmeerhafen Sewastopol auf der Krim Teil des Natogebiets.
Zu befürchten war, dass Russland für den Fall einer EU-Zustimmung zum Nato-Beitritt den Versuch unternehmen würde, mit der Hilfe der russischsprachigen Bevölkerung im Osten und Süden des Landes die Ukraine zu destabilisieren. Bürgerkriegsähnliche Zustände in der Ukraine wären geeignet gewesen, nicht nur das Verhältnis der EU zu Russland drastisch zu beschädigen, sondern hätten auch innerhalb der EU Konflikte zwischen den Mitgliedern entstehen lassen, die sich voll hinter die Position der USA stellten und denen, die mit der antirussischen Strategie der USA nicht einverstanden waren. Die längere Zeit unklare Position der europäischen Nato-Mitglieder der EU verleitete die Bush-Administration zu der vorschnellen Annahme, dass mit massiver Druckausübung und Überrumpelungstaktik die Zustimmung der Europäer herbeigeführt werden könne.
Die in letzter Sekunde notwendig gewordene Notbremsung europäischer Nato-Mitglieder beschädigte nicht nur das Verhältnis der Nato zur Ukraine und zu Georgien, sondern führte auch zu Irritationen in den Beziehungen zu Russland und den USA. Den entstandenen Glaubwürdigkeitsverlust beispielsweise dadurch reduzieren zu wollen, dass man in der Anfang 2009 ins Leben gerufenen „Östlichen Partnerschaft“ die Forderung nach Demokratie und Good Governance erhob und damit den Partnerländern indirekt zu verstehen gab, dass sie aus der Sicht der etablierten Demokratien noch nicht genug davon praktizierten, lenkte von den bereits genannten Ablehnungsgründen ab und verursachte bei den Adressaten Unzufriedenheit und Missstimmung. Auch gegenüber Russland hatte man sich als ein wankelmütiger Nachbar erwiesen, der unschlüssig zwischen der strategischen Partnerschaft mit den USA auf der einen Seite und der Entwicklung verlässlicher Beziehungen zum Rohstoff- und Energieriesen Russland auf der anderen Seite hin- und herpendelt. Nur der in der Ablehnung enthaltene Seitenhieb gegenüber Bushs brachialer Hegemonialstrategie offenbarte deutlich, wie ungehalten insbesondere die französische und die deutsche Regierung über die Missachtung ihrer Interessen – und die der EU als Gesamtheit – durch die USA waren.
Die gleiche klare Distanzierung von den USA wäre ebenso in der Energiefrage notwendig gewesen. Hier hätte insbesondere die komplizierte Lage von Aserbaidschan erwähnt werden müssen, ein Land, das sowohl an Georgien, den Iran und an das Kaspische Meer grenzt und in dessen Hauptstadt Baku die 1800 km lange Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan beginnt. Die unter der Leitung des Energiekonzerns British Petroleum (BP) gebaute und 2005 fertiggestellte Pipeline, auf deren Streckenführung die USA starken Einfluss nahmen, sollte auf großen Öl- und Gasreserven zurückgreifen, die unter dem Kaspischen Meer lagern und durch die Unterquerung des Kaspischen Meeres zentralasiatische Lagestätten in Turkmenistan und Kasachstan erschließen. Der südkaukasische Korridor schien den USA den bis dahin verschlossenen Zugang zu den zentralasiatischen Gas- und Erdöllagerstätten zu öffnen und hätte – mit der Ausnahme des gescheiterten Zugriffs auf russischen Territorium – alle übrigen gegenwärtig erschlossenen Vorkommen in den Einflussbereich der Hegemonialmacht USA gebracht.
Die EU musste sich fragen, wie unglaubwürdig ihre Ablehnung hegemonialer Ambitionen in den Durchleitungsländern Aserbaidschan, Georgien und Türkei würde, wenn sie sich in der Frage der Energiesicherheit nicht ebenfalls eindeutig von den USA distanzierte. Rang sie sich nicht zu einer Distanzierung durch, erhielt ihre Aufforderung an die Länder der „Östlichen Partnerschaft“, dem Beispiel der EU in der Anerkennung der „Global Governance“-Theorie zu folgen und stets „Good Governance“ zu praktizieren, einen idealistischen Beigeschmack. Die erforderliche Distanzierung unterblieb jedoch, und zwar aus Gründen eines falsch verstandenen nationalen Interesses der EU in der Energiefrage.

3.3.2. Nationale Interessenwahrung der EU am Beispiel des Pipelineprojekts „Nabucco“

Entsprechend der „Global Governance“-Theorie versteht sich die EU anders als China und viele andere globale Mitspieler nicht als eine Macht, die ausschließlich in nationalen Kategorien denkt und eine an nationalen Interessen orientierte Politik verfolgt. In der Energiefrage glaubt sie jedoch, ihre nationales Interesse gegenüber einem der drei Hauptlieferanten (Russland) wahren zu müssen, indem sie am „Nabucco“-Projekt festhält und unter Umgehung des russischen Pipelinenetzes eine eigene Verbindung mit den zentralasiatischen Fördergebieten anstrebt.
Eine Zweigleitung soll außerdem durch Armenien in den Iran führen, um später nach einer eventuellen „Regimewechsel“ im Iran die iranischen Gas- und Ölfelder anzapfen zu können. Abgesehen davon, dass sich in diesem Beispiel die propagierte Verneinung nationaler Interessen als Täuschungsmanöver herausstellt, unterminiert sie außerdem ihre vollmundig vorgetragene Forderung an Mächte wie Russland, China oder Indien, die national orientierte Politik aufzugeben und der EU in der Respektierung von „Global Governance“ und „Good Governance“ zu folgen.
In der Wahrung ihres nationalen Interesses gegenüber Russland, vorgetragen unter dem Titel „Mehr Energiesicherheit durch Diversifizierung in der Energieversorgung“ lässt die EU außerdem erkennen, dass sie andere nationale Interessen geringer achtet, z.B.:
  • eines auf gegenseitigem Respekt beruhendes Verhältnis zu Russland als guter Geschäftspartner für Unternehmen der EU,
  • die Funktion Russlands als Transitland für den Handel mit China, Japan und Indien,
  • die Überflugrechte über Russland zur Sicherstellung der Versorgung von Truppen aus EU- Ländern in Afghanistan.
Zwar wird Russland nicht in die „Östliche Partnerschafts“-Politik der EU einbezogen, aber ausgrenzen lässt sie sich in keinem Fall. Wie zu erwarten war, hat die russische Regierung als Gegenstrategie die bestehenden Truppenstationierungsabkommen mit der Ukraine (nach der Wahl des russischen Wünschen zugänglicheren neuen Präsidenten Janukowitsch) und Armenien verlängert. Der russische Druck auf Aserbaidschan, den Vertrag über gemeinsame Absprachen der Anrainerstaaten im Falle von anstehenden Veränderungen im Kaspischen Meer einzuhalten, wird steigen, je mehr die EU auf den Bau der Nabucco-Pipeline besteht. Die Schwächung Georgiens als Transitland für Öl und Gas wird durch die russische Anerkennung der Separationsgebiete Abchasien und Süd-Ossetien und durch die eigenwillige Regierung unter Präsident Sakaschwili zweifellos verstärkt.
In den zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan dürfte der Einfluss der EU so lange nicht zunehmen, wie ihre Politik in der Pipelinefrage eine proamerikanische Komponente aufweist, denn Russland und China haben ein gemeinsames Interesse an der Aussperrung us-amerikanischer Hegemonialbestrebungen. Darauf zu setzen, dass sich Russland und China über die Vorherrschaft in den zentralasiatischen Staaten zerstreiten könnten, unterschätzt die jetzt schon angespannte Situation in Sinkiang (Xinjiang-Uigur). Die chinesische Führung würde ihre Einflussmöglichkeiten überdehnen, wenn sie russischen Einfluss aus den zentralasiatischen Staaten verdrängen wollte. Beide Mächte werden in der Eindämmung Afghanistans eng zusammenarbeiten, nachdem die USA/Großbritannien und die ihnen beistehenden „willigen“ Länder ihre verfehlte Mission gegen die Taliban beendet haben und sie werden sich auf ein mit Indien gemeinsames Interesse verlassen können, das Afghanistan keinesfalls als strategisches Hinterland Pakistans dulden wird. Nicht Russland muss seine Politik überdenken, sondern die EU hat einen dringenden Reflexionsbedarf.
________________________
  1. Beck, Urich, Weltinnenpolitik, Frankfurter Rundschau, 5/.6. 12. 2009
  2. Marc Brost, Götz Hamann, Elisabeth Niejahr, Petra Pinzler, Mark Schieritz, Fritz Vorholz, Durchmarsch auf leisen Sohlen, Die Zeit, 1. 10. 2009
  3. Wolfgang Merkel, Das Ende der Euphorie – Kehren die Diktaturen zurück? Theoretische und empirische Befunde, WZB-Mitteilungen, Heft 127, März 2010, S. 37
  4. Siehe dazu den Artikel über „Der gemeinwohlorientierte Staat vom 11.1.2010 im Solon.
  5. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991, S.213
  6. Laclau/Mouffe, a.a.O., S.213
  7. Niklas Luhmann, Macht, 1988, S.21
  8. in: Zeitschrift „Internationale Politik“, September 2005
  9. Thomas Risse, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit – ‚Failed states’ werden zum zentralen Problem der Weltpolitik,
  10. Rita Glavitza, Georg Leitner und Thomas Roithner, www.aspr.ac.at/sak/SAK2008/nachlese.doc
  11. Risse, ebd.
  12. Risse, ebd.
  13. unescap.org/huset/gg/governance.htm
  14. U.S. Af-Pak Policy: Relevance for India and the EU – A Round Table Discussion with Members of the European Parliament and leading Indian Experts, ein Report von Christian Hannemann und Klaus Voll, publiziert in Foundation for European Progressive Studies (FEPS) Brüssel)
  15. Luhmann, a.a.O. S.21
  16. Sony Kapoor in einem Interview mit Harald Schumann und Norbert Thomma, in: Tagesspiegel, 27. 6. 2010
  17. Tagesspiegel, 23.8.2010
  18. Risse, ebd.
  19. in: Zeitschrift „Internationale Politik“, September 2005
  20. Robert I. Rotberg, State Failure and State Weakness in a Time of Terror”, Washington, D.C., 2003
  21. in: Zeitschrift „Internationale Politik“, September 2005
  22. Bierling, ebd.
  23. Thomas Risse, Ursula Lehmkuhl, Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, 2007, S. 371
  24. Meister, Stefan/May, Marie-Lena: „Die Östliche Partnerschaft der EU – ein Kooperationsangebot mit Missverständnissen“, DGAPstandpunkt, September 2009, Nr. 7, S.1

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Das drohende Ende der repräsentativen Demokratie

2/19/2016

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Kooperationschancen und -hindernisse zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft.

Die repräsentative Demokratie ist entgegen einer weit verbreiteten Meinung eine endliche Struktur. Gelingt es dem Staat nicht mehr, den formlosen Gegenhalt zu erhalten, den die gesellschaftlichen Formationen untereinander erzeugen, naht auch das vorzeitige Ende der repräsentativen Demokratie. Denn ist der Staat maßlosen „Gemeinwohlbelangen“ starker gesellschaftlicher Kräfte ohne hilfreiche Kooperationspartner ausgeliefert, muss er die Untergrabung seiner vom „Volk als Ganzes“ abgeleiteten Legitimation zur Erhaltung der Gesellschaft chancenlos hinnehmen. Die Zivilgesellschaft kann er als Kooperationspartner gewinnen, sofern er bereit ist, die seiner Hierarchie eigene starre Legitimationskette aufzubrechen und als zusätzliche Legitimationsquelle das sich selbstbestimmende Individuum anzuerkennen.
 

1. Das bestehende Ungleichgewicht zwischen Wirtschaft und Staat

Wie wenig Gegenwehr der Staat in einigen „westlichen Gesellschaften“ den in der Wirtschaft verankerten hegemonialen Formationen noch entgegensetzt, demonstrieren einige Zeitungsmeldungen aus dem kurzen Zeitraum von September bis Dezember 2010, denen noch vielfältige gleichlautende Informationen aus anderen Zeitungen hinzugefügt werden könnten. So beklagte am 12. 11. 2010 die Vorsitzende von Transparency International Deutschland e.V., Edda Müller, dass nach einer Studie des IWF ein „eindeutiger Zusammenhang zwischen Lobbyausgaben von Banken“, die zur Beeinflussung des amerikanischen Kongresses verausgabt werden, und „dem Risikoverhalten bei der Kreditvergabe besteht“. „Je mehr Banken in ihr Lobbying investieren, desto risikoreicher vergeben sie Kredite“ (Tagesspiegel, 12. 9. 2010). Offenbar konnten Bank-Lobbyisten als Gegenleistung für materielle und immaterielle Zuwendungen von Mitgliedern des Kongresses eine stillschweigende oder sogar offene Zustimmung für risikoreichere Kreditvergaben erwarten. Der in einem Bericht der OECD zwar bemängelte, aber in den USA hochgelobte schnelle Personalwechsel zwischen Politik und Banken scheint dieses Verhalten noch zu fördern (ibid.).
Christian Bommarius wies in seinem in der Frankfurter Rundschau unter der Überschrift „Lobbyisten an der Macht“ (11./12.9.2010) publizierten Leitartikel auf den vor gut einem Jahr vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg begangenen „Verstoß gegen die Hygienevorschriften der Gesetzes-Produktion“ hin. „Die vom Minister beauftragte britische Großkanzlei, eine Rechtsfabrik mit 2400 Anwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, schrieb einen Entwurf zum Kreditwesengesetz, der zu Guttenberg offenbar so gut gefiel, dass er den Text an die anderen Ministerien mit der Signatur der Kanzlei weiterleiten ließ.“ Bommarius bezeichnete diesen Vorgang als „Abdankung der Ministerialbürokratie“. Eva Roth schloss sich in ihrem Artikel „Abgemagert, gar nicht dick und fett – Staatsquote in Deutschland niedrig“ (Frankfurter Rundschau, 24.9.2010) dieser Beurteilung an und kritisierte die seit Jahren zu beobachtende quantitative und qualitative Ausdünnung sowie finanzielle Schlechterstellung der Staatsbediensteten.
Die von CDU/CSU und FDP gebildete Bundesregierung ging laut Bommarius in einem anderen Fall sogar noch einen Schritt weiter. Sie ließ sich den Gesetzestext von den durch das Gesetz Betroffenen gleich selbst diktieren. „So geschehen im Fall des sogenannten Sparpakets für die Pharmaindustrie, ein Gesetzesvorhaben, das zum guten Teil bis zu Punkt und Komma von Vertretern der forschenden Pharmaindustrie, d.h. von wenigen großen Pharma-unternehmen, formuliert worden ist. Das Ergebnis ist entsprechend: Künftig wird der Nutzen neuer Medikamente nicht mehr von Kontrollbehörden im Gesundheitssystem allein nach wissenschaftlichen, sondern auch nach politischen Kriterien ermittelt.“(ibid.). Ein neu entwickeltes Medikament muss außerdem erst dann vom Markt genommen werden, wenn nachgewiesen worden ist, dass es gegenüber bereits am Markt eingeführten Medikamenten keinen zusätzlichen Nutzen bringt.
Hinter dieser Vorgehensweise der schwarz-gelben Bundesregierung steht eventuell das erneuerte Angebot der Pharmaindustrie, als Gegenleistung für eine von der deutschen Regierung gewährte völlig freie Preisgestaltung für Pharmaprodukte die Forschung für neue Medikamente von den USA nach Deutschland zu verlegen und Deutschland wieder – wie in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg – als führenden Standort der Pharmaforschung zu installieren. Indirekt bestätigten Koalitionspolitiker diesen Zusammenhang, indem sie andeuteten, dass mit dieser Bestimmung „die Attraktivität des ‚Pharmastandorts Deutschland’ gestärkt“ werde (ibid.). Die freie Preisgestaltung in Deutschland hat jetzt bereits im Vergleich zu Schweden bei den Krankenkassen fünfzig bis hundert Prozent höhere Kosten verursacht. Die Krankenkassen reichen die gestiegenen Kosten in Form von höheren Beiträgen und schlechteren Leistungen an ihre Mitglieder weiter (Spiegel Online, Pharma-Giganten kassieren in Deutschland ab, 14.9.2010).
Noch einen weiter reichenden Schritt unternahm die schwarz-gelbe Bundesregierung in der Festschreibung der verlängerten Laufzeiten für Atomreaktoren. Unter Ausschaltung des Parlaments schloss sie mit den Energiekonzernen eine privatrechtliche Vereinbarung und versuchte zunächst, die besonders prekären Teile für einige Zeit geheim zu halten. Überdies scheint sie die Vertragspartner gefragt zu haben, wie viel ihrer Mehreinnahmen sie denn großzügigerweise bereits wären, an die Staatskasse abzuführen. Ein besseres Beispiel für die Unterordnung der Regierung unter von machtvollen hegemonialen Formationen formulierte „Gemeinwohlbelange“ wäre kaum vorstellbar (Markus Sievers/ Jakob Schlandt: Sorglos-Paket für die Atomkonzerne, Frankfurter Rundschau, 11./12.9.2010).
Aber das Gemeinwohl einer Gesellschaft wird zweifellos verletzt, wenn der in älteren, bereits steuerlich abgeschriebenen Nuklearreaktoren erzeugte Strom den Zuwachs erneuerbarer Energie für längere Zeit verdrängt und gleichzeitig der Steuerzahler für Mehrkosten in der Stilllegung von Reaktoren sowie für die Entsorgung des radioaktiven Abfalls allein aufkommen soll, während der Gewinn bei den Stromkonzernen anfällt; ganz zu schweigen von dem Problem der immer noch ungeklärten Entlagerung von Atommüll. Wie will eine christlichkonservativ-liberale Koalition nach diesem Kniefall vor den Energiekonzernen den Forderungen anderer hegemonialer Formationen künftig begegnen, die ihre Partikular-interessen ebenfalls als vom Gesetzgeber uneingeschränkt zu erfüllende Gemeinwohlbelange deklarieren?
Angesichts der zunehmenden Schwäche des Staates gegenüber hegemonialen Formationen aus allen gesellschaftlichen Bereichen wird die Frage immer dringlicher, warum der Staat nicht nach einem geeigneten Kooperationspartner sucht, mit dessen Hilfe er der für den Fortbestand der Gesellschaft abträglichen Übermacht hegemonialer Formationen ökonomischer Provenienz genügend starke Kräfte entgegensetzen kann?
Wenn man den formlosen Gegenhalt in der aus einer Vielzahl von endlichen Strukturen bestehenden Gesellschaft optimieren möchte, können Gemeinwohlbelange starker hegemonialer Formationen nicht so behandelt werden, als ob es Pflicht des Staates sei, sie kritiklos umzusetzen. Nach der Umsetzung jener Gemeinwohlbelange von den eigenen Fehlentscheidungen abzulenken, indem die eigene fehlerhafte Politik als „Versagen“ der Zivilgesellschaft deklariert wird, die sich nicht rechtzeitig und genügend stark als Kontrollfaktor betätigt hätte, ist unredlich und überschätzt außerdem die Durchschlagskraft des von Habermas der Zivilgesellschaft zugedachten Belagerungszustandes bei weitem. Sinnvoller und weiterführender wäre die Suche nach einer in geordneten Bahnen verlaufenden Kooperation von Staat und Zivilgesellschaft. Vor allem müsste den Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft vom Staat mehr Gehör geschenkt werden. Noch viel dringlicher für die Kooperation mit der Zivilgesellschaft wäre jedoch die Beseitigung hierarchisch bedingter Beschränkungen staatlicher Verwaltung. Die Scheu des Staates vor der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Aktivitäten erklärt sich zum Teil aus diesen Einschränkungen.

1.1. Zunehmende Forderungen nach Volksabstimmungen als Ausdruck des Versagens der repräsentativen Demokratie

Anlässlich der Protestaktionen gegen den Abriss des Stuttgarter Kopfbahnhofs und seiner Ersetzung durch einen Untergrund-Durchgangsbahnhof an anderer Stelle (Großprojekt Stuttgart 21) überkreuzen sich zwei Legitimitätsansprüche. Die Landesregierung von Baden-Württemberg berief sich auf Recht und Gesetz, auf langjährige Planungen, notariell hinterlegte Vertragsabschlüsse und ein parlamentarisch einwandfreies Verfahren. Die Protestler wiesen auf die nicht ausreichend berücksichtigten Interessen der Bevölkerung und den weiterhin bestehenden Zweifel am Sinn des Bauvorhabens hin. Die einen verteidigten die Regeln des Rechtsstaats, während die anderen darauf verwiesen, dass inzwischen 63 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung gegen den Neubau votieren und nur noch 26 Prozent dafür.
Wolfgang Kraushaar zeigte in seinem Artikel „Stuttgart 21: Mehrheit? Welche Mehrheit?“ im Tagesspiegel vom 5. 10. 2010 die Grenze der Berufung auf die repräsentative Demokratie auf. Die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit sei keinesfalls als ein Freibrief für die folgende Legislaturperiode zu verstehen und bei Großprojekten müsse man in der Lage sein, sich gravierend veränderten Konstellationen zu stellen. Der Protestbewegung hielt er aber auch vor, dass sie zwar eine totale Kehrtwende erzwingen wolle, aber bis zu jenem Zeitpunkt noch keinen gangbaren Weg zu einem Kompromiss aufgezeigt hätte. Die sinnvolle Variante eines abgespeckten Kopfbahnhofs hätte sie bisher nicht in Erwägung gezogen (Was sie jedoch später nachholte).
Evelyn Finger bezog sich in ihrem Artikel über das Projekt Stuttgart 21 ebenfalls auf die zwei Legitimitätsansprüche. Die einen bestünden darauf, dass Demokratie im Parlament stattfindet, während die anderen sagten, dass Demokratie auf dem freiheitlichen Impuls einzelner Bürger bis hin zu Entscheidungen durch eine Volksabstimmung beruhe (Finger, Evelin, Wir beißen nicht – Plebiszit ist nicht das Gegenteil von Parlament. Die Politik sollte weniger Angst vor dem Souverän haben, Die Zeit, 8. 7. 2010). „Die Deutschen wollen mitbestimmen“ heißt es bei ihr, „und sind keineswegs politikverdrossen, allenfalls politikerverdrossen“. (ebd.). Die debattierende Öffentlichkeit müsse sich in der parlamentarischen Debatte wiederfinden, wolle man den Eindruck einer „Scheindemokratie“ oder einer „Parteienoligarchie“ (Karl Jaspers) vermeiden. Die repräsentative Demokratie, urteilte sie weiter, dürfe nicht losgelöst vom Souverän erscheinen (ebd.).
In die gleiche Richtung zielte Colin Crouch in seinem bereits 2008 erschienenen Buch „Postdemokratie“. Er konstatierte: „Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (und heute sogar in vielerlei Hinsicht weiter ausgebaut werden), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für die vordemokratischen Zeiten. Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“ (Aus dem Englischen übersetzen von Nikolaus Gramm, Frankfurt am Main, 2008, zitiert bei Claus Leggewie, Was nach der Demokratie kommt, Die Zeit, 26. 6. 2008). Crouch zeigte sich überzeugt, dass die Regierungen nicht mehr in der Lage seien, „private Macht zu begrenzen, sie werden missmutig abgewählt, weil sie wenig ausrichten können.“ Postdemokratie heiße also: In einem gewissen Sinne haben wir die Idee der Herrschaft des Volkes hinter uns gelassen, um die Idee der Herrschaft selbst infrage zu stellen.“ (ebd.).
In ihrem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau „Ein Stück Staatsgewalt zurückholen“, vom 15. 12. 2010 zielte Christine Hohmann-Dennhardt, Richterin am Bundesverfassungsgericht, ebenfalls auf diesen wunden Punkt. Anlässlich der Proteste gegen das Projekt Stuttgart 21 fragte sie, wie viel direkte Demokratie es denn sein dürfe? Ihre überraschende Antwort lautete: so viel Demokratie, wie die Bürger nachfragen! Die Reputation des Parlaments könne durchaus Abbruch erleiden, wenn parlamentarische Entscheidungen per Volksabstimmung zunichte gemacht werden, aber auch umgekehrt gelte, dass das Beharren auf politischen Entscheidungen, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, für die Demokratie schädlich sei.
Sie gelangte zu dieser Auffassung, weil offenbar ihre Interpretation des Artikels 20 Absatz II Satz 1 des Grundgesetzes (Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus) nicht mehr mit der bisher vorherrschenden Auffassung der Grundgesetzkommentatoren vollkommen übereinstimmt. Danach besteht zwischen dem Volk und dem Parlament kein Rechtsverhältnis der Repräsentation, „weil das Volk nur im Staat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichtenzukommen könnten;…“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, S. 26). Gemäß dieser Auslegung muss „zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.) unterschieden werden. Hingegen schrieb Christine Hohmann-Dennhardt: „Mehrheitlich will also das Volk die Gewalt, die von ihm ausgeht, öfter zu sich zurückkehren lassen und sie selbst ausüben“. Das Volk wolle „mehr Demokratie in direkter Form wagen“.
Alle Staatsgewalt geht laut Bonner Kommentar zum Grundgesetz jedoch von einer „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ aus, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll. Auf diesen abstrakten Volksbegriff, in dem das reale Volk nicht mehr vorkommt, bezieht sich der Staat, wenn er seine Herrschaft über das Volk begründet. Legitimieren lässt er sich durch periodisch stattfindende Wahlen. Der zur Abgabe seiner Stimme aufgerufene wahlberechtigte Teil des Volkes kann aber nur die gerade im Amt befindlichen Repräsentanten bestätigen oder abwählen, nicht jedoch Kraft Wahlakt das Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnis aufkündigen, das den Aktivbürger und alle anderen Teile des Volkes zu Beherrschten degradiert. Indem Hohmann-Dennhardt postuliert, dass prinzipiell so viel Demokratie gewährt werden soll, wie die Bürger nachfragen, öffnet sie implizit das gesamte Feld bis hin zur Infragestellung des Repräsentationsverhältnisses und sogar darüber hinaus bis in den Raum totaler Verneinung von Herrschaft.
Bereits Marquis de Condorcets („Fortschritte des menschlichen Geistes“, 1794) vertrat die Ansicht, das die Mitsprache vieler Bürger in einer „kleinteiligen Gliederung in lokale Räume“, zu einer permanenten öffentlichen Debatte der Bürger („geordneten Beratungen“) führen würde. Er favorisierte keine nationalen Volksentscheide, vielmehr ging es ihm darum, „durch kommunale Zusammenkünfte, eben jene Primärversammlungen, Orte der Debatte zu schaffen, in denen die Bürger Argumente, Gesetzesvorschläge und Kritik zur Sprache bringen können“. (Daniel Schulz, „Die Politiker – das sind wir – Schon der französische Philosoph und Revolutionär Condorcet wusste, dass ein Parlament allein noch keine Demokratie macht“, in: Die Zeit, 8. 7. 2010) Die an vielen Orten gleichzeitig stattfindenden Bürgerforen sollten durch „mehrere Vermittlungsinstanzen“ mit der „Nationalrepräsentation des Parlaments“ verbunden sein. „Der souveräne Volkswille“, so Concorcet, „bleibt für jede direkte Aneignung – durch eine Partei, eine Avantgarde, einen Volkstribun – unverfügbar. Selbst eine absolute Mehrheit der Bürger hat nicht die absolute Macht.“ (ebd.).
Nach Condorcet findet die demokratische Willensbildung „als ein offenes Streitgespräch über die Zeit hinweg an verschiedenen Orten statt,…“(ebd.) Sie „lässt sich nur im Konflikt bewältigen; höhere Wahrheiten stehen dieser politischen Ordnung nicht zur Verfügung. Selbst eine vernünftige Verfassung ersetzt nicht den Streit um deren Auslegung. Unverfügbar bleiben für Condorcet allein die Menschen- und Bürgerrechte“ (ebd.). Condorcet sah bereits das Klagerecht gegen Gesetze vor, die seine Rechte verletzen (Bürgerveto).

1.2. Emanzipationsmöglichkeiten der Bürger vom Staat durch die Nutzung neuer Kommunikationstechnologien?

Technologieorientiert und letztlich in die gleiche Richtung wie Hohmann-Dennhardt zielten Johannes Bohnen und Jan-Friedrich Kallmorgen in ihrem Artikel „Wie Web 2.0 die Politik verändert“ in der Zeitschrift Internationale Politik, Juli/August 2009. Im Untertitel ihres Aufsatzes, „Technologie formt eine neue Bürgergesellschaft“ zeigten Johannes Bohnen und Jan-Friedrich Kallmorgen ihre Argumentationslinie auf und begannen mit folgender Feststellung: „Erstmals in der Geschichte moderner Demokratien ermöglichen neue Kommunikationstechnologien eine umfassende Emanzipation der Bürger vom mächtigen ‚Vater Staat’ und den etablierten Parteimechanismen.“
Um allen besorgten Vorwürfen zu begegnen, sie wollten die Autorität des Staates infrage stellen, betonten die Autoren, es ging ihnen nicht „um die Schwächung der repräsentativen Demokratie, sondern um deren Stärkung“ (ebd.). Bohnen/Kallmorgen sagten sogar „eine Bewegung zurück zur basisdemokratischen Polis“ voraus, in der die Bürger „mehr Mitsprache einfordern und sie bekommen“. Die neuen Technologien hätten das Potential, „die Möglichkeiten politischer Partizipation zu revolutionieren“. Die neue Form des „Agenda-Setting“ kehre die Prinzipien traditioneller Kampagnen um. Jetzt gelte im Gegensatz zu früher „viele statt einzelne, dezentrale Selbstorganisation und Abgabe von Kontrolle“. Immer mehr internetgestützte Sammelbewegungen von gut vernetzten Bürgern entstünden, ausgerüstet mit einer eigenen politischen Agenda zu bestimmten Themen. Diese „politischen Netzwerke“ hielten durch die neuen Technologien „einen starken Hebel in ihren Händen“, mit dem sie in der Lage wären, „Politik in ihre eigene Handlungslogik zu zwingen“.
Die Autoren sagten voraus: „Es werden Prozesse initiiert, in denen Politiker sich stärker und unmittelbar mit dem Anliegen der Bürger beschäftigen müssen.“ (ebd.). Als Folge der neuen Technologien werde in etablierten Demokratien die in der Politik geltende machtpolitische Handlungslogik wieder stärker von den Wählern bestimmt. Als herausragende Beispiele nannten die Autoren die vom Obama-Unterstützer Jim Gilliam begründete WhiteHouse2.org-Netzwerk, das Al Gores WeCanSolveIt.org. und das Politics-360.org. Sie gäben die Richtung vor.
Auf praktische Beispiele verwies Kerstin Sack in ihrem Artikel „Bürgerbewegung ist machbar“ in der Frankfurter Rundschau vom 23. November 2010. So entscheiden in 67 Kommunen Deutschlands direkt über Teile des Etats. In Venezuela, Ecuador und Bolivien erarbeiteten verfassungsgebende Versammlungen neue Verfassungen, die in Referenden verabschiedet wurden und bei wichtigen Fragen wie beispielsweise der Wasserversorgung Volksentscheide vorsehen. In der Schweiz hat die Mitentscheidungsmöglichkeit der Bürger schon eine lange Tradition.
Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen forderte zivilgesellschaftlich Engagierte auf, die „Potentiale des Netzes“ zu nutzen und von der Finanzbranche zu lernen, die das World Wide Netz virtuos in Anspruch nehme (Frankfurter Rundschau, 23.11.2010). Problematisch bliebe jedoch die Abhängigkeit von den Unternehmen, von denen die Netzwerke betrieben werden. Sie arbeiteten gewinnorientiert, deshalb müsse man Technologien verfügbar machen, „die auch unabhängig von kommerziellen Interessen funktionieren, Technologien, die in der Hand der Zivilgesellschaft sind“ (Tagesspiegel, 9.11.2010).
Das von Google initiierte Co:llaboratory, ein Multistakeholder Think-Tank und PolicyLabor, stellte im Abschlussbericht seiner Tagung „Das Internet & Gesellschaft – „Co:llaborator“, Oktober 2010, 1. Aufl. die Konzepte von »Open Government« und »Offene Staatskunst« vor, die schon vereinzelt im In- und Ausland erprobt und eingesetzt würden und durchaus in die politische Kultur Deutschlands integriert werden könnten. Google hatte zwischen Juli und September 2010 rund 30 Experten aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Unternehmen zusammengeführt, um die Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien auszuloten.
Laut Abschlussbericht gibt das Konzept „Offene Staatskunst“ den Entscheidungsträgern im Staat ihre Handlungsfähigkeit zurück. Das Konzept baue auf der strategischen Perspektive eines Open Government auf und mache das Handeln von Regierung und Verwaltung transparent, partizipativ und kollaborativ (ebd. S.14). Für die Experten lautet die entscheidende Frage: „Wie kann in einer bisher abgeschotteten, nahezu geheimen Sphäre des Regierens eine offene, partizipative Strategie der Macht erfolgreich sein? Um dies herauszufinden, suchen sie nach den geeigneten Schnittstellen im Lebenslauf eines „Policy Cycle (Initiierung, Formulierung, Implementierung, Evaluierung)“, an denen die „Offene Staatskunst“ andocken kann, um Effektivität, Kapazität und Legitimität von Politik und Verwaltung zu verbessern (ebd.S.16).
Den auf Machtbegrenzung zielenden zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Partizipation und Transparenz begegnen die Autoren nicht mit Skepsis, sondern begreifen sie umgekehrt als willkommene Instrumente für Regierung und Verwaltung, „um politische Handlungen zu entwerfen, zu implementieren und zu legitimieren“ (ebd.S.17). „Offene Staatskunst“ erhöhe die Legitimität von politischen Prozessen. Offene Prozesse böten die Möglichkeit, „externe Experten in die Umsetzung von Verwaltungsmaßnahmen einzubeziehen“, z.B. mittels „ePartizipation“ (elektronische Form von Bürgerbeteiligung) Bürger unmittelbar über elektronische Wahlplattformen in Entscheidungsprozesse einzubinden (eEmpowerment) (ebd.S.20/33). Durch den Einsatz von „Kollaborationssoftware“ erweiterte Mitgestaltungsmöglichkeiten erzeugten mehr Bindung und Akzeptanz für die politischen Entwürfe und erhöhten das Vertrauen der Bürger in den Staat (ebd.S.19).
Im Idealfall könne sogar eine „gelungen Partizipation zur Kollaboration führen“, denn die Bürger verfügten über eine „gesellschaftlich relevante Expertise, die Politik und Verwaltung sonst nur durch externe Beratung erlangen könnten“ (ebd. S.20/33). „Frei zugängliche Datenbestände, die auf offenen Datenformaten basieren“, ermöglichten danach einfachere und zugleich effektivere Erfolgs- oder Misserfolgskontrollen (ebd.S.20). Schließlich könnten „alle Prozessketten“ in „klassischen Verwaltungsprozessen“ anhand einer „Wertschöpfungsketten-Analyse untersucht und umstrukturiert werden“ und der Bürger wandele sich vom reinen Konsumenten staatlicher Leistungen zum ’Prosumer’ (ebd.S.23/34).
Wie weit die konkrete Praxis jedoch von den verfügbaren Möglichkeiten noch entfernt ist, beschrieb eine Teilnehmerin im folgenden Zitat: „Statt den ersten Diskussionsentwurf (das ist ein Gesetzesentwurf vor der Beschlussfassung im Kabinett) in einem intransparenten Verfahren nur an andere Ressorts und an ausgewählte Lobbyisten zu verschicken, könnte er auch veröffentlicht werden, frei zur Stellungnahme durch jede und jeden. Und die Stellungnahmen und Änderungswünsche wären ebenfalls für alle offen. Ja man könnte sogar eine Texthistorie offen legen: welche Änderungen an einem Vorschlag wurden gemacht und auf welchen Input gehen diese zurück?“ (ebd. S.25).
Aber, bezogen auf die konkrete Praxis, stellte sie mit einiger Resignation fest: „Zu schwer wiegt noch die Furcht vor dem Kontrollverlust. Was eigentlich erstaunlich ist, denn wir erleben ja seit einiger Zeit, wie vor unseren Augen politische Macht mehr und mehr erodiert. Gibt es den Entscheidungsspielraum wirklich noch, den die Vertreter von Bundesministerien und Bundestag so vehement verteidigen?“ (ebd. S.25).
Nur für die kommunale Ebene sah sie gewisse Fortschritte. Die Kommunen „sind die Vorreiter, mit Bürgerhaushalten zum Beispiel geben sie konkrete Entscheidungen in die Hand der Betroffenen vor Ort. Durch den lokalen Bezug allein sehen sie schon eine höhere Qualität der Beteiligung ein eine engere Bindung an den Prozess und sein Ergebnis“ (ebd.S.25). Ein Paradigmenwechsel von
  • „alles ist geheim, was nicht ausdrücklich als öffentlich gekennzeichnet ist“ zu „alles ist öffentlich, was nicht ausdrücklich als geheim gekennzeichnet ist“ (ebd.S.54),
  • von „Umfang und Zeitpunkt der Veröffentlichung werden von den einzelnen Behörden selbst bestimmt“ zu „alle Daten, die keiner berechtigten Datenschutz- oder Sicherheitsbeschränkung unterliegen, werden pro-aktiv, im vollen Umfang und zeitnah veröffentlicht“ (ebd.S.54),
  • von „veröffentlichte Daten sind für den privaten Gebrauch zur Einsicht freizugeben. Alle weiteren Nutzungsrechte sind vorbehalten und können von Fall zu Fall gewährt werden“ zu „veröffentlichte Daten sind grundsätzlich von jedermann für jegliche Zwecke, auch kommerzielle, ohne Einschränkungen kostenfrei nutzbar“ (ebd.S.55)
ist ihrer Ansicht nach demnach am ehesten in den Kommunen denkbar. Dort würden Bedenken und Argumente gegen eine umfassende Öffnung von Daten wie
  • Datenschutz,
  • Gefahr von Missdeutung und Fehlinterpretation,
  • das Risiko von Diskriminierungen und Missbrauch,
  • Vermischung von staatlichen und nicht-staatlichen Angeboten,
  • Angst vor Kontrollverlust,
  • Befürchtung der Einschränkung staatlicher Handlungsfreiheit,
  • Bedenken gegen die kostenlose Herausgabe von Daten für die kommerzielle Nutzung,
  • Bedenken wegen einer Gefährdung etablierter Geschäftsmodelle,
am ehesten erodieren (ebd. S.58), obwohl auch dort gelte, dass Wissen Macht bedeutet („Die Daten des öffentlichen Sektors sind in diesem Sinne eine Ressource von Wissen und damit eine Ressource von Macht“ (ebd. S.63). Abschließend stellten die Experten fest: „Im Kern geht es um die politisch zu diskutierende Frage, inwieweit sich Regierung und Verwaltung überhaupt öffnen können.“ (ebd. S.64). Dies ist unter anderem auch eine rechtliche Frage, die es als nächstes zu untersuche gilt. Denn „trotz Umweltinformationsgesetz, Informations-freiheitsgesetze des Bundes und einiger Länder, Informationsweiterverwendungs- und Verbraucherinformationsgesetz scheint indessen in Deutschland noch eine ‚Kultur des Aktengeheimnisses’ vorzuherrschen, die durch einige wenige Ausnahmen (…) durchbrochen wurde“ (Hill, Hermann, Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“, in: Klaus König/Sabine Kropp (Hrsg.), Theoretische Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Verwaltung – Speyerische Forschungsberichte 263, 2009, S. 205).
Als immer wieder berechtigte Vorsicht des Staates wird die „Beliebigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements“ angeführt. Ohne Zweifel ist das oberste Gebot aller staatlicher Aktivitäten die Verlässlichkeit und Kontinuität. Z.B. ist das Prinzip der Rechtssicherheit ein hohes Gut, gegen das der Staat nicht verstoßen darf. Im Fokus dieser Verpflichtung ist der Staat geneigt, die Kooperation mit Arbeitskreisen zivilgesellschaftlicher Provenienz mit großen Vorbehalten zu betrachten. In der Verwaltung kann man sich nie sicher sein, wie lange das auf freiwilliger Mitarbeit beruhende Engagement der Mitglieder solcher Arbeitskreise andauert. Insbesondere dann, wenn finanzielle Zuwendungen des Staates für gemeinsam verfolgte Zwecke erfolgen, ist dies ein gewichtiger Grund. Daraus folgt für den zivilgesellschaftlichen Kooperationspartner, dass er seine organisatorische Struktur straffen muss, Kontinuität in der Arbeit für einen überschaubaren Zeitraum gewährleisten sollte, seine finanziellen Mittel gegenüber dem Staat offen zu legen hat und die strikte Überprüfbarkeit der Ausgaben ein unbedingtes Erfordernis bildet.


2. Rückführung der Legitimation amtlichen Handelns mit Entscheidungscharakter auf das Gesamtvolk als ein entscheidendes Kooperationshindernis

Helmut Klages kam in seinem Artikel „Bürgerbeteiligung und Verwaltung“, ebenfalls publiziert in König, Klaus/Kropp, Sabine [Hrsg.], a.a.O. S. 103-112, zu einem sehr pessimistischen Resultat: „Die zusammenfassende Diagnose e i n e r – wahrscheinlich sogar d e r – entscheidenden Barriere, die uns heute von der Realisierung einer durch hohe Beteiligungsquoten charakterisierten ‚Bürgerkommune’ trennt, lautet wie folgt: Beide Seiten – abgekürzt ausgedrückt: Bürger und Verwaltung – haben gegeneinander korrespondierende Vorbehalte, die sich gegenseitig – in Sinn wechselseitig aufeinander bezogener self-fulfilling-prophecies – bestätigen und verstärken, so dass sich eine ‚Misstrauensspirale’ entwickelt, die einen ‚Teufelskreis’ darstellt.“(ebd.S.112). Auf diesem Misstrauenshintergrund wird von staatlicher Seite immer wieder die Aufrechterhaltung einer ununterbrochenen Legitimationskette propagiert.
Gemäß Hermann Hills Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“ bedarf die Legitimation amtliches Handelns mit Entscheidungscharakter der Rückführung auf das Gesamtvolk und muss laut Art. 20 Abs. 2 GG parlamentsvermittelt sein. Die staatliche Hierarchie ist als überkommene „heilige Ordnung“ bisher unantastbar. Als auf sich selbst bezogene und in Exekutive, Legislative und Judikative gegliederte Herrschaft duldet sie das reale Volk weder über noch neben sich (siehe dazu den Artikel von Reinhard Hildebrandt zur Frage „Wie souverän ist das Volk“ im Solon-line von November 2007). Laut Hill wird „Bürgerbeteiligung … daher traditionell aus rechtlicher Sicht nur im Vorfeld staatlicher Entscheidung akzeptiert.“ (ebd. S.203).
Hill verweist jedoch auf neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen eine „vorsichtige Öffnung dieses Dogmas“ zu erkennen sei. So werde etwa für die Legitimation einer Entscheidung „nicht mehr allein auf eine ununterbrochene Legitimationskette über das Parlament zum Volk abgestellt“, „vielmehr“ sei „das Legitimationsniveau als Gesamtheit und das Zusammenwirken unterschiedlicher Legitimationsquellen, die je nach Sachbereich verschieden zusammengesetzt sein können, entscheidend“.(ebd.). „Eine weitere Öffnung des demokratischen Prinzips nach Art. 20 Abs. 2 GG in Hinblick auf Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt in bestimmten Bereichen“ werde „durch den Hinweis auf die Idee des sich selbstbestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung (Art. 1 Abs. 1 GG) erzielt.“ (ebd.).
Dieser Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Art 1 Abs. 1 GG fordert vom Staat aber nur, es als seine Verpflichtung anzusehen, die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“. Seine Herrschaftsfunktion wird durch diese Verpflichtung nicht in Frage gestellt. Den sich selbstbestimmenden Menschen jedoch als Legitimationsquelle einzubeziehen, hieße entweder, den bisher abstrakten Volksbegriff („nichtorganisierte, nichtformierte politisch ideelle Einheit“, „konkret geistige Ganzheit“) aufzugeben und die Vielzahl sich selbstbestimmender Individuen bzw. das reale Volk als Legitimationsquelle der Gewalt des Staates zu bestimmen, oder den bisherigen Bezug auf den abstrakten Volksbegriff zwar beizubehalten, aber zugleich zu begrenzen, indem die Verpflichtung zur Achtung der Würde des Menschen künftig sehr viel konkreter und weitreichender als bisher auf die Vielzahl sich selbstbestimmender Individuen als zusätzliche Legitimationsquelle des Rechts bezogen wird.
Im ersten Fall würde das reale Volk uneingeschränkt die Staatsgewalt legitimieren und der Staat wäre ihm rechenschaftspflichtig. Im zweiten Fall bliebe die Herrschaft des Staates über das reale Volk nicht im gleichen Umfang wie bisher erhalten. Die Staatsgewalt verlöre ihre bisherige alleinige Definitionshoheit und sähe sich in der Ausübung ihrer Herrschaft durch eine neben ihr gleichberechtigt existierende Definitionsmacht in Gestalt des sich selbstbestimmenden Individuums nach Art. 1 Abs. 1 GG eingeschränkt. Wie wenig sich der Staat bisher jedoch bewegt hat, lässt sich aus der folgenden Bemerkung Hills entnehmen: „Obwohl somit Rechtsstaat und Demokratie in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft unter Berufung auf Leitbegriffe wie Legitimation, Verantwortung, Transparenz, Rationalität und Rechenschaftslegung schrittweise neu gedacht werden, bleiben etwa eigenverantwortliche Entscheidungen bürgerschaftlicher Gruppen über die Verwendung von Globalbudgets, etwa im Rahmen von Quartiersmanagement, nach wie vor verfassungsrechtlich problematisch.“ (ebd.).
Hermann Hill entscheidet sich in einem von ihm vorgeschlagenen Modell zur „Verknüpfung von klassischer repräsentativer Demokratie und neuen Formen kooperativer Demokratie bzw. bürgerschaftlichen Engagements nur für die stärkere Berücksichtigung der sich selbstbestimmenden Individuen. Letztere anerkennt er nicht als zweite gleichberechtigte Legitimationsquelle. In seinem Modell beschließen Gemeinderäte in ihrer Satzung, wie in Entwicklungs- und Rahmenprogrammen die Beiträge bürgerschaftlichen Engagements einbezogen werden können, z.B. durch eine „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft und eine Gemeinwohlprüfung durch den Rat“ (ebd.).
Das in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und in Abs. 2 GG geregelte Recht der kommunalen Selbstverwaltung soll durch ein „Koordinationsregime bzw. Verfahrensmuster für die Einbeziehung bürgerschaftlicher Aktivitäten und Gruppen“ ergänzt werden, „das die Auswahl, die Beauftragung dieser Gruppen mit der Bearbeitung eines bestimmten Problems, die Zuweisung von Budgets und die Art der Rechenschaftslegung beinhaltet“ (ebd.). In diesem Rahmen wären bürgerschaftliche Gruppen zu selbständigem Handeln berechtigt. Der Gemeinderat würde dieses „Konzert der vielfältigen Akteure“ dirigieren und für ein „stimmiges und nachhaltiges Ganzes“ sorgen (ebd. S.204).
Weitergehend als bei Hill bedürfte die „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft“ im Gemeinderat jedoch bei Gleichberechtigung beider Legitimationsquellen auch der Bestätigung durch die Bürger, die diese Vorschläge ursprünglich erarbeitet haben. Wenn ihr Einspruchsrecht nur aufschiebenden Charakter hätte, läge trotz gleichberechtigter Legitimationsquellen eine Kompetenzbegrenzung bei der Formulierung von Recht vor. Käme der Einspruch jedoch einem Veto gleich, dass der Gesetzgeber nur überwinden kann, indem er auf die Wünsche der Aktivbürger eingeht, läge nur eine Kompetenzabstufung vor und bei Streitfällen müsste eine von beiden Seiten zu akzeptierende vermittelnde Instanz geschaffen werden.
Nach Christoph Reichart unterscheidet sich eine „zivilgesellschaftliche Verwaltung“ vom bürokratischen oder manageriellen Verwaltungstyp: „Vor allem geht es um das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern: In der zivilgesellschaftlichen Verwaltung ist die Beziehung offen, kooperativ und tendenziell partnerschaftlich angelegt. Der Bürger hat klare Rechte und Einflussmöglichkeiten gegenüber Staat und Verwaltung und nimmt diese auch wahr. Die Verwaltung nimmt die Anliegen der Bürger ernst und mobilisiert Bürgergruppen oder zivilgesellschaftliche Organisationen, um dadurch zusätzliche Ressourcen sowie Legitimationsquellen zu nutzen.“ (Reichart, Christoph, Zivilgesellschaftliche Verwaltung aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften, in: Klaus König/Sabine Kropp [Hrsg.], a.a.O. S.209).
So ungewöhnlich diese neuartige Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Aktivbürgerschaft auf dem ersten Blick auch erscheint, so vertraut ist dem Staat eine solche Situation im Verhältnis von Legislative, Exekutive und Judikative seit langem. Aus der Formulierung des Art. 20 Abs. III GG, dass Exekutive und Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das Recht gebunden sind, ergibt sich eine Einschränkung des Gesetzgebers. Die Grundgesetzkommentatoren betonen zwar die grundsätzliche Identifizierung von „Gesetz“ und „Recht“ und meinen, das „Gesetz“ habe gewissermaßen die Vermutung für sich, zugleich „Recht“ zu sein, aber wenn z.B. oberste Richter zur Auffassung gelangen sollten, dass ein Gesetz nicht oder nicht mehr dem „Rechtsempfinden“ entspricht, würden sie an den Gesetzgeber die Forderung richten müssen, das Gesetz „rechtskonform“ zu gestalten (Kommentar zum GG … S.9/10). Legislative und Judikative sind beide durch unterschiedliche Rechtsquellen legitimiert, Recht zu schöpfen. Aus der Legitimation der Judikative erwächst jedoch nur die Kompetenz, im Namen des Rechts Einspruch zu erheben.
Die notwendig werdende Gesetzesänderung bleibt allein dem Gesetzgeber vorbehalten.
In Anlehnung an dieses Beispiel wäre für die neuartige Gewaltenteilung zwischen Staat und Aktivbürgern ein Einspruchsrecht der Bürger denkbar, das beim Gesetzgeber eine Gesetzesänderung erzwingen würde. In einem solchen Fall bliebe nur noch der Zeitraum festzulegen, in dem die Änderung zu vollziehen ist.
Was die von Hill geforderte Gemeinwohlprüfung durch den Gemeinderat anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Staat schon seit langem seine Alleinbestimmung des Gemeinwohls aufgegeben hat bzw. aufgeben musste. Am Beispiel der geringen Gegenwehr, den die vergangenen zwei Bundesregierungen und die jetzige den Gemeinwohlbelangen der transnationalen Unternehmen und des Finanzkapitals entgegen gesetzt haben, könnte sich z. B. das Ausmaß der Gemeinwohlprüfung im Falle von Gemeinwohlbelangen aus der Aktivbürgerschaft orientieren; steht doch die den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zugeordnete Handlungslogik dem Demokratieideal sehr viel näher als die gewinn- bzw. geldorientierte Handlungslogik von Unternehmen und Finanzkapital.
Angesichts der Schwäche des Staates gegenüber Wirtschafts- und Finanzunternehmen wäre die Zivilgesellschaft in der Tat ein relevanter Partner des vielgliedrigen Staates. Die verschiedenen Ansätze zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Charakters der Verwaltung sind sowohl im Bereich der Leistungserbringung wie in der Aktivierung der Bürger also durchaus ausbaufähig.
Ein scheinbar unüberwindbares Hindernis bleibt jedoch das Maß an Selbstrepräsentation der Repräsentanten in einer repräsentativen Demokratie. So bemängelt Christoph Reichard „dass die repräsentative Politik (…) ihre eigenen Interessen verfolgt und nur sehr begrenzt und in Randbereichen bereit ist, Entscheidungskompetenzen an die Bürger abzugeben (ebd. S.217). Die Lebenslüge etablierter Demokratien, dass in ihnen der Staat ausschließlich uneigennützig in der Repräsentation der Repräsentierten handele, wird zum Haupthindernis in der zivil-gesellschaftlichen Öffnung der Hierarchie. Selbstrepräsentation der Staatsvertreter und pekuniäre Zuwendungen aus Wirtschaft und Finanzkapital finden – wie leider die Erfahrung zeigt – nun einmal eher zusammen als die zu gemeinsamen Handeln von Staat und Zivilgesellschaft auffordernde Beschwörung, das Demokratieideal gemeinsam hochzuhalten.

Dringlicher als je zuvor stellen sich also folgende Fragen:
  • Welchen Legitimationskriterien muss heutzutage Herrschaft genügen, um als Herrschaft des Volkes anerkannt zu werden?
  • Auf welche Weise kann die Selbstrepräsentation der Repräsentanten des Volkes auf ein Minimum zurückgedrängt werden?
  • Wie muss die Idee der Volkssouveränität fortgeschrieben werden, um weiterhin glaubwürdig zu bleiben?
  • Welche Vorkehrungen sind zu treffen, um in einer Siedlergesellschaft den Staat vor seiner Inanspruchnahme als Herrschaftsinstrument des Geldadels zu schützen?

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Der gemeinwohlorientierte Staat

2/19/2016

1 Kommentar

 
Die Addition der (privaten) Eigenwohle ergibt nicht das Gemeinwohl. Die Gewährleistung des Gemeinwohls ist aber die Voraussetzung der Selbsterhaltung der Gesellschaft und der Staat ist der historisch gewachsene Akteur ihrer Sicherstellung. Nur der Staat kann die Grenzen ziehen, innerhalb derer das Gemeinwohl und damit die Selbsterhaltung der Gesellschaft gesichert bleibt. Je schwächer er wird, desto weniger ist er dazu in der Lage.

1. Die Entfaltung des Gemeinwohlgedankens
1.1. Begriffliche Klärung

1.1.1. Privat- versus Gemeinwohl

Verhielte sich das Individuum theoriegetreu als „homo oeconomicus“, wäre das Eigenwohl auf abstrakte Weise als höchstmögliche Befriedung der Bedürfnisse und Streben nach vollendetem Dasein jedes einzelnen Individuums zu bestimmen. Die exakte Bestimmung des Eigen(Privat)wohls und dessen adäquate Erfüllung scheitert aber sowohl an der ihm fehlenden Einheit wie an der mangelhaften Transparenz. Warum ist das so?
Begehrt das Individuum Gegenstände des Gebrauchs nicht nur ziellos, sondern bedient sich ihrer zugleich zur Förderung des eigenen Wohls, denkt und handelt es selbstbewusst. Sein Selbstbewusstsein ist das in der sinnlichen Wahrnehmung bewusst gewordene Andere, reflektiert in das anfangs leere, sich auffüllende und zum selbstbestimmt heranreifenden Sein. Das Selbstbewusstsein unterliegt als Folge des nicht abschaltbaren Stroms sinnlicher Eindrücke jedoch der beständigen Veränderung. Obwohl es die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen dem, was dem Privat- bzw. Eigenwohl nutzt oder schadet, durchaus erworben hat, widersprechen die Lebenspraxen der realen Individuen dennoch dem aus der Theorie abgeleiteten prognostizierten idealen Verlauf. Räumt man also der Theorie Vorrang gegenüber der empirischen Analyse der Lebenspraxen ein, müsste an die realen Individuen die unrealistische Aufforderung ergehen, sich in ihrer Lebensgestaltung an der abstrakten Theorie zu orientieren. Von Nutzen wäre ein solche Forderung nur für die Formulierung lebensferner Nutzentheorien, nicht jedoch für die Erfassung der realen Lebensverhältnisse.
Vom Privat- bzw. Eigenwohl des einzelnen Individuums auf das Gesamtwohl der Gesellschaft schließen zu wollen, stößt auf weitere Hürden. So wenig wie es kein allgemeines Selbstbewusstsein gibt, sondern nur eine Vielzahl von besonderen, ist und bleibt das Wissen und die Einsicht über das Eigenwohl ebenfalls an einzelne Individuen gebunden. Von ihnen die Validität eines gesellschaftlichen Gesamtwohls abzuleiten, indem man die vielen besonderen Eigenwohle „addiert“ und das Ergebnis zum Gesamtwohl erklärt, muss scheitern. Als Resultat ist folglich zu konstatieren, dass in der Gesellschaft zwar eine Vielzahl besonderer Eigen- bzw. Privatwohle existiert, aber dass aus der Vielzahl nicht ein Gesamtwohl der Gesellschaft konstruierbar ist. An dem darin enthaltenden Grundproblem der Erkenntnistheorie hat sich bereits Emmanuel Kant abgearbeitet.
Als Lösung böte sich zwar an, den Staat, der gegenüber der Gesellschaft als eigenständige Einheit auftritt und weder in ihrem Zentrum noch unter oder über, sondern neben ihr verortet werden muss, über das Gesamtwohl befinden zu lassen, aber seine Festlegung hätte bestenfalls Annäherungscharakter und wäre Anlass für konfliktreiche Auseinandersetzungen.
Worüber der Staat letztlich nur entscheiden kann ist das Gemeinwohl der Gesellschaft. Der Begriff Gemeinwohl bezieht sich zwar auch auf die Gesamtgesellschaft, aber zielt auf den – durch Kompromiss zustande kommenden – gegenwärtigen wie künftigen Ausgleich zwischen kontrastierenden Ansprüchen verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und ist von normativer Natur. Konflikte entzünden sich vorrangig an der Gestaltung und Auswahl der Normen, erst nachrangig an den stets im Hintergrund präsenten gesellschaftlichen Machtverhältnissen.
In diese spezifische gemeinwohlorientierte Form der Ausgestaltung des Wohls der Gesamtgesellschaft fließt als Basiskategorie auch die Selbsterhaltung der Gesellschaft ein; denn gelingt es nicht, den Ausgleich zwischen den kontrastierenden Ansprüchen verschiedener gesellschaftlicher Kräfte herzustellen, zerbricht die Gesellschaft an ihren eigenen Widersprüchen und löst sich auf.

1.1.2. Die „außergesellschaftliche Gemeinwohlbestimmung“

In der Selbsterhaltung von Gesellschaften steht dem instabilen formlosen Gegenhalt, den die Praxen hegemonialer (und diskursiver) Formationen aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehens- und Vergehenszeiten sowie ihres regelmäßig gewordenen Gegensatzes bilden, der Staat als institutionalisierte Kraft gegenüber. Zwar fehlt auch ihm – wie allen anderen Akteuren – der sichere Blick in die Zukunft, aber bereits gut erkennbaren Fehlentwicklungen kann er durchaus rechtzeitig entgegensteuern. Aus der umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zum Zwecke der Selbsterhaltung von Gesellschaften ragen folgende hervor, die auch unabhängig von der Entgrenzung der bisherigen Zirkulationssphären bestehen bleiben:
  • Unterstützung aufsteigender hegemonialer Formationen (einschließlich ihrer Praxen) gegen bereits etablierter,
  • das ständige Ausloten von Flexibilitätsspielräumen und -grenzen hegemonialer Formationen,
  • seine Schlichtertätigkeit (mit oder ohne Rückgriff auf das vom Staat ausgeübte Gewaltmonopol),
  • das Offenhalten des öffentlichen Raumes und darin des Feldes der Diskurse für die Aktivierung und Reaktivierung flottierender Elemente.
Trotz aller verwirrender Mannigfaltigkeit präsentiert sich die Gesellschaft dem Staat nicht als unauflösbares Chaos, sondern zeigt ihm eine Vielfalt von Strukturen. Auf die Entdeckung dieser Strukturen richtet sich sein Streben nach Selbsterhaltung der Gesellschaft. In den Entstehungs- und Vergehensprozess endlicher Strukturen ist zwar die Spur ihrer Vergänglichkeit immanent eingezeichnet, aber in der Pluralität der zu jedem Zeitpunkt möglichen Arrangements verborgen. Welche Abfolge aktueller Arrangements die Spur exakt trifft und die Lebenszeit der Struktur maximal erfüllt, entzieht sich der Erkennbarkeit. In einer unendlichen Struktur würde die strukturimmanente Selbststeuerungsfähigkeit alle Arrangements automatisch in die Spur der Unendlichkeit dirigieren. Wenn jedoch der endlichen Struktur kein Selbststeuerungsmechanismus inhärent ist, dem System also die eigene Systematik unerreichbar ist, sondern nur das Angebot einer begrenzten Anzahl möglicher Folgeschritte, ist sie in der Vollendung ihres Entstehens- und Vergehensprozesses auf die Entscheidungsfähigkeit eines ihr äußerlichen Anderen angewiesen, für sie entscheidet, sie supplementiert. Dieses spezielle Supplement ist der Staat, der aus der Pluralität der möglichen Arrangements, die das strukturierte und in seinen Grenzen nicht bestimmbare gesellschaftliche Ganze anbietet, dasjenige Angebot auswählt, mit dem er sich in der Gemeinwohlfindung am ehesten identifizieren kann. Er sieht sich zwar gezwungen, auf dem Hintergrund des begrenzten Angebots der endlichen Strukturen zu entscheiden, aber schöpft letztlich aus der Fülle der Arrangements, die er bereits in seinem erfahrungsgesättigten Horizont gespeichert hat.
Bezieht er sich in der Gemeinwohlbestimmung ausschließlich auf seinen erfahrungsgesättigten Horizont, oktroyiert er der Gesellschaft seine Gemeinwohlvorstellung. Von der Schwäche oder Stärke der gesellschaftlichen Kräfte gegenüber dem Staat hängt ab, in welchem Ausmaß die staatliche Gemeinwohlfestlegung akzeptiert oder unterlaufen wird. Aber selbst im Falle ihrer widerspruchslosen Hinnahme ist nicht davon auszugehen, dass die staatlich verordnete „außergesellschaftliche Gemeinwohlbestimmung“ gesellschaftlich neutral konzipiert wurde und auf die Gesellschaft neutral wirkt. Denn der Staat steht zwar der Gesellschaft als besondere Einheit gegenüber, aber daraus abzuleiten, dass Legislative, Exekutive und Rechtsorgane den verschiedenartigen gesellschaftlichen Kräften neutral begegnen würden, wäre angesichts von Herkunft und Bildung der Staatsträger und der auf die drei staatlichen Gewalten unterschwellig oder direkt einwirkenden Einflussfaktoren realitätsfremd. Die an die staatlichen Organe zur Gemeinwohlfindung herangetragenen Interessen sind außerdem meist derart gegensätzlich ausgerichtet, dass im Hinblick auf eine gerechte Entscheidung unvermeidlich sehr oft eine Situation der Unentscheidbarkeit entsteht. Unter solchem Vorzeichen den „gordischen Knoten“ durchschlagen zu wollen bedeutet, parteiisch zu entscheiden und bewusst oder unbewusst sogar hegemonialen Bestrebungen einflussreicher gesellschaftlicher Kräfte Vorschub zu leisten.

1.2. Die historische Entfaltung des Gemeinwohlgedankens

Zu welchem historischen Zeitpunkt und auf welcher Entwicklungsstufe der Menschen der Gemeinwohlgedanke aufkeimen konnte, erstmals eine Trennung vorgenommen wurde zwischen dem Wohl der Herrschenden einerseits und dem beide – Herrschende und Beherrschte – umfassenden Wohl der Gesamtheit andererseits, ist unbekannt. Solange das bloße Überleben die Lebenspraxis der Menschen beherrschte, hatte das Gemeinwohl keine Bedeutung. Das Streben nach einem „guten und richtigen Leben“ für den einzelnen und die Gesamtheit konnte sich erst auf einer sehr viel späteren Entwicklungsstufe der Menschheit entfalten.
In der athenischen Gesellschaft erlangten z.B. nur wenige den Status, an der Polis auf der Seite der Herrschenden oder Beherrschten teilzunehmen. Nur den Privilegierten war die zeitaufwendige Teilnahme möglich, weil sie zugleich Haushalten vorstanden, in denen Sklaven und Frauen für das leibliche Wohl sorgten. Auf der Grundlage wechselseitiger moralischer Pflichten und Rechte konstituierten sie eine Gemeinschaft von Gleichen. Sie ermittelten im vernunftgeleiteten Informations- und Meinungsaustausch das Gemeinwohl und übertrugen den auf Zeit gewählten/-ernannten Regierenden dessen Umsetzung in die Praxis. Das Verhältnis zwischen Regierenden und der Gesamtheit der Regierten basierte weiterhin auf ihrer Gleichheit. Konnten Regierte nicht am Sitz der mit der Regierung beauftragten Personen anwesend sein, hatten sie weder die Möglichkeit, ihr Recht der Wahl zu den verschiedenen politischen Ämtern auszuüben, noch darauf zu bestehen, dass allen Berechtigten der tatsächliche Zugang zu allen öffentlichen Ämtern offen stand. Aus ihrer Abwesenheit erwuchs ihnen faktisch ein Statusunterschied zu den ortsansässigen Regierten und Regierenden.
Unterhalb der Ebene des herrschaftsenthobenen Verhältnisses der Polis konstituierte sich das Herrschaftsverhältnis zwischen den einzelnen Haushaltsvorständen und ihren aushaltsvorsHaushaltsvorständen ihrenFrauen und Sklaven, die für die Reproduktion bzw. das leibliche Wohl der privilegierten Regierten wie Regierenden zuständig waren. Zwischen beiden Verhältnissen schien es – oberflächlich betrachtet – keinerlei Berührungspunkte zu geben. Rebellierten einzelne Frauen und Sklaven gegen ihre Herrscher, wurden sie bestraft und zur erneuten Unterordnung gezwungen. Kam es jedoch zu Sklavenaufständen, brach das wirtschaftliche Fundament für die Reproduktion der Privilegierten weg und die gesamte Existenz der Polis war gefährdet. Bei näherer Betrachtung hatte also das herrschaftsfreie Verhältnis der Privilegierten sein absolutes Gegenteil an sich und beide zueinander gegensätzlichen Verhältnisse ergänzten einander. Als gerecht angesehen wurde deshalb von den Athenern sowohl die Gleichheit der Gleichen wie die Ungleichheit der Ungleichen.
Einer solchen unvollkommenen Gesellschaftsstruktur war unabänderlich die Spur der Endlichkeit eingezeichnet. Setzte man sich beispielsweise zum Ziel, in geeigneten Arrangements die Lebenszeit dieser endlichen Gesellschaftsstruktur voll auszuschöpfen, hätte man das in den Haushalten der Privilegierten vorherrschende Beherrschungsverhältnis als Bestandteil der Polisordnung anerkennen und auf institutionelle Weise das Wohlergehen der in Abhängigkeit gehaltenen Frauen und Sklaven in die Ermittlung des Gemeinwohls einfließen lassen müssen. Dass die Herrschenden diese Aufgabe nur unzulänglich wahrnahmen, zeigte sich an Sklavenaufständen und deren Niederschlagung.
Aristoteles, Schüler von Platon, unterschied zwischen solchen Ordnungen, die auf das Gemeinwohl, und denen, die lediglich auf den Eigennutz der Regierungen ausgerichtet seien (Aristoteles, III 6, 1279 a 15-20). Als richtige Ordnungen bezeichnete Aristoteles die Monarchie, die Aristokratie und die Politie. Hingegen stelle die Tyrannis eine Entartung der Monarchie dar, da sie dem Eigennutz des Alleinherrschers diene. Die Oligarchie sei eine Entartung der Aristokratie und gereiche den Reichen zum alleinigen Vorteil. Die Demokratie betrachtete Aristoteles als Degeneration der Politie. Sie sei auf den alleinigen Nutzen der Armen ausgerichtet. Den Nutzen der Allgemeinheit beförderte keine der drei letzten Formen (ebd., III 7, 1279 b5). Die Realität zur Lebenszeit von Platon und Aristoteles war alles andere als gesellschaftlich ausgewogen. Beide Philosophen konfrontierten die Entartungen mit dem Ideal, was nicht hieß, dass ihre Vorstellungen „idealistisch“ waren.
Zur Zeit von Aristoteles hatte die Arbeitsteilung unter den Menschen noch keine hoch komplexen und dynamisch sich verändernden gesellschaftliche Strukturen hervorgebracht, so dass aus der Zentralisation aller relevanten gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen beim Monarchen noch kein nennenswerter Nachteil für die Zukunft der Gesellschaft erwuchs. Aristoteles bezeichnete den Monarchen zwar noch nicht als „ersten Diener des Staates“, aber dass drastische Änderungen des Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnisses der Monarchie bevorstanden, wenn das Gemeinwohl an die Stelle des monarchischen Eigennutzes treten sollte, unterlag für ihn keinerlei Zweifel. Als ebenfalls notwendig empfand Aristoteles erhebliche Veränderungen in der aristokratischen Herrschaftsform, die zu seiner Zeit zur Oligarchie, d.h. zur zügellosen Vermehrung des Reichtums tendierte. Das Gespür für die Benachteiligten der Gesellschaft und deren Bedürfnisse war unter den Wenigen (Aristokratie) kaum entwickelt, weshalb immer wieder Unruhen entstanden. In Aristoteles Abwertung der Demokratie flossen seine Erfahrung mit Aufständen der Armen und Raubzügen benachteiligter Volksgruppen ein. Der Demokratie stellte Aristoteles die Politie gegenüber, in der unterschiedliche Gruppen zusammenleben und in der das Gemeinwohl auch die Bedürfnisse der kleineren Volksgruppen berücksichtigt.
Die folgende Periode der Römer kannte ebenso wenig wie die Griechen das „Repräsentationsprinzip“. Trotz riesiger Ausdehnung des Reiches war die Anwesenheit am Regierungssitz immer noch eine unbedingte Voraussetzung für die Ausübung der Rechte als römischer Bürger. Obgleich jedoch „das Bürgerrecht der breiten Massen in dem Recht der Wahl zu den verschiedenen politischen Ämtern bestand“, existierte der „tatsächliche Zugang zu allen öffentlichen Ämtern praktisch nur für die Aristokratie“ (Ulrich K. Preuß, Citizenship und Gemeinwohl, in Gunnar Folke Shuppert/ Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch 2002, S. 277). Was Nichtanwesenden in der griechischen Polis widerfuhr, hatten im römischen Reich alle nicht zur Aristokratie zählenden Bürger zu ertragen. Theoretisch stand ihnen zwar die Wahl zu allen öffentlichen Ämtern zu, aber tatsächlich hatten sie sich der Herrschaft der Aristokraten – aus eigenem freien Antrieb oder widerwillig – unterzuordnen. Ulrich K. Preuß gleitet fahrlässig über diesen zweiten, neben dem Herrschaftsverhältnis zu den Sklaven bestehenden Statusunterschied zwischen Aristokraten und Bürgern hinweg und setzt diesen Statusunterschied unverständlicherweise mit der Repräsentation der nicht am Ort der Regierung anwesenden Bürger gleich. Für letztere wäre eine institutionell ausformulierte Repräsentation notwendig gewesen. Sie existierte aber nicht. Statt dessen hatten sich alle Nichtaristokraten und alle vor Ort nicht Anwesenden der angemaßten „Repräsentation“ durch die Aristokraten zu beugen bzw. deren Herrschaftsausübung zu fügen. Lediglich im Recht auf Haltung von Sklaven befanden sie sich auf gleicher Ebene wie die Aristokraten, denn ebenso wie die griechische Polis war auch die römische eine Sklavengesellschaft. Auf dem juristischen Auge blind für unterschwellige Herrschaftsverhältnisse konzediert Preuß den Römern sogar „Realismus“ in der „Dimension der Institution des Bürgers, die auf die Mitgliedschaft des Individuums in der Rechtsgemeinschaft der Römer abstellte“ (ebd. S.277). Nicht jeder „abgestellte“ Bürger Roms dürfte ihm zugestimmt haben. Anders als bei den Griechen enthielt der Bürgerstatus aber keinen unausgesprochenen Verweis mehr auf eine vorgängige Idee des Guten. (ebd. S. 271-294, 279/280).
In den folgenden Jahrhunderten unterlag der Gemeinwohlgedanke einem weiteren steten Wandel. In dem Prinzip des Schutz- und Treueverhältnisses, das sich wie ein rotes Band durch das Lehnswesen der gesamten mittelalterlichen Zeit durchzieht, im Zusammenspiel von Zunft- und Patrizierordnung in den Städten zur Hochzeit des Mittelalters bestimmten vor allem die maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte seine Form. Im Absolutismus – besonders im aufgeklärten – und noch stärker im bürokratisch verfassten, über ein politisch wie wirtschaftlich begrenztes Territorium herrschenden Nationalstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hingegen beanspruchte der Staat die Alleinzuständigkeit in der Bestimmung des Gemeinwohls. Erst mit der Abstufung des Nationalstaats im Zeichen der Globalisierung gewannen vormalige Bestimmungsgründe wieder die Oberhand.[1]


2. Abkehr von der Prämisse eines „außergesellschaftlichen Gemeinwohls“

Gunnar Folke Schuppert unterscheidet mit Bezug auf die Gemeinwohlbestimmung vier Varianten des modernen Staatsverständnisses:
  • „den Verfassungsstaat, der mit demokratisch legitimierten Entscheidungen Gemein-wohlpräferenzen festlegt und mittels Gesetzgebung und Verwaltung an staatliche oder staatliche beliehene Akteure weitergibt;
  • den kooperativen Staat, der Gemeinwohlpolitik durch die Einbeziehung organisierter Interessen betreibt und durch ausgehandelte Vereinbarungen und Verträge implementiert. (…)
  • den Gewährleistungsstaat, der Gemeinwohlsicherung als arbeitsteilige Aufgabe zwischen staatlichen und privaten Trägern definiert, aber im Regulierungsmix staatlichen Stellen Gewährleistungskompetenz zugesteht. (…)
  • den aktivierenden Staat, der Gemeinwohlverantwortung als Aufgabe der Zivilgesellschaft ansieht, wobei staatliche Aktivitäten der Funktionsfähigkeit einer vernetzten, -selbstorganisierten Gesellschaft dienen. (…)“ (Schuppert, Gunna Folke, zit. bei Anheimer, Helmut K./Freise, Matthias, Der Dritte Sektor im Wandel: zwischen New Public Management und Zivilgesellschaft, in WZB-Jahrbuch 2003, S.133).

2.1. Der Verfassungsstaat

Der Verfassungsstaat unterscheidet sich vom bürokratischen monarchisch-autoritären Staat des 19. Jahrhunderts insbesondere dadurch, dass er anders als jener die Pluralität der Gemeinwohle grundsätzlich anerkennt, aber Prämissen aufstellt, an denen die auf der Diskursebene und in der politischen Interessenartikulation miteinander konkurrierenden Gemeinwohlansprüche sich zu messen haben. Um in den Kreis der staatliche anerkannten Gemeinwohlansprüche zu gelangen, führt der Weg entweder über die Anpassung an die zuvor aufgestellten Prämissen oder über die Einflussnahme auf die Bestimmungsgründe für die Prämissen. Der Staat verzichtet aber sowohl in der Aufstellung von Prämissen wie in der Bewertung der unterschiedlichen Gemeinwohlansprüche nicht auf seine letztendliche Entscheidung. Im Unterschied zum vorherigen monarchisch-autoritären Staat, der selbstherrlich und oftmals aus uneinsehbaren Gründen entschied, unterliegt im Verfassungsstaat der gesamte Prozess der Entscheidungsfindung der öffentlichen Überprüfung anhand allgemein anerkannter Plausibilitätskriterien. Aufgrund ihres beibehaltenen Entscheidungsmonopols ist die staatliche Administration aber weiterhin hierarchisch strukturiert bzw. bleibt wie früher an der heiligen Ordnung (Hierarchie) der ehemals obrigkeitsstaatlichen Verwaltung orientiert. Dem Verlangen nach Öffnung für alle gesellschaftliche Strömungen bzw. Forderungen nach einer offenen Verwaltungsstruktur begegnen die Vertreter der überkommenen Hierarchie meist mit dem Verweis auf angebliche Effizienzkriterien und dem schlichten Hinweis auf die gültigen Bestimmungen der Verfassung, die man nicht leichtfertig infrage stellen dürfe.

2.2. Der kooperative Staat

Der von Schuppert an zweiter Stelle genannte kooperative Staat entspricht der in der gesamtgesellschaftlichen Mächtehierarchie herabgestuften Position des heutigen Staates. Ein Staat, der Gemeinwohlpolitik durch Einbeziehung organisierter Interessen betreibt und durch ausgehandelte Vereinbarungen und Verträge implementiert, bestellt zwar „Hüter, Wächter und Anwälte des Gemeinwohls“ (Schuppert, Gunna Folke, Das Gemeinwohl, in: Schuppert, Gunnar Folke/Neidhardt, Friedhelm (Hg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch 2003, S. 51), von denen die Einhaltung der Vereinbarungen und Verträge kontrolliert wird, aber die aus der Machtdifferenz zwischen den organisierten Interessen erwachsenen Einflussunterschiede können sie nicht beseitigen. Sie müssen akzeptieren, dass die einen aufgrund ihres geringen gesellschaftlichen Stellenwerts vergebens auf Anhörung pochen, während die anderen lautlos, aber wirkungsvoll, Lobbyarbeit für und in den Ministerien sowie bei den Parlamentariern, aber auch in den Medien sowie in den politikberatenden wissenschaftlichen Instituten betreiben.
Schuppert vertritt die nachvollziehbare Meinung, dass „hier und jetzt stattfindende Entscheidungsprozesse zur Bestimmung des Gemeinwohls weder herrschafts- noch interessenfrei sind und auch nicht sein könnten und es auch keinen Sinn mache, herrschafts- und interessenfreie Entscheidungssituationen zu postulieren“ (Schuppert, a.a.O. S.34). In der Tat, wenn staatliche Organe von Vertretern des organisierten Interesses durchsetzt sind, kann der von außen ausgehende Druck durch einen von innen ausgeübten verstärkt werden. Widerstand der gesetzgebenden und administrativen Staatsorgane gegen einen derartigen Zangengriff ist nahezu zwecklos; es sei denn, es ergibt sich der Zufall, dass sich die wechselseitigen Druckausübungen gegenseitig aufheben. In der Regel werden jedoch die mächtigsten organisierten Gruppeninteressen sowohl intern wie von außen angreifend die einflussreichsten sein, woraus folgt, dass der kooperative Staat in der Sortierung von und Festlegung auf dominierende Gemeinwohlbelange (Schuppert) gegenüber den organisierten Interessen nicht neutral ist. Daran ändert sich auch wenig, wenn Schuppert fordert, die „Entscheidungsprozesse so zu ordnen und zu institutionalisieren, dass Herrschaftsentscheidungen als legitim gelten können, indem die Verfassung selbst als Konsensdokument bestimmte Werte außer Streit stellt (Grimm 1990) und im davon abgrenzbaren Konfliktbereich (Fraenkel 1973) Verfahren bereit hält, die einen fairen Interessenausgleich zwar nicht im Detail gewährleisten, aber zumindest begünstigen.“ (ebd. S.34/35). Schupperts durchsichtiger Versuch, den durch Interessenmacht und -einfluss durchwirkten Fleckenteppich administrativer und gesetzgebender Staatsorgane auf der hohen Ebene der wertfundierten und auf reinen Interessenausgleich ausgerichteten Auseinandersetzung zu platzieren, ähnelt dem Auftragen „weißer Salbe“. In Einzelfällen mögen seine Bemerkungen sogar zutreffen, aber die Regel ist es nicht.
Dennoch unterscheidet sich Schuppert positiv von Interpreten der Macht, die fälschlicherweise von der Entstehung einer „egalitären Volksvertretung“ auf eine allgemeine Nivellierung der Machtunterschiede schließen und nicht umgekehrt nach der vorgängigen Veränderung der gesellschaftlichen Machtverteilung fragen, die sich der „egalitären Volksvertretung“ als adäquates Versatzstück ihrer weit darüber hinausreichenden Machtausübung bedient. Jene verkennen in der Tat zweierlei:
  • die Herabstufung des Parlaments und der staatlichen Administration in der komplexen, ständig im Umbruch befindlichen Hierarchie der gesamtgesellschaftlichen Machtverteilung,
  • die Ersetzung des „außergesellschaftlichen Gemeinwohls“ durch das, was man euphemistisch durch „praktische Vernunft“ ermitteltes Gemeinwohl nennt.
Dass mehrere „Vernünfte“ und „Wahrheiten“ nebeneinander existieren und nicht von einer obersten und für alle geltenden Definition des Wahren, Guten und Schönen ausgegangen werden kann, hängt sowohl mit der Vielzahl untereinander konkurrierender und sich gegenseitig widersprechender Wertgefüge in komplexen Gesellschaften zusammen wie mit den bereits geschilderten Vorgängen. Der Staat hat es in der Tat zunehmend mit einer Vielzahl untereinander auf keinen gemeinsamen Nenner mehr zu bringender „Gemeinwohlbelange“ (Schuppert) zu tun, zwischen denen er nicht in alleiniger Deutungshoheit und Entscheidungskompetenz das einzig gültige auswählen kann. Geblieben ist ihm jedoch das Privileg, dem aus dem Ringen von kontrastierenden gesellschaftlichen Kräften hervorgegangenen spezifischen Gemeinwohlbelang mittels demokratisch legitimierter Entscheidungen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Geltung und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die auf Gemeinwohlanspruch pochenden Gruppeninteressen sind und bleiben damit auf den Staat angewiesen, wenn ihre Gemeinwohlbelange in gültiges Recht gegossen werden sollen. Zur gezielteren Durchsetzung etikettieren sich die diversen Gruppeninteressen bereits von Anfang an als kollektives bzw. Gemeinschaftsinteresse. Sie wollen damit den Eindruck erwecken, dass ihnen das Siegel der Allgemeingültigkeit automatisch zustehe. Erforderlich sei nur noch die abschließende formelle Legitimierung durch den Prozess der Gesetzgebung.

2.3. Der Gewährleistungsstaat

Wird der Staat entsprechend der Schuppertschen Typologie auf der nächst niedrigen Stufe nur noch als Gewährleistungsstaat definiert, der die Gemeinwohlsicherung arbeitsteilig zwischen staatlichen und privaten Trägern organisiert, kann er in dem einen Fall die Gewährleistungskompetenz ausschließlich staatlichen Stellen vorbehalten, sie im anderen Fall vollkommen in die Hände privater Träger legen und im dritten Fall als Regulierungsmix gemeinsam mit den privaten Trägeren ausüben. Überwiegen jedoch Formen der zweiten und dritten Kategorie, müsste daraus geschlossen werden, dass der Staat entweder privaten Trägern großes Vertrauen entgegenbringen kann oder dass seine Position gegenüber den in der Gesellschaft dominierenden Kräften bereits sehr schwach geworden ist. Unabhängig von der Wahl der Fälle kann die staatliche Bürokratie eines Gewährleistungsstaats obrigkeitsstaatlich organisiert sein oder sich durch eine für alle gesellschaftlichen Strömungen offene Verwaltungsstruktur auszeichnen.

2.4. Der aktivierende Staat

Im aktivierenden Staat (vierter Staatstyp), in dem staatliche Aktivitäten der Funktionsfähigkeit einer vernetzten, selbstorganisierten Gesellschaft dienen und Gemeinwohlverantwortung als Aufgabe der organisierten Interessen angesehen wird, verzichtet der Staat auf jede eigene Steuerungskompetenz und unterstellt allen autonom handelnden gesellschaftlichen Kräften ein starkes Streben nach Selbstverwirklichung. Er verlässt sich darauf, dass die selbstorganisierte Gesellschaft genügend Ausgleichsmechanismen entwickelt hat, um sowohl in Zeiten des Wachstums wie des Rückgangs des gesellschaftlichen Gesamtprodukts alle Mitglieder der Gesellschaft auf eine ihnen angemessene Weise zu beteiligen und vertraut darauf, dass entstandene Marktungleichgewichte, durch die die optimale Funktionsfähigkeit der Gesellschaft vorübergehend beeinträchtigt wird, von den selbstreferentiell organisierten Gegenkräften in überschaubarer Zeit ausgeglichen werden kann.
Für den Fall, dass eine optimale Markt- und Funktionsgerechtigkeit nicht umgehend wiederherzustellen ist, greift er „aktivierend“ den beeinträchtigten gesellschaftlichen Kräften unter die Arme, fördert ihre Eigeninitiative durch finanzielle und institutionell bereitgestellte Anreize und fordert ebenso von ihnen die Bereitschaft, sich selbst aktiv in den Anpassungsprozess einzubringen. Für den aktivierenden Staat sind nicht die zur Selbstheilung befähigten und gewillten Kräfte der Gesellschaft der Adressat staatlichen Eingreifens. Ihr Tun bedarf weder der staatlichen Fürsorge noch der staatlichen Sanktion. Vielmehr sind es vor allem die nach Hilfe rufenden Benachteiligten, die glauben, auf sich allein gestellt die notwendige Anpassungsleistung nicht mehr erbringen zu können, oder denen man berechtigter- oder unberechtigterweise unterstellt, dass sie gar nicht mehr die Bereitschaft dazu aufbringen.
Wenn vom Staat allen autonom handelnden gesellschaftlichen Kräften ein gleich starkes Streben nach Selbstverwirklichung attestiert wird, ist die Versuchung groß, den gesellschaftlichen Erfolg zum Maßstab zu nehmen und beispielsweise die schlechter organisierbaren Interessen gegenüber den besser organisierten zu vernachlässigen. Der Schluss liegt dann nahe, das sich erstere eben nicht genügend angestrengt haben, um erfolgreich zu sein. Von den Erfolgreicheren, die sich selbst gern das Etikett des Leistungsträgers anheften, werden zur Stützung des eigenen Erfolgs sodann genügend Theorien angeboten, die den eigenen Erfolg rechtfertigen, den Erfolglosen Zielunsicherheit, mangelnde Strebsamkeit, Mutlosigkeit, Faulheit bis hin zu Pech und Schicksal zurechnen und in der Gesellschaft ein hohes Maß an Ungleichheit zum Motor jeglichen Fortschritts erklären.
Setzt sich in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung die Deutungshoheit der Erfolgreichen durch und gewinnen deren Theorien die Diskurshoheit, fällt es dem aktivierenden Staat zunehmend schwer, nicht zum Steigbügelhalter der mächtigsten unter den organisierten Interessen zu werden. Er kann sogar zu ihrem „nützlichen Idioten“ werden, wie es der Finanzminister der Großen Koalition, Peer Steinbrück, in einer selbstironisch gemeinten, aber dennoch hellsichtigen Redewendung vor den im Berliner Kongresszentrum versammelten Bankern im November 2007 ausdrückte. Der lediglich aktivierende Staat läuft in der Tat Gefahr, seine Verpflichtung zu sozialstaatlichem Handeln verkümmern zu lassen und sich aus der umfassenden Verantwortung zu verabschieden, in die ein Staat, der seine Macht aus einem fiktiven Gesellschaftsvertrag ableitet, eingebunden ist und bleibt. Er gerät in Gefahr, auf die Erhaltung des sozialen Friedens – als minimal einzuhaltende Grenze staatlichen Handelns – zurückzufallen und mit allen verfügbaren Mitteln dafür einzutreten.
Je mehr sich der lediglich aktivierende Staat in der Artikulation und Selektion von Gemeinwohlbelangen zurückhält, desto stärker trumpfen mächtige, durchaus netzartig verknüpfte organisierte Interessen auf. Wird durch ihre gesellschaftliche Praxis sogar der soziale Frieden gefährdet und gewalttätige Demonstrationen, Streiks und Terror breiten sich aus, erschallt unweigerlich der Ruf nach mehr polizeistaatlichen Reaktionen. Der Staat sieht sich dann gezwungen, im Sicherheitsbereich aufzurüsten und sich zunehmend im obrigkeitsstaatlichen Sinne zu äußern.
Auf diesem Hintergrund ist die von Schuppert im Einklang mit Helmut K. Anheimer sowie Matthias Freise für den aktivierenden Staatstyp vorgeschlagene gesamte Zuschreibung der Gemeinwohlverantwortung auf die machtpolitisch gering organisierte Zivilgesellschaft überhaupt nicht nachvollziehbar. Sie entspricht nicht der tatsächlich vorfindbaren Machtverteilung zwischen den untereinander verknüpften organisierten Interessen auf der einen Seite und den relativ gering organisierten zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen andererseits.
Wenn der Zivilgesellschaft schon die Verantwortung für das Gemeinwohl zufallen soll, müssten die Autoren zuerst das Machtpotential der Zivilgesellschaft ausloten und den Einfluss der ihr zugeschriebenen Handlungslogik auf die andersartigen Handlungslogiken von Ökonomie und Staat aufweisen. Als nächstes wäre der Kooperationsbereich zwischen Zivilgesellschaft und Staat abzustecken, damit z.B. machtvollen ökonomischen Interessen überhaupt wirksam entgegen getreten werden kann.
Der auf die Herstellung von Öffentlichkeit rekurrierende Habermassche „zivilgesellschaftliche Belagerungszustand“ wird nur dann von organisierten Interessen ernst genommen, wenn von ihm Konsequenzen für die Belagerten zu befürchten sind. Weder andeutungsweise noch explizit geben die Autoren über diese Zusammenhänge Auskunft. Wie mächtig muss die Zivilgesellschaft sein, damit sie überhaupt Verantwortung übernehmen kann? Dem Macht- und Einflusslosen Verantwortung für Dinge zu übertragen, auf die er keinerlei Zugriff hat, ist wenig sinnvoll und schon gar keine glaubwürdige Argumentation.


3. Die Suche nach Gemeinwohlbelangen – Macht- und Einflussunterschiede der involvierten Gruppeninteressen

„Bei Lichte besehen“, denkt Schuppert, stellt sich die „Suche nach dem Gemeinwohl“ als „Suche nach den das Gemeinwohl ausmachenden Gemeinwohlbelangen“ heraus (ebd., S.59). Damit meint er dem „sogenannten Gemeinwohldilemma zwischen einem inhaltlichen Definitionsverbot des Gemeinwohls auf der einen Seite und der maßstabslosen reinen Prozeduralisierung des Gemeinwohls auf der anderen Seite“ zu entkommen. Gemeinwohlbelange seien in ihrer Essenz an den Staat herangetragene anspruchsvollere Interessen, könnten wie jene identifiziert und gewichtet werden, „und zwar in einem dazu geeigneten Verfahren und von dafür gerüsteten Institutionen“. Die Verfassung halte genügend Hilfsmittel in der Identifizierung von Gemeinwohlbelangen bereit. Lägen die einzelnen Gemeinwohlbelange erst einmal als „Rohmaterial“ vor, so ginge es „um den Prozess der Verarbeitung dieser verschiedenen, unterschiedlich gewichteten Belange zu politischen Entscheidungen“. Dieser „Verarbeitungsprozess“ sei ein „Prozess der Abwägung“ und erfordere zweierlei:
Erstens müssten bestimmte Anforderungen „an das zu beobachtende Abwägungsverfahren“ gestellt werden, und zweitens wären bestimmte Anforderungen „an die Legitimation und die Struktur der die Abwägungsentscheidung verbindlich treffenden Instanzen zu formulieren.“ (ebd.S.60). In einem dritten Schritt werde es möglich, „bestimmte Gemeinwohlbelange bestimmten Institutionen zuzuordnen und diese zu Hütern, Wächtern oder Anwälten des Gemeinwohls zu machen“.
An diesem von Schuppert vorgeschlagenen Verfahren fällt als erstes auf, dass er staatlichen Organen zwar ein inhaltliches Definitionsverbot des Gemeinwohls auferlegt, aber in der Aufstellung von Prämissen zur Identifizierung, Durchleuchtung und Abwägung von Gemeinwohlbelangen dem Staat dennoch einen arbeitsteiligen Beitrag zur Findung des Gemeinwohls zusprechen möchte. Als Maßstab seines Handelns verweist er den Staat auf die Werteordnung des Grundgesetzes. Schuppert verneint deshalb zweitens die maßstablose Prozeduralisierung des Gemeinwohls. Hätte sich Schuppert auf ein striktes Definitionsverbot des Gemeinwohls durch den Staat festgelegt, wäre der Staat für ihn nichts anderes als ein am Fließband produzierender Verleiher des Siegels der Allgemeingültigkeit, und die an ihn herangetragenen Gemeinwohlbelange durchliefen die Gesetzgebungsorgane entweder entsprechend ihres Einreichungstermins oder in genauer Beachtung der Rangskala vom mächtigsten bis zum unbedeutendsten Antragsteller von Gemeinwohlbelangen.
Schupperts Dilemma beginnt exakt dort, wo er es am wenigsten vermutet. Die Identifizierung und Gewichtung von Gemeinwohlbelangen mittels der von der Verfassung zur Verfügung gestellten Hilfsmittel in den dafür gerüsteten Institutionen zeigt sich trotz aller von Schuppert angeführten Verfahrensregeln nicht in der Lage, Macht- und Einflussunterschiede der involvierten Gruppeninteressen auszuschalten. Zuvor hatte er bereits selbst darauf verwiesen, dass „hier und jetzt stattfindende Entscheidungsprozesse zur Bestimmung des Gemeinwohls weder herrschafts- noch interessenfrei sind und auch nicht sein können und es auch keinen Sinn macht, herrschafts- und interessenfreie Entscheidungssituationen zu postulieren“ (ebd.S.34). In die Identifizierung und Gewichtung der vorgetragenen Gemeinwohlbelange fließt also unabweislich die Rang- bzw. Hackordnung der gesellschaftlichen Kräfte ein, die Schuppert mit der Trennung von Gemeinwohlbelangen von ihren Absendern erreichen wollte. Je schwächer die Position des Staates gegenüber den gesellschaftlichen Kräften ist, desto ungenierter setzten sich die mächtigsten Vertreter von Gemeinwohlbelangen durch.
Bestes Beispiel war das zurückweichende und – im Namen der „Verhütung von Schlimmeren“ – unterwürfige Verhalten der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer bezüglich der medienwirksam vorgetragenen Forderungen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Die Schuppertschen Verfahrensregeln griffen einfach nicht. Der rot-grünen Regierung war ins Stammbuch zu schreiben, dass in Gesellschaften, in denen der Staat seine Macht aus einem fiktiven Gesellschaftsvertrag ableitet, Sozialstaatlichkeit – ganz anders als in Siedlungsgesellschaften – ein „Muss“ ist. Wer beispielsweise Löhne unter dem Existenzminimum zulässt, verstößt gegen das Sozialstaatsgebot und gefährdet außerdem die Erhaltung des sozialen Friedens, ganz abgesehen davon, dass er dem Steuerzahler eine zusätzliche Last aufbürdet.


4. Der schwache Staat als Folge entgrenzter Zirkulationssphären

4.1. Der schwache Staat

Auf der Skala staatlicher Eingriffe zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts stehen – wie bereits oben ausführlicher erwähnt – neben der Schlichtertätigkeit
  • das Offenhalten des Feldes der unendlichen Diskursivität,
  • die Unterstützung aufsteigender hegemonialer Formationen,
  • das Ausloten von Flexibilitätsspielräumen und -grenzen hegemonialer Formationen,
  • die Beobachtung und Justierung der Beziehungen von Hegemonisierenden und Hegemonisierten im Binnenverhältnis hegemonialer Formationen.
Gelingen diese Mindestanforderungen nicht mehr, beginnt der Zerfallsprozess des formlosen Gegenhalts, den die hegemonialen Formationen zusammen mit der Vielzahl der diskursiven Formationen bisher in ihren Praxen untereinander hergestellt haben und zur Eindämmung und allmählichen Überwindung des entstandenen Chaos ergreifen starke gesellschaftliche Kräfte vorrübergehend Staatsaufgaben, die sie bisher als ihnen wesensfremd abgelehnt haben. Das folgende Zitat zeigt auf, in welches Fahrwasser hegemoniale Formationen geraten, wenn sie in einer solchen tiefgreifenden Gesellschaftskrise an die Stelle des zerfallenden Staates (failed states) treten oder sich gezwungen sehen, für ihn zu handeln.
Am 14. Januar 2010 wehrte sich der Deutschland-Chef der US-Investmentbank Goldman Sachs, Alexander Dibelius, gegen direkte politische Einflussnahme auf das Bankgeschäft mit den Worten: „Banken, besonders private und börsennotierte Institute, haben keine Verpflichtung, das Gemeinwohl zu fördern“ (Tagesspiegel, 15.1. 2010). Es sei „unrealistisch“ und „unberechtigt“ zu erwarten, „dass Banken eine selbstlose Beziehung zu ihren Kunden haben …“(ebd.).
Gegen diese Auffassung des Deutschlands-Chefs einer der weltweit sehr einflussreichen US Bank ist auf dem ersten Blick nichts einzuwenden. Die Erhaltung des strukturierten Ganzen kann in Normalzeiten nicht das Anliegen der Praxis hegemonialer Formationen (hier des Finanzkapitals) sein, sondern im Vordergrund steht bei ihnen
  1. die aktive Ausformulierung und Gestaltung der ihnen zu Grunde liegenden hegemonialen Formationen einschließlich der ihnen immanenten Dynamik,
  2. der Ausbau und die Erhaltung des Terrains, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat, und der daraus unmittelbar folgenden Verwirklichung eines bestimmten Ensembles relativ stabiler sozialer Formen.
Der letzte Halbsatz hat zwar schon einen Bezug zum strukturierten Ganzen aber zielt vor allem auf das spezifische Terrain, auf dem sich die Praxis der hegemonialen Formation abspielt, und nimmt darüber hinaus auch die nähere Umgebung dieses Terrains ins Blickfeld. Die Verwirklichung dieses Ensembles relativ stabiler sozialer Formen geht jedoch nicht über einen Teilbereich des Gesamtgesellschaftlichen hinaus. Sie kann im Einklang mit dem Erfordernis der optimalen Ausgestaltung der Gesamtgesellschaft und dem darauf ausgerichteten Gemeinwohl stehen, aber ebenso kann sie auch diesem Endzweck widerstreben.
Die Gesamtgesellschaft ist, in anderen Worten gefasst, eine auf sich selbst und auf andere bezogene komplex strukturierte Zirkulationssphäre. Das Gemeinwohl dieser Gesellschaft ist auf die Zirkulation aller Teile dieses Ganzen in der Erwartung gerichtet, dass sie dem Gerechtigkeitsempfinden der Majorität der Gesellschaftsmitglieder entspricht. Die um Anerkennung als geltendes Gemeinwohl konkurrierenden verschiedenartigen Gemeinwohlansprüche kämpfen zwar auf der Ebene der Diskursivität um einen privilegierten Platz in der Hierarchie der zu berücksichtigenden Ansprüche, so dass dem von ihnen favorisierten Ensemble relativ stabiler sozialer Formen in der praktischen Ausgestaltung dieser Zirkulationssphäre größtmöglicher Einfluss zugestanden wird, aber sie sind außer in einer die Gesamtgesellschaft destabilisierenden Krise nicht gewillt, die ureignen Aufgaben des Staates für längere Zeit zu übernehmen bzw. ganz an die Stelle des Staates zu treten. Die Stellvertreterposition würde ihnen – nach ihren eigenen Worten – „Selbstlosigkeit“ im Handeln abverlangen, was sie strikt ablehnen. Eine solche Übernahme ist außerdem immer mit Kosten verbunden, die im Vorhinein nur unzulänglich kalkulierbar sind. Am Ende einer eventuell erforderlich werdenden Niederhaltung von Unruhen, Eindämmung chaotischer Entwicklungen und Zerschlagung von Aufständen stünde ihnen möglicherweise sogar die eigene Vernichtung bevor. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass hegemoniale Formationen zwar an einem schwachen Staat interessiert sind, aber die Erhaltung des formlosen Gegenhalts bürden sie ihm dennoch im wohlverstandenen eigenen Interesse allein auf. Daraus folgt, dass der Staat gegen seine Schwächung durch hegemoniale Formationen ankämpfen muss, um für den Fall der Gefährdung des formlosen Gegenhalts stets gerüstet zu sein.

4.2. Der schwache Staat als Resultat einer entgrenzten Zirkulationssphäre

Der Kosten-/Nutzenkatalog transnationaler Unternehmen und des weltweit agierenden Finanzkapitals umfasst u.a. folgende Kriterien:

Transnationale Unternehmen

  • Gewinnermittlung in der im Steuerparadies angesiedelten Holding,
  • Hauptsitz und Steuerungszentrale im Hochtechnologieland mit modernsten Kommunikationsnetzen und in Städten mit reichem Bildungs- und Kulturangebot,
  • hauptsitznahe Ansiedelung von entscheidungsrelevanten Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen (für alle anderen F&E-Bereiche hauptsitzfern in hoch subventions- und steuerlich begünstigten Standorten),
  • statt Eigenproduktion Auftragsvergabe an Zulieferunternehmen im Niedriglohnland mit geringen Steuersätzen sowie Aussonderung von Teilen der Verwaltung, des Vertriebs, der Absatzförderung und des Transports,
  • Druckausübung auf Staaten mit Produktionsstandorten des Unternehmens im Wettlauf um niedrige Abgaben und Unternehmenssteuern, höhere Subventionen für F&E-Investitionen, Abschreibungen für Verluste bei Auslandsinvestitionen und vergünstigte Steuern für Gewinnrückführungen aus dem Ausland,
  • Drängen auf Exportsubventionen,
  • Aushandlung von Festpreisen und Abnahmegarantien für militärische Produkte,
  • Bestehen auf Beschränkungen für gewerkschaftliche Aktivitäten bis hin zum Verbot von Gewerkschaften,
  • Eintreten für die Einschränkung von gesetzlichen Mindestlöhnen und die Unterlassung staatlicher Einmischung in den Abschluss von Arbeitsverträgen.

Finanzkapital

  • Erzielung von Gewinnen aus Kreditgeschäften aller Art bis hin zum Handel mit „faulen“ Krediten aus Hypothekengeschäften,
  • Spekulation auf steigende bzw. fallende Kurse/Preise für Währungen, Rohstoffe, Lebensmittel, Energie, Immobilien.
  • Wiederverkauf von Unternehmen nach der Einschleusung der aufgenommenen Ankaufkredite in die Unternehmensbilanz.
Vielfältig erprobtes Druckmittel für die Durchsetzung aller Kriterien ist stets die Androhung von Standortwechseln, das Verlassen der einen Zirkulationssphäre zugunsten der anderen, das wechselseitige Ausspielen ihrer Repräsentanten und die Warnung vor einer weiteren Entgrenzung der Zirkulationssphären, falls ein Entgegenkommen verweigert wird. Jüngstes Beispiel ist der Hinweis zweier us-amerikanischer Großbanken (JPMorgan und Goldman), den Londoner Finanzplatz zu verlassen, nachdem die britische Regierung per Gesetz die Begrenzung von Bonuszahlungen beschloss. „There is a limit to what banks will accept as the price of doing business in Europe’s premier financial center“, schrieb Landon Thomas Jr. in der International Herald Tribune, January 11, 2010. Peter Mandelson, einer der Architekten der unternehmensfreundlichen Politik von New Labour, die vor 13 Jahren Tony Blair zum Wahlsieg verhalf, warnte bereits vor der Gefahr der „punitive taxation“ (ebd.). Der Entgrenzung von Zirkulationssphären sind traditionelle Nationalstaaten zwar stärker ausgesetzt als Staaten, die in Großregionen wie der Europäischen Union zusammengeschlossen sind oder als Nationalstaaten bereits eine stattliche Größe besitzen, wie China, die USA, Indien, Russland, Brasilien, aber von solchen Maßnahmen bedroht sind im Prinzip alle Zirkulationssphären.

4.3. Deformationen in der Gemeinwohlbestimmung in entgrenzten Zirkulationssphären am Beispiel Großbritanniens

Als Folge der rigorosen neoliberalen Politik unter der Premierministerin Thatcher öffnete sich Großbritannien den global ausgelegten Aktivitäten des Finanzkapitals und den damit eng verbundenen Dienstleistungsbereichen. Thatcher unterstützte die Londoner City in ihrem Bestreben, zum zweitwichtigsten Finanzplatz nach der Wall Street in New York aufzusteigen und vernachlässigte statt dessen die traditionellen Industrien Großbritanniens sowie die darauf ausgerichtete bisherige Infrastruktur des Landes. Unter New Labour wurde die Entindustrialisierung des Vereinigten Königreichs fortgesetzt. An Stelle der Industrie entwickelten sich insbesondere die am Bankenplatz London abgewickelten Investmentgeschäfte zu einer unverzichtbaren Steuerneinnahmequelle des Staates. Die Labourregierung subventionierte mit den Steuereinnahmen aus der City ihre Sozialprogramme und Infrastrukturmaßnahmen, änderte aber die bevorzugte Position Londons gegenüber dem Rest Großbritanniens nur in Details. Vollständig aus dem Blickfeld der Labourregierung geriet für lange Zeit der gravierende Unterschied zwischen der breiten Rückendeckung des Finanzplatzes New York durch die us-amerikanische Volkswirtschaft und im Vergleich dazu die relativ isolierte Position der Londoner Banken infolge der schrumpfenden industriellen Basis Großbritanniens. Der Ausbau der bankennahen Dienstleistungsbranche als Ersatz für die Entindustrialisierung füllte den entstandenen Leerraum nicht aus und auf die Industrie Kontinentaleuropas konnte der Londoner Bankenplatz nicht zurückgreifen.
Die kontinentaleuropäischen EU-Mitglieder empfanden den Ausbau Londons zum zweitwichtigsten Finanzplatz der Welt sogar als Demonstration angloamerikanischer Hegemonie und das Vereinigte Königreich als Juniorpartner der USA, stets bereit, amerikanischen Interessen den Vorrang gegenüber den Interessen einräumen, die dem Königreich aus der Mitgliedschaft in der EU erwuchsen. Lediglich die kontinentaleuropäischen Investmentbanken benutzten und betrachteten London als ihren bevorzugten Handelsplatz, über den sie sich in die weltweiten Finanzströme einklinkten. Als Folge des engen Zusammenwirkens der beiden Finanzplätze New York und London richtete sich die britische Regierung in ihrer Politik immer mehr auf die USA aus, wurde zum Fremdkörper in der Europäischen Union und verlor allmählich die Restbestände ihrer Unabhängigkeit gegenüber den USA.
Die negativen Komponenten der schleichenden Ausrichtung des britischen Gemeinwohls auf die speziellen Gemeinwohlbelange der Londoner City blieben lange Zeit selbst der Labourregierung unbekannt. Sie pries sogar die Banken- und Dienstleistungswirtschaft Großbritanniens den kontinentaleuropäischen Mitgliedern der EU als nachahmenswertes Vorbild für eine Welt entgrenzter Zirkulationssphären an. Erst in der 2008 heraufziehenden Finanzkapitalkrise entdeckte sie die inzwischen entstandene Deformation der britischen Zirkulationssphäre und der parallel dazu formulierten grotesken Gemeinwohlvorstellung, die zwar den Interessen der Londoner City entsprach, aber nicht mehr dem Gemeinwohl einer intakten Volkswirtschaft sowie der gesamten britischen Gesellschaft.
Zwei Möglichkeiten stehen der britischen Regierung zur Verfügung, um den entstandenen Schaden zu reduzieren.
  1. Darauf zu hoffen, dass die Finanzkapitalkrise, von der die Realwirtschaft bereits massiv ergriffen worden ist, bald überwunden wird und der Londoner Bankenplatz seine alte Bedeutung in einer wiederbelebten anglo-amerikanischen Hegemonie zurückerhält.
  2. Umorientierung der Aktivitäten der Londoner City auf die Belange der Europäischen Union und Zusammenarbeit mit den übrigen europäischen Finanzplätzen.
Die jetzt schon vorzunehmende Prüfung von Gemeinwohlbelangen hängt von der Bevorzugung der ersten oder zweiten Handlungsalternative ab. Allem Anschein nach wird weder die gegenwärtige Labourregierung noch eine künftige Regierung der konservativen Partei von sich aus zur zweiten Alternative greifen. Transatlantiker auf beiden Seiten des Nordatlantischen Ozeans müssen sich ernsthaft fragen, ob ihnen angesichts der von den USA ausgegangenen und von Großbritannien mitverantworteten Finanzkrise eine Fortsetzung der anglo-amerikanischen Hegemonie lieber ist als eine strategische Partnerschaft zwischen den USA und der EU, in der dank der kontinentaleuropäischen Ausrichtung Großbritanniens die EU erstmals zu einem gleichgewichtigen Partner geworden ist.
______________
1 Eine ausführliche historische Analyse über den Wandel des Gemeinwohlgedankens im Mittelalter und der frühen Neuzeit würde den hier gegebenen Rahmen sprengen.

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1 Kommentar

    Autor

    Reinhard Hildebrandt

    Archive

    Februar 2016

    Textliste

    1. Der zerfallende Staat, hegemoniale Formationen und die„Global Governance“-Theorie
    2.
    Das drohende Ende der repräsentativen Demokratie
    3.
    Der gemeinwohlorientierte Staat

    4.Herausforderungen und Gefahren – die „deutsche Frage“ in internationaler und nationaler Hinsicht
    ​

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