Der norwegische Friedensforscher Johan GALTUNG erweiterte 1969 die klassische Definition von “Gewalt” (violence) um das Konzept der “strukturellen Gewalt” (structural violence). In diesem Konzept wird nicht mehr nur das „destruktive Handeln eines Täters oder einer Tätergruppe“ behandelt, sondern die Form von Gewalt, die in der Gesellschaft systemisch wirkt und durch die menschliche Grundbedürfnisse in der Weise beschränkt werden, dass die potentielle Entfaltung der Individuen ein-geschränkt ist. Gewalt wird in dieser umfassenden Definition nicht mehr konkreten personalen Akteuren zugerechnet. Sie unterminiert anonym alle Werte, Normen, Institutionen, Diskurse sowie Prozesse, wodurch sich die Strukturen einer Gesellschaftsformation herausbilden.
Galtungs Ansatz, der sich am Ziel orientiert, strukturelle Gewalt insgesamt aus den Interaktionssystemen herauszunehmen, verdeckt mit seinem Vorgehen jedoch die Möglichkeit, aufzuzeigen, dass in jeder Gesellschaftsformation unabänderlich strukturelle Gewalt enthalten ist. Folglich muss analysiert, welches Maß an struktureller Gewalt das gesellschaftliche Ganze in seinem Fortbestand bedroht oder – im Gegenteil – sogar erhält. 1. Struktureller Gewalt hegemonialer Formationen Zunächst eine Definition zum Begriff „diskursive Formation“: Dies ist eine zuerst im wissenschaftlichen Betrieb entstandene spezifische Form des Denkens und Erarbeitens von Regelmäßigkeiten im analysierten Untersuchungsfeld, die später auch in der Rechtsprechung, der Ökonomie, der Verwaltung, der öffentlichen Diskussion Verbreitung findet. Andere Teilnehmer am Diskurs werden auffordert, ihre differierenden oder gleichgerichteten Positionen ebenfalls als diskursive Formation zu formulieren und der Diskussion zur Verfügung zu stellen. Die Existenz von Unterordnungsverhältnissen in einer Gesellschaft ist nicht gleichzusetzen mit der Anwesenheit von struktureller Gewalt. Wenn in Unterordnungsverhältnissen antagonistische Beziehungen werden, hat die unterordnende Seite die Möglichkeit, - entweder mit einer diskursiven Formation das bestehende Unterordnungsverhältnis zu rechtfertigen und gleichzeitig den Grund der Unzufriedenheit unter den Untergeordneten abzumildern bzw. ganz zu beseitigen, - oder strukturelle Gewalt zuzulassen, d.h. nur noch diskursive Formationen zu fördern, die ausschließlich der Konservierung der in Frage gestellten Unterordnungsverhältnisse dienen. Diese Reaktion ist die bevorzugte Verhaltensweise hegemonialer Formationen. Sie vermeiden entweder die direkte Auseinandersetzung mit der widersprechenden diskursiven Formation oder unterbrechen den demokratischen Diskurs vollständig. Alle am aktuellen Antagonismus unbeteiligte diskursive Formationen werden je nach Einschätzung des von ihnen möglicherweise ausgehenden Widerspruchpotentials als untergeordnete, zu unterdrückende, vernachlässigbare oder auf absehbare Zeit nicht zu beachtende Formationen behandelt. 2. Eingriffsrecht des Staates als Folge seines Gewaltmonopols zur Erhaltung des strukturierten Ganzen Was sich als "Gesellschaft" und "Staat" darstellt, ist ein vielgliedriges Ganzes, das sich im ständigen Aufbruch befindet. Es ist das sedimentierte Resultat widerstreitender einzelner wie assoziierter autonomer Einheiten. In ihrer wechselvollen Auseinandersetzung wachsen sie zu artikulatorischen und hegemonialen Formationen heran, die entsprechend ihrer je spezifischen Ausprägung zu unterschiedlichsten Praxen fähig sind. In einem derart formulierten strukturierten Ganzen kann der in der Selbsterhaltung des Ganzen tätige Staat weder als übergeordnetes Zentrum noch als zentraler Knoten-punkt des strukturierten Ganzen begriffen werden. In seiner Selbsterhaltungstätigkeit unterliegt er gleichfalls dem allgemeinen Horizont der Veränderung. Die Art und Weise, wie der Staat den Gegensatz zwischen seiner Selbsterhaltungstätigkeit und seinen übrigen Aktivitäten auf eine der aktuellen Struktur des Ganzen angemessene Form bringt, vollzieht sich ebenso wie der gesamte Transformationsprozess im Rahmen eines umfassenden Diskurses, in dessen einheitsstiftender Sicht sämtliche autonomen Einheiten lediglich als fragmentierte Elemente erscheinen. Zur umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zählen: – Unterstützung aufsteigender hegemonialer Formationen gegen bereits etablierte. – Ständiges Ausloten von Flexibilitätsspielräumen und -grenzen hegemonialer Formationen. – Schlichtertätigkeit (mit oder ohne Rückgriff auf das von ihm ausgeübte Gewaltmonopol). – Offenhalten des Feldes der unendlichen Diskursivität für die Aktivierung und Reaktivierung flottierender Elemente. Staatliche Eingriffsformen können jedoch nur dann wirksam werden, wenn der Staat seine Autonomie gegenüber den hegemonialen Formationen bewahrt hat. Er darf also weder institutionell noch personell zulassen, dass seine der Selbsterhaltung des strukturierten Ganzen dienenden Eingriffsmöglichkeiten mit den Handlungsmöglichkeiten hegemonialer Formationen verwechselbar werden oder austauschbar sind. Er wird dann entweder zu deren Anhängsel oder treibt an vorderster Stelle deren Unter-drückungspraxen voran. Im ersten Fall zeigt sich der Staat in seiner das strukturierte Ganze erhaltenden Tätigkeit hilflos gegenüber der strukturellen Gewalt, die von den hochrangigen hegemonialen Formationen ausgeht. Im zweiten Fall legitimiert er sie sogar, leugnet den Wechsel von Unterordnung zu Unterdrückung und ordnet selbst an, mit welchen Formen der physischen wie psychischen Gewalt die von der strukturellen Gewalt Unterdrückten im Zaume gehalten werden sollen. 3. Konservative Rechtfertigungsvarianten struktureller Gewalt 3.1 Die „Konservative Revolution“ Moeller van den Brucks (1923) Ausgangspunkt konservativer Rechtfertigung ist die Bestimmung der autonomen Einheiten, in die sich die zugrunde liegende Substanz des alles umfassenden Lebensstroms unmittelbar zerlegt. In dieser einfachsten Form des Lebendigen waltet nach den Worten Moeller van den Brucks etwas „Ewiges“, „das sich immer wieder herstellt und zu dem jede Entwicklung zurückkehren muss“. Als autonome Einheit mit „unveränderbarer Natur“ figuriert der Mensch; als Lebendiges ist er der Substanz entäußert, die ihm gegenüber eine „statische, von Menschenverstand unantastbare, wesenhafte Ordnung der Welt“ darstellt. Das Moment der „unveränderbaren Natur“ des Menschen ist für Hans Freyer (1926), der die “konservative Revolution von rechts” forderte, ohne das zweite Moment des „aktiven Nichts“, der vorwärtstreibenden Kraft, die ständige Wiederherstellung des Anfangszustandes in einem „reinen Prozess”, “die Überführung des Endlichen in Unendliches, sich stets Gleichbleibendes, Ewiges “, nicht zu denken. (zit. bei Herzinger, Richard, 1994: Das aktive Nichts – Die konservative Revolution und die deutsche Übermoderne, in: Frankfurter Rundschau, 12.2.94) Hans Freyer erweitert Möller van den Brucks Feststellung. Er propagiert einen vom menschlichen Geist verursachten Zerfall des ursprünglichen Gleichklangs zwischen der unveränderbaren Natur der autonomen Einheit (Mensch) und der statischen vom Menschen-verstand unantastbaren wesenhaften Ordnung der Welt, und unterstellt, dass eine Tendenz zur Rückkehr des verlorenen Idealzustandes erkennbar sei. Nachdem in der proletarischen Revolution des 19. Jahrhunderts die letzte ausgeschlossene Klasse (das Proletariat) in die Gesellschaft integriert wurde und der Kampf der Partialinter-essen in den Zwang zum Interessenausgleich umgeschlagen sei, wäre im Innern der nunmehr entstandenen „industriellen Gesellschaft“ das “Volk” als etwas Ganzheitliches heranwachsen. Dieses “organische Gebilde” Volk erklärt er zum „historischen Subjekt“ der „Revolution von rechts“. Es beantworte den Hochverrat des Geistes gegen das Leben durch den Hochverrat des Geistes gegen den Geist (Ernst Jünger) und führe die einstmals abgebrochene bzw. durch den Geist abgelenkte Entwicklung wieder zurück zum ursprünglichen Gleichklang. Laut Freyer ist das Volk der „Sinn, der in der Welt der industriellen Gesellschaft aufgeht, der lebendige Kern, um den die Mittel des industriellen Systems zum ersten Mal zu einer Welt zusammengefügt werden…“. Das Volk bringe in einer „totalen Revolution“ den „totalen Staat“ hervor, der sich „von der Gesellschaft emanzipiert“; und beide zusammen – das „Volk“ und sein „Staat“ – integrierten auf „organische“ Weise die technischen Möglichkeiten, die die industrielle Revolution hervorgebracht habe, und setzten sie zum ersten Male zum Wohle des Ganzen ein. Das Ideal der „organischen Gemeinschaft“ erscheint laut Freyer als das notwendige und unausweichliche Resultat der objektiven geschichtlichen Bewegung, fasst Richard Herzinger Freyers „Dynamismus“ kritisch zusammen (ebd.). Eine stärkere Rechtfertigung und Verherrlichung struktureller Gewalt scheint in der Tat kaum denkbar. In der zu Ende gehenden Weimarer Republik drängten jene Gedanken zur Tat. Der erbittert geführte Konkurrenzkampf diskursiver Formationen um Hegemonie, um die maßgebliche Gestaltung des strukturierten Ganzen, einschließlich des damit engstens verbundenen Konkurrenzkampfes zwischen den verschiedenen Universalitätsansprüchen um das herrschende Herrschafts- und Legitimationsprinzip, führte zum Ergebnis, dass die Praxis einer weit im rechten Spektrum angesiedelten hegemonialen Formation alle anderen zu dominieren vermochte. Aus der Sicht der siegreichen Formation - der NSDAP - schienen alle im Kampf Unterlegenen unterschiedslos dem Lager der Hegemonisierten anzugehören, obgleich bei realistischer Betrachtung einige der unterlegenen hegemonialen Formationen noch für einige Zeit im mehr oder weniger großem Umfang an der Herrschaftsarbeit beteiligt werden mussten. Auch der Staat wurde lediglich als Hilfsinstrument zur Verstärkung der höchstrangigen hegemonialen Praxis angesehen und an seiner angestammten Aufgabe gehindert, die Flexibilitätsmöglichkeiten aller um Hochrangigkeit konkurrierenden hegemonialen Praxen zum Zweck der optimalen Erhaltung des strukturierten Ganzen auszuloten. Schon in der Übergangszeit von der Demokratie zur absoluten Herrschaft der NSDAP gelang es dem Staat immer weniger, mit den an der Herrschaftsarbeit in zweit- und drittrangiger Position Beteiligten gemeinsame Äquivalenzketten zur Untergrabung der mit absolutem Führungsanspruch auftretenden hegemonialen Formation zu bilden und seinen Anspruch auf authentische Interpretation des Herrschafts- und Legitimationsprinzips zu behaupten. In einer von ihr als total bezeichneten Revolution ergriff schließlich die dominant auftretende hegemoniale Formation - die National-Sozialistische Deutsche Arbeiter-Partei - die absolute Herrschaft, errichtete unter ihrer Herrschaft den totalen Staat, brach jeglichen Widerstand mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und verlangte von allen Untergeordneten absoluten Gleichklang im Denken und Handeln. Die NSDAP täuschte gemäß Herbert Wehners Analyse des Nationalsozialismus aus dem Jahre 1942/43 bereits durch den Parteinamen vor, eine gelungene Synthese vorher einander in schärfster Gegnerschaft gegenüberstehenden Ideenströmungen zu sein (in: Die Zeit, 25.2.94). Als scheinbar Regelmäßigkeit in der Verstreuung schloss sie ganz verschiedene Elemente ein: Unter dem Begriff „national“ reihten sich jene diskursiven Formationen in die von ihr propagierte Äquivalenzenkette ein, die nach dem ersten Weltkrieg „die offene oder versteckte Feindschaft gegen die für einen friedlichen Aufbau sich einsetzenden politischen Richtungen als Kennzeichen nationalen Bewusstseins betrachteten“ (ebd.). Mit dem zugkräftigen Begriff „sozialistisch“, in Verbindung mit dem Begriff „national“, brachte sie flottierende Elemente hinter sich, die eigentlich der Arbeiterbewegung zuneigten, und schuf mit dem Begriff „Deutscher Sozialismus“ sogar für Teile des Mittelstandes und der Unternehmer Identifikationsmöglichkeiten. Das Wort „Deutsch“ nahm vor allem die außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschen in den Fokus und versuchte ein Wir-Gefühl auch unter parteiferneren Subjektpositionen zu erzeugen. Laut Wehner lag auf dem Wort „Arbeiter“ von Beginn an eine besondere Betonung. Die NSDAP sollte nicht irgendeine von vielen bürgerlichen Parteien sein, keine normale Wahlpartei, sondern eine „Arbeiter-Partei“, die auch vielen Versprengten und Enttäuschten des ersten Weltkrieges Halt bot und sie zu „Deutschen Arbeitern“ emporhob, die sich von den als vaterlandslos bezeichneten internationalen Arbeitern unterschieden. Mit dem Ausspruch „Sind wir nicht alle Arbeiter?“ rückte die Entfaltung eines neuen Menschentyps in den Blickpunkt, der in Ernst Jüngers 1932 erschienenen Schrift „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“ als Mischung von menschlichem Industrieroboter und hochtechnisiertem Krieger jenseits „bürgerlicher Freiheit“ eine neue Welt schaffen sollte, eine „organische Konstruktion“, in der Mensch und Technik wieder mit den ewigen Geboten des „Lebens“ verschmelzen würden (Richard Herzinger, ebd.). Das Wort „Partei“ im Namen der NSDAP zielte auf „Volksgemeinschaft“ und verharrte nicht bei der üblichen Bedeutung des Begriffes. In dieser Volksgemeinschaft sollte sich der einzelne nicht nur aufgehoben fühlen, sondern auch Schutz vor wieder aufflackernden Interessenkämpfen der Vergangenheit finden. Der Führer würde schon dafür sorgen, dass sich die Großen nicht über das „Volk“ erheben könnten, und aus dem Volk würden auf allen Ebenen der Massenbewegung viele kleine, Hitler treu ergebene Führer an der Herrschaftsarbeit aktiv Anteil nehmen. Die Reduzierung der autonomen Elemente zu Gliedern der Volksgemeinschaft, die das Recht des Einzelnen dem Machtwort des Führers unterordnete, löste die Universalität des Rechts als herrschendes Legitimationsprinzip ab und ordnete es dem blindem Vertrauen auf die Weisheit und Güte des Führers als der neuen Legitimationsgrundlage unter. Aus der anfangs viele Gesichter zeigenden, nach Hegemonie strebenden Praxis der NSDAP wurde so nach Ergreifung und Umformung der Staatsmacht die artikulatorische Praxis einer scheinbar absolut herrschenden Formation, in die sich die unterlegenen, an der Herrschaftsarbeit zunächst noch zu beteiligenden Formationen immer stärker einzubinden hatten und schließlich zur totalen Unterordnung gezwungen wurden: – die deutschnationalen Kreise um Hugenberg (aus Industrie und adeligem Großagrariertum); – Reichswehrgeneräle um General Schleicher; – Kaisertreue und einige Mitglieder des Hauses Hohenzollern; – Politiker und Einflusspersonen aus dem katholischen Zentrum. Die Verschmelzung von höchstrangiger Formation und Staat hatte jedoch zur Folge, dass deren Entstehens- und Vergehenszeit – auf „tausend“ Jahre angelegt und nach zwölf Jahren bereits an ihrem Endpunkt angelangt – vom strukturierten Ganzen als eigene Entstehens- und Vergehenszeit akzeptiert werden musste. Selbst nach dem Fall der NS-Herrschaft fand der Staatstheoretiker Carl Schmitt, der mittels seiner Ideen einer der (geistigen) Führer des Führers zu sein glaubte, keine Worte des Bedauerns oder gar des politischen Irrtums. Für ihn gab es das Ich, das verantwortlich sein könnte, nicht, oder es war unterwegs gestorben. Statt des zersplitternden Ichs verlangte es Schmitt nach der „reinen Identität“ seines „Selbst“, aus dem das verunreinigende „Andere“ ausgeschlossen ist. Nach dem gleichen Muster hatte die „reine Macht“ alles Heterogene auszuschließen. „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird“, schrieb er in seiner Abhandlung über die „Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“. Auf diesem Hintergrund verfasste er im „Glossarium“ folgende am 19. 11. 1947 formulierte Selbstentlastung: „Vor Gott ist alles Künftige schon gewesen und was uns als Gegenwart trifft, ist wie der Lichtstrahl eines entfernten Sternes, der längst erloschen ist. … So besteht die Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung darin, dass sie das, was wir als unsere Gegenwart empfinden, ignoriert. Als Gott zuließ, dass Hunderttausende Juden getötet wurden, sah er gleichzeitig schon die Rache, die sie an Deutschland nahmen, und was er heute mit den Rächern und Vergeltern sieht, werden die Menschen in einer unerwartet anderen Gegenwart erleben.“ (Thomas Assheuer, a.a.O.). 3.2 Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Volkssouveränität und Rechtsstaat zugunsten des Rechtsstaats Ganz allgemein gilt: Als erhaltenswert Angesehenes gegen die Zeit starr zu verteidigen, wirkt sich als strukturelle Gewalt aus und erzeugt Unterdrückung. Die von Hans Maier getroffene Unterscheidung des Staates zwischen Leistungsträger und Instrument der Daseinsvorsorge einerseits und dem Kernbereich (Frieden und Recht zu sichern) andererseits, ist nicht einfach eine wertneutrale Differenzierung des Komplexes „Staat“, sondern bereits vom Willen diktiert, das Ensemble sozialer und staatlicher Formen, das etablierten hegemonialen Formationen entstammt, im Namen von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu bewahren. Denn eine „Ordnung an sich“ gibt es nicht, und welcher Bereich des Chaos geordnet ist oder scheint, ist nicht dem Zufall überlassen. Die Aufforderung, Recht durchzusetzen, bedarf der Ergänzung durch die Frage nach dem Verhältnis zwischen der „Normativität des Rechts und seiner Zielrichtung und Angewiesenheit auf tatsächliche Geltung“ (Rainer Wahl, a.a.O.). Den indivi-duellen und gesellschaftlichen Schaden sowie die Verfolgungsbedürftigkeit von Ver-brechen wie z.B. bei Tötungsdelikten bestreitet niemand, aber es gibt auch eine Reihe von Verbrechen (u.a. Wirtschaftsdelikte), die allein deshalb weniger stark verfolgt wer-den können, weil gerade diese Strafverfolgungsbehörden personell und finanziell chronisch unterbesetzt sind. Eine unspezifische Aufforderung zur Verbrechensbekämpfung ist also wenig glaubwürdig. Als „altkonservatives“ Abfallprodukt bezeichnet Maier „Fremdheit gegenüber Pluralismus und Parteienregiment“. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte schon Max Weber gefordert, dass ein „charismatischer Führer“ notwendig sei, damit Demokratie gelingen könne. Politik werde nur von wenigen bestimmt, deshalb dürften Parteien nur nach der Art der Gefolgschaft organisiert werden. Adenauer, der die „Deutschen“ für demokratieunfähig hielt, glaubte, die Zeit bis zur Heranreifung eines demokratischen Bewusst-seins mit der „Kanzler-Demokratie“ überbrücken zu können. „Er rechnete bei der Mas-se der Bürger mit der freiwilligen Unterordnung unter die Führung der geistigen Elite bzw. der „Durchdrungenen“ (Botho Strauß). Maiers „aufgeklärter Konservatismus“ geht vor allem „pfleglich“ mit der Verfassungstradition um und betrachtet sie als das „notwendige Widerlager unserer Tageskämpfe und -aktionen. Sein Verfassungspatriotismus bezieht sich insbesondere auf die als Kernbereich bezeichneten „Freiheitstraditionen“ und deren jüngere und ältere Freiheitselemente, wie beispielsweise den „gemeinen Mann und seine Geschichte, landständische und frühparlamentarische Traditionen, die Hanse, das Bürgertum der Städte“ und die „spezifisch deutsche Tradition des Naturrechts und der Freiheits- und Menschenrechte“. Das Prinzip der Volkssouveränität, das alle Macht vom Volke ausgeht, betrachtet er im Spiegel dieser Freiheitstraditionen. Indem er diese Freiheitstraditionen zum Maßstab erklärte, interpretierten sie für ihn nicht mehr nur den Grundsatz der Volkssouveränität, sondern konnten auch Kommandogewalt über ihn erlangen (wie übrigens im Bundesverfassungsgerichtsurteil zum § 218 geschehen). In die gleiche Rich-tung zielt Maiers Empfehlung, zwar „nationales Pathos“ zu vermeiden, jedoch auf die Stärkung nationalen Zugehörigkeitsgefühls im Volk nicht zu verzichten und die zwischen den hochrangigen hegemonialen Formationen umkämpfte Definitionsmacht über dieses Identifizierungsan- und -gebot im konservativen Sinne zu nutzen. Maier unterscheidet die verschiedenen konservativen Strömungen danach, ob sie etablierte Rechte und Vorrechte entweder in starrer Verteidigung oder beweglicher Anpassung – gegen die Zeit oder im Einklang mit ihr – erhalten wollen. 3.3 Die Machttheorie Niklas Luhmanns Mit dem Zeitkriterium spricht Hans Meier einen Aspekt struktureller Gewalt an, der insbesondere bei Niklas Luhmanns „Recht der Gesellschaft“ starke Beachtung findet und den unauslöschbaren Keim struktureller Gewalt freilegt. Im Zustand grenzenloser Flexibilität im Verhältnis zwischen Hegemonisierenden und Hegemonisierten gleichen sich die Erwartungen beider Seiten stets ohne Zeitverzug aus und erzeugen friedvolle Unter- und Überordnung. Wenn z.B. bei Hegel das Maß der vom Herrn geforderten Unterordnung unter seine Anweisungen mit dem Maß an Dienst(-bereitschaft) des Knechts für alle denkbaren Zustände deckungsgleich ist und das Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht mit dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn stets übereinstimmt, ist jegliche Unterdrückung und damit jegliche strukturelle Gewalt ausgeschlossen. Antagonistische diskursive Formationen erhalten dann keinerlei Realisierungschancen. Ein vollständiger Ausgleich tritt auch dann ein, wenn vormals Hegemonisierende und Hegemonisierte gemeinsam zunehmend Unwillen und Unfähigkeit zur Entfaltung von Macht entwickeln. Eine solche, in vielen Endzeitentwürfen und Utopien vorweggenommene herrschaftslose Zeit kennt selbstverständlich auch keine strukturelle Gewalt. Da es aber sowohl den Zustand unendlicher Flexibilität wie den des Ausschlusses jeglicher Fremdbestimmung gegenwärtig nicht gibt – und vielleicht auch nie geben wird – ist mit der Ausprägung struktureller Gewalt zu rechnen. Strukturelle Gewalt ist für Luhmann kein ernst zu nehmender Begriff. Macht entsteht laut Luhmann im Gefolge von „Interaktionskonstellationen“ (Luhmann, 1988: Macht, S.14). Als reines Spiel mit verteilten und vom Auftraggeber finanzierten Rollen dient die Verdoppelung ausschließlich dem Machterhalt. Die Zeit „fungiert“ erst dann „struktur-gebend“, wenn sich progressive und konservative Kräfte periodisch ablösen können (in einer parlamentarischen Demokratie u.a. durch Wahlen oder durch Richtungs-kämpfe innerhalb der regierenden Partei[en]). Luhmanns Ausführungen zur struktur-gebenden Funktion der Zeit gelten unmittelbar für das Bemühen hochrangiger hege-monialer Formationen um die Schaffung eines ihnen adäquaten Ensembles sozialer und staatlicher Formen, in dem ihre „Zukunftsprojektionen“ rechtsverbindlich geworden sind und die der anderen Unrecht. Der Keim zu struktureller Gewalt ist damit gelegt. Er nimmt aber erst konkrete Formen an, wenn etablierte Rechte und Vorrechte in starrer Verteidigung gegen die Zeit bzw. gegen das Aufbegehren der sich unter-drückt fühlenden Hegemonisierten erhalten werden.“ (ebd. S.14). 4. Die sozialpolitische Diskussion unter der Bedingung der Globalisierung Hans-Olaf Henkel, ehemaliger Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, warnte im Tagesspiegel vom 12. 2. 1995: "Die sozialpolitische Diskussion gerät zunehmend in eine Schieflage." Es werde zu viel darüber nachgedacht, wie das Sozialprodukt gerecht verteilt werden könne, und zu wenig, wie das Sozialprodukt zu vermehren sei. Er forderte: "Zukünftig darf nicht das Aufteilen, sondern muss das Backen eines größeren Kuchens das erste Ziel verantwortlicher Politik sein". Für ihn wie für seine Mitstreiter wie z.B. Hilmar Kopper (damaliger Chef der Deutschen Bank) oder Klaus Murmann (damaliger Präsident des Bundesverbandes der Arbeitgeber) war die Staatsquote sowie die Abgabenquote zu hoch, die Sozialausgaben über-stiegen die Investitionen und insgesamt waren die Ausgaben für soziale Zwecke auf unverantwortliche drei Prozent des Bruttosozialprodukts angestiegen. Alle Forderungen wurden in folgende Formulierungen verpackt: Das soziale Netz müsse an die enger gewordenen Finanzspielräume angepasst und grundsätzlich umorientiert werden. Leitgedanke müsse die Stärkung der Eigenverantwortung und Eigenvorsorge der Bürger sein, was in der Konsequenz hieße, soziale Leistungen abzubauen. Man brauche wieder mehr Markt und mehr Wettbewerb. Hinter diesen Forderungen stand das Verlangen, die im strukturierten Ganzen als hochrangig geltenden hegemonialen Formationen gegenüber den niederrangigen zu stärken. Andernfalls drohe der Zerfall der gesellschaftlichen Fundamente. André Leysen (früheres Verwaltungsratsmitglied der Treuhandanstalt) wandelte auf einer Tagung im März 1995 die seit der Französischen Revolution gültige Resolution von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" in „Freiheit, Gleichheit, Bezahlbarkeit" um. Alle Aussagen zusammen liefen darauf hinaus, dass Unternehmensvertreter vom Staat die Zulassung eines höheren Maßes an struktureller Gewalt in der Erhaltung des sozialen Friedens erwarteten und staatliche Tätigkeit zur Erhaltung des strukturierten Ganzen vor allem dazu dienen sollte, die Entwicklung hochrangiger hegemonialer Formationen zu fördern. Der Staat befand sich an der Wegscheidung, – entweder die Erhaltung des strukturierten Ganzen mit dem Wohlergehen der welt-weit tätigen hegemonialen Formationen gleichzusetzen und die Lebensdauer des strukturierten Ganzen deren Lebenserwartung unterzuordnen, – oder die Grenzen des strukturierten Ganzen weiter als die der Nationalstaaten zu ziehen. Im ersten Fall würde der Staat seine Autonomie gegenüber den hegemonialen Formationen verlieren: d.h. der von jenen ausgehenden strukturellen Gewalt hilflos zu folgen (statt sie auf ein Minimum zu begrenzen) und alle Formen struktureller Gewalt zu legitimieren, den Wechsel von Unterordnung zu Unterdrückung zu leugnen, selbst anzuordnen, welche Formen der physischen und psychischen Gewalt angewendet werden sollen, um Hegemonisierte unter Druck zu halten. In beiden Versionen hätte er den hegemonialen Formationen nichts mehr entgegenzusetzen und das strukturierte Ganze würde mit ihnen, z.B. in einer umfassenden Finanzkrise, untergehen. Im zweiten Fall müssten hegemoniale Formationen auf dem Felde der Diskursivität Formationen entfalten, die einen Staat propagieren und institutionalisieren, der die Grenzen des neuen strukturierten Ganzen auszufüllen vermag. Die Autonomie dieses Staates wäre dann von ihnen als unantastbar zu betrachten, und wie alle übrigen vereinzelten oder assoziierten autonomen Einheiten müssten sie sich in ihrer Tätigkeit zur Erhaltung des strukturierten Ganzen diesem Staat beugen, was im Falle der Europäischen Union zwar zunächst geschah, aber in jüngster Zeit zunehmend in Frage gestellt wird, wie z.B. in der Entscheidung Großbritanniens, aus der EU aus-zutreten sowie dem Verlangen einzelner osteuropäischer Mitgliedsstaaten, die bisherige, für alle EU-Staaten in gleicher Weise geltende balancierte Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative zugunsten der Legislative neu zu justieren. In den 2000er Jahren standen beide Optionen auf der Tagesordnung. Auf dem EU-Gipfel von Lissabon wurde eine Strategie entworfen, die EU zum wettbewerbs-fähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Innovation und soziale Kohäsion sollten zu Motoren dieser Strategie werden. Zur wirksamen Umsetzung hätte es weiterer suprastaatlicher Institutionen bedurft. Genau dies geschah aber nicht. Jeder Versuch, die Einrichtung solcher Institutionen voranzutreiben, scheiterte. Dem Interesse, vorrangig das Wohlergehen der weltweit tätigen hegemonialen Formationen in den Blick zu nehmen, diente die Realisierung neo-liberaler Wirtschaftsmodelle. So propagierte 1997 der britische Premierminister Tony Blair als erster das Konzept „New Labour“. Die deutsche Bundesregierung unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD) orientierte sich mit der Agenda 2010 an diesem Konzept und leitete ab 2003 einen grundlegenden Umbau des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes ein. In der Folgezeit entwickelte sich die Bundesrepublik Deutschland zwar zum Exportweltmeister und konnte mit immer niedrigeren Arbeitslosenzahlen aufwarten, aber bestieg im Bereich des Billiglohnsektors sowie bei prekär Beschäftigten einen der vorderen Plätze in der EU. 4.1 Hegemoniale Formationen mit durchschlagender Wirkung: die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft Im höchsten Maße schockiert über diese in der deutschen Bevölkerung weit verbreitete und von der ab 1998 regierenden neuen sozialdemokratisch-grünen Regierung bekundeten Ablehnung gegenüber der „new economy“ gründete im Oktober 2000 der Arbeitgeberverband Gesamtmetall die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). Bereits 1998 hatten der Chef der Deutschen Bank, Breuer, und der ehemalige Bundesbankdirektor Tietmeyer der neuen Regierung verdeutlicht, dass sie in Zukunft die Herrschaft des Finanzkapitals zu akzeptieren hätten. Bald nach der Regierungsübernahme zeichnete sich unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die Ab-kehr von der zunächst zivilgesellschaftlich orientierten Politik ab. Die Strategie gegen den Neoliberalismus wandelte sich zum hinhaltenden Widerstand gegenüber der von der INSM nachdrücklich geforderten Anpassung an die Vorgaben aus den USA. Nach dem Rezept, „Schlimmeres verhüten zu wollen“, reduzierte man den zivilgesellschaft-lichen Diskurs auf die Forderung nach „mehr Eigenverantwortung für das Individuum“ und kam damit bereits dem Forderungskatalog der INSM entgegen. Der einflussreiche und sehr bekannte deutsche Unternehmensberater Roland Berger und der Vorsitzen-de der Altana AG, Dr. Nikolaus Schweikart, beide „Botschafter“ der INSM, berieten Bundeskanzler Schröder in Wirtschaftsfragen. Sie handelten nach der Devise von Hans Werner Busch: „Die Notwendigkeit von Reformen in die Köpfe der Bürger … bringen, sie darüber … informieren, was aus unserer Sicht notwendig ist.“ (Dr. Hans Werner Busch, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, in einem Interview vom 24.05.04). Hielt sich die Initiative noch strikt an das Ziel, den Hauptvertreter der antagonistischen diskursiven Formation, die Gewerkschaften, nicht direkt anzugreifen und statt dessen auf den Feldern des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats mit dem Slogan „Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft“ neue Zeichen zu setzen, gerieten die Gewerkschaften mit der rot-grünen Regierung in eine kaum noch zu überbrückende Konfrontation. Als nach dem Wirksamwerden der Hartz-Gesetze im Jahre 2005 die Montagsdemonstrationen aus der Wendezeit 1989/90 wieder auflebten und neue diskursive Formationen der unzufriedenen Bevölkerung eine adäquate Sprache verliehen, sah sich die rot-grüne Regierung einer schwierigen Situation ausgesetzt, vergleichbar mit derjenigen der konservativen französischen Regierung nach der vollständigen Aufhebung der Kündigungsfristen für Berufsanfänger im Jahre 2006. Während jedoch der Sozialabbau in Frankreich auf massive Proteste der Studenten, arbeitslosen Jugendlichen, Gewerkschaften und linken Politiker stieß, denen sich die Regierung beugen und das Gesetz zum völligen Abbau des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger zurückziehen musste, gelang es der rot-grünen Regierung unter starkem Medieneinsatz die Montagsdemonstranten zu isolieren und den Protestaktionen die Stoßkraft zu nehmen. Statt verschärfter Straßenproteste mit angezündeten Autos und Barrikadenkämpfen wie in Frankreich verbreitete sich in der deutschen Bevölkerung eine Stimmung, in der die sozialstaatsfeindlichen Maßnahmen hingenommen wurden und in der zunehmende Motivationsverlust bei Langzeitarbeitslosen und Lernverweigerung bei chancenlos gewordenen Hauptschülern zu beklagen war. In beiden Gesellschaften hatten staatliche Administrationen versucht, der Gefährdung des formlosen Gegenhalts bzw. des gesellschaftlichen Zusammenhalts Einhalt zu gebieten. In Frankreich führten die lautstarken und gewalttätigen Proteste zum Rückzug der Regierung, während in Deutschland sowohl die von den Maßnahmen unmittelbar betroffene Bevölkerung wie die zunächst noch verschonte Mittelschicht der inneren Immigration verfielen. „Millionen Bürger verlieren das Vertrauen in die Demokratie“, urteilte Harald Schumann bereits vor den Bundestagswahlen im Februar 2005, „weil sie sehen, dass gewählte Politiker die Gewinne der ‚Reformen‘ nur den Privilegierten zuschanzen, während alle anderen draufzahlen. Die wachsende Wahlverweigerung und der Mitgliederverlust sind ein untrügliches Zeichen.“ (Tagesspiegel, 03.02.05). In den Wahlen avancierte die Partei der Nichtwähler zur „mitgliederstärksten Partei“, hinter der sich die beiden „Volksparteien“ und die kleineren Parteien einzureihen hatten. In der Wahlenthaltung zeigte sich, dass, anders als im Nachbarland Frankreich, zwar nicht sofort mit Unruhen gerechnet werden musste, wenn die Regierung zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts den Forderungen einer hegemonialen Formation sehr weit entgegenkam. Aber mit der zunehmenden gesellschaftlichen Passivität und politischen Abstinenz großer Bevölkerungsteile wurde eine für die Erhaltung der Demokratie negative Entwicklung in Gang gesetzt, die in der Gegenwart die Wähler zur mehr als zehnprozentigen Unterstützung der rechtspopulistischen Partei „Alternative für Deutschland“ (AFD) in mehreren Landtagswahlen und in der letzten Bundestagswahl geführt hat. Unübersehbar hatte sich auch die ökonomische Situation zum Nachteil der INSM verändert. Früher als von der INSM angenommen, verkehrten sich die Investitions-ströme. Wenn Unternehmen Produktionsverlagerungen in kostengünstige Produktionsorte vornahmen, kam nach einiger Zeit die Frage auf sie zu, ob sie aus dem bisherigen Markt völlig verschwinden und die gesamte Produktion ins kosten-günstigere Ausland verlegen oder ob sie nach einer Phase zurückgefahrener Investitionen erneut in ihren angestammten Produktionsstätten investieren sollten, um z.B. das technische Niveau zwischen ausgelagerten und angestammten Produktionsbetrieben nicht zu weit auseinander klaffen zu lassen. Sofern bestimmte Produktionsprozesse nicht ausgelagert werden konnten und in den Stammbetrieben verblieben, waren solche Angleichungsprozesse unausweichlich. Tatsächlich wurden in vielen bundesdeutschen Produktionsstätten wieder Investitionen vorgenommen und die Beschaffungsaufträge bei den traditionellen Lieferanten der Stammbetriebe verursachten dort eine steigende Nachfrage. Der Lebenszyklus hegemonialer Formationen unterliegt dem ihnen ureigenen Entstehens- und Vergehensprozessen. Ihnen ist als endliche Struktur die Spur der Vergänglichkeit eingezeichnet. Aus der Sicht der Initiatoren hat die hegemoniale Formation dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn es ihrer hegemonialen Praxis gelungen ist, die auf dem Felde der Diskursivität formulierten Ziele, Strategien und Taktiken optimal umzusetzen. Aber für die Akteure ist weder die Diskrepanz zwischen der Fülle der möglichen Alternativen und der begrenzten Anzahl der von ihnen erkannten noch die mögliche Vielzahl von Arrangements, die das strukturierte Ganze anbietet, ersichtlich, noch die Nähe zur nicht entdeckbaren Spur der Vergänglichkeit. Selbst die fürstlichste finanzielle und intellektuelle Ausstattung vermag diesen Mangel nicht auszuschalten, der sich außerdem in der Entscheidungs-findung erschwerend als Mangel an verfügbarer Zeit zeigt. Die Vehemenz, mit der Befürworter der INSM auf der einen Seite und Anhänger der Kaufkrafttheorie auf der anderen Seite immer wieder aufeinandergeprallten, zeugte von einer tiefgreifenden Differenz in der Ausgestaltung der Gesellschaftsstruktur, der Positionierung des Individuums in ihr und der Hinnahme von struktureller Gewalt. Oberflächlich betrachtet stritten die Vertreter der Freiheit des Marktes gegen die Befürworter von staatlichem Dirigismus, Neoklassiker gegen Keynesianer, Verteidiger der Freiheit des Individuums gegen Behüter des Individuums, Propagandisten der Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung durch das Individuum gegen die Beschützer der Nichtprivilegierten, Leistungsträger gegen Leistungsempfänger, Globalisierungsbefürworter gegen Globalisierungsgegner. Im Kern stritt man sich jedoch um die folgenden zwei Fragen: 1. Wieviel strukturelle Gewalt kann im Namen der Machterhaltung und -ausdehnung von den Privilegierten gegen die Nichtprivilegierten der Gesellschaft in Stellung gebracht werden, ohne dass von letzteren bereits der soziale Frieden und damit die demokratische Struktur in Frage gestellt wird? 2. Welche Aufgabe übernimmt der Staat in dieser Auseinandersetzung? Welcher der beiden Seiten dient er mehr? Kann er sich in der Erhaltung des formlosen Gegenhalts gegenüber beiden Seiten neutral verhalten? Viele osteuropäische Staaten, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts der EU angeschlossen hatten, gerieten mit – geringer Aussicht auf die Entwicklung einer eigenständigen Industriestruktur – als verlängerte Werkbänke völlig ungeschützt in den Sog der neoliberalen Welle. Auch südeuropäische Staaten, allen voran Griechenland, unterlagen dem Zugzwang „reformwilliger“ EU-Länder, die ihnen harsche Konditionen zum Abbau ihrer Staatsschulden (vor allem die Rückzahlung bei privaten Banken aufgenommener Kredite) diktierten. Harte Einschnitte in die Sozialgesetzgebung führten zu stark steigender Arbeitslosigkeit und hohen Abwanderungsquoten. Den europa- und weltweit operierenden Unternehmen gelang es im zunehmenden Maße, die Staaten untereinander auszuspielen. Sie selbst traten und treten gegen-über den einzelnen Staaten in finanziell gut ausgestatteten und breit gefächerten diskursiven Formationen als Sachwalter national agierender Unternehmen auf, die dem internationalen Konkurrenzdruck nur durch eine großzügigere staatliche Subventionspolitik und den Rückbau kostentreibender sozialstaatlicher Leistungen standhalten könnten. Gelingt die Aufweichungstaktik in einem Staat, wird sie vom gleichen Unternehmen in einem anderen Staat als erschwerter internationaler Kosten-druck beklagt. 4.2 Die Finanzkrise und ihre Folgen Die in den USA 2008 beginnende Finanzkrise, angeheizt durch eine massive, bereits seit längerem zu beklagende wachsende Haushaltsverschuldung und ein weiterhin hohes Handelsbilanzdefizit, versetzte dem amerikanischen Selbstbild einen empfindlichen Schlag. Sie untergrub die Position des US-amerikanischen Dollars als führen-de Weltreservewährung. Eine erste Infragestellung dieser Leitwährung hatte die Europäische Union bereits mit der Schaffung des Euro erzielen wollen, wodurch sie sich langfristig vom US-Dollar abzukoppeln und den Euro als neue Reservewährung neben dem Dollar zu platzieren versuchte. Als die Finanzkrise immer offensichtlicher wurde, brach das wechselseitige Vertrauen der Banken untereinander, das Vertrauen der Politik gegenüber den Banken und der Öffentlichkeit gegenüber dem Finanzsystem drastisch ein. Beklagt wurden in der öffentlichen Meinung vor allem die zunehmend illegitimen und undemokratischen Methoden, die in der Vergangenheit immer mehr zum Einsatz gelangt waren. Lange Zeit akzeptierten amerikanische Regierungen keinerlei Gründe, die sie gedrängt hätten, Underhills Vorschlägen zu folgen. So reagierten die USA mit Unverständnis, als die Europäer eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorschlugen. Hier hatte Geoffrey Underhill gefordert, „die USA sollten ernsthaft darüber nachdenken, ihre faktische Vetoposition hinsichtlich von Zusätzen zu den Artikeln aufzugeben; dies sollte gegen eine zusammengefasste, wenn auch ausreichend reduzierte EU-Stimme getauscht werden, wobei niemand ein Veto beanspruchen könnte“ (ibid.). Selbst als die Krise eine dramatische Wendung nahm und tatsächlich einige Länder erfolgreich versuchten, das „Hotel Capital Mobility“ des IWF zu verlassen, hielten die USA an ihrem Vetorecht fest. Jedoch blieb der privilegierte Status der USA (16,77 Prozent der Stimmrechte im IWF), der es ihnen erlaubte, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung anzuhäufen, unangetastet. Kein anderes Mitgliedsland der Bretton-Woods-Institutionen genoss und genießt den gleichen Vorteil. Selbst China als der größte Kreditgeber und die Europäische Union als der wichtigste Wettbewerber der USA auf den Weltmärkten unternahmen keine entscheidenden Schritte. China versuchte sogar, die negativen Auswirkungen der Dollarschwäche zu umgehen, indem chinesische Währungsreserven von US-Dollar auf Euro umgeschichtet und chinesische Zinskonten durch Investitionen bei US-Banken und Investmenthäuser – wie Blackstone – ersetzt wurden. Blackstone ist einer der wichtigsten amerikanischen Investoren und bezeichnet sich selbst als „weltweit führender alternativer Vermögens- und Anlagenverwalter sowie Anlage- und Finanzberater“ (Internetseite der Blackstone-Gruppe). Die Europäische Union hatte zwar den Euro als ernsthafte Herausforderung gegenüber dem US-Dollar geschaffen, aber keinen dauerhaften Erfolg erzielt, den US-Dollar als Abrechnungswährung für Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas sowie hochwertige Güter wie Flugzeuge abzulösen. Bei aller verständlichen Abneigung vieler Bankmanager gegen die Entmachtung durch den Staat war es notwendig geworden, das bisherige System der Bankenregulierung langfristig „völlig neu“ zu konzipieren (Robert Heusinger „Dieses System ist katastrophal“, Frankfurter Rundschau, 07.04.09), was jedoch bis heute nur in sehr in geringem Maße geschehen ist. Die Globalisierung und mit ihr im Verbund die Digitalisierung haben ein Ausmaß erreicht, durch die die Autonomie des Staates zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts großen Einschränkungen unterworfen wird. Die weltweit agierenden Technologiekonzerne, die wegen des Niveaus der Digitalisierung gar nicht umgangen werden können, sind in der Lage, die Einzelstaaten nicht nur hinsichtlich der Versteuerung ihrer Gewinne gegeneinander auszuspielen, sondern auch ökonomischen sowie po-litischen Druck auszuüben, mit dem sie ihre Gewinnmargen entsprechend hoch halten. Der Lebensstil, der mit und durch diese Technologiekonzerne geprägt wird, passt perfekt zu den Vorstellungen der INSM über das größere Maß an Eigenverantwortung, das das Individuum in Zukunft zu übernehmen hat. Führt man sich vor Augen, unter welchen Bedingungen die Beteiligten eines Start Up arbeiten (lockere Arbeitsatmosphäre, vermeintlich flache Hierarchien, keine festen Arbeitszeiten, ständige Erreichbarkeit, relativ niedrige Löhne, wenig Absicherung für das Alter) und mit welchen Gefahren sie konfrontiert sind – nämlich von den großen Konzernen aufgekauft zu werden – wird deutlich, welches Maß an struktureller Gewalt dem Einzelnen auferlegt wird. Die noch nicht abgearbeiteten Folgen der Bankenkrise von 2008 und die Gefahren einer erneuten noch gravierenderen Bankenkrise gingen und gehen zu Lasten der Steuerzahler und beeinträchtigen in erster Linie Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen. Insgesamt haben diese einzelnen Prozesse zu einem steigenden Ungleichgewicht bei der Einkommensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland geführt; so ist z.B. die Armutsrisikoquote von rund elf Prozent Mitte der neunziger Jahre auf 15,8% im Jahre 2017 gestiegen. Gesteigert durch die komplexe Problematik der Flüchtlingskrise spricht man aktuell von einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft zwischen Gewinnern und Verlierern. Diese Spaltung erreicht auch in zunehmen-dem Maße die Mitte der Gesellschaft. Sie wird verschärft durch regionale Besonderheiten: bestimmte Gebiete in der ehemaligen Bundesrepublik (z.B. das Ruhrgebiet) und weite Teile der östlichen Bundesländer, die unter einer massiven Deindustrialisierung zu leiden hatten, befinden sich aufgrund fehlender Perspektive auf der Verliererseite. D.h. das Maß an struktureller Gewalt gegenüber diesen Bevölkerungsteilen hat in einer Weise zugenommen, in der die Demokratie in ihrer Funktionsweise bedroht wird. Wandten sich die Bundesbürger vor 2010 enttäuscht von der Politik ab (Politikverdrossenheit), wenden sie sich heutzutage rechts- bis rechts-extremen politischen Strömungen bzw. Parteien zu, die ihnen weiszumachen versuchen, ihre Probleme zu lösen, tatsächlich jedoch eine – geschickt kaschierte – rein marktorientierte Wirtschaftspolitik verfolgen. Diese diskursiven Formationen arbeiten mit der Angst vor weiterer Aufnahme von Migranten bzw. von Geflüchteten, die sie medial aufgeladen als „gezielte Unterwanderung des deutschen Volkes“ darstellen, und mit dem Versprechen, dass bei einer Politik des Abschottens die ökonomischen Probleme der Benachteiligten gelöst würden. Ein ähnlicher Mechanismus funktioniert auch in den anderen europäischen Ländern, wie man angesichts des bevorstehen-den Brexits im Vereinigten Königreich oder des Wahlerfolgs der Rechtspopulisten in Italien beobachten kann. 5. Abschluss und Ausblick - Der Staat als Motor der gesellschaftlichen Entwick- lung im Namen einer optimalen Selbstentfaltung der Subjekte – Flexibilitäts- spielräume und -grenzen in der Aktivierung flottierender Elemente Weder gleicht der reale Mensch dem Kunstprodukt „homo oeconomicus“ noch entspricht die reale Marktsituation dem mathematischen Modell des Marktes. Der ideale Markt des Modells existiert nicht in der Realität. Die Mathematik ist nicht in der Lage, die Realität angemessen darzustellen. Damit entfällt jegliche Rücksicht der Politik, auf die Selbstregulierung der Marktkräfte zu setzen. Je angebots- und nachfragemächtiger Marktteilnehmer werden, desto mehr muss auch der Staat mit Regeln in das Markt-geschehen eingreifen. Sein Maßstab kann nicht die Aktivierung der Selbstheilungskräfte des Marktes sein, sondern die Erhaltung des formlosen Gegenhalts mit den Mitteln der Demokratie. Der Staat folgt vornehmlich der Exekution von Macht als der ihm zugeschriebenen Handlungslogik. Dieser Handlungslogik bedienen sich auch die Vertreter der Unternehmen und der Banken. Konsequent fordert deshalb Stiglitz auch den Staat auf, im Sinne der Erhaltung demokratischer Strukturen und der Förderung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls zu handeln. Stärker noch als schon von ihm erwähnt, muss das Versagen des Staates hervorgehoben werden. Sein Handeln darf sich nicht an den viel beschworenen „Selbstheilungskräften der Wirtschaft“ orientieren, sondern einzig und allein am Maßstab der Erhaltung der Demokratie. Der „marktkonforme Staat“ ist der Totengräber der Demokratie. Um das strukturierte Ganze zu erhalten muss im Vordergrund staatlicher Tätigkeit stets dessen Ausgangspunkt im Blickfeld stehen: nämlich die sich in vielfältige Elemente aufsplitternde autonome Einheit, aufgrund deren artikulatorischer Praxen sich erst das gewaltige Gebäude der Vielfalt diskursiver und hegemonialer Formationen bildet. Jeder Staat, der die Erhaltung des strukturierten Ganzen gegen die einzelne autonome Einheit ausspielt, beseitigt nicht nur langfristig die Existenzgrundlagen beider (und damit auch die eigene), sondern kalkuliert auch ein unbegrenztes Ausmaß an struktureller Gewalt ein. Sofern der Staat als Motor gesellschaftlicher Umgestaltung dienen soll, ist die Beeinträchtigung der Entfaltungsmöglichkeit der einzelnen autonomen Einheit der Maßstab für das Ausmaß struktureller Gewalt. Welches Ausmaß noch als zulässig und welches nicht mehr als akzeptabel erscheint, muss auf dem Felde der unendlichen Diskursivität im Konflikt der widerstreitenden diskursiven Formationen immer wieder erneut ausgefochten werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Beeinträchtigung sich nur auf die nicht-autonomen, artikulationsunfähigen Einheiten, oder auch auf die sich artikulierenden und in ihrer Elementform an den verschiedensten diskursiven und hegemonialen Formationen beteiligten autonomen Einheiten bezieht, oder darüber hinaus auch auf die in den Produktionsverhältnissen Unterdrückten oder sogar auf die sich immer gleichbleibende Substanz und den allgemeinen Lebensstrom. Das Individuum ist die sich selbst entwerfende extreme Differenz, einzigartig, frei in der Entfaltung seiner Elemente, darin angewiesen auf die volle Teilhabe an der Sphäre der Kommunikation und der politischen Entscheidung (Paolo Flores d’Arcais, Philosophie und Engagement, in: Frankfurter Rundschau, 16.05.95). Seine unaufgebbare Verschiedenheit wäre zweifellos am besten in der symmetrischen Teilhabe an der Macht aufgehoben, oder wenigstens in der Perspektive auf eine solche. Aber das Individuum ist eine an einen Körper gebundene artikulationsfähige autonome Einheit und zugleich eine Einheit, die in vielfältige Elemente aufgesplittet ist, von denen die einen zu Momenten diskursiver Formationen geworden sind und die anderen weiterhin flottieren. Als Teil diskursiver und hegemonialer Formationen trägt es zur Festigung des Ensembles relativ stabiler sozialer Formen bei. Als sich selbst immer wieder neu entdeckendes, neu erfindendes, „enorm wandlungsfähiges“, „selbstformendes“ Tier (Rorty) durchbricht es diese Formen immer wieder. Seine Einzigartigkeit erklärt sich durch das von Individuum zu Individuum spezifische Mischungsverhältnis beider Komponenten. In staatlichen Umgestaltungsmaßnahmen dieses Mischungsverhältnis prinzipiell für „alle“ zu erhalten, so dass den vereinzelten Einzelnen eine faire Chance zur Entfaltung ihrer selbst geboten wird, kennzeichnet die Grenze, die der strukturellen Gewalt gezogen ist. Selbstentfaltung, begriffen als Macht der privaten Autonomie, die den Vorrang des Politischen abgelöst hat, geht in ihrem Verständnis über die „Einseitigkeit des possessiven Individualismus“ hinaus. Das Mit-, Gegen- und Durcheinander in sich selbst vernünftiger Weltbilder, die als vielgestaltiges Ensemble nicht der Vernunft eines allen übergeordneten Weltbildes gehorchen, stellt eine weitere Ausdifferenzierung der Kategorie der sich selbst erhaltenden autonomen Einheiten dar. Sie übersteigt als solche den Pluralismus des Marktes und des Selbstinteresses (des besitzindividualistischen Atomismus). Die ursprünglich „romantisch inspirierte Erschließung einer weiteren, privaten Freiheits-dimension des Verlangens nach Differenz, der Rehabilitierung des unpolitischen und unvernünftigen Idioten, des eigensinnigen Kindes, der Poesie, der privaten Ironie“ ist zur „eigentlichen Quelle des Neuen“ geworden (ebd.). Dieses vielfältig motivierte Verlangen nach Differenz darf von staatlicher Umgestaltungspolitik im Namen eines angeblich höheren Wissens nicht zugeschüttet werden. Im Streit um den Grenzverlauf zwischen den Rechtssphären des öffentlichen und des privaten Lebens ist es umgekehrt der Treibstoff der Entwicklung, und zugleich geben die erkennbaren Differenzierungen an, in welche Richtung Umgestaltung mit einem Mindestmaß an struktureller Gewalt möglich ist. Gegenüber dem durch Gegenhalt der hegemonialen Formationen erzeugten und bereits partiell weltweit strukturiertem Ganzen verliert jedoch die auf kleinere strukturierte Ganze begrenzte selbsterhaltende Tätigkeit der Staaten unabwendbar an Bedeutung. Ihre auf kleinere, im nationalen Rahmen strukturierte Ganze bezogenen Entwicklungsvorhaben geraten zur Entwicklungstendenz, die dem partiell weltweit strukturierten Ganzen immanent ist, in den Gegensatz. Letztere präsentiert sich ihnen nicht als solche, sondern stets durchsetzt mit den von anderen Staaten unkoordiniert ins Spiel gebrachten. In dieser - die diversen nationalen Entwicklungsvorhaben vollständig vereinnahmenden - Form tritt sie als übermächtige Kraft auf und erzwingt in jeder ihr unterworfenen Gesellschaft ein höheres Maß an struktureller Gewalt, das sich für die Menschen ganz konkret durch den Verlust des Arbeitsplatzes, durch zunehmende Altersarmut, durch unbezahlbare Mieten etc. auswirkt. Sie wäre jedoch ganz anders gestaltet, wenn in sie Entwicklungstendenzen einflössen, die von transnationalen, unterhalb der Ebene eines Weltstaats angesiedelten Staaten ins Leben gerufen würden. Ob und wann einmal ein Weltstaat existieren wird und ob eine solche Entwicklung überhaupt wünschbar wäre, bleibt zu klären. Auf unabsehbare Zeit wird ein Weltstaat nur virtuell existieren, und zwar weitgehend in Form von UN- und anderen Kommissionen, die sich um die Verwirklichung einer "Welt-Ordnungspolitik" bemühen. In der aktuellen weltpolitischen Situation muss man jedoch eher entgegengesetzte Tendenzen befürchten. Unter diesem Blickwinkel sollte der Kampf um die Erhaltung und eine wirkliche Demokratisierung der Europäischen Union mit allen hier dargestellten Erkenntnissen geführt werden.
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AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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