Die Addition der (privaten) Eigenwohle ergibt nicht das Gemeinwohl. Die Gewährleistung des Gemeinwohls ist aber die Voraussetzung der Selbsterhaltung der Gesellschaft und der Staat ist der historisch gewachsene Akteur ihrer Sicherstellung. Nur der Staat kann die Grenzen ziehen, innerhalb derer das Gemeinwohl und damit die Selbsterhaltung der Gesellschaft gesichert bleibt. Je schwächer er wird, desto weniger ist er dazu in der Lage.
1. Die Entfaltung des Gemeinwohlgedankens 1.1. Begriffliche Klärung 1.1.1. Privat- versus Gemeinwohl Verhielte sich das Individuum theoriegetreu als „homo oeconomicus“, wäre das Eigenwohl auf abstrakte Weise als höchstmögliche Befriedung der Bedürfnisse und Streben nach vollendetem Dasein jedes einzelnen Individuums zu bestimmen. Die exakte Bestimmung des Eigen(Privat)wohls und dessen adäquate Erfüllung scheitert aber sowohl an der ihm fehlenden Einheit wie an der mangelhaften Transparenz. Warum ist das so? Begehrt das Individuum Gegenstände des Gebrauchs nicht nur ziellos, sondern bedient sich ihrer zugleich zur Förderung des eigenen Wohls, denkt und handelt es selbstbewusst. Sein Selbstbewusstsein ist das in der sinnlichen Wahrnehmung bewusst gewordene Andere, reflektiert in das anfangs leere, sich auffüllende und zum selbstbestimmt heranreifenden Sein. Das Selbstbewusstsein unterliegt als Folge des nicht abschaltbaren Stroms sinnlicher Eindrücke jedoch der beständigen Veränderung. Obwohl es die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen dem, was dem Privat- bzw. Eigenwohl nutzt oder schadet, durchaus erworben hat, widersprechen die Lebenspraxen der realen Individuen dennoch dem aus der Theorie abgeleiteten prognostizierten idealen Verlauf. Räumt man also der Theorie Vorrang gegenüber der empirischen Analyse der Lebenspraxen ein, müsste an die realen Individuen die unrealistische Aufforderung ergehen, sich in ihrer Lebensgestaltung an der abstrakten Theorie zu orientieren. Von Nutzen wäre ein solche Forderung nur für die Formulierung lebensferner Nutzentheorien, nicht jedoch für die Erfassung der realen Lebensverhältnisse. Vom Privat- bzw. Eigenwohl des einzelnen Individuums auf das Gesamtwohl der Gesellschaft schließen zu wollen, stößt auf weitere Hürden. So wenig wie es kein allgemeines Selbstbewusstsein gibt, sondern nur eine Vielzahl von besonderen, ist und bleibt das Wissen und die Einsicht über das Eigenwohl ebenfalls an einzelne Individuen gebunden. Von ihnen die Validität eines gesellschaftlichen Gesamtwohls abzuleiten, indem man die vielen besonderen Eigenwohle „addiert“ und das Ergebnis zum Gesamtwohl erklärt, muss scheitern. Als Resultat ist folglich zu konstatieren, dass in der Gesellschaft zwar eine Vielzahl besonderer Eigen- bzw. Privatwohle existiert, aber dass aus der Vielzahl nicht ein Gesamtwohl der Gesellschaft konstruierbar ist. An dem darin enthaltenden Grundproblem der Erkenntnistheorie hat sich bereits Emmanuel Kant abgearbeitet. Als Lösung böte sich zwar an, den Staat, der gegenüber der Gesellschaft als eigenständige Einheit auftritt und weder in ihrem Zentrum noch unter oder über, sondern neben ihr verortet werden muss, über das Gesamtwohl befinden zu lassen, aber seine Festlegung hätte bestenfalls Annäherungscharakter und wäre Anlass für konfliktreiche Auseinandersetzungen. Worüber der Staat letztlich nur entscheiden kann ist das Gemeinwohl der Gesellschaft. Der Begriff Gemeinwohl bezieht sich zwar auch auf die Gesamtgesellschaft, aber zielt auf den – durch Kompromiss zustande kommenden – gegenwärtigen wie künftigen Ausgleich zwischen kontrastierenden Ansprüchen verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und ist von normativer Natur. Konflikte entzünden sich vorrangig an der Gestaltung und Auswahl der Normen, erst nachrangig an den stets im Hintergrund präsenten gesellschaftlichen Machtverhältnissen. In diese spezifische gemeinwohlorientierte Form der Ausgestaltung des Wohls der Gesamtgesellschaft fließt als Basiskategorie auch die Selbsterhaltung der Gesellschaft ein; denn gelingt es nicht, den Ausgleich zwischen den kontrastierenden Ansprüchen verschiedener gesellschaftlicher Kräfte herzustellen, zerbricht die Gesellschaft an ihren eigenen Widersprüchen und löst sich auf. 1.1.2. Die „außergesellschaftliche Gemeinwohlbestimmung“ In der Selbsterhaltung von Gesellschaften steht dem instabilen formlosen Gegenhalt, den die Praxen hegemonialer (und diskursiver) Formationen aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehens- und Vergehenszeiten sowie ihres regelmäßig gewordenen Gegensatzes bilden, der Staat als institutionalisierte Kraft gegenüber. Zwar fehlt auch ihm – wie allen anderen Akteuren – der sichere Blick in die Zukunft, aber bereits gut erkennbaren Fehlentwicklungen kann er durchaus rechtzeitig entgegensteuern. Aus der umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zum Zwecke der Selbsterhaltung von Gesellschaften ragen folgende hervor, die auch unabhängig von der Entgrenzung der bisherigen Zirkulationssphären bestehen bleiben:
Bezieht er sich in der Gemeinwohlbestimmung ausschließlich auf seinen erfahrungsgesättigten Horizont, oktroyiert er der Gesellschaft seine Gemeinwohlvorstellung. Von der Schwäche oder Stärke der gesellschaftlichen Kräfte gegenüber dem Staat hängt ab, in welchem Ausmaß die staatliche Gemeinwohlfestlegung akzeptiert oder unterlaufen wird. Aber selbst im Falle ihrer widerspruchslosen Hinnahme ist nicht davon auszugehen, dass die staatlich verordnete „außergesellschaftliche Gemeinwohlbestimmung“ gesellschaftlich neutral konzipiert wurde und auf die Gesellschaft neutral wirkt. Denn der Staat steht zwar der Gesellschaft als besondere Einheit gegenüber, aber daraus abzuleiten, dass Legislative, Exekutive und Rechtsorgane den verschiedenartigen gesellschaftlichen Kräften neutral begegnen würden, wäre angesichts von Herkunft und Bildung der Staatsträger und der auf die drei staatlichen Gewalten unterschwellig oder direkt einwirkenden Einflussfaktoren realitätsfremd. Die an die staatlichen Organe zur Gemeinwohlfindung herangetragenen Interessen sind außerdem meist derart gegensätzlich ausgerichtet, dass im Hinblick auf eine gerechte Entscheidung unvermeidlich sehr oft eine Situation der Unentscheidbarkeit entsteht. Unter solchem Vorzeichen den „gordischen Knoten“ durchschlagen zu wollen bedeutet, parteiisch zu entscheiden und bewusst oder unbewusst sogar hegemonialen Bestrebungen einflussreicher gesellschaftlicher Kräfte Vorschub zu leisten. 1.2. Die historische Entfaltung des Gemeinwohlgedankens Zu welchem historischen Zeitpunkt und auf welcher Entwicklungsstufe der Menschen der Gemeinwohlgedanke aufkeimen konnte, erstmals eine Trennung vorgenommen wurde zwischen dem Wohl der Herrschenden einerseits und dem beide – Herrschende und Beherrschte – umfassenden Wohl der Gesamtheit andererseits, ist unbekannt. Solange das bloße Überleben die Lebenspraxis der Menschen beherrschte, hatte das Gemeinwohl keine Bedeutung. Das Streben nach einem „guten und richtigen Leben“ für den einzelnen und die Gesamtheit konnte sich erst auf einer sehr viel späteren Entwicklungsstufe der Menschheit entfalten. In der athenischen Gesellschaft erlangten z.B. nur wenige den Status, an der Polis auf der Seite der Herrschenden oder Beherrschten teilzunehmen. Nur den Privilegierten war die zeitaufwendige Teilnahme möglich, weil sie zugleich Haushalten vorstanden, in denen Sklaven und Frauen für das leibliche Wohl sorgten. Auf der Grundlage wechselseitiger moralischer Pflichten und Rechte konstituierten sie eine Gemeinschaft von Gleichen. Sie ermittelten im vernunftgeleiteten Informations- und Meinungsaustausch das Gemeinwohl und übertrugen den auf Zeit gewählten/-ernannten Regierenden dessen Umsetzung in die Praxis. Das Verhältnis zwischen Regierenden und der Gesamtheit der Regierten basierte weiterhin auf ihrer Gleichheit. Konnten Regierte nicht am Sitz der mit der Regierung beauftragten Personen anwesend sein, hatten sie weder die Möglichkeit, ihr Recht der Wahl zu den verschiedenen politischen Ämtern auszuüben, noch darauf zu bestehen, dass allen Berechtigten der tatsächliche Zugang zu allen öffentlichen Ämtern offen stand. Aus ihrer Abwesenheit erwuchs ihnen faktisch ein Statusunterschied zu den ortsansässigen Regierten und Regierenden. Unterhalb der Ebene des herrschaftsenthobenen Verhältnisses der Polis konstituierte sich das Herrschaftsverhältnis zwischen den einzelnen Haushaltsvorständen und ihren aushaltsvorsHaushaltsvorständen ihrenFrauen und Sklaven, die für die Reproduktion bzw. das leibliche Wohl der privilegierten Regierten wie Regierenden zuständig waren. Zwischen beiden Verhältnissen schien es – oberflächlich betrachtet – keinerlei Berührungspunkte zu geben. Rebellierten einzelne Frauen und Sklaven gegen ihre Herrscher, wurden sie bestraft und zur erneuten Unterordnung gezwungen. Kam es jedoch zu Sklavenaufständen, brach das wirtschaftliche Fundament für die Reproduktion der Privilegierten weg und die gesamte Existenz der Polis war gefährdet. Bei näherer Betrachtung hatte also das herrschaftsfreie Verhältnis der Privilegierten sein absolutes Gegenteil an sich und beide zueinander gegensätzlichen Verhältnisse ergänzten einander. Als gerecht angesehen wurde deshalb von den Athenern sowohl die Gleichheit der Gleichen wie die Ungleichheit der Ungleichen. Einer solchen unvollkommenen Gesellschaftsstruktur war unabänderlich die Spur der Endlichkeit eingezeichnet. Setzte man sich beispielsweise zum Ziel, in geeigneten Arrangements die Lebenszeit dieser endlichen Gesellschaftsstruktur voll auszuschöpfen, hätte man das in den Haushalten der Privilegierten vorherrschende Beherrschungsverhältnis als Bestandteil der Polisordnung anerkennen und auf institutionelle Weise das Wohlergehen der in Abhängigkeit gehaltenen Frauen und Sklaven in die Ermittlung des Gemeinwohls einfließen lassen müssen. Dass die Herrschenden diese Aufgabe nur unzulänglich wahrnahmen, zeigte sich an Sklavenaufständen und deren Niederschlagung. Aristoteles, Schüler von Platon, unterschied zwischen solchen Ordnungen, die auf das Gemeinwohl, und denen, die lediglich auf den Eigennutz der Regierungen ausgerichtet seien (Aristoteles, III 6, 1279 a 15-20). Als richtige Ordnungen bezeichnete Aristoteles die Monarchie, die Aristokratie und die Politie. Hingegen stelle die Tyrannis eine Entartung der Monarchie dar, da sie dem Eigennutz des Alleinherrschers diene. Die Oligarchie sei eine Entartung der Aristokratie und gereiche den Reichen zum alleinigen Vorteil. Die Demokratie betrachtete Aristoteles als Degeneration der Politie. Sie sei auf den alleinigen Nutzen der Armen ausgerichtet. Den Nutzen der Allgemeinheit beförderte keine der drei letzten Formen (ebd., III 7, 1279 b5). Die Realität zur Lebenszeit von Platon und Aristoteles war alles andere als gesellschaftlich ausgewogen. Beide Philosophen konfrontierten die Entartungen mit dem Ideal, was nicht hieß, dass ihre Vorstellungen „idealistisch“ waren. Zur Zeit von Aristoteles hatte die Arbeitsteilung unter den Menschen noch keine hoch komplexen und dynamisch sich verändernden gesellschaftliche Strukturen hervorgebracht, so dass aus der Zentralisation aller relevanten gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen beim Monarchen noch kein nennenswerter Nachteil für die Zukunft der Gesellschaft erwuchs. Aristoteles bezeichnete den Monarchen zwar noch nicht als „ersten Diener des Staates“, aber dass drastische Änderungen des Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnisses der Monarchie bevorstanden, wenn das Gemeinwohl an die Stelle des monarchischen Eigennutzes treten sollte, unterlag für ihn keinerlei Zweifel. Als ebenfalls notwendig empfand Aristoteles erhebliche Veränderungen in der aristokratischen Herrschaftsform, die zu seiner Zeit zur Oligarchie, d.h. zur zügellosen Vermehrung des Reichtums tendierte. Das Gespür für die Benachteiligten der Gesellschaft und deren Bedürfnisse war unter den Wenigen (Aristokratie) kaum entwickelt, weshalb immer wieder Unruhen entstanden. In Aristoteles Abwertung der Demokratie flossen seine Erfahrung mit Aufständen der Armen und Raubzügen benachteiligter Volksgruppen ein. Der Demokratie stellte Aristoteles die Politie gegenüber, in der unterschiedliche Gruppen zusammenleben und in der das Gemeinwohl auch die Bedürfnisse der kleineren Volksgruppen berücksichtigt. Die folgende Periode der Römer kannte ebenso wenig wie die Griechen das „Repräsentationsprinzip“. Trotz riesiger Ausdehnung des Reiches war die Anwesenheit am Regierungssitz immer noch eine unbedingte Voraussetzung für die Ausübung der Rechte als römischer Bürger. Obgleich jedoch „das Bürgerrecht der breiten Massen in dem Recht der Wahl zu den verschiedenen politischen Ämtern bestand“, existierte der „tatsächliche Zugang zu allen öffentlichen Ämtern praktisch nur für die Aristokratie“ (Ulrich K. Preuß, Citizenship und Gemeinwohl, in Gunnar Folke Shuppert/ Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch 2002, S. 277). Was Nichtanwesenden in der griechischen Polis widerfuhr, hatten im römischen Reich alle nicht zur Aristokratie zählenden Bürger zu ertragen. Theoretisch stand ihnen zwar die Wahl zu allen öffentlichen Ämtern zu, aber tatsächlich hatten sie sich der Herrschaft der Aristokraten – aus eigenem freien Antrieb oder widerwillig – unterzuordnen. Ulrich K. Preuß gleitet fahrlässig über diesen zweiten, neben dem Herrschaftsverhältnis zu den Sklaven bestehenden Statusunterschied zwischen Aristokraten und Bürgern hinweg und setzt diesen Statusunterschied unverständlicherweise mit der Repräsentation der nicht am Ort der Regierung anwesenden Bürger gleich. Für letztere wäre eine institutionell ausformulierte Repräsentation notwendig gewesen. Sie existierte aber nicht. Statt dessen hatten sich alle Nichtaristokraten und alle vor Ort nicht Anwesenden der angemaßten „Repräsentation“ durch die Aristokraten zu beugen bzw. deren Herrschaftsausübung zu fügen. Lediglich im Recht auf Haltung von Sklaven befanden sie sich auf gleicher Ebene wie die Aristokraten, denn ebenso wie die griechische Polis war auch die römische eine Sklavengesellschaft. Auf dem juristischen Auge blind für unterschwellige Herrschaftsverhältnisse konzediert Preuß den Römern sogar „Realismus“ in der „Dimension der Institution des Bürgers, die auf die Mitgliedschaft des Individuums in der Rechtsgemeinschaft der Römer abstellte“ (ebd. S.277). Nicht jeder „abgestellte“ Bürger Roms dürfte ihm zugestimmt haben. Anders als bei den Griechen enthielt der Bürgerstatus aber keinen unausgesprochenen Verweis mehr auf eine vorgängige Idee des Guten. (ebd. S. 271-294, 279/280). In den folgenden Jahrhunderten unterlag der Gemeinwohlgedanke einem weiteren steten Wandel. In dem Prinzip des Schutz- und Treueverhältnisses, das sich wie ein rotes Band durch das Lehnswesen der gesamten mittelalterlichen Zeit durchzieht, im Zusammenspiel von Zunft- und Patrizierordnung in den Städten zur Hochzeit des Mittelalters bestimmten vor allem die maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte seine Form. Im Absolutismus – besonders im aufgeklärten – und noch stärker im bürokratisch verfassten, über ein politisch wie wirtschaftlich begrenztes Territorium herrschenden Nationalstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hingegen beanspruchte der Staat die Alleinzuständigkeit in der Bestimmung des Gemeinwohls. Erst mit der Abstufung des Nationalstaats im Zeichen der Globalisierung gewannen vormalige Bestimmungsgründe wieder die Oberhand.[1] 2. Abkehr von der Prämisse eines „außergesellschaftlichen Gemeinwohls“ Gunnar Folke Schuppert unterscheidet mit Bezug auf die Gemeinwohlbestimmung vier Varianten des modernen Staatsverständnisses:
2.1. Der Verfassungsstaat Der Verfassungsstaat unterscheidet sich vom bürokratischen monarchisch-autoritären Staat des 19. Jahrhunderts insbesondere dadurch, dass er anders als jener die Pluralität der Gemeinwohle grundsätzlich anerkennt, aber Prämissen aufstellt, an denen die auf der Diskursebene und in der politischen Interessenartikulation miteinander konkurrierenden Gemeinwohlansprüche sich zu messen haben. Um in den Kreis der staatliche anerkannten Gemeinwohlansprüche zu gelangen, führt der Weg entweder über die Anpassung an die zuvor aufgestellten Prämissen oder über die Einflussnahme auf die Bestimmungsgründe für die Prämissen. Der Staat verzichtet aber sowohl in der Aufstellung von Prämissen wie in der Bewertung der unterschiedlichen Gemeinwohlansprüche nicht auf seine letztendliche Entscheidung. Im Unterschied zum vorherigen monarchisch-autoritären Staat, der selbstherrlich und oftmals aus uneinsehbaren Gründen entschied, unterliegt im Verfassungsstaat der gesamte Prozess der Entscheidungsfindung der öffentlichen Überprüfung anhand allgemein anerkannter Plausibilitätskriterien. Aufgrund ihres beibehaltenen Entscheidungsmonopols ist die staatliche Administration aber weiterhin hierarchisch strukturiert bzw. bleibt wie früher an der heiligen Ordnung (Hierarchie) der ehemals obrigkeitsstaatlichen Verwaltung orientiert. Dem Verlangen nach Öffnung für alle gesellschaftliche Strömungen bzw. Forderungen nach einer offenen Verwaltungsstruktur begegnen die Vertreter der überkommenen Hierarchie meist mit dem Verweis auf angebliche Effizienzkriterien und dem schlichten Hinweis auf die gültigen Bestimmungen der Verfassung, die man nicht leichtfertig infrage stellen dürfe. 2.2. Der kooperative Staat Der von Schuppert an zweiter Stelle genannte kooperative Staat entspricht der in der gesamtgesellschaftlichen Mächtehierarchie herabgestuften Position des heutigen Staates. Ein Staat, der Gemeinwohlpolitik durch Einbeziehung organisierter Interessen betreibt und durch ausgehandelte Vereinbarungen und Verträge implementiert, bestellt zwar „Hüter, Wächter und Anwälte des Gemeinwohls“ (Schuppert, Gunna Folke, Das Gemeinwohl, in: Schuppert, Gunnar Folke/Neidhardt, Friedhelm (Hg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch 2003, S. 51), von denen die Einhaltung der Vereinbarungen und Verträge kontrolliert wird, aber die aus der Machtdifferenz zwischen den organisierten Interessen erwachsenen Einflussunterschiede können sie nicht beseitigen. Sie müssen akzeptieren, dass die einen aufgrund ihres geringen gesellschaftlichen Stellenwerts vergebens auf Anhörung pochen, während die anderen lautlos, aber wirkungsvoll, Lobbyarbeit für und in den Ministerien sowie bei den Parlamentariern, aber auch in den Medien sowie in den politikberatenden wissenschaftlichen Instituten betreiben. Schuppert vertritt die nachvollziehbare Meinung, dass „hier und jetzt stattfindende Entscheidungsprozesse zur Bestimmung des Gemeinwohls weder herrschafts- noch interessenfrei sind und auch nicht sein könnten und es auch keinen Sinn mache, herrschafts- und interessenfreie Entscheidungssituationen zu postulieren“ (Schuppert, a.a.O. S.34). In der Tat, wenn staatliche Organe von Vertretern des organisierten Interesses durchsetzt sind, kann der von außen ausgehende Druck durch einen von innen ausgeübten verstärkt werden. Widerstand der gesetzgebenden und administrativen Staatsorgane gegen einen derartigen Zangengriff ist nahezu zwecklos; es sei denn, es ergibt sich der Zufall, dass sich die wechselseitigen Druckausübungen gegenseitig aufheben. In der Regel werden jedoch die mächtigsten organisierten Gruppeninteressen sowohl intern wie von außen angreifend die einflussreichsten sein, woraus folgt, dass der kooperative Staat in der Sortierung von und Festlegung auf dominierende Gemeinwohlbelange (Schuppert) gegenüber den organisierten Interessen nicht neutral ist. Daran ändert sich auch wenig, wenn Schuppert fordert, die „Entscheidungsprozesse so zu ordnen und zu institutionalisieren, dass Herrschaftsentscheidungen als legitim gelten können, indem die Verfassung selbst als Konsensdokument bestimmte Werte außer Streit stellt (Grimm 1990) und im davon abgrenzbaren Konfliktbereich (Fraenkel 1973) Verfahren bereit hält, die einen fairen Interessenausgleich zwar nicht im Detail gewährleisten, aber zumindest begünstigen.“ (ebd. S.34/35). Schupperts durchsichtiger Versuch, den durch Interessenmacht und -einfluss durchwirkten Fleckenteppich administrativer und gesetzgebender Staatsorgane auf der hohen Ebene der wertfundierten und auf reinen Interessenausgleich ausgerichteten Auseinandersetzung zu platzieren, ähnelt dem Auftragen „weißer Salbe“. In Einzelfällen mögen seine Bemerkungen sogar zutreffen, aber die Regel ist es nicht. Dennoch unterscheidet sich Schuppert positiv von Interpreten der Macht, die fälschlicherweise von der Entstehung einer „egalitären Volksvertretung“ auf eine allgemeine Nivellierung der Machtunterschiede schließen und nicht umgekehrt nach der vorgängigen Veränderung der gesellschaftlichen Machtverteilung fragen, die sich der „egalitären Volksvertretung“ als adäquates Versatzstück ihrer weit darüber hinausreichenden Machtausübung bedient. Jene verkennen in der Tat zweierlei:
2.3. Der Gewährleistungsstaat Wird der Staat entsprechend der Schuppertschen Typologie auf der nächst niedrigen Stufe nur noch als Gewährleistungsstaat definiert, der die Gemeinwohlsicherung arbeitsteilig zwischen staatlichen und privaten Trägern organisiert, kann er in dem einen Fall die Gewährleistungskompetenz ausschließlich staatlichen Stellen vorbehalten, sie im anderen Fall vollkommen in die Hände privater Träger legen und im dritten Fall als Regulierungsmix gemeinsam mit den privaten Trägeren ausüben. Überwiegen jedoch Formen der zweiten und dritten Kategorie, müsste daraus geschlossen werden, dass der Staat entweder privaten Trägern großes Vertrauen entgegenbringen kann oder dass seine Position gegenüber den in der Gesellschaft dominierenden Kräften bereits sehr schwach geworden ist. Unabhängig von der Wahl der Fälle kann die staatliche Bürokratie eines Gewährleistungsstaats obrigkeitsstaatlich organisiert sein oder sich durch eine für alle gesellschaftlichen Strömungen offene Verwaltungsstruktur auszeichnen. 2.4. Der aktivierende Staat Im aktivierenden Staat (vierter Staatstyp), in dem staatliche Aktivitäten der Funktionsfähigkeit einer vernetzten, selbstorganisierten Gesellschaft dienen und Gemeinwohlverantwortung als Aufgabe der organisierten Interessen angesehen wird, verzichtet der Staat auf jede eigene Steuerungskompetenz und unterstellt allen autonom handelnden gesellschaftlichen Kräften ein starkes Streben nach Selbstverwirklichung. Er verlässt sich darauf, dass die selbstorganisierte Gesellschaft genügend Ausgleichsmechanismen entwickelt hat, um sowohl in Zeiten des Wachstums wie des Rückgangs des gesellschaftlichen Gesamtprodukts alle Mitglieder der Gesellschaft auf eine ihnen angemessene Weise zu beteiligen und vertraut darauf, dass entstandene Marktungleichgewichte, durch die die optimale Funktionsfähigkeit der Gesellschaft vorübergehend beeinträchtigt wird, von den selbstreferentiell organisierten Gegenkräften in überschaubarer Zeit ausgeglichen werden kann. Für den Fall, dass eine optimale Markt- und Funktionsgerechtigkeit nicht umgehend wiederherzustellen ist, greift er „aktivierend“ den beeinträchtigten gesellschaftlichen Kräften unter die Arme, fördert ihre Eigeninitiative durch finanzielle und institutionell bereitgestellte Anreize und fordert ebenso von ihnen die Bereitschaft, sich selbst aktiv in den Anpassungsprozess einzubringen. Für den aktivierenden Staat sind nicht die zur Selbstheilung befähigten und gewillten Kräfte der Gesellschaft der Adressat staatlichen Eingreifens. Ihr Tun bedarf weder der staatlichen Fürsorge noch der staatlichen Sanktion. Vielmehr sind es vor allem die nach Hilfe rufenden Benachteiligten, die glauben, auf sich allein gestellt die notwendige Anpassungsleistung nicht mehr erbringen zu können, oder denen man berechtigter- oder unberechtigterweise unterstellt, dass sie gar nicht mehr die Bereitschaft dazu aufbringen. Wenn vom Staat allen autonom handelnden gesellschaftlichen Kräften ein gleich starkes Streben nach Selbstverwirklichung attestiert wird, ist die Versuchung groß, den gesellschaftlichen Erfolg zum Maßstab zu nehmen und beispielsweise die schlechter organisierbaren Interessen gegenüber den besser organisierten zu vernachlässigen. Der Schluss liegt dann nahe, das sich erstere eben nicht genügend angestrengt haben, um erfolgreich zu sein. Von den Erfolgreicheren, die sich selbst gern das Etikett des Leistungsträgers anheften, werden zur Stützung des eigenen Erfolgs sodann genügend Theorien angeboten, die den eigenen Erfolg rechtfertigen, den Erfolglosen Zielunsicherheit, mangelnde Strebsamkeit, Mutlosigkeit, Faulheit bis hin zu Pech und Schicksal zurechnen und in der Gesellschaft ein hohes Maß an Ungleichheit zum Motor jeglichen Fortschritts erklären. Setzt sich in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung die Deutungshoheit der Erfolgreichen durch und gewinnen deren Theorien die Diskurshoheit, fällt es dem aktivierenden Staat zunehmend schwer, nicht zum Steigbügelhalter der mächtigsten unter den organisierten Interessen zu werden. Er kann sogar zu ihrem „nützlichen Idioten“ werden, wie es der Finanzminister der Großen Koalition, Peer Steinbrück, in einer selbstironisch gemeinten, aber dennoch hellsichtigen Redewendung vor den im Berliner Kongresszentrum versammelten Bankern im November 2007 ausdrückte. Der lediglich aktivierende Staat läuft in der Tat Gefahr, seine Verpflichtung zu sozialstaatlichem Handeln verkümmern zu lassen und sich aus der umfassenden Verantwortung zu verabschieden, in die ein Staat, der seine Macht aus einem fiktiven Gesellschaftsvertrag ableitet, eingebunden ist und bleibt. Er gerät in Gefahr, auf die Erhaltung des sozialen Friedens – als minimal einzuhaltende Grenze staatlichen Handelns – zurückzufallen und mit allen verfügbaren Mitteln dafür einzutreten. Je mehr sich der lediglich aktivierende Staat in der Artikulation und Selektion von Gemeinwohlbelangen zurückhält, desto stärker trumpfen mächtige, durchaus netzartig verknüpfte organisierte Interessen auf. Wird durch ihre gesellschaftliche Praxis sogar der soziale Frieden gefährdet und gewalttätige Demonstrationen, Streiks und Terror breiten sich aus, erschallt unweigerlich der Ruf nach mehr polizeistaatlichen Reaktionen. Der Staat sieht sich dann gezwungen, im Sicherheitsbereich aufzurüsten und sich zunehmend im obrigkeitsstaatlichen Sinne zu äußern. Auf diesem Hintergrund ist die von Schuppert im Einklang mit Helmut K. Anheimer sowie Matthias Freise für den aktivierenden Staatstyp vorgeschlagene gesamte Zuschreibung der Gemeinwohlverantwortung auf die machtpolitisch gering organisierte Zivilgesellschaft überhaupt nicht nachvollziehbar. Sie entspricht nicht der tatsächlich vorfindbaren Machtverteilung zwischen den untereinander verknüpften organisierten Interessen auf der einen Seite und den relativ gering organisierten zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen andererseits. Wenn der Zivilgesellschaft schon die Verantwortung für das Gemeinwohl zufallen soll, müssten die Autoren zuerst das Machtpotential der Zivilgesellschaft ausloten und den Einfluss der ihr zugeschriebenen Handlungslogik auf die andersartigen Handlungslogiken von Ökonomie und Staat aufweisen. Als nächstes wäre der Kooperationsbereich zwischen Zivilgesellschaft und Staat abzustecken, damit z.B. machtvollen ökonomischen Interessen überhaupt wirksam entgegen getreten werden kann. Der auf die Herstellung von Öffentlichkeit rekurrierende Habermassche „zivilgesellschaftliche Belagerungszustand“ wird nur dann von organisierten Interessen ernst genommen, wenn von ihm Konsequenzen für die Belagerten zu befürchten sind. Weder andeutungsweise noch explizit geben die Autoren über diese Zusammenhänge Auskunft. Wie mächtig muss die Zivilgesellschaft sein, damit sie überhaupt Verantwortung übernehmen kann? Dem Macht- und Einflusslosen Verantwortung für Dinge zu übertragen, auf die er keinerlei Zugriff hat, ist wenig sinnvoll und schon gar keine glaubwürdige Argumentation. 3. Die Suche nach Gemeinwohlbelangen – Macht- und Einflussunterschiede der involvierten Gruppeninteressen „Bei Lichte besehen“, denkt Schuppert, stellt sich die „Suche nach dem Gemeinwohl“ als „Suche nach den das Gemeinwohl ausmachenden Gemeinwohlbelangen“ heraus (ebd., S.59). Damit meint er dem „sogenannten Gemeinwohldilemma zwischen einem inhaltlichen Definitionsverbot des Gemeinwohls auf der einen Seite und der maßstabslosen reinen Prozeduralisierung des Gemeinwohls auf der anderen Seite“ zu entkommen. Gemeinwohlbelange seien in ihrer Essenz an den Staat herangetragene anspruchsvollere Interessen, könnten wie jene identifiziert und gewichtet werden, „und zwar in einem dazu geeigneten Verfahren und von dafür gerüsteten Institutionen“. Die Verfassung halte genügend Hilfsmittel in der Identifizierung von Gemeinwohlbelangen bereit. Lägen die einzelnen Gemeinwohlbelange erst einmal als „Rohmaterial“ vor, so ginge es „um den Prozess der Verarbeitung dieser verschiedenen, unterschiedlich gewichteten Belange zu politischen Entscheidungen“. Dieser „Verarbeitungsprozess“ sei ein „Prozess der Abwägung“ und erfordere zweierlei: Erstens müssten bestimmte Anforderungen „an das zu beobachtende Abwägungsverfahren“ gestellt werden, und zweitens wären bestimmte Anforderungen „an die Legitimation und die Struktur der die Abwägungsentscheidung verbindlich treffenden Instanzen zu formulieren.“ (ebd.S.60). In einem dritten Schritt werde es möglich, „bestimmte Gemeinwohlbelange bestimmten Institutionen zuzuordnen und diese zu Hütern, Wächtern oder Anwälten des Gemeinwohls zu machen“. An diesem von Schuppert vorgeschlagenen Verfahren fällt als erstes auf, dass er staatlichen Organen zwar ein inhaltliches Definitionsverbot des Gemeinwohls auferlegt, aber in der Aufstellung von Prämissen zur Identifizierung, Durchleuchtung und Abwägung von Gemeinwohlbelangen dem Staat dennoch einen arbeitsteiligen Beitrag zur Findung des Gemeinwohls zusprechen möchte. Als Maßstab seines Handelns verweist er den Staat auf die Werteordnung des Grundgesetzes. Schuppert verneint deshalb zweitens die maßstablose Prozeduralisierung des Gemeinwohls. Hätte sich Schuppert auf ein striktes Definitionsverbot des Gemeinwohls durch den Staat festgelegt, wäre der Staat für ihn nichts anderes als ein am Fließband produzierender Verleiher des Siegels der Allgemeingültigkeit, und die an ihn herangetragenen Gemeinwohlbelange durchliefen die Gesetzgebungsorgane entweder entsprechend ihres Einreichungstermins oder in genauer Beachtung der Rangskala vom mächtigsten bis zum unbedeutendsten Antragsteller von Gemeinwohlbelangen. Schupperts Dilemma beginnt exakt dort, wo er es am wenigsten vermutet. Die Identifizierung und Gewichtung von Gemeinwohlbelangen mittels der von der Verfassung zur Verfügung gestellten Hilfsmittel in den dafür gerüsteten Institutionen zeigt sich trotz aller von Schuppert angeführten Verfahrensregeln nicht in der Lage, Macht- und Einflussunterschiede der involvierten Gruppeninteressen auszuschalten. Zuvor hatte er bereits selbst darauf verwiesen, dass „hier und jetzt stattfindende Entscheidungsprozesse zur Bestimmung des Gemeinwohls weder herrschafts- noch interessenfrei sind und auch nicht sein können und es auch keinen Sinn macht, herrschafts- und interessenfreie Entscheidungssituationen zu postulieren“ (ebd.S.34). In die Identifizierung und Gewichtung der vorgetragenen Gemeinwohlbelange fließt also unabweislich die Rang- bzw. Hackordnung der gesellschaftlichen Kräfte ein, die Schuppert mit der Trennung von Gemeinwohlbelangen von ihren Absendern erreichen wollte. Je schwächer die Position des Staates gegenüber den gesellschaftlichen Kräften ist, desto ungenierter setzten sich die mächtigsten Vertreter von Gemeinwohlbelangen durch. Bestes Beispiel war das zurückweichende und – im Namen der „Verhütung von Schlimmeren“ – unterwürfige Verhalten der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer bezüglich der medienwirksam vorgetragenen Forderungen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Die Schuppertschen Verfahrensregeln griffen einfach nicht. Der rot-grünen Regierung war ins Stammbuch zu schreiben, dass in Gesellschaften, in denen der Staat seine Macht aus einem fiktiven Gesellschaftsvertrag ableitet, Sozialstaatlichkeit – ganz anders als in Siedlungsgesellschaften – ein „Muss“ ist. Wer beispielsweise Löhne unter dem Existenzminimum zulässt, verstößt gegen das Sozialstaatsgebot und gefährdet außerdem die Erhaltung des sozialen Friedens, ganz abgesehen davon, dass er dem Steuerzahler eine zusätzliche Last aufbürdet. 4. Der schwache Staat als Folge entgrenzter Zirkulationssphären 4.1. Der schwache Staat Auf der Skala staatlicher Eingriffe zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts stehen – wie bereits oben ausführlicher erwähnt – neben der Schlichtertätigkeit
Am 14. Januar 2010 wehrte sich der Deutschland-Chef der US-Investmentbank Goldman Sachs, Alexander Dibelius, gegen direkte politische Einflussnahme auf das Bankgeschäft mit den Worten: „Banken, besonders private und börsennotierte Institute, haben keine Verpflichtung, das Gemeinwohl zu fördern“ (Tagesspiegel, 15.1. 2010). Es sei „unrealistisch“ und „unberechtigt“ zu erwarten, „dass Banken eine selbstlose Beziehung zu ihren Kunden haben …“(ebd.). Gegen diese Auffassung des Deutschlands-Chefs einer der weltweit sehr einflussreichen US Bank ist auf dem ersten Blick nichts einzuwenden. Die Erhaltung des strukturierten Ganzen kann in Normalzeiten nicht das Anliegen der Praxis hegemonialer Formationen (hier des Finanzkapitals) sein, sondern im Vordergrund steht bei ihnen
Die Gesamtgesellschaft ist, in anderen Worten gefasst, eine auf sich selbst und auf andere bezogene komplex strukturierte Zirkulationssphäre. Das Gemeinwohl dieser Gesellschaft ist auf die Zirkulation aller Teile dieses Ganzen in der Erwartung gerichtet, dass sie dem Gerechtigkeitsempfinden der Majorität der Gesellschaftsmitglieder entspricht. Die um Anerkennung als geltendes Gemeinwohl konkurrierenden verschiedenartigen Gemeinwohlansprüche kämpfen zwar auf der Ebene der Diskursivität um einen privilegierten Platz in der Hierarchie der zu berücksichtigenden Ansprüche, so dass dem von ihnen favorisierten Ensemble relativ stabiler sozialer Formen in der praktischen Ausgestaltung dieser Zirkulationssphäre größtmöglicher Einfluss zugestanden wird, aber sie sind außer in einer die Gesamtgesellschaft destabilisierenden Krise nicht gewillt, die ureignen Aufgaben des Staates für längere Zeit zu übernehmen bzw. ganz an die Stelle des Staates zu treten. Die Stellvertreterposition würde ihnen – nach ihren eigenen Worten – „Selbstlosigkeit“ im Handeln abverlangen, was sie strikt ablehnen. Eine solche Übernahme ist außerdem immer mit Kosten verbunden, die im Vorhinein nur unzulänglich kalkulierbar sind. Am Ende einer eventuell erforderlich werdenden Niederhaltung von Unruhen, Eindämmung chaotischer Entwicklungen und Zerschlagung von Aufständen stünde ihnen möglicherweise sogar die eigene Vernichtung bevor. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass hegemoniale Formationen zwar an einem schwachen Staat interessiert sind, aber die Erhaltung des formlosen Gegenhalts bürden sie ihm dennoch im wohlverstandenen eigenen Interesse allein auf. Daraus folgt, dass der Staat gegen seine Schwächung durch hegemoniale Formationen ankämpfen muss, um für den Fall der Gefährdung des formlosen Gegenhalts stets gerüstet zu sein. 4.2. Der schwache Staat als Resultat einer entgrenzten Zirkulationssphäre Der Kosten-/Nutzenkatalog transnationaler Unternehmen und des weltweit agierenden Finanzkapitals umfasst u.a. folgende Kriterien: Transnationale Unternehmen
Finanzkapital
4.3. Deformationen in der Gemeinwohlbestimmung in entgrenzten Zirkulationssphären am Beispiel Großbritanniens Als Folge der rigorosen neoliberalen Politik unter der Premierministerin Thatcher öffnete sich Großbritannien den global ausgelegten Aktivitäten des Finanzkapitals und den damit eng verbundenen Dienstleistungsbereichen. Thatcher unterstützte die Londoner City in ihrem Bestreben, zum zweitwichtigsten Finanzplatz nach der Wall Street in New York aufzusteigen und vernachlässigte statt dessen die traditionellen Industrien Großbritanniens sowie die darauf ausgerichtete bisherige Infrastruktur des Landes. Unter New Labour wurde die Entindustrialisierung des Vereinigten Königreichs fortgesetzt. An Stelle der Industrie entwickelten sich insbesondere die am Bankenplatz London abgewickelten Investmentgeschäfte zu einer unverzichtbaren Steuerneinnahmequelle des Staates. Die Labourregierung subventionierte mit den Steuereinnahmen aus der City ihre Sozialprogramme und Infrastrukturmaßnahmen, änderte aber die bevorzugte Position Londons gegenüber dem Rest Großbritanniens nur in Details. Vollständig aus dem Blickfeld der Labourregierung geriet für lange Zeit der gravierende Unterschied zwischen der breiten Rückendeckung des Finanzplatzes New York durch die us-amerikanische Volkswirtschaft und im Vergleich dazu die relativ isolierte Position der Londoner Banken infolge der schrumpfenden industriellen Basis Großbritanniens. Der Ausbau der bankennahen Dienstleistungsbranche als Ersatz für die Entindustrialisierung füllte den entstandenen Leerraum nicht aus und auf die Industrie Kontinentaleuropas konnte der Londoner Bankenplatz nicht zurückgreifen. Die kontinentaleuropäischen EU-Mitglieder empfanden den Ausbau Londons zum zweitwichtigsten Finanzplatz der Welt sogar als Demonstration angloamerikanischer Hegemonie und das Vereinigte Königreich als Juniorpartner der USA, stets bereit, amerikanischen Interessen den Vorrang gegenüber den Interessen einräumen, die dem Königreich aus der Mitgliedschaft in der EU erwuchsen. Lediglich die kontinentaleuropäischen Investmentbanken benutzten und betrachteten London als ihren bevorzugten Handelsplatz, über den sie sich in die weltweiten Finanzströme einklinkten. Als Folge des engen Zusammenwirkens der beiden Finanzplätze New York und London richtete sich die britische Regierung in ihrer Politik immer mehr auf die USA aus, wurde zum Fremdkörper in der Europäischen Union und verlor allmählich die Restbestände ihrer Unabhängigkeit gegenüber den USA. Die negativen Komponenten der schleichenden Ausrichtung des britischen Gemeinwohls auf die speziellen Gemeinwohlbelange der Londoner City blieben lange Zeit selbst der Labourregierung unbekannt. Sie pries sogar die Banken- und Dienstleistungswirtschaft Großbritanniens den kontinentaleuropäischen Mitgliedern der EU als nachahmenswertes Vorbild für eine Welt entgrenzter Zirkulationssphären an. Erst in der 2008 heraufziehenden Finanzkapitalkrise entdeckte sie die inzwischen entstandene Deformation der britischen Zirkulationssphäre und der parallel dazu formulierten grotesken Gemeinwohlvorstellung, die zwar den Interessen der Londoner City entsprach, aber nicht mehr dem Gemeinwohl einer intakten Volkswirtschaft sowie der gesamten britischen Gesellschaft. Zwei Möglichkeiten stehen der britischen Regierung zur Verfügung, um den entstandenen Schaden zu reduzieren.
______________ 1 Eine ausführliche historische Analyse über den Wandel des Gemeinwohlgedankens im Mittelalter und der frühen Neuzeit würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/45ee1221d2e643229b2d640334d3380c" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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