1. Demokratien machen Fehler, Putins Autokratie gefährdet die Menschheit Vittorio Hösle unterlegt seinem Artikel ein einfaches Schema, in dem der einen Seite zwar (un)verzeihliche Fehler vorgehalten werden, der anderen Seite aber aggressives Verhalten mit hohem Gefahrenpotential für die Erhaltung des Weltfriedens. Die (un)verzeihlichen Fehler rechnet er „dem Westen“ an, das gefährliche Ausmaß an Aggressivität Putins Russland. Selbst die Sowjetunion der 70iger und 80iger Jahre sei weniger aggressiv gewesen. Dabei vergisst er, dass in der Entspannungsperiode zu Beginn der siebziger Jahre die damalige deutsche Bundesregierung auf die Sowjetunion zugegangen ist, um im Gespräch mit der sowjetischen Führung einen Wandel der Beziehungen herbeizuführen. 1.1 (Un)verzeihliche Fehler des demokratischen „Westens“ Hösle konstatiert: „Der Westen hat im neuen Jahrhundert viele Fehler gemacht. Ich nenne nur: Die Kündigung des ABM-Vertrags 2001 durch die USA war unklug, die Verletzung des Völkerrechts im Irakkrieg 2003 skandalös, der Sturz Gaddafis 2011 ohne Klärung seiner Nachfolge unverantwortlich, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo schuf einen gefährlichen Präzedenzfall, und man hätte in Kiew auf die legale Abwahl Janukowitschs im Herbst 2014 warten sollen. All dies sollte man zugeben. Angesichts der horrenden Folgen eines Krieges mit Russland ist es ferner völlig vernünftig, dass man wegen der Ukraine nicht einen solchen Krieg riskieren will und kann.“ (ebd. S.110). 1.2 Aggressivität russischer Oligarchen Er unterscheidet zwischen „guten“ Oligarchen, die sich Putin nicht beugen, und den „bösen“, die Putin zu Diensten seien. Putin „benutze“ die Oligarchen, so wie er sie brauche. Für die Aggressivität des heutigen Russlands führt Hösle fünf Gründe an (ebd.S.105):
Den russischen Oligarchen droht Hösle für ihr aggressives Verhalten Strafe an: „Aber der Aggressor muss dafür einen Preis zahlen, und zwar einen wirtschaftlichen wie einen diplomatischen; denn moralische Argumente fruchten nicht mehr. Nachgeben würde nur zu noch mehr Forderungen führen. Empfindliche wirtschaftliche Sanktionen sollten folgen, wenn das Abkommen von Minsk verletzt wird – allerdings so, dass weitere wirtschaftliche Druckmittel übrig bleiben. Denn dieses Mittel muss möglichst lange zur Verfügung stehen – in der Hoffnung, dass die Oligarchen aus Angst vor weiteren Verlusten protestieren, statt auf die ‚patriotische Linie‘ einzuschwenken. Auch am Konflikt nicht beteiligten Staaten, zumal China, muss die Gefährlichkeit der russischen Politik klargemacht werden.“ (ebd.S.110). 2. Hösles Abwehrstrategien des „Guten“ gegen das „Böse“ Hösle empfiehlt: „Alle Versuche, die USA und die EU zu entfremden, müssen abgewehrt werden“, zumal die USA dahin tendierten, „sich stärker dem pazifischen Raum zuzuwenden, in dem ganz andere Wachstumsmöglichkeiten existieren“ (ebd.S.110). Er schlussfolgert: „Der politische Einigungsprozess in der EU muss vertieft werden – dass der Kreml sich durch ihn bedroht fühlt, belegt ja seine Unterstützung der antieuropäischen extremen Rechten.“ (ebd.). Insbesondere aber müsse „die wahre Natur des Putinschen Regimes deutlich gemacht werden“, denn „die Ablenkung der westlichen öffentlichen Meinung durch geringere Probleme, wie die Abhöraffäre, aber selbst ernsthafte wie den islamischen Terror, hat es erst ermöglicht, dass Russland durch einen Coup überraschen konnte, der in Wahrheit vorhersehbar hätte sein müssen.“ (ebd.). Zudem lasse Putin die zunehmende Schwäche Russlands gegenüber dem mächtiger werdenden China nicht mehr viel Zeit, als „Sammler russischer Erde“ in die Geschichtsbücher einzugehen (ebd.S.109). Putin verfolge eine langfristige Strategie, die Ukraine zu destabilisieren. Dass die USA und die EU seit langem versuchen, die Ukraine in das westliche Lager einzubinden, ist Hösle jedoch keine Erwähnung wert. Hösle zielt letztlich darauf ab, dass anders als im vergangenen Ost-West-Konflikt der Unterschied zwischen „Gut“ und „Böse“ nicht mehr an der unüberbrückbaren Kluft zwischen freiheitlichem Denken und Handeln des „Westens“ auf der einen Seite und dem als aggressiv definierten Marxismus-Leninismus sowjetischer Führer auf der anderen Seite zu erkennen sei, sondern jetzt an Putins aggressivem Nationalismus, der für die „freie Welt“ sehr gefährlich werden könne. In der Erklärung seines Konzeptes greift Hösle zur Verharmlosung, Fehlinterpretation und Falschinformation. Die begangenen Fehler, schlägt er vor, sollte „der Westen“ zugeben. Unterschwellig legt er nahe, dass es danach umso gerechtfertigter ist, dem „Bösen“ den Kampf anzusagen. Im Einzelnen ist folgendes zur Benennung der Fehler zu sagen: 3. Hösle verharmlost die Kündigung des ABM-Vertrags 2001 durch die USA. Sie sei „unklug“ gewesen. Zu erklären wäre jedoch, dass die globale Sicherheitsarchitektur der USA die Kündigung des Vertrages notwendig machte. Die USA hatten 2001 den ABM–Vertrag von 1972 formell gekündigt, um das Raketenabwehrsystem NMD installieren zu können (www.spiegel.de › Politik › Ausland 13.12.2001). Laut Spiegel-Kommentator „Pst“ aus dem Jahre 2001 war die Kündigung des ABM-Vertrags „ein weiteres Indiz für eine grundlegende Neuorientierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik. Sie kann nicht erst mit dem 11. September datiert werden, sondern geht zurück auf Weichenstellungen, die bereits George Bush der Ältere 1990/91 vorzunehmen versucht hatte, indem er vor dem Hintergrund des Kollapses der Sowjetunion und des Warschauer Pakts auf eine US-hegemoniale neue Weltordnung setzte. Zu diesem Zweck wurde die NATO auf neue Ziele verpflichtet wie etwa auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, den Kampf gegen die Proliferation von Nukleartechnologie, die Sicherung von Rohstoffquellen und des freien Welthandels sowie auf die Verwirklichung von Menschenrechten weltweit. So jedenfalls wurde es bereits in der Römischen Erklärung der NATO von 1991 formuliert. Die USA waren es auch, die sich über zahlreiche internationale Abmachungen hinweg setzten, etwa gegen die weltweite Ächtung von Antipersonen-Minen oder gegen die in Rom 1998 beschlossene Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) …“. Der Spiegel sagte voraus: „Die Welt wird sich auf eine Entwicklung einstellen müssen, die geprägt sein wird von der Durchsetzung nationaler Interessen der einzigen Weltmacht USA – notfalls mit brachialer militärischer Gewalt. Seit dem Jahr 2000 stehen die Zeichen weltweit wieder auf mehr Rüstung und auf mehr regionale Kriege und Bürgerkriege. Der avisierte langjährige ‚Krieg gegen den Terror‘ wird eher noch mehr solcher Konflikte hervorbringen als zu einer Eindämmung des Terrorismus beitragen. All das muss im Auge behalten werden, wenn man über die Folgen der Aufkündigung des ABM-Vertrags nachdenkt. Die USA haben – schon vor dem 11. September – zahlreiche ähnliche einseitige Schritte unternommen, die in ihrer Gesamtheit der globalen Sicherheitsarchitektur schweren Schaden zufügen.“ Hösle verharmlost diese gravierenden Veränderungen als Folge der globalen Sicherheitsarchitektur der USA und bezeichnet die Kündigung des ABM-Vertrags lediglich als „unklug“. 4. Für Hösle ist die Verletzung des Völkerrechts im Irakkrieg 2003 „skandalös“! Laut Duden wird skandalös mit ärgerlich, anstößig, unerhört übersetzt. Insbesondere die Bedeutung des Wortes ärgerlich trifft auf die völkerrechtswidrige Invasion in den Irak durch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten nicht zu. Die Invasion war weit mehr als nur ein Ärgernis. Sie beruhte offiziell auf der ungeprüften und willkommenen Falschinformation eines irakischen Chemikers, der den USA den Vorwand für die längst beschlossene Invasion lieferte. Der Einmarsch war auch nicht anstößig bzw. unerhört, was üblicherweise mit unanständig, gemein, empörend usw. übersetzt wird und zur Beschreibung von unmoralischen Verhaltensweisen herangezogen wird. In der internationalen Politik geht es laut Egon Bahr niemals um moralische Werte, sondern um die Durchsetzung von Interessen. Im Interesse der USA an der Vertreibung des Diktators Saddam Hussain lag der Zugriff auf die Erdölressourcen des Irak. Die Frankfurter Allgemeine schrieb am 16. 9. 2002 unter dem Titel „Vereinigte Staaten: Kampf um Öl statt Krieg gegen Terror“: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass Washington seine Abhängigkeit von Saudi-Arabien verringern möchte. Der Anteil an saudischem Öl bei den amerikanischen Importen wurde in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgeschraubt. Stattdessen setzte Amerika auf alternative Lieferanten. Auf Dauer sind die Saudis aber nicht zu umgehen: Das Land am Golf ist nicht nur der wichtigste Erdölproduzent der Welt, es verfügt auch über die größten Vorkommen. Doch das Regime in Saudi-Arabien ist instabil, Experten befürchten über kurz oder lang seinen Zusammenbruch. Im schlimmsten Fall könnten dann Islamisten die Macht ergreifen und die würden das verhasste Amerika sicher nicht mehr so bereitwillig mit Erdöl beliefern. …“. Unter dem Begriff „Irak als Zukunftsinvestition“ erklärte die Zeitung: „Beim diskutierten Angriff auf den Irak geht es nicht nur um den Sturz eines Unrechtsregimes, sondern auch um die Zukunft der amerikanischen Energieversorgung, munkeln Amerika-kritische Stimmen. Der Irak exportiert derzeit auf Grund internationaler Sanktionen seit dem Golfkrieg weniger als zwei Millionen Barrel pro Tag. Bagdad würde gerne sechs Millionen fördern. Nach einem Machtwechsel könnte der Irak wieder ungebremst Öl produzieren, das, so wird gemutmaßt, seinem „Befreier“ Amerika zu Gute käme. Eine Investition in die Zukunft, schließlich verfügt das Land über die zweitgrößten Reserven der Welt. Dem halten Experten entgegen, dass der Irak bereits jetzt an seiner Kapazitätsgrenze fördere. Seine Anlagen seien veraltet und es bedürfe hoher Investitionen, um sie wieder in Schuss zu bringen. Doch davor müsste Saddam Hussein erst einmal gestürzt und durch ein stabiles pro-amerikanisches Regime ersetzt werden.“ (FAZ, 16.9.02). Spiegel Online deckte „die Verquickung von wirtschaftlichen Zielen und militärischem Vorgehen durch Dick Cheney, früherer Chef des Petrologistik-Konzerns Halliburton und heutiger Vize-Präsident der USA und George W. Bush“ auf, die in den USA offen diskutiert wurde. Jimmy Carter, US-Präsident von 1976 bis 1980 und Träger des Friedensnobelpreises 2002, rechnete am 5.9.2002 in der „Washington Post“ in ungewöhnlich scharfer Form mit der Bush-Politik ab und verglich die Politik seines Nachfolgers mit „Unrechtsregimen“. „Wir haben unsere Missachtung der restlichen Welt auch gezeigt, indem wir aus mühsam vereinbarten internationalen Abkommen ausgestiegen sind. Verträge über Rüstungskontrolle, Konventionen über biologische Waffen, Umweltabkommen und Vereinbarungen, mit denen die Folterung und Bestrafung von Kriegsgefangenen verhindert werden soll – all das haben wir nicht nur abgelehnt, sondern auch all jene bedroht, die an diesen Abkommen festhalten. Diese ganze einseitige Politik isoliert die Vereinigten Staaten immer mehr von den Nationen, die wir brauchen, um den Terrorismus zu bekämpfen.“ Mit dem Irak-Krieg haben die USA die gesamte arabische Region bis zum heutigen Tag in Brand gesetzt. Es besteht keinerlei Hoffnung auf Frieden. Das von Hösle benutzte Wort „skandalös“ wird diesem Vorgang keinesfalls gerecht. 5. Der für Hösle „unverantwortliche“ Sturz Gaddafis, ohne seine Nachfolge vorher zu klären Um Missverständnisse zu vermeiden eines vorab: Gaddafi war ein Diktator und in zunehmendem Maße in seinen Handlungen unberechenbar. Die von ihm und seinen Schergen Unterdrückten hatten allen Anlass, gegen ihn aufzubegehren. Jedoch nur sie waren berechtigt, einen Regimewechsel herbeizuführen und nur ihnen kam die Klärung der Nachfolge zu, nicht den Interventionsmächten USA, Großbritannien und Frankreich, die ihre eigenen Interessen verfolgten. Wenn es keine Vorabklärung unter den Rebellen gab, war dies vor allem eine Folge der traditionellen Gegensätze zwischen der Bevölkerung im Westen und im Osten des Landes. Einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken, ging in einem Vortrag am 8. Juni 2011 in Düsseldorf näher auf diese Gegensätze ein. Während es am „Tag des Zorns“ (17.2. 2011), in mehreren Städten Ost-Libyens zu Demonstrationen kam und die größte davon in al-Beidha, mit 1500 Teilnehmern stattfand, demonstrierten Tausende Gaddafi-Anhänger in mehreren Städten des Westens für Gaddafi. Henken verweist in seinem Vortrag auf die Neue Züricher Zeitung (NZZ): „Der Nordosten des Landes […]steht traditionell dem Regime eher kritisch gegenüber. Al-Beidha hat den Ruf, noch den 1969 abgesetzten König Idriss as-Senussi zu verehren, und in Benghasi und an den Hügeln des Jebel Akhbar hielt sich lange eine islamistische Opposition. Der relative Aufruhr im Osten kann deshalb nicht einfach als Anzeichen für eine Oppositionswelle im ganzen Land gedeutet werden.“ (NZZ 18.2.11). Aus dem selben Artikel der NZZ gibt Henken die Einschätzung des langjährigen Nahost-Korrespondenten der Zeitung, Victor Kocher, wieder. Kocher schreibt: „Hier zeichnet sich das historische Selbstbewusstsein der Cyrenaika wieder ab, jenes Ostteils des Landes, der ursprünglich das wahre Macht- und Wirtschaftszentrum darstellte. Von dort stammte der Nationalheld und Unabhängigkeitskämpfer Omar al-Mukhtar, der im Kampf gegen die italienischen Kolonisten gefallen ist. Und dort sind die Wurzeln der Senussi-Dynastie, aus welcher der letzte König Idriss stammte, den Gaddafi 1969 stürzte. In den Augen der Libyer aus der Cyrenaika ist das Ghadhafi-Regime eine illegitime und zur effizienten Regierung unfähige Konstruktion aus verspäteten Versatzstücken des Nasserismus.“ Einen Monat nach Beginn der Rebellion in der Cyrenaika standen Gaddafis Truppen vor den Toren Bengasis. Gaddafi versprach allen Aufständischen, die ihre Waffen niederlegten, eine Amnestie und bot den Rebellen sogar einen Fluchtweg und offene Grenzübergänge in Richtung Ägypten an. (Henken zitiert hier A.J Kuperman, „False pretense for war in Libya? The Boston Globe, 14.4.2011). Am 19. März begannen die USA, Großbritannien und Frankreich den Beschuss libyscher Truppen von ihren vor der Küste Libyens zusammen gezogenen Kriegsschiffen aus. Der UN-Sicherheitsrat hatte zuvor aus der Befürchtung, ein Völkermord stünde bevor („Responsibility to Protect“), die UN-Resolution 1973 beschlossen. „Die Option, Krieg gegen Gaddafi zu führen, wurde“ laut Lühr Henken „in Washington, London und Paris bereits vor dem 17.3., dem Tag der UN-Resolution, konkret in Angriff genommen. Obama hatte bereits in der Woche vor dem 17. März ‚eine Genehmigung zur Unterstützung der Rebellen‘ durch den CIA unterzeichnet.“(focus.de, 31.3.11). Diese Autorisierung umfasste ‚auch die Lieferung von Waffen an die libyschen Rebellen‘ (FAZ 1.4.11). Das konservative Wall Street Journal berichtete am 17. März: „Laut offiziellen Vertretern der USA und der libyschen Rebellen hat das ägyptische Militär damit begonnen, mit Wissen Washingtons Waffen für die Rebellen über die Grenze nach Libyen zu senden. Die Lieferung umfasst meist Kleinfeuerwaffen wie Sturmgewehre und Munition.“ (hintergrund.de, Libysche Notizen von Peter Dale Scott, 31.3.11). Im UN-Sicherheitsrat hatten sich Brasilien, Indien, China und Russland neutral verhalten. Sie und Südafrika, das ursprünglich zugestimmt hatte, warfen der NATO und den Interventionsmächten nunmehr vor, die zum Schutz von Zivilisten ausgesprochene Interventionsbefugnis in der Praxis für einen Regimewandel genutzt zu haben, die so nicht vom Mandat gedeckt gewesen sei. Die Resolution des Sicherheitsrats bot in der Tat keine völkerrechtliche Handhabe, einen unmittelbaren Sturz des Regimes durch außerlibysche Interventionsmächte zu rechtfertigen. Das Gaddafi-Regime bekämpfte eine bewaffnete Rebellion im Osten des Landes und nicht das unbewaffnete libysche Volk in allen Teilen des Landes1. Der Streit über die Frage, ob das Mandat einen Regimewechsel deckte, führte schließlich dazu, dass die Durchführbarkeit von Responsibility to Protect-Interventionen gänzlich in Frage gestellt wurde. Hösle kritisiert nicht die Absicht der USA, Großbritanniens und Frankreichs, in Libyen einen Regimewechsel herbeizuführen, sondern bezeichnet es als unverantwortlich, dass die Interventionsmächte keinerlei Vorkehrungen für die Nach-Gaddafi-Zeit getroffen hätten. Aber der Sturz Gaddafis konnte nicht die Spannungen zwischen dem Ost- und Westteil des Landes beenden, sondern hatte zur Folge, dass nunmehr in ganz Libyen sektiererische Gewalt herrschte und Schleuser zunehmend die chaotische Situation Libyens ausnutzten, um von Flüchtlingen Geld für die Schiffspassage nach Europa zu erpressen. Die mit dem Regimewechsel verbundene Hoffnung der Interventionsmächte, künftig den alleinigen Zugriff auf die reichen libyschen Erdöl- und Erdgasquellen und weitere wertvolle Rohstoffe Libyens zu erhalten, ist in der Tat erst recht nicht in Erfüllung gegangen. 6. Hösle konstatiert: „Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo schuf einen gefährlichen Präzedenzfall.“ Die Ursachen für den Zerfall Jugoslawiens reichen weit in die Geschichte zurück. Bereits der Zusammenschluss zu Jugoslawien am Ende des Ersten Weltkriegs zwang Völker und Gebiete zusammen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Herauslösung des Kosovo aus Serbi- en gingen Konflikte zwischen der serbischen und albanischen Bevölkerung voraus. Die mehrheitlich moslemischen Kosovo-Albaner strebten nach Unabhängigkeit von Serbien. Aber warum drängten insbesondere die USA auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien und unternehmen alle erdenklichen Anstrengungen zur Verselbständigung des Kosovo? Die USA unterhielten im Kosovo die Militärbasis „Camp Bondsteel“, die sie auf einem Gelände von 386 Hektar mit Platz für 5000 Soldaten und 52 Hubschrauberlandeplätze ohne die Einwilligung Serbiens zwei Monate nach dem Einmarsch US-amerikanischer Truppen in Serbien ab August 1999 errichtet hatten und bei einem weiteren Verbleib des Kosovo bei Serbien für unsicher hielten. Mit der Unterstützung der USA und den wichtigsten europäischen Staaten erklärte das Parlament in Priština am 17. Februar 2008 den Kosovo für unabhängig, nachdem zuvor die mehrheitlich albanische Bevölkerung in einem Referendum dafür gestimmt hatte. Am 22. 7. 2010 entschied der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, dass die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien nicht gegen das Völkerrecht verstößt. Zwar war die Entscheidung für keine Seite bindend, aber für die internationale Anerkennung des Kosovo als souveräner Staat von großer Bedeutung. „Die Entscheidung darüber, ob die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht steht, galt als heikel“, erklärte die Völkerrechtsexpertin Bibi van Ginkel. Die Richter hätten abwägen müssen, „wie das Recht der Staaten auf territoriale Integrität und das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung zu-einander stünden.“ (Süddeutsche.de, Politik, Unabhängigkeit des Kosovo ist rechtens, 22.7. 2010). Für ihre Entscheidung war ausschlaggebend, dass nach Auffassung der Richter die Verfolgungen der Albaner durch die Serben eine Autonomie des Kosovo innerhalb Serbiens unmöglich gemacht hätten. Die Gegner der Gerichtsentscheidung hielten eine Zustimmung beider Konfliktparteien und der UN für zwingend notwendig. Der serbische Präsident Boris Tadic warnte nach der Entscheidung vor den Folgen des Urteils: „Sollte durch die Haltung des Gerichts ein neues Prinzip gelten, würde in der Welt ein ganzer Prozess losgetreten, neue Staaten zu schaffen. Dies würde viele Regionen in der Welt destabilisieren.“ (Handelsblatt, Unabhängigkeit des Kosovo ist rechtens, 22.7.2010). Dies ist in den folgenden Jahren auch in Abchasien, Südossetien und auf der Krim Realität geworden und droht erneut in der Ostukraine. Russland hatte sich damals vehement gegen das Haager Gerichtsurteil ausgesprochen, musste aber erkennen, dass die USA und die EU dem Urteil uneingeschränkt zustimmten. Als später die russische Führung diesen Präzedenzfall zu ihren Gunsten nutzte, rief sie nicht nur vehementen US-amerikanischen und europäischen Protest hervor, sondern wurde darüber hinaus mit Sanktionen belegt. 7. Hösle meint, „man hätte in Kiew auf die legale Abwahl Janukowitschs im Herbst 2014 warten sollen“. Er erwähnt jedoch nicht die gravierenden Begleitumstände seines Sturzes. Nach einer gefährlichen Zuspitzung der Lage in den ersten Tagen des Februars 2014 zwischen der Bereitschaftspolizei und Oppositionskräften auf dem Maidan reisten am 20./21. 2. 2014 die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands nach Kiew und vereinbarten mit Janukowitsch sowie den drei Oppositionsparteien einen Vertrag über vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen sowie die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ innerhalb von zehn Tagen (Nina Jeglinski, Lage in Kiew außer Kontrolle, Tagesspiegel, 21.2.2014). Die noch in Haft befindliche Julia Timoschenko forderte die Opposition auf, nicht mehr mit Janukowitsch zu reden. Er verantworte den Einsatz von Scharfschützen gegen die Demonstranten auf dem Maidan am 20. 2. 2014. Wer jedoch die Scharfschützen befehligte, blieb zunächst unklar. Es konnten sowohl unter Janukowitschs Befehl stehende Scharfschützen gewesen sein wie auch angeworbene Söldner, die entweder auf eigene Rechnung oder im Auftrag der Opposition handelten. Zu erkunden, aus welcher Richtung die Schüsse abgefeuert wurden, gab mehr Aufschluss. Wurden die Getöteten vom Eingang des Regierungsclubs, also von vorn erschossen, waren es Scharfschützen der Sondereinheit Berkut unter dem Oberbefehl Janukowitschs, der jedoch mehrmals betonte, niemals einen Schießbefehl erteilt zu haben. Wurden die Opfer jedoch im Rücken getroffen, waren die Täter angeworbene Söldner, die aus dem Musik-Konservatorium im Zentrum des Maidan schossen, das von Demonstranten besetzt war. Berkut-Polizisten, die versuchten, Demonstranten an der Erstürmung des Regierungsclubs zu hindern, wurden – wie sich später herausstellte – tatsächlich von vorn getroffen und die von ihnen zurückgedrängten Demonstranten von hinten. Videomitschnitte vom Platz zwischen dem Musik-Konservato-rium und dem Regierungsclub und ein abgehörtes Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet „nähren schon frühzeitig den Verdacht, dass mehrere Berkut-Polizisten und Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, also nicht auf Befehl von Janukowitsch“ (Andreas Heinemann-Grüder, Ukraine: Revolution und Revanche, Blätter für deutsche und internationale Politik, 2014: 40). „Der neue Innenminister, Arsen Awakow, räumt[e] vieldeutig ein, dass eine ‚dritte Macht‘ (jenseits der staatlichen Berkut-Kräfte und der Demonstranten) eine ‚Schlüsselrolle‘ auf dem Maidan gespielt habe. Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ermittelte gegen die Scharfschützen, gab aber nur bekannt, dass es sich um ukrainische Staatsbürger handele.“ (ebd.). Im Internet fand inzwischen eine ausgedehnte Kontroverse über den Schusswechsel auf dem Maidan statt. „Die detaillierte Analyse der Bilder vom Verlauf der Handlungen durch den kanadisch-ukrainischen Politikwissenschaftlicher Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa hat ergeben, dass auch die Oppositionskräfte Scharfschützen einsetzten und dabei nicht nur Polizisten, sondern auch die eigenen Leute unter Feuer nahmen. Nach seinen Aussagen führt die Spur zum Rechten Sektor.“ (http://www.heise.de/tp/artikel/ 43/43590/1.html). Recherchen der BBC ergaben, dass unter den Maidan-Demonstranten bereits am 19. 2. 2014 Scharfschützen angeworben wurden. Einer von ihnen schilderte sein Eintreffen im Musik-Konservatorium am Morgen des 20. 2. 2014. Ab 7 Uhr habe er wie ein anderer Schütze neben ihm auf Polizisten und auf das Dach eines gegenüberliegenden Einkaufszentrums geschossen. „Ich schoss auf ihre Beine und tiefer“, beteuerte der Schütze Sergei. „Ich schoss nicht, um zu töten.“ (Neue Hinweise: Schossen auch prowestliche Demonstranten in die Maidan-Menge? http://www.focus.de/politik//ausland/ukraine-krise/maidan.-blutbad-in …, 16.2.2015). Nach einer Weile seien Männer gekommen und einer habe seinen Fuß auf ihn gestellt und gesagt: „Alles ist in Ordnung, aber hör mit dem auf, was du machst.“ (ebd.). Diese Vorgänge bestätigend berichtete der Journalist und Bürgerrechtler Andriy Shevchenko von einem Anruf des Berkut-Einsatzleiters: „Andriy, jemand schießt auf meine Jungs“, hätte er gesagt. Nach seiner Aussage kamen die Schüsse vom Musik-Konservatorium (ebd.). Die Tatsache, dass sich auch unter die Oppositionskräfte Scharfschützen gemischt hatten, beleuchtete die Vorgänge auf dem Maidan in völlig anderer Weise und zeigte, wie fatal sich die unwahre Behauptung – nur Berkut-Polizisten hätten auf Befehl Janukowitschs geschossen – auf die weitere Entwicklung des Konflikts auswirkte. Kaum hatten die drei Außenminister Kiew wieder verlassen, übernahmen Regierungsgegner in der Nacht vom 20. zum 21. 2. 2014 unter Anwendung militärischer Gewalt die Macht. Der Befehlshaber der bis zu 60 000 Kämpfer umfassenden Nationalgarde Samoobrona, Juri Parubi, torpedierte zusammen mit dem Chef des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, den Vertrag der drei Außenminister mit Janukowitsch und erzwang den sofortigen Machtwechsel (Ulrich Krökel, „Bis zum Sieg“, Frankfurter Rundschau, 15./16.3.2014). Janukowitsch sprach von einem Staatsstreich, flüchtete unmittelbar vor seiner bevorstehenden Gefangennahme und der von ihm befürchteten Ermordung aus seiner Residenz ins ostukrainische Donezk und verließ mit Hilfe russischer Einheiten das Land in Richtung Russland (F.A.S.-E-Paper, Sikorski: Putin verlangte Einsatz von Gewalt, 24.1.2015, dpa, T Online, 9.3.2015). Ihm wurde später von Adam Daniel Rotfeld, ehemaliger Außenminister Polens, vorgeworfen, dass er sich nicht den anrückenden Putschisten entgegen gestellt hätte. Als aufrechter Präsident hätte er weder die Gefangennahme noch den Tod fürchten dürfen. Aus der Flucht Janukowitschs leitete Rotfeld absichtlich irreführend ab, dass den Putschisten die Macht in die Hände gefallen sei. Man könne deshalb gar nicht von einen Putsch sprechen (Adam Daniel Rotfeld, Podiumsmitglied auf der Tiergarten Konferenz der Friedrich Ebert Stiftung, Berlin, 11. 9. 2014). 8. Hösle schlägt vor, alle obigen 8 Punkte „sollte man zugeben.“ Jedoch „angesichts der horrenden Folgen eines Krieges mit Russland ist es ferner völlig vernünftig, dass man wegen der Ukraine nicht einen solchen Krieg riskieren will und kann.“ Kehrt man zurück zu Hösles einfachem Schema des Unterschieds zwischen „Gut“ und „Böse“, der nicht mehr an der unüberbrückbaren Kluft zwischen freiheitlichem Denken und Handeln des „Westens“ auf der einen Seite und dem als aggressiv definierten Marxismus-Leninis-mus sowjetischer Führer auf der anderen Seite zu erkennen sei, sondern jetzt an Putins aggressivem Nationalismus, der für die „freie Welt“ sehr gefährlich werden könne, wird erkennbar, was Hösle mit seinem Artikel bezweckt. Er propagiert alle Maßnahmen unterhalb eines heißen Krieges und rechtfertigt die von den USA ausgehende und von der EU mitgetragene Sanktionsspirale gegen Russland. Habe man sich „im „Westen“ zu seinen eigenen Fehlern bekannt, wasche man sich rein und könne umso härter gegen Putin zuschlagen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass er die Neuauflage eines Ost-West-Konflikts willkommen heißt, in dem sich die altbekannten Mechanismen der wechselseitigen Schuldzuweisungen, der Hochrüstung, der gegenseitigen Bedrohung und der Handelseinschränkungen wiederholen. Dass von einer solchen negativen Entwicklung die USA profitieren und insbesondere Deutschland Einbußen erleidet, kalkuliert Hösle offenbar ein2. __________________ 1 Die Resolution „verlangt eine sofortige Waffenruhe, und ein vollständiges Ende der Gewalt und aller Angriffe und Missbrauchshandlungen gegen Zivilpersonen“; sie ermächtigt „die Mitgliedsstaaten, […], alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen , […] um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete in Libyen, einschließlich Bengasis, zu schützen, unter Ausschluss ausländischer Besatzungstruppen jeder Art in irgendeinem Teil libyschen Hoheitsgebiets.“ Sie „beschließt, ein Verbot aller Flüge im Luftraum Libyens zu verhängen, um zum Schutz der Zivilpersonen beizutragen.“ (Lühr Henken). Sie bekräftigte das Waffenembargo, erließ Reiseverbote und fror Vermögenswerte von libyschen Banken im Ausland und der großen Nationalen Ölgesellschaft NOC ein. 2 Rätselhaft ist, was die Redaktion der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ bewegt hat, den Artikel von Vittorio Hösle in ihr Journal aufzunehmen, widerspricht er doch der Ausrichtung des Journals ganz erheblich. Eine Punkt für Punkt Auseinandersetzung mit einem im Journal erschienenen Artikel lehnt die Redaktion bedauerlicherweise ab. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/bb97bef9f3144910bef58d39a2e2927c" width="1" height="1" alt="" />
1 Kommentar
„Coping with Transatlantic Divergence – Exploring Common Solutions: Missile Defense, Russia, and the Middle East“ (zu deutsch etwa „Leben mit der transatlantischen Divergenz − Suche nach gemeinsamen Lösungen: Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten“) − so lautete der komplizierte Titel der dritten Transatlantischen Konferenz, die von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt sowie der Friedrich Ebert Stiftung Berlin organisiert war. Die Tagung fand am 24./25.Juni in Berlin − parallel zur Nahost-Konferenz des Außenministeriums − in den Räumen der Hessischen Landesvertretung statt. Unter dem nüchternen Thema kamen höchst brisante Themen zur Sprache, die im folgenden Artikel zusammengefasst und kommentiert werden.
1. Einleitende Bemerkungen Die zweitägige Konferenz beschäftigte sich mit der Frage, auf welche Weise Raketen zur Verteidigung eines Landes eingesetzt werden und wie wirksam die dadurch gewonnene Sicherheit ist. Zur Debatte stand, welche zusätzliche Sicherheit für die USA und Europa durch die Stationierung von Abfangraketen in Polen gewonnen werden kann und gegen wen die Raketen gerichtet sind. Diskutiert wurden außerdem die dadurch in Fragen der Sicherheit innerhalb des transatlantischen Verhältnisses entstehenden Differenzen und wie man sie bewältigt. Die vier programmatischen Reden und die ihnen folgenden Diskussionsrunden basierten auf dem Erfahrungshintergrund der raketengestützten Angriffs- und Verteidigungssysteme des Ost-West-Konflikts. Daraus leiteten die Redner ihre Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Raketendebatte ab. Eine Detailanalyse des Ost-West-Konflikts fand jedoch nicht statt. Sie wäre notwendig gewesen, um die mit der gegenwärtigen Neuauflage des Konflikts verknüpften Probleme besser in den Griff zu bekommen. Zusätzlich zur Konferenzdiskussion wird deshalb im hier folgenden kommentierenden Bericht zunächst der Aktions- und Reaktionsmechanismus beschrieben, der im Ost-West-Konflikt das Sicherheitsdenken dominierte. 2. Raketengestütztes Sicherheitsdenken im Ost-West-Konflikt Bis zum Verlust der atomaren Unverwundbarkeit im Jahre 1959 besaßen die USA eine gesicherte Erst- und Zweitschlagkapazität, während die Sowjetunion mit der Entwicklung von Interkontinentalraketen erstmals zu einem Angriff auf die USA ausholen konnte. Bis zum Beginn der amerikanischen Satellitenaufklärung im September 1961 stand der Sowjetunion sogar kurzzeitig eine geringe Zweitschlagkapazität zur Verfügung. Nach der Versenkung ihrer Raketen in Silos und dem Übergang zu Feststoffraketen gewann sie diese Kapazität im Jahre 1963 zurück. In den folgenden Jahrzehnten kämpften die Kontrahenten stets um die Beibehaltung ihrer gesicherten Zweitschlagkapazität, wobei im Wettrennen um die höchstmögliche Zerstörungsfähigkeit mit dem Ziel eines Entwaffnungsschlags und verknüpft mit dem Versuch, die Zerstörung des eigenen Territoriums durch gegnerische Waffen möglichst gering zu halten, waren die USA immer darauf bedacht, ihren Vorsprung zu bewahren. Den nächsten Schritt im Aktions- und Reaktionsmechanismus leiteten deshalb zumeist die USA als erste ein. Im Rüstungswettlauf trieben sich beide Seiten mit zunehmender Zielgenauigkeit ihrer Raketen, dem Einsatz von Mehrfachsprengköpfen, der unverwundbaren Stationierung von Raketen zu Lande und auf dem Wasser, der Entdeckung von Überraschungsangriffen durch Beobachtungssatelliten und dem Streben nach kürzeren Vorwarnzeiten durch den Einsatz von Mittel- und Kurzstreckenraketen sowie Cruise Missiles und der Zerstörung des Angreifers durch zielgenaue Abfangraketen auf die jeweils nächsthöhere Stufe des Aktions- und Reaktionsmechanismus voran. In ihrem Ringen um die wirksamste Erst- und Zweitschlagkapazität bis hin zum Entwaffnungsschlag ging es immer darum, das Vernichtungsrisiko des Gegners gravierend zu erhöhen, so dass er vom Einsatz seiner eigenen Raketenstreitmacht Abstand nahm und − spieltheoretisch betrachtet − in Konfliktkonstellationen lieber einen für ihn ungünstigen Kompromiss akzeptierte als auf der Eskalationsleiter mit ungewissem Ausgang immer weiter voranschreiten zu müssen. Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte jedoch eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Diese für eine duale Hegemonie ausschlaggebende Konstellation steht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht − nur durch den eigenen Willen begrenzt. In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren demnach beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potenzial an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. Da beide Seiten zu keinem Zeitpunkt exakt einschätzen konnten, welcher Handlungsspielraum für einen selbst und dem Kontrahenten tatsächlich zur Verfügung stand, führte das hohe Maß an Unsicherheit dazu, dass sie trotz härtester Konkurrenz zugleich ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der fragilen geopolitischen Stabilität und damit ihrer dualen Hegemonie entwickelten. Dieses Interesse trat insbesondere an geopolitischen Orten zutage, an denen unbedachte Schritte zu unkontrollierbaren Folgen führen konnten, wie z.B. zwischen West- und Ostberlin oder auf den Transitrouten durch die DDR, oder wenn nachgeordnete Mächte beabsichtigten, kurzzeitig in der etablierten Sicherheitsarchitektur des Ost-West-Konflikts auftretende ungeklärte Schwebezustände zum eigenen Vorteil zu nutzen (z.B. Emanzipationsbestrebungen vorwiegend der Westeuropäer im Gefolge des für die USA ungünstig ausgehenden Vietnamkrieges). Im Widerspruch zum immer vorhandenen gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der geopolitischen Stabilität (Sicherheitsarchitektur) handelten beide Mächte zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen. Die USA betrachteten ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivalen, während sie sich selbst als obersten Verteidiger der Freiheit dekorierten. Die Sowjetunion trat als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse auf und unterstellte den USA feindlichste Absichten gegen den Rest der Menschheit. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, handelten sie im Sinne eines Nullsummenspiels. Sie kümmerten sie sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwendige Erhaltung der geopolitischen Stabilität und verschoben statt dessen − gedankenlos − die Grenzlinie zwischen den für beide Seiten verfügbaren Handlungsoptionen zuungunsten des jeweils anderen. Die Sowjetunion war kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts mit der Situation konfrontiert, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration. Jedoch auch die USA mussten − wenn auch erst einige Jahre später − akzeptieren, dass das Ende der dualen Hegemonie zugleich auch ihren hegemonialen Anspruch untergraben hatte. 2.1. Rüstungs- und Abrüstungsintentionen Stellt man nach dieser notwendigen Erinnerung zum Verlauf des Ost-West-Konflikts die Frage nach der positiven oder negativen Einschätzung des Einsatzes von Raketen, fällt die Antwort zwiespältig aus. Die Freude der US-amerikanischen und sowjetischen Rüstungsindustrie fiel überschwänglich aus. Fast vierzig Jahre lang war es beiden gelungen, mit dem warnenden Hinweis auf den bereits nahezu uneinholbaren Vorsprung des Gegners die jeweils eigene Regierung zu Erhöhung des „Verteidigungs“haushalts zu bewegen.
2.2. Sinnlosigkeit des Aktions- und Reaktionsmechanismus Die mit der Installation von Raketen und Antiraketen intendierte Abschreckung bzw. Einschüchterung des Gegners erfüllte immer nur vorübergehend die ihr zugedachte Rolle, denn nach jeder Aktion der einen Seite folgte die Reaktion der anderen. Sowjetische Aufholeffekte vernichteten regelmäßig die zunächst herausgeholten Vorsprünge der USA. Verteidigungsanstrengungen auf der Basis des Einsatzes von Raketen waren insofern immer nur vorläufiger Natur und erzielten nicht die insgesamt mit ihnen verknüpften Hoffnungen. Dieser einfachen Abfolge von Aktion und Reaktion das Etikett der „Notwendigkeit“ umzuhängen, wie es die früheren zwei Außenminister der USA Henry Kissinger und George Shultz zusammen mit dem früheren US-Verteidigungsminister Bill Perry und dem ehemaligen US-Senator Sam Nunn propagiert haben, ist Unsinn. Im umfassenden Sinn war nukleare Abschreckung niemals „rational und notwendig“, weder als Nullsummenspiel und schon gar nicht als Handlungsweise der Kontrahenten innerhalb einer dualen Hegemonie. Der Rüstungswettlauf zwang zwar die Sowjetunion zuerst ökonomisch in die Knie, aber den USA blieb der Niedergang ihrer Hegemonialposition ebenfalls nicht erspart. Er ereilte sie jedoch erst, nachdem viele Jahre später Präsident George W. Bush im Krieg gegen den Terror die Ressourcen der USA nachhaltig geplündert hatte und die Finanzkrise den bereits eingetretenen Glaubwürdigkeitsverlust noch verstärkte. Wie soll man den Widerspruch zwischen dem späten Eingeständnis der vier für den Rüstungs- und Abschreckungswettlauf des Ost-West-Konflikts auf amerikanischer Seite Mitverantwortung Tragenden aufklären, dass sie jetzt die Vision einer von nuklearen Waffen freien Welt als bessere Alternative zur Abschreckung propagieren und zugleich darauf beharren, dass der damals von ihnen entscheidend vorangetriebene Aktions- und Reaktionsmechanismus „rational“ und „notwendig“ gewesen sei? Welcher eigenartigen Vorstellung von Rationalität folgen sie und wie sieht ihre Begründung für notwendiges Handeln aus? 2.3. „Abrüstungserfolge“ Angesichts des für die Kontrahenten des Ost-West-Konflikts niederschmetternden Ausgangs der Raketenüberrüstung sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass der Rüstungswettlauf für beide Seiten noch kostspieliger geworden wäre, wenn es zuweilen − trotz des Klimas der irrationalen Konfrontation − nicht gelungen wäre, in Abrüstungsverhandlungen einige offensichtliche rüstungstechnische Fehlentwicklungen von vornherein zu vermeiden. Der beiderseitige völlig sinnlose „overkill“ konnte so wenigstens in Grenzen gehalten werden. Unerreichbar blieb jedoch ein weiteres Minimalziel. Die Begrenzung atomar gerüsteter Mächte auf fünf Staaten, zugrunde gelegt und verankert im
3. „Missile Defense“ als Mittel des globalen Hegemonieanspruchs der USA Adj. Prof. Dr. Bernd W. Kubbig, Direktor des Internetprojekts „Ballistic Missile Defense Research“ der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, bezog sich in seinem Vortrag zur Eröffnung der Konferenz auf den globalen Hegemonieanspruch der USA und das daraus resultierende unilaterale Handeln, wie er insbesondere unter George W. Bush zu Beginn des Irakkrieges als ultimative Aufforderung zur Teilnahme an der Seite der USA („coalition of the able and willing“) formuliert worden ist. Der Anspruch basierte technologisch auf einer Raketenabwehr, die zu einem hohen Grad jedoch noch unerprobt und nicht ausreichend getestet war. Das amerikanische „antiballistic missile system“ sollte die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten vor einer begrenzten Anzahl anfliegender Angriffsraketen aus sogenannten Schurkenstaaten wie Nordkorea oder Iran schützen, aber nach Aussage einiger Experten war und ist es auch gegen China und Russland gerichtet. 3.1. Vorgetäuschte Effektivität von US-Abfangsystemen Kubbig unterzog sich der Aufgabe, acht Jahre nach einer entsprechenden Behauptung des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers William Cohen (vom 26. April 2000) und sechs Jahre nach der einseitigen Aufkündigung des Vertrages über Anti-Ballistic Missiles (ABM) durch die Bush-Administration, die Wirksamkeit von Abfangsystemen zu untersuchen. Cohen hatte damals erklärt: „We have a retaliatory capability that if anyone should ever be foolhardy enough to launch a missile attack of a limited or expanded nature against the Unites States, they would be destroyed in the process. That ordinarily should be a sufficient deterrent for the North Koreans, Iran, Iraq or any other country that would seek to acquire this capability.“ (ibid. S. 15). Nachdem sieben Jahre später Daniel Fried vor einem Ausschuss des amerikanischen Kongresses als Begründung für die Aufstellung von Abfangraketen in Polen anführte, die USA wollten Europa von einer atomaren Bedrohung durch Iran beschützen, fragte sich Kubbig, ob Cohen im Jahre 2000 mit seiner Behauptung wider besseres Wissen von einem umfassenden Schutz für die USA und die Verbündeten ausgegangen sei und warum der Iran ausgerechnet seinen größten Handelspartner, die Europäische Union, mit Raketen bedrohen sollte? (ibid.) Wie brüchig die amerikanische Argumentation damals war und bis heute ist, zeigte Kubbig an einem weiteren Zitat aus dem Entwurf des Pentagons „Doctrine for Joint Nuclear Operations“ aus dem Jahre 2005 auf. Darin beschränkte sich die Abwehr von Raketen nur noch auf die Ansammlung von Streitkräften (S.17). Am 23. April 2008 mussten die USA selbst bekennen, wie unzulänglich ihre bisherigen Systeme sind. Daniel Fried sagte vor dem Unterausschuss Europa des amerikanischen Kongresses: „Preemption has its downsides, rather serious ones. So does retaliation. When I think 25 years into the future, a modest missile defense system can be deeply stabilizing. A massive defense system is probably unachievable technologically. That is, if you’re trying to defend against the Russian strategic arsenal, can’t do it. So don’t try. Against smaller threats, there’s a strong strategic argument.“ (ibid. S.18). [zu Deutsch etwa: Das Angriffsvorrecht hat seine Nachteile, sogar sehr gewichtige, wie auch ein Gegenschlag. Wenn ich 25 Jahre in die Zukunft blicke, dann sehe ich, dass eine gemäßigte Raketenabwehr sehr stabilisierend wirken kann. Ein vollständiges Verteidigungssystem ist aber wohl technologisch unereichbar. So z.B. wenn man gegen das russische strategische Arsenal sich schützen wollte; das geht so nicht. Also sollte man es nicht versuchen. Für Verteidigung gegen kleinere Bedrohungen hingegen gibt es starke strategische Argumente.] Kubbig schlussfolgerte, die Befürworter von Antiraketensystemen könnten ihre vollmundigen Versprechen nicht bis in die Gegenwart einhalten. Er überließ es der sich anschließenden Podiumsdiskussion zwischen amerikanischen und deutschen Teilnehmern, die Unterschiede in der Beurteilung dieser Systeme aufzuzeigen. 3.2. Technische Machbarkeit und Motivation der Aufstellung von Raketenabwehrsystemen? 3.2.1. Technische Machbarkeit Im ersten Panel zur Frage der technischen Machbarkeit eines amerikanischen Raketenabwehrsystems für Europa (Teilnehmer: Dr. George Lewis, Cornell University, Ithaca, N.Y, Dr. Timur Kadyshev, Moscow Institute of Physics and Technology, Moskau, Dr. Jürgen Altmann, Technische Universität Dortmund) wurde insbesondere von Jürgen Altmann am Beispiel der möglicherweise vom Iran auf Europa abgefeuerten Raketen veranschaulicht, welche Probleme bei der rechtzeitigen Erkennung und beim Abschuss durch Antiraketen auftauchen. In der kurzen Phase, in der Antriebsmotoren die Raketen auf ihre ballistische Bahn in Richtung Europa schießen würden, könnten deren heiße Abgase sichere Orientierungsdaten liefern. Die Stationierungsorte der Antiraketen müssten jedoch nahe genug am iranischen Territorium liegen, damit sie ihr Ziel noch in der Brennphase der Angriffsraketen aufspüren und treffen können. Ideal wäre ihre Stationierung in Aserbaidschan, wie es die russische Regierung vorgeschlagen hat. Sind erst einmal die Raketenmotoren ausgeschaltet, fliegen die Raketen auf ihrer ballistischen Bahn in großer Höhe antriebslos und deshalb kaum zu orten weiter und können erst nach ihrem Wiedereintritt in den erdnahen Luftraum von in Polen startenden Antiraketen zerstört werden. Wenn sie bereits auf ihrer ballistischen Anflugbahn Richtung Europa mehrere, selbständig Ziele ansteuernde Sprengköpfe ausgestoßen haben, sind die ihnen entgegengeschickten Antiraketen nicht in der Lage, zwischen einer Vielzahl von Attrappen und den wenigen scharfen Sprengköpfen zu unterscheiden. Es müssten also schon sehr viele, mit hoher Geschwindigkeit fliegende Antiraketen bereitgestellt werden, um das in dem Beispiel unterstellte iranische Angriffspotential wirksam auszuschalten. Ganz anders sähe laut Altmann die Situation aus, wenn die im Osten Polens stationierten Raketen nicht gegen anfliegende iranische Raketen eingesetzt würden, sondern gegen die gegenwärtig durch keinerlei Informationen zu begründendende Unterstellung, dass Russland Angriffsraketen gegen seinen wichtigsten Handelspartner, die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und darunter insbesondere Deutschland, in Stellung gebracht hat und auch mit ihrem Einsatz droht. Nebenbei bemerkt steuern russische Angriffsraketen, die auf amerikanisches Territorium zielen, über das Nordpolargebiet und nicht über Europa hinweg ihr Ziel an. Die russische Regierung sähe sich also im Falle der amerikanischen Antwort auf die Russland unterstellte Vermutung genötigt, in Vereinbarungen mit der weißrussischen Regierung gleich hinter der polnischen Grenze ebenfalls Antiraketen zu stationieren, um die kurze Brennphase der amerikanischen Antriebsmotoren für ihre Früherkennung und sichere Vernichtung zu nutzen. Außerdem wüsste sie nicht, ob den anfänglich stationierten Abfangsystemen nicht still und heimlich die Stationierung zielgenauer, bunkerbrechender amerikanischer Angriffsraketen folgt. Ob es sich zunächst um amerikanische Antiraketen handelt oder später um Angriffsraketen, der Luftkampf würde sich über polnischem Territorium abspielen und hätte unter Umständen verheerende Folgen für die dort ansässige Bevölkerung. Selbst eine polnische Regierung unter der Regie der beiden Kaczyński-Brüder wäre wahrscheinlich nicht in der Lage, die negativen Auswirkungen zu akzeptieren, sie der bedrohten Bevölkerung zu erklären und ihr plausibel zu machen, dass sie mit ihrem Leben für die ausschließlich im Interesse der USA in ihrer Nähe stationierten Raketen bezahlen soll. Keine von amerikanischer Seite angebotene Vergünstigung in der Ausstattung der polnischen Armee mit amerikanischen Waffensystemen würde wahrscheinlich lukrativ genug erscheinen, um der bedrohten Bevölkerung als Ausgleich für ihre potenzielle Vernichtung dienen zu können. Sie ist ja auch mehrheitlich gegen eine Stationierung. Ebenso dürfte die Europäische Union einen eventuellen Alleingang Polens als unfreundlichen Akt ansehen, durch den ihr Verhältnis zu Russland ohne ausreichenden Grund massiv beeinträchtigt wird. Die bereits erfolgte Zustimmung der tschechischen Regierung für die Stationierung eines amerikanischen Radarsystems ist unter dem gleichen Blickwinkel zu betrachten. Sie läuft ebenfalls Gefahr, das Gesamtinteresse der EU zu missachten und dient letztlich auch nicht dem wohlverstandenen nationalen Interesse Tschechiens. Auch hier lehnt eine Mehrheit der Tschechen das amerikanische Radarsystem ab. 3.2.2. Motive der USA Naheliegend erscheint dem Berichterstatter folgende Schlussfolgerung: Die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Antiraketen in Polen (oder wie angedeutet in Litauen, für den Fall, dass Polen sich verweigert) ist Teil der Gesamtstrategie der USA zur Wiederbelebung des Ost-West-Konflikts und verletzt die grundlegenden Interessen Europas. Die anlässlich der Unterzeichnung des US-amerikanisch-tschechischen Vertrages zur Errichtung einer US-Raketenabwehranlage am 8. Juli 2008 in Prag von der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice gewählten Worte sind ein deutliches Zeichen. Sie unterstellte Russland, in Abchasien als Aggressor gegen Georgien vorzugehen und unterschlug sowohl die bisher − nach der Zeugenaussage eines deutschen Beobachters vor Ort − sehr zurückhaltende russische Verhaltensweise und vor allem das bereits zur Zeit der Sowjetunion gespannte Verhältnis der moslemischen Bevölkerung Abchasiens zum christlichen Georgien (dazu auch Karl Grobe, Radar gegen Papiertiger, Frankfurter Rundschau 9. Juli 2008). Schon in den achtziger Jahren betonten offizielle Vertreter Abchasiens gegenüber Gästen ihre exklusiven Beziehungen zu Moskau und deuteten damit an, dass die Zugehörigkeit Abchasien zu Georgien sehr unbeliebt sei. Die amerikanische Vorgehensweise demonstriert beispielhaft, wie schwach und teilbar die EU von der Bush-Administration eingeschätzt wird und in welcher abfälligen Weise sie Europa zum Exerzierfeld ihrer globalen Interessen machen will. Nach der bitteren Erfahrung, welche die gesamte europäische Bevölkerung im vergangenen Ost-West-Konflikt gemacht hat, verdient eine solche Politik die Ablehnung aller Europäer (einschließlich der Bevölkerung Polens und Tschechiens) und fordert das Vereinigte Königreich (U.K.) auf, deutlicher als bisher zwischen seinen atlantischen und europäischen Interessen zu unterscheiden. Keine noch so große, obgleich unbegründete, Angst vor dem wiedervereinten Deutschland und einem engen deutsch-russischen Verhältnis, das von manchen als Last für die übrigen Europäer eingeschätzt wird, rechtfertigt die Auslieferung an globale Interessen der Bush-Administration. Wer diese Ängste pflegt, hat die Architektur des alten Ost-West-Konflikts nicht verstanden und trägt zur Entfaltung einer Entwicklung bei, die Europa einer Neuauflage des alten Konflikts näher bringt. 3.3. Zurückweisung des US-amerikanischen Hegemonieanspruchs Das zweite Panel fragte nach der militärischen Notwendigkeit einer weltumspannenden Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika, den ihr zugrunde liegenden Motiven und der Beschreibung von Bedrohungen, die danach vom Iran, Russland und China ausgehen. Nachdem der Vertreter der USA, Prof. Dr. Kenneth Moss von der National Defense University Washington D.C., alle möglichen Arten von Bedrohungen aufgezählt und erläutert hatte, denen sich die USA ausgesetzt sähen und fortgesetzt erwehren müssten, entgegneten ihm die Diskutanten auf dem Podium einhellig, dass die den Bedrohungsanalysen zugrunde liegenden Hegemonievorstellungen der USA realitätsfern seien. Die USA sollten davon abrücken und zu einer realistischen Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage gelangen. Prof. Dr. Khalid Al-Dakhil von der King Saud University forderte die USA auf, Gespräche mit dem Iran aufzunehmen und nicht in Bedrohungsszenarien zu verharren, Dr. Alexander Pikayev vom Institute for World Economy and International Relations in Moskau bezog sich in seinem Diskussionsbeitrag vor allem auf die der Raketenstationierung in Polen zugrunde liegenden Bedrohungsanalysen, aber wies sie energisch zurück. Russland bedrohe die USA nicht, sondern wünsche gute Beziehungen mit den USA. Prof. Dr. Xia Liping vom Shanghai Institute for International Studies hob ebenfalls hervor, dass China für die USA keine Bedrohung darstelle und die USA sich endlich von nicht mehr aktuellen Hegemonievorstellungen lösen sollten. China müsse wenigstens sicherstellen, dass für den Fall eines amerikanischen Entwaffnungsschlages noch eine bzw. einige Raketen unversehrt übrig bleiben. Nicht mehr und nicht weniger strebe China an. Daraus könne keine Bedrohung der USA abgeleitet werden. Paul Schäfer von der Fraktion der Linken im Bundestag erzählte von seinen Begegnungen mit iranischen Politikern anlässlich seines Aufenthalts in Teheran. Er hätte den Eindruck gewonnen, dass iranische Politiker zwar sehr selbstbewusst, aber keinesfalls selbstgerecht und selbstmörderisch seien. Der Westen sollte mit ihnen ernsthaft verhandeln und die Sicherheitslage, so wie sie sich dem Iran darstelle, in seinen strategischen Überlegungen berücksichtigen und in die Verhandlungen mit dem Iran einbeziehen. 3.4. Erhöhen US-Raketenabwehrsysteme die internationale Sicherheit? Das dritte Panel hatte die Konsequenzen der gegenwärtigen amerikanischen Pläne für Rüstungskontrolle und internationale Stabilität zum Inhalt. Ungeachtet der vorherigen Diskussionen über die Machbarkeit eines amerikanischen Raketenabwehrsystems und der disfunktionalen Stationierung von Antiraketen in Polen gegen iranische Raketen vertrat der eine Teil der Diskutanten die Meinung, dass die Stationierung von Antiraketen in Polen in jedem Fall der Rüstungskontrolle und internationalen Stabilität diene, während der andere Teil seine Zweifel an der Richtigkeit der Raketenstationierung äußerte. Zu den Befürwortern zählte Dr. Oliver Thränert von German Institute for International Politics and Security in Berlin und Dr. Uzi Rubin, Fmr. Sen. Director for Proliferation and Technology, Israeli National Security Council, Tel Aviv. Beide betonten, dass Verhandlungen über Rüstungskontrolle an der Stationierung von Antiraketen in Polen nicht scheitern müssten. Nicht nur Wirtschaftssanktionen gegen den Iran seien geeignet, der iranischen Führung vor Augen zu führen, wie risikoreich die Pläne der (dem Iran unterstellten) atomaren Aufrüstung seien. Zwar unausgesprochen, aber dennoch im Hintergrund präsent war die Mahnung an die russische Führung, angesichts der Stationierung von Antiraketen in Polen und der daraus folgenden negativen Implikationen für Russland den westlichen Sanktionen gegen den Iran nicht mehr nur verbal zuzustimmen, sondern Taten folgen zu lassen. Juri Schneider vom Prague Security Studies Institute in Prag gehörte zur zweiten Fraktion. Er sprach sich vehement gegen den Bau von Radaranlagen in Tschechien und die Stationierung von Antiraketen in Polen aus, befürwortete aber Rüstungskontrollverhandlungen und die Einhaltung des Nichtweiterverbreitungsvertrages für Atomwaffen. 3.5. Wie wirksam sind Antiraketensysteme gegen den Katjuscha-Raketenwerfer und Mittelstreckenraketen? Das vierte Panel beschäftigte sich mit der Sicherheitsproblematik auf regionaler Ebene (Iran, Hamas und Hezbollah) und suchte nach Antworten auf die Frage, ob Antiraketen gegen Kurzstreckenraketen wirksam eingesetzt werden können. Uzi Rubin, vielleicht bereits in Kenntnis israelischer Tests zur Raketenabwehr von primitiven Kurzstreckenraketen (Katjuscha-Raketenwerfer) und Mittelstreckeraketen mit Mehrfachsprengköpfen, vertrat die Auffassung, dass man Raketenangriffen aus dem Gazastreifen oder von Libanon und dem Raketenbeschuss aus dem Iran künftig wirksam begegnen könne, während sein israelischer Kollege Pedatzur die Entwicklung solcher Abwehrsysteme als nicht realisierbar ansah. Pedatzur hielt Rubin die primitive Machart von Katjuschas entgegen, die in sehr großer Anzahl hergestellt und von Gaza oder dem Libanon aus auf die Grenzgebiete Israels abgeschossen werden könnten. Werde Israel mit Mittelstreckenraketen angegriffen, die kurz vor ihrem Wiedereintritt in die erdnahe Luftschicht eine Vielzahl von Attrappen und scharfen Sprengköpfen ausstoßen könnten, gäbe es dagegen keine wirksame Verteidigung. Die aus diesen unterschiedlichen Betrachtungsweisen resultierenden Antworten auf Raketenangriffe waren eindeutig. Der eine befürwortete eine harte Haltung gegenüber Iran, Hamas und Hezbollah, während der andere den Verständigungsfrieden mit den Nachbarn Israels suchte. Ob Israel in der Zwischenzeit tatsächlich ein wirksames Abwehrsystem gegen Raketenangriffe entwickelt hat, wird erst die Zukunft zeigen. Die bloße Ankündigung zielt entweder auf Einschüchterung oder erwünscht sich vielleicht eine panikartige Reaktion, in der die Führer von Hamas den momentanen Waffenstillstand nicht mehr gegen Untergruppen durchsetzen können. 4. Keynote Speeches Vor und zwischen den Panels hielten Dr. Hans Blix, Fmr. Director General, IAEA, und Frm. Minister for Foreign Affairs, Kingdom of Schweden, Stockholm, H.H. Prince Torki M. Saud Al-Kabeer, PhD., Deputy Minister for Multilateral Relations, Kingdom of Saudi Arabia, Riyadh, und Dr. Mohammed Javad A. Larijani, Fmr. Debuty Foreign Minister of the Islamic Republic of Iran und Director of the Institute for Studies in Theoretical Physics and Mathematics, Keynote Speeches. 4.1. Hans Blix: Abrüstungsvisionen und die Aussicht auf eine von Massenvernichtungswaffen freie Zone im Nahen Osten Blix betonte die positiven Effekte der zunehmenden Interdependenz und ökonomischen Integration zwischen Japan und China, Europa und Russland. Dadurch werde die Versuchung, in den gegenseitigen Beziehungen auf Bedrohungsszenarien und den Einsatz militärischer Mittel zurückzugreifen, reduziert. Die beteiligten Mächte hätten begriffen, dass militärische Konfrontation nicht förderlich ist für ihr weiteres Zusammenwachsen. Mit nachdrücklichem Verweis auf die Sicherheitsdoktrin der USA erwähnte er jedoch pessimistische Stimmen, die insbesondere in Ministerien der Verteidigung beheimatet seien und aus deren Sicht die Entsendung von Kriegsschiffen und Flugzeugen immer als Option zur Bekämpfung von Konflikten vorgehalten werden müsse. Auf indirekte Weise sprach Blix damit die hegemonialen Bestrebungen der USA an, mittels einer neuen Containmentstrategie die Strukturen des vormaligen Ost-West-Konflikts wieder zu beleben und Russland und China aus der sogenannten Liga der Demokratien auszuschließen. Im Gegensatz dazu strebte Blix eine Politik der aktiven Kooperation an, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts für einige Jahre betrieben wurde (z.B. beim Verbot chemischer Waffen im Jahre 1993). Nach dem ersten Dämpfer im Jahre 1998 durch die Zurückweisung des Atomteststopp-Abkommens im amerikanischen Senat sei sie nach dem 11.9.2001 ganz aufgegeben und von einer Politik der Überlegenheit US-amerikanischer militärischer Macht abgelöst worden, die ihren prägnanten Ausdruck im − internationales Recht verletzenden und ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats begonnenen − gegen den Irak geführten Krieg gefunden hätte. Inzwischen sei jedoch das Vertrauen in die militärische Überlegenheit sowohl im Irak wie im Libanon verloren gegangen und die Vereinten Nationen seien gestärkt aus der Entwicklung hervorgegangen. Als Beispiele führte er die Verhandlungen mit Nordkorea und dem Iran an, setzte jedoch im Falle des Irans ein vorsichtiges „Bisher“ hinzu. Blix gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass mit den vorbereitenden Verhandlungen zur Verlängerung des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) im Jahre 2010 erneut eine Periode der aktiven Kooperation beginnen könne. Voraussetzung sei, dass die auf Bush folgende neue amerikanische Administration sich aufgeschlossener zeige, bereit sei, die gegenwärtig vergifteten amerikanisch-russischen Beziehungen zu verbessern und die Verhandlungen mit Nordkorea und dem Iran erfolgreich abgeschlossen werden können. Noch viel wichtiger sei, dass die atomar gerüsteten Staaten endlich mit der Reduzierung ihrer Waffenarsenale begäinen. Nur dann gingen sie mit gutem Beispiel für den Besitz von Atomwaffen voran. Als Ratschlag gab er den Politikern auf den Weg, die europäische Strategie gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen aus dem Jahre 2003 zu beherzigen. Darin heiße es: „The best solution to the problem of proliferation of WMD is that countries should no longer feel they need them. If possible, political solutions should be found to the problems, which lead them to seek WMD. The more secure countries feel, the more likely they are to abandon programs …“. [zu Deutsch etwa: Die beste Lösung des Problems der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist, wenn Länder nicht mehr meinen, dass sie diese bräuchten. Wenn möglich, sollten politische Lösungen für die Probleme gefunden werden, welche Länder dazu bringen, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Je sicherer sich die Länder fühlen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Abrüstungsprogrammen zustimmen.] In diesem Sinne solle man, so Blix, den israelisch-arabisch/iranischen, den nordkoreanisch-amerikanischen und den indisch-pakistanischen Konflikt entschärfen. Im Falle Israels könne man Israel als Gegenleistung für die Abschaffung israelischer Atomwaffen die Nato-Mitgliedschaft anbieten, so dass der gesamte Nahe Osten atomwaffenfrei und der Iran alle eventuellen Bestrebungen nach Atomwaffen aufgeben könne. Blix kam abschließend zu folgenden Schussfolgerungen: Wenn man vom Iran nicht mehr das Ende der Urananreicherung fordere, bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen, die Belieferung mit angereichertem Uran für die zivile Atomwirtschaft garantiere, seine Unterstützung für den Beitritt des Irans zur WTO verspreche, Investitionen im Iran vornehme und die bestehenden Sanktionen aufhebe, sei man einer friedlichen Lösung des Konflikts näher gekommen. Blix wunderte sich darüber, dass man gegenüber dem Iran bisher als Gegenleistung für den Verzicht auf nukleare Anreicherung keine Garantie abgegeben habe, ihn künftig nicht anzugreifen und keinen Regimewechsel herbeizuführen. Genau jene Garantien hätte man Nordkorea gegeben, um Nordkorea von der Produktion von Atomwaffen abzubringen. Blix beendete seine Ansprache mit der Feststellung, er verstehe nicht, dass man alle diplomatischen Bemühungen als bereits ausgeschöpft erklären könne, bevor man nicht auch diese Garantien auf den Verhandlungstisch gelegt habe. So naheliegend seine Forderung auch ist, scheint Blix hier zu übersehen, dass die geographische Lage Nordkoreas nicht vergleichbar ist mit derjenigen des Iran. China kann außerdem gegenüber dem nordkoreanischen Regime auf eine erhebliche Zahl von Druckmitteln zurückgreifen. Das Ende aller amerikanischer Bestrebungen nach einem Regimewechsel im Iran würde bedeuten, darauf zu verzichten, im Iran ein USA-freundliches Regime nach dem Muster des Schahs zu etablieren, das den USA den Zugriff auf die iranischen Erdöl- und Erdgasvorkommen offeriert (wie jetzt bereits von der irakischen Regierung gefordert). Außerdem wäre es das Ende für alle amerikanische Versuche, über iranisches Territorium Zugang zu den zentralasiatischen Öl- und Gaslagerstätten zu erhalten. Blix scheint den bisher trotz aller Niederlagen ungebrochenen Anspruch der Bush-Administration auf Aufrechterhaltung einer hegemonialen Position zu unterschätzen. 4.2. H.H. Prince Torki M. Saud Al-Kabeer: Eine gemeinsame Sicherheitsstrategie für den und im Nahen Osten bzw. in der Golfregion Bereits vor dem Vortrag verdeutlichten anwesende Vertreter Saudi Arabiens die arabische Grundposition im arabisch-israelischen Konflikt. Ihrer Ansicht nach wäre es möglich, den Teufelskreis von „Vertreibung der Vertreiber, der Vertriebenen durch die Vertriebenen“ mit einer gemeinsamen arabisch-israelischen Sicherheitsstrategie zu durchbrechen. Die Grundposition lässt sich in folgenden Sätzen zusammenfassen: Nach der Jahrhunderte zurückliegenden Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat und der Besiedelung der entleerten Gebiete durch Araber, deren Nachgeborene nicht für die Vertreibung der Juden verantwortlich gemacht werden können, rechtfertige auch das entsetzliche Verbrechen an den Juden in Nazideutschland (Holocaust) nicht die Errichtung eines rein jüdischen Staates, aus dem Teile der angestammten Bevölkerung unter Zwang vertrieben wurden, andere freiwillig gingen und einige des im Lande verbliebenen Teils über einen minderen gesellschaftlichen Status klagen. Akzeptabel und human wäre es gewesen, ein Zusammenleben der angestammten mit der zugewanderten Bevölkerung in einem Staat zu organisieren, der von beiden Gruppen gemeinsam und einvernehmlich getragen wurde und Jerusalem zur Hauptstadt erklärte. (Das dies möglich gewesen wäre, beglaubigten noch im britischen Protektorat Palästina geborene Juden. Zum Beispiel zeigten sich einige unter ihnen unmittelbar nach dem Sechstagekrieg im Jahre 1967 entsetzt über die nunmehr Platz greifende Auffassung unter ihren Mitbürgern, dass ein Zusammenleben mit den Arabern niemals mehr möglich sein werde. Für sie war damit der Weg eines andauernden Zerwürfnisses mit bitteren Folgen für Israelis und Araber vorgezeichnet.) Vor dem Hintergrund der arabischen Grundposition entwarf Prince Torki M. Saud Al-Kabeer eine Sicherheitsstrategie, die Israelis und Palästinenser über ein Nebeneinander zum Miteinander führt. Aus einem friedlichen Nebeneinander von Israel und Palästinensischem Staat könne jedoch nur dann ein gemeinsamer Staat werden, wenn der noch zu gründende palästinensische Staat lebensfähig sei und Israel seine Siedlungspolitik bis zu den Grenzen von 1947 zurücknehme. Die fortdauernde Einverleibung palästinensischen Gebietes in das Stadtgebiet von Jerusalem sei der Todesstoß für jede gemeinsame Sicherheit. Für Prince Torki M. Saud Al-Kabeer hätte eine dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts Signalcharakter für die gesamte Golfregion. 4.3. Mohammed Javad A. Larijani: Wege zu einer sinnvollen Interaktion zwischen dem Iran und dem Westen Larijani bezog sich während seiner umfangreichen Ausführungen über die iranische Politik, die auf den fünf Grundwerten der Pancasila
Das Existenzrecht der israelischen Bevölkerung darf danach nicht verwechselt werden mit dem beanspruchten Existenzrecht eines israelischen Staates. Der Holocaust kann nach dieser Grundposition nicht als Rechtfertigung für die Aufteilung von Israelis und Palästinenser in zwei unterschiedliche Staaten genommen werden. Als Irans Präsident Ahmadinedschad das Ende des israelischen Staates gefordert habe, habe er nicht den Holocaust geleugnet. Der Newsletter der israelischen Botschaft sah in den Ausführungen Larijanis „eine Iranische Hetze gegen Israel“ (Yedioth Ahronot, 26.06.08). Die Konferenz habe ein Forum für antiisraelische Hetze geboten. Wörtlich hieß es: „Ein wirklich schlimmer Skandal… und das in der Hessischen Landesvertretung in Berlin!!!!!!!!!!“. Laut Yedioth Ahronot hätte der frühere stellvertretende Außenminister des Iran, Mohammad Javad Ardashir Larijani, „zur Annullierung des ‚zionistischen Projekts‘ aufgerufen, das in den vergangenen 60 Jahren … zu einem „fehlgeschlagenen Plan“ geworden sei, das „nur Gewalt und Grausamkeiten“ geschaffen habe.“1 Auf wen diese harsche israelische Reaktion zielte, nahm Larijani bereits in seinen Ausführungen indirekt voraus, als er seinen Eindruck nach Gesprächen mit europäischen Politikern schilderte. Wenn er mit ihnen über Konfliktlösungen spreche, hätte er jedes Mal den Eindruck, dass in ihren Hinterköpfen trotz aller Bereitschaft zum Zuhören und Durchdenken von Lösungsmöglichkeiten immer die bange Frage zirkuliere, was werden die Israelis dazu sagen? Larijani fragte sich, mit welcher Berechtigung sich Israel zum Vordenker der Europäer mache und aus welchen nicht unmittelbar einsichtigen Gründen die Europäer den Israelis diesen Status zubilligen? Larijani forderte dazu auf, „wenigstens für eine Weile“ den paranoiden Umgang mit dem Iran auszusetzen. „Wir sind offen für Verhandlungen, aber nicht offen für Befehle“. 5. Abschlussbetrachtung Die Konferenz zeichnete sich durch die Präsentation eines bemerkenswert hohen Maßes an Expertenwissen und den toleranten Dialog zwischen den Vortragenden untereinander sowie zwischen den Panellisten und dem Publikum aus. Im Unterschied zur Regierungskonferenz im Auswärtigen Amt nahmen an ihr auch Vertreter Syriens und des Irans teil. Der gesamte Diskussionsverlauf war weder durch Antiamerikanismus noch durch Antisemitismus bestimmt, es sei denn, Diskussionsteilnehmer verwechselten Kritik an US-amerikanischen und israelischen Positionen mit solchen Geisteshaltungen. Zustimmung und Kritik begleitete alle vorgetragenen Positionen in der gleichen Weise. Dennoch bleibt ganz allgemein festzuhalten: Es fällt offenbar einer auf Hegemonie pochenden Macht schwerer als einer allseits Anerkannten, kritische Äußerungen nicht nur zu dulden, sondern als in sich berechtigt anzuerkennen und mit gewichtigen Gegenargumenten zu kontern. Noch schwerer fällt es offenbar Vertretern Israels, zwischen der von ihnen beabsichtigten und der durch ihre Intervention tatsächlich erzielten Resonanz zu differenzieren. Wenn es der vom französischen Präsidenten Sarkozy geförderten Mittelmeerunion gelänge, das israelisch-arabische Verhältnis zu entkrampfen und beide Seiten in konstruktiver Weise miteinander ins Gespräch zu bringen, könnten Maximalforderungen zurückgenommen werden und ganz nebenbei fiele auch von Europa eine niederdrückende Last ab. ————————-- 1 Die Hessische Stiftung verwahrte sich gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus und betonte, dass sie vergeblich versucht habe, als Gegengewicht zu Larijani Minister der israelischen Regierung als Vortragende für die Konferenz zu gewinnen. Nur der ehemalige hohe Regierungsbeamte Dr. Uzi Rubin und Dr. Reuven Pedatzur von der Universität Tel Aviv vertraten die israelische Position, beide Israelis offensichtlich wegen der israelischen Absagen gleich auf zwei Panels. Rubin betonte ausdrücklich, dass er seine private Meinung vortrage. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/7bfeaf2640234a0da2a5c9877fbcee9c" width="1" height="1" alt="" /> 1. Vision einer Eurasischen Union
1.1 Die wirtschaftliche Situation Russlands Russland empfindet sich als Teil Europas und Asiens. Es ist eines der beiden führenden Mitglieder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Hauptsitz in Peking (China, Russland, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan). Es gehört zu den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, China, Indien, Südafrikanische Union), die ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen untereinander ausbauen, sich schrittweise von der Dominanz des US-Dollars lösen und diese Währung nicht mehr als Transferwährung in ihrem Handelsaustausch untereinander verwenden (wie übrigens auch schon im Handel zwischen China und Japan sowie China und Iran geschehen). Russland fördert und exportiert viele Rohstoffe (vor allem aber Erdöl, Erdgas) nach Europa und Ostasien und baut im Transportsektor seine Scharnierfunktion zwischen der EU und China aus. Ansätze zur Re-Industrialisierung sind erkennbar, aber auf absehbare Zeit wird die Förderung und der Export von Rohstoffen noch die Haupteinnahmequelle Russlands bleiben. “Basically”, notiert Piotr Dutkiewicz, “the 1990s were a period of rapid de-industrialization and ‘resourcialization’ of the Russian economy; the growth world fuel prices since 1999 seems to have reinforced this trend. The share of output increased from about 25 percent to over 50 percent by the mid 1990s and has stayed at that level since.” (Piotr Dutkiewicz, Missing in Translation: Re-conceptualizing Russia’s Development State, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin „Russia – The Challenges of Transformation“, New York 2011, S.9-40, S.11). Aber nicht nur Erdöl und Erdgas verzeichneten einen steigenden Anteil am Export, sondern auch andere Rohstoffe, wohingegen der Anteil von Maschinen und Ausrüstung sank sowie die Ausgaben für Forschung und Entwicklung drastisch schrumpften: Gemäß Dutkiewicz wuchs der Anteil der mineralischen Produkte, Metalle und Diamanten von 52 Prozent im Jahr 1990 (Sowjetunion) auf 67 Prozent 1995 und auf 81 Prozent im Jahre 2007, wohingegen der Anteil der Maschinen und Ausrüstungsgüter am Export von 18 Prozent im Jahre 1990 auf 10 Prozent 1995 und unter 6 Prozent im Jahr 2007 sank. Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben verzeichneten in den späten achtziger Jahren noch einen Anteil von 3,5 Prozent am Bruttosozialprodukt und fielen auf 1,3 Prozent im Jahre 2010 (ebd.). Als bedeutender Verursacher der De-Industrialisierung wird nicht nur der Niedergang des Militärisch-Industriellen Komplexes angesehen (Lev Gudkov, Russland in der Sackgasse – Stagnation, Apathie, Niedergang, Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.21-46, S.22), sondern auch das destruktive Verhalten der nach dem Ende der Sowjetunion zu privatem Reichtum gelangten Oligarchen: “After a wrenching transformation from communism to capitalism, Russia’s economy is extremely uneven; massive profits haven’t translated into either widespread economic opportunity or enough investment in new technology and other long-term sources of growth.”(Craig Calhorn, Forword of Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S. XI). Gefragt, warum die von ihm propagierte schnelle Transformation Russlands nicht die erwünschten Ergebnisse erbrachte, antwortete Jeffry Sachs: „Ich wollte, dass der Westen Russland mit einem Großprogramm aus der Krise hilft. Dass George Bush senior und später Bill Clinton und der Westen das ablehnten, ist deren Problem, nicht meins. Dass sie zuließen, dass die Korruption sich in Russland festsetzt, obwohl ich die Gefahr offen aussprach, als ich vom Beraterteam zurücktrat, ist auch deren Problem, nicht meins.“ („Amerika ist unzivilisiert“, Jeffrey Sachs im Gespräch mit Steven Geyer, Frankfurter Rundschau, 19.3.2012). Indirekt legte Sachs nahe, dass der Verfall Russlands zum Rohstoff- und Energielieferanten im Interesse der amerikanischen Führung lag: „Bush senior und Richard Cheney, Bill Clinton und Larry Summers erst als Weltbank-Chefökonom und dann als Vize-Finanzminister – und um das auch klar zu sagen: vor allem die russischen Eliten. Denn eines der Hauptprobleme im Land war die endemische Korruption.“(ebd.). Es verwundert nicht, dass laut Valdimir Popov das Bruttosozialprodukt Russlands im Jahre 2009 als Folge der Finanzkapitalkrise um 8 Prozent fiel (Vladimir Popov, The Long Road to Normalcy: Where Russia Now Stands, in: Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.41-71, S.69). Die russische Börse verlor mehr als 70 Prozent an Wert (Florian Hassel, Für Putin sputen sich die Parlamente, Frankfurter Rundschau, 22./23.11.2008). Der weltweit größte Aluminiumproduzent des Oligarchen Deripaskas stand mit 16.3 Mrd. Dollar im Obligo. Sieben ausländische Banken waren die größten Gläubiger (Stefan Scholl, „Am dreckigsten geht es den Gierigen“, Frankfurter Rundschau, 4.2.2009). Das statt in der Erneuerung der russischen Industrie auf dem globalen Finanzmarkt investierte Kapital der Oligarchen erwies sich als Fehlinvestition und die stark sinkende globale Nachfrage nach Energie und Rohstoffen sowie nach industriell produzierten Waren traf die extraktive Produktion und die veraltete russische Industrie ganz besonders hart. Mikhail K. Gorshkov analysierte die eingetretene Entwicklung. Er verschwieg nicht die negative Entwicklung der ersten zwanzig Jahre, aber erwähnte auch eine inzwischen eingetretene positive Entwicklung: „We should not deny the obvious problems: the Russian economy’s reliance on raw materials; the way Russia ignores the needs of consumers; the fact that its manufactured goods are extremely uncompetitive; the decline in production during the current crisis, which was relatively large in comparison with other national economies; those problems that limit Russia’s enormous potential for influencing global economic processes; its weak democracy and feeble civil society; negative democratic tendencies and ‘neo-Soviet’ social sectors; the existence of corruption leading to abuse of power; and, finally, the lack of freedom and justice … Nevertheless, we see that modern Russia ‘is no longer the semi-paralyzed semi-state it was ten years ago’” (Mikhail K. Gorshkov, „The Sociology of Postreform Russia, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O., S.145-189, S.152). 1.2 Bildung von Nationalbewusstsein in einem Vielvölkerstaat Nach dem Zerfall der Sowjetunion trat an die Stelle des vorherigen imperialen Bewusstseins das russische Nationalbewusstsein. Der Anteil der russischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung betrug nunmehr 79,8 Prozent.“ (Dmitrij Fuhrman, Russlands Entwicklungspfad – Vom Imperium zum Nationalstaat, Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.3-20, S.14). Unberücksichtigt in der neuen Identität blieb jedoch, dass auch das territorial geschrumpfte Russland ein Vielvölkerstaat war und ein nur auf die russische Identität bezogenes Nationalbewusstsein von den vielen kleinen Völkern mit außereuropäischer Herkunft abgelehnt wurde. Auf der Suche nach einem für alle Völker adäquaten Nationalbewusstsein Russlands verständigte man sich zunächst auf den ebenfalls ungenauen Begriff „Russländer“. Schließlich mündete die Diskussion in den Begriff „eurasisches Nationalbewusstsein“. In diesem geopolitisch ausgerichteten Begriff kam stärker zum Ausdruck, dass Russland territorial ein eurasisches Land ist und europäischstämmigen wie asiatischen Völkern mit christlich-orthodoxem Glaubensbekenntnis sowie Anhängern des moslemischen und buddhistischen Glaubens eine Heimat bietet. Vom eurasischen Nationalbewusstsein zur Bezeichnung Eurasische Union für ein Dreierbündnis Russland, Weißrussland und Kasachstan war der Weg nicht mehr weit. Der russische Präsident Putin propagierte schon seit längerer Zeit die Gründung einer Eurasischen Union. Aufbauend auf der Zollunion (in Kraft getreten Anfang Januar 2012) zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan wurde im November 2011 die Eurasische Union ins Leben gerufen. Bis 2015 ist ein barrierefreier Markt für den Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr geplant. „Sollte es gelingen, die Union als Bindeglied zwischen der EU und den asiatischen Märkten zu etablieren, könnte die russische Wirtschaft enorm von diesem Projekt profitieren.“ (Bericht des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft vom April 2012, in: http://www.ost-ausschuss.de). Am 16. Dezember 2011 trat Russland der Welthandelsorganisation (WTO) nach 18 Jahren mit Hindernissen gespickter Verhandlungen als letzte der großen Volkswirtschaften bei. Für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Abkommens im Sommer 2012 werden positive Folgen für die russische Wirtschaft erwartet. Der Beitritt Russlands schafft die Grundlage für die Einrichtung einer Freihandelszone mit der EU. Die Weltbank schätzt die dadurch entstehenden Wachstumsimpulse auf elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2021.(ebd.). Ob sich die nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig gewordenen zentralasiatischen Staaten Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan einer Eurasischen Union anschließen, ist zwar mehr als zweifelhaft, aber weniger fremdartig als beispielsweise die Auswahl des Namens „Russische Union“ klingt diese Bezeichnung in ihren Ohren schon. Prinzipiell könnte auch die Ukraine Mitglied der Eurasischen Union werden, zumal die Ostukraine und die Krim mehrheitlich von Russen besiedelt ist und sowohl dort wie anderswo “the overwhelming majority of Russians continue to regard the events and achievements of the Soviet era as major sources of national pride, ruling out any possibility of Russian society being divided in terms of value.” (Mikhail K. Gorshkov, ebd. S.174). Wie groß der Widerstand in der West- und Zentralukraine gegen eine Mitgliedschaft jedoch ist, zeigte sich an der handgreiflichen Auseinandersetzung von Abgeordneten im ukrainischen Parlament, als die Einführung der russischen Sprache als zweite Amtssprache in der Ukraine zur Debatte stand. Russland bietet der Ukraine bisher die Mitgliedschaft in der Zollunion an. Die Ukraine hingegen hat bereits ein Freihandelsabkommen mit der EU unterschriftsreif ausgehandelt. Sollte es eines Tages in Kraft treten und Russland nach Vollzug seines Eintritt in die WTO ebenfalls ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließen, würde die Differenz der beiden Freihandelsabkommen darüber entscheiden, ob für die Ukraine eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der Zollunion möglich ist. 1.3 Die Eurasische Union als Schutz gegen die Infiltration fremder Interessen Darunter versteht die russische Führung vornehmlich das Bestreben der USA, durch den Abschluss bilateraler Verträge mit den einzelnen Staaten Zentralasiens Einfluss auf deren Förderung von Rohstoffen und Energie zu gewinnen und durch die langfristige Stationierung von US-Truppen in Afghanistan den Weitertransport durch afghanisches und pakistanisches Territorium zum Indischen Ozean militärisch abzusichern (Valdai Discussion Club, Reconfiguration, Not Just a Reset: Russia’s Interests in Relations with the United States of America, Moskow, June 2009, p. 9/10). In der Verhinderung us-amerikanischen Vordringens nach Zentralasien existiert zwischen der russischen und chinesischen Führung Übereinstimmung, was nicht zugleich bedeutet, dass über die Aufteilung der Ressourcen Zentralasiens stets Einigkeit zwischen beiden Mächten besteht. Für die Versuche der Europäischen Union, in Zentralasien Fuß zu fassen, hat sich bisher das EU-Bestreben, Russland in der Versorgung von Öl und Gas südlich zu umgehen (durch Georgien, Aserbaidschan und das Kaspische Meer nach Turkmenistan und Kasachstan) als Hinderungsgrund herausgestellt. Ohne die Zustimmung Russlands ist eine Durchquerung des Kaspischen Meeres von Aserbaidschan nach Turkmenistan oder Kasachstan nicht realisierbar. Der seit langem bestehende Vertrag zwischen den Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres über dessen Nutzung gewährt der russischen Führung ein Einspruchsrecht. Zudem haben sich Turkmenistan und Kasachstan bereits 2007 an Gasprom gebunden. Im Dezember 2007 beschlossen die drei Staaten den Bau einer Erdgasleitung am Ostufer des Kaspischen Meeres (Fertigstellung in vier Jahren) und damit den Anschluss dieser Leitung an das russische Pipelinenetz (Karl Grobe, Russlands Pipeline-Pakt klemmt Europa ab, Frankfurter Rundschau, 24./25.12. 2007). Nachdem Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan bereits zum Nabucco-Projekt auf Distanz gingen, zeigte auch der Iran kaum noch Interesse. Der Iran konnte die Beteiligung von Gasprom an der im Mai 2009 beschlossenen Iran-Pakistan-Indien-Gaspipeline gewinnen (Elke Windisch/Kevin P. Hoffmann, Russen kooperieren mit Iran (Tagesspiegel, 30.5.2009). Nichtsdestoweniger hielt die EU im Verein mit den USA in den folgenden Jahren an der Umgehung Russlands fest. Westliche Konzerne wollten, wie Karl Grobe berichtet, insbesondere Turkmenistan für ihren Weltmarkt öffnen. „Das Nabucco-Projekt dient diesem Ziel. So wurde Georgien zum Teilnehmer im Gasröhrenpoker; die Rosenrevolution und der russisch-georgische Krieg haben Einiges damit zu tun.“ (Karl Grobe, Joschka Fischer inszeniert „Nabucco“, Frankfurter Rundschau, 27./28.6.2009). Während die von den USA vergeblich durch Druck auf Schweden hintertriebene Gaspipeline durch die Ostsee realisiert wurde, verringerten sich die Verwirklichungschancen für Nabucco immer mehr (USA wollen Ostseepipeline verhindern, Tagesspiegel, 13.9.2008). Trotzdem hielt die EU für den Fall eines Regimewechsels im Iran weiter an dem Projekt fest. Sobald jedoch die EU den Rohstoffförderländern zur Realisierung des Nabucco-Projekts konkrete Verhandlungen anbot, mussten jene Länder vor Verhandlungsbeginn entscheiden, ob die Nachteile, die ihnen in ihren umfangreichen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland entstehen würden, die Vorteile aus dem Geschäft mit Öl und Gas überwogen. Aserbaidschan musste sich bereits seit Eröffnung der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline mit der Frage befassen, ob im Falle eines kriegerischen Konflikts um Berg-Karabach russische Truppen die armenischen Streitkräfte unterstützen und ob dieser Nachteil die Vorteile aus dem Transport aserbaidschanischen Erdöls durch Georgien und die Türkei zum Mittelmeer überwiegt. Die Aufrüstung für einen Krieg gegen Armenien zur Rückeroberung von Berg-Karabach belastet die Finanzen des kleines Landes Aserbaidschan in einem hohen Maße. Je kostspieliger sie wird, desto weniger Geld steht für die Hebung des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung zur Verfügung. In der Mitte des Jahres 2012 verschlechterten sich die Chancen für den Bau der Nabucco-Pipeline in der ursprünglich vorgesehenen Länge immer mehr, nachdem Ungarn als eines der Transitländer das Projekt aus Kostengründen gänzlich in Frage stellte. Schließlich gab das Konsortium für das Nabucco-Projekt Ende Juni 2012 bekannt, dass nur noch der Bau der Pipeline von Bulgarien nach Österreich und Tschechien von ihm finanziert wird. Am 26. Juni 2012 unterzeichneten die Türkei und Aserbaidschan ein Abkommen zum Bau der Transanatolischen Gas-Pipeline (TANAP), die das östliche Stück der ehemaligen Nabucco-Pipeline ist und vor allem die Türkei mit der von ihr gewünschten Gasmenge versorgt. Vergleicht man die vorgesehene Transportleistung von Nabucco (23 Mrd. Kubikmeter) und die jetzige von North Stream (55 Mrd.) sowie die geplante Verlegung eines oder sogar zweier weiterer Stränge entlang der bereits vorhandenen (82,5 Kubikmeter bis maximal 110 Kubikmeter), wird sich an der Versorgung Mittel- und Westeuropas durch russisches Erdgas wendig ändern (Kevin P. Hoffmann, An Russland vorbei, Tagesspiegel, 29.6.2012). 1.4 Die Eurasische Union als Instrument zur stärkeren Interessenwahrnehmung in Verhandlungen mit China Die Versorgung Kasachstans mit Wasser ist abhängig von guten Beziehungen mit China. Rustem Zhangozha schreibt über das Staudammprojekt Chinas: “Since the late 1990s China has begun to take water from the Cherny Irtysh and Ili rivers, thereby threatening not just Kazakhstan but the whole ecosystem of that geopolitical region, of which Russia is part, with an environmental catastrophe. If one adds to that the fact that over the last few decades Kazakhstans’s water resources have fallen by twenty billion cubic meters and that this process is gaining pace, then the threat of reduced amounts of fresh water reaching Kazakhstan becomes increasingly immediate.” („Russia and the Newly Independent States of Central Asia: Relations Transformed“ in: „Russia – The Challenges of Transformation, edited by Piotr Dutkiewicz and Dmitri Trenin, New York University Press, 2011, 383-405, S.391). Für China ist die Bewässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen in der nördlichen Dsungarei für die Nahrungsversorgung und die Elektrizitätsgewinnung von großer Bedeutung. Um einen fairen Interessenausgleich in der Aufteilung des Wassers zwischen dem Giganten China und dem bevölkerungsarmen Kasachstan zu erzielen, wäre für die kasachische Führung die Einbindung Russlands von Vorteil, zumal auch Russland von der Wasserknappheit mittelbar betroffen ist. Würde in die Vertragsverhandlungen auch die Belieferung Chinas mit Erdöl und Ergas aus Kasachstan, Russland und Turkmenistan einbezogen, stünden sich die Eurasische Union und China als fast ebenbürtige Vertragspartner gegenüber. Für ein beide Seiten befriedigendes Verhandlungsergebnis wäre das von Vorteil. 1.5 Die Eurasische Union als Scharnier zwischen der Europäischen Union und ChinaNach dem Zerfall der Sowjetunion drohte der Zusammenbruch der sowjetischen Infrastruktur. Verkehrswege verloren ihre ursprüngliche Funktion, weil sie jetzt von nationalen Grenzen durchschnitten wurden. Verkehrsströme änderten ihre Richtung und folgten der Herausbildung neuer nationaler Zirkulationssphären. Nationale Zollgrenzen behinderten den Transfer von einer zur anderen Zirkulationssphäre. Kaliningrad degenerierte zur Exklave Russlands und den Baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen drohte der Funktionsverlust ihrer Ostseehäfen für den Handel Russlands mit den EU-Staaten. Die vormals durch Weißrussland verlaufenden Verkehrsströme litten unter der zunehmenden Isolation des Landes. Die jetzt zur Ukraine gehörenden Schwarzmeerhäfen verloren für den Außenhandel Russlands an Bedeutung, wohingegen mit dem Staatsgebiet Russlands direkt verbundene Häfen an Bedeutung gewannen. Der zu Sowjetzeiten intensive Binnenhandel zwischen dem Zentrum und der Kaukasusregion erlitt erhebliche Einbußen und zu den selbständig gewordenen Südkaukasusstaaten Georgien, Aserbaidschan brach der Handelsaustausch teilweise völlig zusammen. Selbst zwischen dem europäischen Teil Russlands und den Regionen hinter dem Ural, aber ganz besonders zur Pazifikregion Sibiriens verringerte sich das Verkehrsaufkommen erheblich. Für kurze Zeit schien das gesamte russische Territorium in voneinander isolierte Einzelteile zu zerfallen. Gravierend wirkte sich für den Zusammenbruch des Personen- und Güterverkehrs das Ende der subventionierten Luft- und Eisenbahntarife aus. Empfand es zu Zeiten der Sowjetunion der Durchschnittsbürger als Normalität, mit dem Flugzeug oder der Eisenbahn zu verreisen, musste er jetzt aus Kostengründen auf den Besuch seiner Verwandten in weit entfernten Gebieten verzichten. Zwar verkehrte selbst in der Periode fast völligen Zusammenbruchs die transsibirische Eisenbahn und die Luftkorridore über Russland blieben funktionsfähig, aber Russlands Scharnierfunktion zwischen den Staaten der Europäischen Union und China erreichte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen Tiefpunkt. Seit dem Ende der Jelzin-Ära hat sich die Situation verbessert. Jetzt verkehren z.B. regelmäßig Güterzüge zwischen Deutschland und China und erste Schritte sind in Vorbereitung, den Schienenstrang mit einem weiteren Gleis auszustatten. Der Transportweg ist sicherer und die benötigte Zeit ist sehr viel kürzer als der Schiffstransport. Selbst der Transport auf der im Sommer eisfrei gewordenen Schiffspassage durch das Nordpolarmeer kann damit nicht konkurrieren. In absehbarer Zeit wird ein durchgehendes Straßennetz vom europäischen Teil Russlands bis an den Pazifik führen und an der Grenze zwischen China und Kasachstan entstehen neue Übergänge. Der Personen- und Güterverkehr auf dem Luftweg von Europa nach China hat zugenommen. Der Ausbau der Verkehrswege und ein verzweigtes Pipelinenetz für Rohöl und Gas bilden jedoch nur die Grundlage für die Scharnierfunktion Russlands. Hinzu treten müssten Bereiche der Veredelung von Rohstoffen und der Wiederaufbau einer industriellen Produktion, die wettbewerbsstark und in der Lage sind, den Eigenbedarf und auch die Nachfrage aus der EU und China zu befriedigen. Welche Probleme auf diesem Gebiet und insgesamt in der Transformation Russlands noch zu bewältigen sind, beschreiben die Autoren des von Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin herausgegebenen Sammelbandes „Russia – The Challenges of Transformation“, New York 2011. 2. Stand der Transformation Russlands Georgi Derluguian gelangt in seiner Beurteilung des unter Jelzin begonnenen und durch Putin fortgesetzten Transformationsprozesses zu folgendem negativen Schluss: “In a fundamental sense, Putin’s restoration brought back the old Soviet dilemmas. If the enormous geopolitical costs of the Cold War and the external empire are now gone, the costs of bureaucratic self-serving inefficiency, paternalistic consumerism, and perverse class bargaining leading to subterfuge and corruption stand as huge as ever. Besides its sheer ongoing material and moral cost, bureaucratic arbitrariness renders futile any innovative economic initiative or an enormous class organization. This is now the major obstacle to the next technological modernization.” (Georgi Derluguian, The Soviet Bureaucracy in Russia’s Modernization, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.73-86, S.84). Auch der russische Unternehmer Alexander Lebedjew beklagte die Herrschaft der Bürokratie: “Überall sitzen Beamte, an denen man nicht vorbeikommt. Sie lassen den Unternehmen keine Freiheit, weil wir ihnen Konkurrenz machen. Der eine Vize-Premierminister hat eine Bank, der andere besitzt eine Fluggesellschaft, und der Gouverneur trägt ein Grundstück auf seinen Namen ins Grundbuch ein. Sie gehen ihren Geschäften nach, und wir sind für sie Konkurrenten.“ (Alexander Lebedjew im Interview mit Johannes Voswinkel, „Kein Plan, nur Taktik“, Die Zeit, 13.8.2009). Derluguian und Lebedjew scheinen eine klare Vorstellung über gesellschaftliche, politische und rechtliche Bedingungen zu haben, unter denen technologische Erneuerung optimal stattfindet. Aus Derluguians Sicht zählen
Nun ist die Idealvorstellung einer Gesellschaft ohne Selbsttäuschung und Korruption nirgendwo auf Erden verwirklicht. Im weiten Spektrum zwischen den Extremen
Analysen des Transformationsprozesses kommen ohne Beurteilungsmaßstab nicht aus. Als ein Beispiel unter vielen ist der Transformationsindex BTI 2012 der Bertelsmann-Stiftung zu nennen. Unter der Hand avancieren in ihm die etablierten Demokratien Europas zum Vorbild. Als Vorbild erhalten sie den Status des Ideals, das scheinbar jeder Kritik stand hält und nicht mehr hinterfragt werden muss. In Korrespondentenberichten werden sehr oft die politischen und ökonomischen Verhältnisse Russlands scharf verurteilt, ohne zugleich den eigenen Beurteilungsmaßstab einer Kritik zu unterziehen. Das Ausmaß an Ignoranz über die oftmals fragile und dem offiziösen Anschein widersprechende Gesellschaftsstruktur ihrer Herkunftsländer und die Arroganz in der Verurteilung Russlands ist schon erstaunlich. Wie wenig Souveränität dem Volk z.B. im Grundgesetz zugemessen wird, scheint weitgehend unbekannt zu sein (Reinhard Hildebrandt, Öffnung des Staates zur Zivilgesellschaft – Abkehr von der Vorstellung der staatlichen Administration als heilige Ordnung (Hierarchie) und Aufbrechen der Hierarchie, in: ders., Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2011, S.153-202). Wie groß inzwischen die Selbstversorgermentalität der Parteien geworden ist, wird ebenfalls kaum wahrgenommen (Hans Herbert von Arnim, Die Selbstversorger – Die Parteien umgehen die Regeln der Parteienfinanzierung, indem sie ihren Stiftungen, Fraktionen und Stäben Gelder zuschanzen. Dadurch entfernen sie sich vom Bürger und verletzen die Chancengleichheit, Tagesspiegel, 1.7.2012). Auch der geschichtliche Hintergrund darf, wie Georgi Derluguian betont, niemals außer acht gelassen werden und ebenso nicht die Divergenz zwischen dem glaubhaften Veränderungswillen politischer Persönlichkeiten und deren vergeblichen Kampf gegen überaus starke widerspenstige Institutionen: „Having re-centralized power, Putin and his successor Medvedev now face the question of what can be done with this power, or even how much power they can effectively deploy for any purposes besides the routine reproduction of bureaucratic privileges. … In the past, concentrations of power at the top served as prologues to great leaps forward. … In the present, such concentration by itself appears useless unless supported by the alternative charisma of a publicly trusted politician and the institutional strength of a modern publicly accountable state. The state is now back there, but will it move?” (Derluguian, S.84). In diese Richtung zielt z.B. Richard Sakwa in seiner Abhandlung über “The Changing Dynamics of Russian Politics, in: Piotr Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O. S.87-113). Richard Sakwa unterscheidet zwischen “administrative regime” und “constitutional state”: “The tension between the transformative and the adaptive elements has still not been overcome and has imbued post-communist Russian politics with an acute developmental crisis, as the forces for change are stymied by conservative and nativist constituencies and sentiments.” (ebd. S.87/88). Die Pattsituation habe den zweigeteilte Staat hervorgebracht. “Entrenched social interests (notable, the bureaucracy and the security apparatus) are expressed in the form of an administrative regime, while the attempt to institutionalize the normative values of the post-communist experiment in liberal democracy is represented by the constitutional state. (ebd. S.87/88). Sakwa postuliert, dass die von ihm so bezeichneten “adaptiven Elemente” lediglich eine formelle Anpassung vornehmen, aber tatsächlich jegliche Transformation in Richtung Modernisierung hintertreiben. Er unterstellt, dass jene Kräfte rücksichtslos ihre eigene Machterhaltung im Blick haben, übersieht jedoch, dass sowohl die erwünschten Resultate der zur Erhaltung der Macht ergriffenen Instrumente wie die Maßnahmen zur Modernisierung in keiner Gesellschaftsordnung exakt prognostizierbar sind. Der Transformationsprozess in Russland ist zu komplex, um den Machthabern im Vorhinein eine vollständige Übersicht über kurz- wie langfristig durchsetzbare Resultate zu gewähren. Sakwas Behauptung, es hätte sich eine Patt-Situation zwischen Administration und konstitutionellem Staat ergeben, ist und bleibt eine unbewiesene Unterstellung. Weder kann eine Politik, die ausschließlich die Erhaltung der Machtelite zum Ziel hat, den sicheren Weg zum Ziel bestimmen, noch zeigt sich eine vollkommen auf Modernisierung ausgerichtete Politik in der Lage, unerwünschte Resultate bereits im Vorgriff sicher zu vermeiden und den erwünschten Entwicklungspfad stets exakt zu treffen. Nichtsdestoweniger trifft die folgende Aussage Sakwas über den „dualen Staat“ zu: „The two pillars of the dual state give rise to a distinctive type of hybrid regime, in which a type of ‘mixed constitution’ has emerged, combining two types of governmentality: the legal-rational proceduralism, and open political contestation and pluralism of the constitutional state, balanced by the shadow and arbitrary factional politics based on informal networks in the administrative regime.”(Richard Sakwa, ebd. S.87/88). Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Komponenten bezeichnet Richard Sakwa als entscheidendes Merkmal russischer Politik: “In the dual state, the normative/legal system based on constitutional order is challenged by the shadowy arbitrary arrangements of the administrative regime, populated by various conflicting factions. The tension between the two is the defining feature of contemporary Russian politics.” (Richard Sakwa, ebd. S.92). Eine solche Zweiteilung der Macht verursacht zweifellos Reibungsverluste. Sakwa unterstellt jedoch, dass “legal-rational proceduralism“ per se bessere Resultate erzielt und vergisst, dass in Staaten, in denen die absolute Priorität des gesetzgebenden Regelwerks in der Verfassung festgelegt worden ist, dennoch meist unter der Hand Parallelsysteme der Machtausübung entstehen, was ebenfalls nicht nur Reibungsverluste erzeugt, sondern auch zu erheblichen Verzerrungen des Gemeinwohls führen kann. Die Belange hegemonialer Formationen umgehen oder durchkreuzen auch in etablierten Demokratien oftmals die Prozeduren des Gesetzgebungsprozesses. Eine einseitige Konzentration der Analyse auf das Spannungsverhältnis zwischen dem administrativen Regime und dem konstitutionellen Staat sucht die Ursache für Fehlentwicklungen nur dort und nicht auch in Anlässen, die eine solche Zweiteilung erst ermöglichen und das Ausmaß an Willkürherrschaft legitimieren. Sakwa verweist selbst bereits auf Verhaltensweisen im politischen Bewusstsein der Bevölkerung, die eine solche Zweiteilung in der Machtausübung befördern. So äußerten im Jahre 2005 51 Prozent der Bevölkerung, dass “Russia needs a president to exert a ‘firm hand’ to govern the country”, wohingegen 44 Prozent die Meinung vertraten, dass der Präsident die Verfassung stets strikt beachten sollte (Richard Sakwa, ebd. S.95). Wenn sich die Machtvertikale Putins auf die Zustimmung von 51 Prozent der Bevölkerung stützt und Putin unterstellt werden kann, dass er selbst für Modernisierung eintritt und keinesfalls bewusst die Restauration des Sowjetsystems befördert, werden seine einseitig auf bloße Machterhaltung pochenden Widersacher in der Politik auf seinen massiven Widerstand stoßen. “The presidency is at the heart of the administrative regime but is not limited to it. These forces come together in formal factions, notable in the form of two meta-groups conventionally labeled the ‘siloviki’ and the ‘liberal-technocrats’, which than can be subdivided into at least six other identifiable spheres of interest, if not into interest groups in the traditional meaning of the term.” (Richard Sakwa, ebd. S.95). Piotr Dutkiewicz stützt diese These, wenn er schreibt: “The current rulers in the Kremlin are convinced that they needed to restore, at the core, what was a traditional and central engine of social development in Russian history: the state.” (Piotr Dutkiewicz, Missing in Translation: Re-conceptualizing Russia’s Developmental State, ebd. S.20). Schließlich muss daran erinnert werden, unter welchen Vorzeichen Putin die Ära Jelzin abgelöst hat. “Operation ‘Privatizing the State’ was well underway by the time of the financial collapse in 1998.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.21). “This means that most Russians expect the government to implement a model of state capitalism appropriate for an economically developed country.”(Mikhail K. Gorshkov, ebd. S.181). Offensichtlich hatte die Privatisierung des Staates unter Jelzin so gravierende Folgen für die Masse der russischen Bevölkerung, dass in ihr gegenwärtig die Meinung vorherrscht: “One of the most important objects of public attention for Russians – in a sense of indicative of the way they perceive the world – is the place and role of the state in the economy and society. Russians mainly support state domination of the economy and administration of property.”(ebd. S.181). Hierbei handelt es sich laut Mikhail K. Gorshkov vor allem um die Meinung der Unterprivilegierten bzw. völlig mittellos gewordenen Teile der russischen Bevölkerung: “The poor, particularly those who have become destitute, suffer not only from a lack of money but also from an inability to meet their own most basic human needs – adequate food, clothing, and housing. Moreover, research shows that the poor lose hope and resign themselves to living without many of the essentials they can no longer afford.”(ebd. S.158). Mikhail K. Gorshkov nennt einige Gründe für ihre Unzufriedenheit: “Overall, many social groups are underprivileged as an indirect result of the institutional conditions of Russians’ lives, as well as of mistakes in health care reform and pension-fund policy. Inadequate provision for the elderly and restrictions on certain sectors in particular, are reflections of these mistakes.”(ebd. S.164). “Russian’ greatest dissatisfaction”, notiert er, “is caused by the extreme inequality in the distribution of property and income.” (ebd. S.170). Viele Russen tendieren deshalb für einen Rückzug in die private Nische: “Russians believe that the best policy in life is the organization of social and economic niches within their own immediate circles – niches in which people feel at home.” (ebd. S.181). Tiefer reichend als Richard Sakwas Analyse eines dualen Systems ist die von Piotr Dutkiewiczs zur gegenwärtigen Situation Russlands: “The Kremlin, even though it fosters an aura of omniscience, continues to base its politics on what might be termed as a timid trial-and-error approach. Russia has a market system (as recognized by the EU and WTO), but the system of accumulation is to a large extent based on nonmarket political access.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.13). Angesichts der oftmals unübersichtlichen Entscheidungssituationen bleibt als Vorgehensweise nur das Prinzip von Versuch und Irrtum übrig. Hinzu kommt, dass wenn die Medien zwar nicht per se frei sind, aber auch nicht unter der totalen Kontrolle des Staates stehen (mit der Ausnahme des Fernsehens), in der widersprüchlichen Gesamtberichterstattung sehr leicht der Eindruck entsteht, dass die Regierung zwar stark erscheint, aber die staatlichen Institutionen als ziemlich schwach angesehen werden (“The government’s rule is seen as strong, but the state’s institutions remain fairly weak [as evidenced by the existing corruption and noteworthy lack of accountability and transparency]).”(ebd.). Daraus folgt laut Dutkiewicz: “While the decisions of the Kremlin’s elite are seen by many as systemic manipulation – or just a massive PR exercise – many of them are real responses to the needs of the Russian people: strength and weakness in one. Russian politics is becoming increasingly assertive, but its implementation is anything but that. At the moment, there is neither stability nor change.” (Piotr Dutkiewicz, ebd. S.13). In die Zukunft weisend gelangt Mikhail K. Gorshkov zu folgendem Schluss: “Analysis of the dynamics of the public national consciousness shows that post-reform Russia is not only on its feet but indeed capable of self-determination and self-affirmation. Over the past seven or eight years, Russia has succeeded in taking control of itself and has turned into a country with an independent destiny and its own plans for the future.”(ebd. S.183/184). Gorshkov fordert die russische Führung zu folgender Politik auf: “Evidently, the way out of this situation should not just be an economic one, envisaging an ‘intelligent’ solution, capable of producing proprietary knowledge, importing the newest technology, and results of innovatory economic activity, but also modernization of the social system as a whole. This would, albeit gradually, resolve many of the most difficult questions – including such as how to withstand the global crisis and the challenges of competition, modernize the army, and govern a country that is both enormous and complicated in its national and cultural makeup. In the process, the country’s democratic institutions would be strengthened and its stability ensured.”(ebd. S.185). 2.1 Ablehnung der Machtvertikale Putins von Teilen der aufstrebenden Mittelschicht Nach Mikhail K. Gorshkov hat sich in Russland eine erfolgsorientierte Mittelschicht gebildet: “A large middle class has developed in Russia over the reform years, which, though similar to the general population in terms of its principal features, places particular emphasis on achievement. This means that all resources are devoted to continuing professional development, leading ultimately to professional success. Sociologically speaking, the modern Russian middle class is made up of those who have been able to adapt successfully to the new social reality, are rightful proud of this, and, unlike then lower classes, feel in charge of their own destinies.” (Mikhail K. Gorshkov, S.164). Es ist anzunehmen, dass diese neue Mittelschicht zu den 44 Prozent der Bevölkerung zählt, in der die Meinung verbreitet ist, der Präsident sollte die Verfassung stets strikt beachten. Dieser Teil der Bevölkerung, notiert Richard Sakwa, “began to be emancipated from state tutelage”, aber anders als in der Zeit der “anarcho-democracy” der 1990er Jahre “this time in a democratic guise, accompanied by the suffocation of independent civic self-organization of society and the stunt development of the individual as an autonomous citizen.”(Richard Sakwa, The Changing Dynamics of Russian Politics, S.87-113, S.95). Sakwa meint, dass der Staat die spektakuläre Entwicklung des Individuums zu einem autonomen, selbstverantwortlichen Bürger nicht nur behindert, sondern dass er die vielfältigen Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und Institutionen sogar erstickt. Ausländische NGOs müssen sich jedoch gefallen lassen, gegenüber dem russischen Staat Rechenschaftsberichte über die ins Land eingeführten Geldsummen und deren Verwendung zu liefern, allein schon aus dem Grund, nicht als Agenten ausländischer Dienst und Staaten abgestempelt zu werden. Die aufstrebende Mittelschicht lebt vor allem in den zwei Hauptstädten Russlands (Moskau und St. Petersburg) und in den Städten mit mehr als einer Million Einwohnern. Laut Lev Gudkov beträgt der Anteil der Bevölkerung, der in Millionenstädten lebt – dreizehn insgesamt –, 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Sozial-, Kauf- und Freizeitverhalten, Lebensstil, der Zugang zu Informationen, Bedürfnisse und kulturelle wie politische Orientierung und damit auch der Charakter der sozialen Beziehungen würden sich zwischen Zentrum und Peripherie unterscheiden. Dies habe mit dem Einkommensgefälle wenig zu tun. (Lev Gudkov, in Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.21-46, ebd. S.22). Sofern Putin auf das Produktivpotential der Mittelschicht aus den Metropolen für den Wiederaufbau der industriellen Basis Russlands angewiesen sein sollte, muss er, um Passivität aus Enttäuschung und Auswanderung aus Frustration zu vermeiden, deren Wünsche nach mehr Teilhabe und Teilnahme am politischen Prozess selbst dann berücksichtigen, wenn die Anzahl der Protestierenden kleiner als von der Presse behauptet sein sollte. „Das eigentliche Protestpotential“, registriert Lev Gudkov, „ist gering, deutlich geringer als die engagierte Presse und die Opposition, die damit ihre Hoffnung auf politische Veränderung verbindet, es darstellen.“ (Lev Gudkov, ebd. S.42). „Mittlerweile“, notiert Elke Windisch, „zweifeln sogar einige ihrer Anführer am Potential der Protestbewegung. Der Machtwechsel in Russland werde sich sehr langsam vollziehen, meint der Schriftsteller Boris Akunin. Die Zivilgesellschaft sei derzeit zu schwach, um Verantwortung übernehmen zu können.“ (Elke Windisch, Putins Getreue schlagen zurück, Tagesspiegel, 4.2.2012). Laut Jens Mühling dämmert es der Opposition, „dass sie weder konsensfähige Führungsfiguren noch inneren Zusammenhalt noch konkrete Ziele hat, die sich kurzfristig durchsetzen ließen – und der für ein langfristiges Engagement möglicherweise der Atem fehlt.“(Jens Mühling, Der Zar ist nackt, Tagesspiegel, 19.2.2012). Der Slogan „Für ein Russland ohne Putin“ sei der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bewegung, schreibt Claudia von Salzen, in „Für ein Russland ohne Putin“, Tagesspiegel, 13.6.2012. Niels Kreitmeier stellt fest: „Alte Liberale wie Nemzow können wenig mit dem offen zur Schau getragenen Patriotismus der jüngeren Generation um Nawalny anfangen. Und die wiederum hält den 52-jährigen Nemzow oder den Chef der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, für Politiker von gestern, die mit der neuen Art des Widerstands nicht mehr zurecht kommen.“ (Niels Kreitmeier, Moskauer Spaltpilze, Financial Times Deutschland, 22.12.2011). Nach den Massendemonstrationen zeigte die Regierung erste Anzeichen für einen Dialog. Es solle einen Dialog geben, aber man könne mit keinem reden. Es gäbe keine einheitliche Plattform. Erstmals durfte jedoch auch der Chefredakteur des kritisches Radiosenders „Echo Moskau“ Fragen an Putin stellen. „Die Regierung reagierte mit der Ankündigung politischer Reformen. Die Direktwahl der Gouverneure soll wieder eingeführt und ein unabhängiges, öffentlich-rechtliches Fernsehen geschaffen werden. Im April 2012 wurde bereits die Zulassung von Parteien erleichtert. Zum anderen hat der neu gewählte russische Präsident Wladimir Putin in einem programmatischen Zeitungsartikel im Februar 2012 umfangreiche wirtschaftliche Veränderungen sowie die Privatisierung großer Staatsunternehmen in Aussicht gestellt. Bis 2020 soll eine diversifizierte, mittelstandsorientierte und global wettbewerbsfähige Wirtschaftstruktur mit einem höheren Anteil an modernen Technologien entstehen. Die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 unterstreichen diese positive Entwicklung ebenso wie der Beitritt zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung im Februar 2012.“ (Bericht des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, a.a.O.). Denn einseitig auf Angst und Duldsamkeit der Mehrheit der Bevölkerung Russlands in der Provinz zu setzen und darüber die Unzufriedenen zu vernachlässigen, könnte ebenso fatale Folgen für die Vollendung des Modernisierungsprozesses haben wie die ausschließliche Orientierung an den Bedürfnissen der aufstrebenden Mittelschicht. Die russische Führung, ob Putin oder einer seiner Nachfolger, muss beide gesellschaftliche Bewegungen bedienen. „Etwa zwei Drittel der Bevölkerung leben in Dörfern, Siedlungen sowie Städten mit bis zu 250 000 Einwohnern. Das Leben ist hier ganz anders als in den Megapolen und Großstädten.“ (Lev Gudkov, ebd. S.42.). Dieser Teil der Bevölkerung Russlands kann in seinem Beharrungsverhalten von der Führung des Landes nicht ignoriert werden. Ihn in den Modernisierungsprozess einzubeziehen, verlangt andere Vorgehensweisen als die Berücksichtigung und Einbeziehung der Mittelschichten. Andreas Schockenhoff bemerkt, dass „eine Mehrheit von Unzufriedenen ihr Land auf einem falsch Weg“ sieht, und ebenfalls eine Mehrheit wünscht „keine Veränderungen“ (Andreas Schockenhoff, Annäherung durch Wandel, Tagesspiegel, 27.11.2011). Mehr Aufschluss über verbreitete Meinungen und Verhaltensweisen der russischen Bevölkerung vermittelt eine empirische Umfrage, die Mikhail K. Gorshkov, Direktor des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, erst vor kurzem durchgeführt und zuerst am 11. Juni 2012 in Berlin präsentiert hat. 2.2 Meinungsspektrum Russlands auf der Grundlage empirischer Befragungen – „Der russische Traum“ 2.2.1 Traum und Wirklichkeit – Was ist ein erfülltes Leben ? Vorab gesagt, die in der russischen Bevölkerung anzutreffenden Meinungen unterscheiden sich nur in wenigen Punkten erheblich vom Meinungsspektrum, das in mittel- und westeuropäischen Bevölkerungen vorherrschend ist. Gefragt, welche Träume bzw. Lebensperspektiven sie für sich erfüllt sehen möchten, nennen die Befragten jeweils ein Märchen, in dem sie ihre Lebenswünsche am ehesten interpretiert sehen. 40 Prozent der Interviewten heben das Märchen von Aschenputtel hervor. Offenbar identifiziert sich dieser Teil der Bevölkerung mit dem Mädchen, das von der Stiefmutter schäbig behandelt wird, alle Mägdedienste im Hause leisten muss, von ihren Stiefschwestern verspottet dennoch immer höflich und zuvorkommend alle aufgetragenen Arbeiten verrichtet. Sie entgeht ihrem traurigen Schicksal durch die Heirat mit dem Prinzen. Opfer- und Arbeitsbereitschaft sowie Hoffnung und geduldiges Erwarten eines glücklicheren Lebens sind die bestimmenden Faktoren für diese Gruppe von Menschen. Im Leben der britischen Prinzessin Diana sehen 60 Prozent der russischen Frauen und 16 Prozent der Männer ihren Lebenstraum erfüllt. Wenn Frauen zu einem hohen Prozentsatz Anteil an der vom Ehemann lieblos behandelten Prinzessin Diana und ihren Selbstbefreiungskämpfen aus den gesellschaftlichen Verstrickungen nehmen, verweist diese Sympathie auf erfahrenes Leid in unglücklichen Ehen, den Wunsch auf ein glückliches Familienleben und die Befreiung von familienfeindlichen gesellschaftlichen Zuständen. Die 16 Prozent der Männer zieht offenbar die publizistisch vermarktete scheinbare oder tatsächliche Freizügigkeit im Leben Dianas an. Das Märchen von Hans im Glück bezeichnen 25 Prozent der Bevölkerung als Erfüllung all ihrer Wünsche. Sie vertrauen vor allem dem Zufall und sehen kaum realisierbare Chancen, ihren Lebensumständen bewusst und durch eigene Tatkraft entgehen zu können. 20 Prozent der Befragten fühlen im Märchen von den drei Recken ihren Lebenstraum erfüllt. Arbeitsbereitschaft, Tapferkeit, Intelligenz und unbedingte Wahrheitsliebe zeichnen die drei Recken aus. Sie werden dafür auch vom Herrscher belohnt. Eng mit den „Traumdeutungen“ verbunden sind folgende vier Wünsche in der russischen Bevölkerung:
2.2.2 Orientierungsmerkmale Anders als in west- und mitteleuropäischen Gesellschaften existiert in 50 Prozent der russischen Bevölkerung der Hang zu einem messianischen Glauben, der entweder durch einzelne Führungspersönlichkeiten repräsentiert wird oder auf abstrakte Ziele ausgerichtet ist. Die andere Hälfte lehnt einen solchen Glauben ab. 25 Prozent der Bevölkerung sehen ihren Glauben durch Breschnew verwirklicht, als die Sowjetunion neben den USA zu einer anerkannten Weltmacht aufstieg und die global gültigen inner- wie intergesellschaftlichen Wertmaßstäbe entscheidend mitzubestimmen hoffte. In der Zeit davor, als Chruschtschow den baldigen Gleichstand mit USA verkündete und die Überholung des Konkurrenten versprach, erträumte die Mehrheit der Russen, bald den „kommunistischen Morgen“ zu erleben. Heutzutage glaubt ein Drittel an die Fähigkeit Putins, den früheren Weltmachtstatus wieder herstellen zu können. Hinter dem Postulat der Gleichberechtigung stehen alle Bürger. Der Anspruch auf Gleichberechtigung drückt sich insbesondere in der Forderung nach gleicher medizinischer Versorgung für alle Bürger aus. Unter Freiheit versteht ein Drittel der Russen, dass jeder seine angeborenen und zusätzlich durch gute Bildung und gute Arbeit erworbenen Fähigkeiten ausleben kann. Diese Lebensperspektive ist unter den bereits etablierten Bürgern ganz besonders stark verbreitet. 60 Prozent der Russen verhalten sich ich-orientiert und glauben an die Realisierung ihrer Träume, 50 Prozent setzen auf eigene Anstrengung und 50 Prozent auf das Eintreffen von Wundern. Für Mikhail K. Gorshkov wirft dieser Befund kein gutes Licht auf die Opposition. Die entstandene soziale Ungerechtigkeit wird anerkannt, aber zugleich vom Staat gefordert, dass er Maßnahmen zur Vermeidung von Exzessen ergreift. Vom Staat wird erwartet, dass er sowohl den Selbstverwirklichungswillen der Individuen tatkräftig unterstützt und zugleichgerechte Bedingungen für alle bereitstellt. In welchen Widerspruch er gerät, wird daran deutlich, dass 79 Prozent der Bevölkerung für die Schaffung und Erhaltung sozialer Errungenschaften eintreten und die übrigen 21 Prozent eine solche Politik strikt ablehnen. Der Elite in Staat und Politik reichen bereits freie Wahlen zur Herstellung des sozialen Friedens aus, wohingegen von der Mehrheit der Bevölkerung vor allem funktionierende Institutionen und sozialstaatliche Einrichtungen gefordert werden. Festzuhalten bleibt, dass obwohl sozialkonservativ ausgerichtete Russen eine andere Vorstellung über die Zukunft Russlands hegen als liberal denkende, wird Putin in beiden Lagern akzeptiert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Meinungsspektrum widersprüchliche Erwartungen aufeinander stoßen. Auf welche Weise ein starker Staat für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit aller Bürger sorgen und zugleich die Freiheit des Einzelnen auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen garantieren soll, sprengt alle bisher praktizierten Maßnahmenkataloge von Staaten. Dem widersprüchlichen Vorschlag von Thomas Hobbes zum Staatsvertrag kann als Antwort auf dieses Problem nirgendwo gefolgt werden. „Hobbes zerreißt die dem Selbsterhaltungsstreben der Individuen unzertrennlich zugrunde liegenden beiden Momente von Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz. Beide Momente konstituieren zusammen die Selbsterhaltung der Individuen. Ihre Selbsterhaltung geschieht weder ausschließlich in der Verfolgung von Eigennutz noch als reine Ausführung von selbstgesetzlichem Denken und Handeln.“ (Reinhard Hildebrandt, Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2009, S.18/19). Hobbes deformiert die realen Menschen zu Kunstfiguren. „Wenn Hobbes … den Individuen in willkürlicher Weise unterstellt, dass sie im Falle ihrer drohenden Selbstzerfleischung das Moment der Selbstgesetzlichkeit auf den absoluten Souverän übertragen und für sich selbst nur noch das Moment des Eigennutzes reservieren wollen, entzieht er sowohl dem absolut herrschenden Souverän wie den von ihm beherrschten Individuen einen unveräußerlichen Teil ihrer Selbsterhaltung. Weder kann der Souverän ausschließlich selbstgesetzlich handeln noch können die ihm unterworfenen Individuen nur nach Eigennutz streben und das Moment der Selbstgesetzlichkeit gänzlich vernachlässigen.“ (ebd.). Die gesellschaftliche Praxis Russlands wird zeigen, ob man schließlich einen, den Traditionen Russlands adäquaten Kompromiss findet. 3. Russland auf dem Weg vom Rohstofflieferanten zum Produzenten von hochwertigen Industrie- und Dienstleistungsprodukten – Eine Illusion? 3.1 Russlands gegenwärtige Wirtschaftsstruktur Laut des Berichts des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft vom April 2012 konnte sich „die russische Wirtschaft … nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise dank anziehender Rohstoffpreise deutlich erholen. Auf ein negatives Wirtschaftswachstum von 7,9 Prozent im Jahr 2009 folgten 2010 und 2011 wieder Zuwachsraten von jeweils 4,3 Prozent. Auch für 2012 rechnen IWF, EBRD und Weltbank mit einem soliden Wachstum von 3,3 bis 4 Prozent. Die Staatsverschuldung in Russland bleibt mit rund 10 Prozent des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar.“(Bericht des Ost-Ausschusses, a.a.O.). Im Bericht heißt es weiter: „Strukturell ist die russische Wirtschaft jedoch immer noch in hohem Maße von der Entwicklung der Öl- und Gaspreise abhängig. Rohstoffe stehen für ca. 80 Prozent der russischen Exporte und finanzieren zu rund 50 Prozent den Staatshaushalt.“ (ebd.). Z.B. bezieht seit 2009 der europäische Flugzeugbauer Airbus russische Titanerzeugnisse im Wert von 3,1 Milliarden Euros. Die russischen Titananteile werden für die Produktion des Airbus A 350 XWB benötigt (Tagesspiegel, 21.4.2009). An der Rohstoffausrichtung hat der angekündigte Modernisierungskurs des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew wenig geändert. Medwedew hatte im September 2009 für sein Land eine komplett neue Wirtschaftsstruktur und die Überwindung der Rohstoffabhängigkeit gefordert (Bericht des Ost-Ausschusses, ebd.). Auch der in diesem Jahr wieder gewählte Präsident Wladimir Putin sieht in der verbreiteten Korruption eine größere Gefahr als im Auf und Ab der Öl- und Gaspreise. Im Bericht des Ostausschusses ist zu lesen: „Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung des größten Flächenstaates der Welt aus. Im Doing-Business-Index der Weltbank rangiert Russland im hinteren Mittelfeld (2012: Platz 120 von 183). Die russische Länderrisikoprämie ist höher als in allen anderen BRICS-Staaten. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer vergleichsweise niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. So hat sich Russlands Nettokapitalabfluss im Jahr 2011 von 27 auf rund 60 Milliarden Euro mehr als verdoppelt.“(ebd. )1. Bereits in seinem Wahlprogramm hatte Wladimir Putin auf diese Entwicklung reagiert und den Schwerpunkt auf die Stimulierung von Investitionen, Schaffung neuer Produktionskapazitäten, umfassende Anwendung von Innovationen, Steigerung der Energieeffektivität und Entwicklung moderner Branchen gelegt. Dies solle unter anderem durch eine Herabsetzung der Zinssätze geschehen. Er kündigte außerdem eine Abkehr vom Modell des Wirtschaftswachstums an, „dem hohe Ölpreise bei der Nutzung von aus der UdSSR stammenden Produktionskapazitäten zu Grunde lagen.“ Stattdessen forderte er: „Die Entwicklung der Energiewirtschaft, der Industrie und der Agrarwirtschaft müsse auf ein neues technologisches Niveau angehoben werden. Außerdem versprach er: „Wir werden alle Bedingungen für die Förderung der Privatinitiative schaffen. Wir werden dem Unternehmertum helfen, indem wir den Kampf gegen bürokratische Barrieren fortsetzen.“ (Jana Lapikowa in RIA Novosti, 15:34 12/01/2012). Nicht nur deutsche Unternehmen zogen erste Konsequenzen aus dem WTO-Beitritt Russlands und den sich dadurch ergebenden Investitionsmöglichkeiten. Auf der Webseite der US-Zeitung „The Wall Street Journal“ veröffentlichte die US-Außenamtschefin Hillary Clinton einen Artikel, in dem sie den WTO-Beitritt Russlands als eine „gute Nachricht“ für die US-Unternehmen und deren Angestellte bewertete, weil damit der Zugang zu einem der sich am schnellsten entwickelnden Märkte der Welt erweitert werde. „Der bilaterale russisch-amerikanische Handel hat sein ganzes Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft“, so Clinton. „Der US-Export nach Russland macht weiterhin weniger als ein Prozent unseres globalen Exports aus.“ (Moskau, 20. Juni 2012 (RIA Novosti). Den US-Kongress forderte sie auf, das Jackson-Vanik-Amendment2außer Kraft zu setzen und damit die Prozedur des jährlich zu erneuernden Moratoriums zu beenden: „Jetzt ist es an der Zeit, dass diese Klausel endgültig Vergangenheit wird. Vier Jahrzehnte nach ihrer Annahme wird die Abstimmung über die Herstellung dauerhafter normaler Handelsbeziehungen mit Russland zu einer Abstimmung über die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Amerika.“ (ebd.). Der Valdai-Report vom Juni 2009 hatte diese Forderung schon angemahnt. Darin hieß es: „The key prerequisites for developing their economic cooperation should be the full cancellation of the Jackson-Vanik Amendment and all other limitations on Russian exports and on the development of trade and economic relations with Russia in general, and resumption of the bilateral agreement on peaceful nuclear cooperation” (ebd.S.22). Hillary Clinton kündigte in ihrem Brief sogar eine umfassendere Neuorientierung des Verhältnisses der USA zu Russland an, indem sie schrieb: „Die WTO-Mitgliedschaft allein bringt nicht auf einmal die Veränderungen, nach denen das russische Volk strebt. In unserem langfristigen strategischen Interesse wäre es, die Zusammenarbeit mit Russland in den Bereichen fortzusetzen, in denen unsere Interessen identisch sind.“ (ebd.). Zur gleichen Zeit wurde bekannt, dass General Motors seine PKW-Produktion in Russland zu Lasten von Opel in Deutschland drastisch erhöht. Die Vorbehalte von General Motors beim Verkauf der Hälfte von Opel an das österreichisch-kanadische Unternehmen Magna (20%) und die russische Investorengruppe aus Gas und Sberbank (30%) im Jahre 2009 sowie die Verzögerungstaktik des damaligen bundesdeutschen Wirtschaftsministers von Guttenberg lassen sich erst jetzt aus dem aufgeschobenen Eigeninteresse General Motors erklären, dass zum damaligen Zeitpunkt wegen des in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Autokonzerns nicht realisierbar war (Marc Brost, Dietmar H. Lamparter, Johannes Voswinkel, Die Russen ziehen mit, Die Zeit, 30.4.2009 und James Kilner, As Russian car industry slips, fears of unrest rise, International Herald Tribune May 12, 2009). 3.2 Russlands Platz zwischen der EU und China Wenn ein ausgewiesener Russland-Experte für sein Buch den Titel „Der kalte Freund“ wählt, stehen Besorgnisse sowohl über innerrussische Entwicklungen wie über gestörte Beziehungen mit Russland im Vordergrund (Alexander Rahr, Der kalte Freund, München 2011). Aus Alexander Rahrs Botschaft, jetzt eine umfassende Partnerschaft mit Russland anzustreben und nicht so lange zu warten, bis in Russland eine Demokratie entstanden ist, lässt sich entnehmen, dass der Autor das Zuwarten der Europäischen Union für kurzsichtig und nur ideologisch begründet ansieht und als strategische Fehlentscheidung kritisiert. Die Verweigerung einer weit über enge wirtschaftliche Beziehungen hinausgehenden Partnerschaft betrachtet er als gefährlich für Europas Anspruch, im Chor der globalen Mächte der eigenen Stimme Gewicht zu verleihen und langfristig ernst genommen zu werden. Die EU sollte Nutzen und Nachteile besserer Beziehungen zu Russland sorgfältig abwägen. Rahr verurteilt sowohl den oftmals zu beobachtenden Rückfall in das im Kalten Krieg vorherrschende angstbesetzte Denken vieler Europäer wie auch die in der Amtszeit des russischen Präsidenten Jelzin dominierende Überheblichkeit gegenüber dem geschwächten Russland. Für die Wahrung europäischer Interessen seien weder Rücksichten auf strategische Befürchtungen des Militärs der USA vor einem europäisch-russischen Schulterschluss noch übertriebene Rücksichtnahme auf verständliche Rachegefühle der ehemals unter sowjetischer Herrschaft stehenden Osteuropäer zielführend. Allein ausschlaggebend sollte die Antwort auf die Frage sein, auf welche Weise Europas Position in einer veränderten Weltordnung am besten gewahrt wird. Auf dem Hintergrund eines in der Zukunft immer härter werdenden Wettbewerbs der Weltmächte um den Zugang zu unentbehrlichen Rohstoffen und Energie ist zu verstehen, dass Rahr größten Wert auf den engen Verbund zwischen dem rohstoffarmen Europa und dem an Rohstoffen und Energie reichen Land Russland legt. Von den „Metallen der Zukunft“, die insbesondere von der High-Tech-Industrie benötigt werden, werden in Russland Tantal (Coltan), Germanium, Kobalt, Platin und Neodyn gefördert (Dirk Asendorpf, Die Metalle der Zukunft, Die Zeit, 22.10.2009). Zu bedenken gibt er, dass die Europäische Union ohne gute Beziehungen zu Russland weder in der Energieversorgung noch im Zugang zu seltenen Metallen auf langfristig sichere Quellen in der übrigen Welt zurückgreifen kann. Will die europäische Industrie also weiterhin technologisch führend in der Welt bleiben, muss sie ihre Beziehungen zu Russland ausbauen. Seiner Ansicht nach haben die global aufgestellten europäischen Unternehmen diese Herausforderung bereits begriffen und investieren in Russland. So hat Siemens mit dem russischen Unternehmen Power Machines OJSC im Sommer 2011 ein Gemeinschaftsunternehmen zum Bau von Gasturbinen gegründet und will mit der Produktion den Markt für Gasturbinen, Gaskraftwerke und kombinierte Gas- und Dampfkraftwerke bedienen (Tagesspiegel, 2.8.2011). Siemens engagiert sich im von Russland geplanten Innovationszentrum Skolkowo mit Biologie- und Energieforschung (Stefan Scholl, Partner sind keine Freunde, Frankfurter Rundschau, 16.7.2010). Außerdem unterzeichnete Siemens bereits 2010 Verträge von mehreren Milliarden Euro, in denen die russischen Staatsbahnen die Lieferung von 240 Regionalzügen und 200 Güterzügen orderten. Darüber hinaus sollte 2011 bereits die Auslieferung des Airport-Zubringers des Typs „Desiro“ beginnen (Tagesspiegel, 16.7.2010). Schon im Jahre 2006 beschloss Volkswagen in Kaluga südlich von Moskau den Bau eines Autowerkes für eine halbe Milliarde Euro und 3000 Arbeitskräfte. Es folgten Samsung, Volvo, Peugeot, Berlin-Chemie und Continental (Moritz Gathmann, Die Machtvertikale, Tagesspiegel, 4.12.2011). Deutsche Unternehmen erwarten im Jahre 2012 sogar noch bessere Geschäfte. „Während der Export deutscher Unternehmen im vergangenen Jahr weltweit um rund 13 Prozent zulegte, stieg er im Falle Russlands sogar um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr und dürfte nun ein Volumen von bis zu 74 Milliarden Euro erreicht haben“, sagte Cordes (Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Industrie). Da Russland von der Euro-Krise kaum so gut wie nicht berührt sei und im Sommer 2012 der WTO beitrete, seien die Aussichten für eine weitere positive Entwicklung gegeben (Tagesspiegel, 7.2.2012). Deutschland ist nach China der wichtigste Handelspartner Russlands (Elke Windisch, Zweierlei, Tagesspiegel, 18.7.2011). Woran es mangelt ist die Unterstützung durch die Politik, die immer noch rückwärtsgewandt oder unverständlich zaudernd einen Schlingerkurs fährt zwischen einerseits realpolitisch begründeter Zuwendung zu Russland und andererseits einer werteorientierten bzw. auf die Erfüllung von „Good Governance“ pochenden Aufforderung an Russland, sich dem Modell der demokratisch strukturierten Gesellschaften Europas anzupassen. Am eigenen Gesellschaftsmodell festzuhalten, es in einem stetigen Prozess zu vervollkommnen und es anderen Gesellschaften als Möglichkeit des Zusammenlebens anzupreisen, ist eine auch von Rahr unterstützte Politik. Jedoch dieses Modell, das unter spezifischen Bedingungen entstanden ist, anderen Völkern oktroyieren zu wollen, bezeichnet man üblicherweise als Hybris. Mit seiner Auffassung stimmt er mit der Sichtweise Vladimir I. Yakunis überein, der in seinem Nachwort „Russia and the West: Toward Understanding“ im von Dutkiewicz und Dmitri Trenin herausgegebenen Buch „Russia – The Challenges of Transformation“, S.433-458) schreibt: „Nations, states, and civilizations have developed for centuries under their unique conditions. They either survived or disappeared from history. Ways and means of survival were reinforced in memory, skills, traditions, and approaches; in ways of Life, culture, and law; in the structure of the state, the organization of labor, government, the rules of community life. That is how different (with the operative word being ‘different’) civilizations were born. But what was shared was the fact that the experience they accrued and reinforced as part of their identity was of the same kind: it was the experience of success. It is clear that nations and civilizations maximize their success only when they use their own formulae for success.“ (ebd.S.437). Jede Gesellschaft hat im Lauf ihrer Entwicklung ihr eigenes Profil geschaffen, das nicht einfach „schockartig“ ausgewechselt werden kann, wie es beispielsweise in der Jelzin-Zeit unter dem Ministerpräsidenten Jegor Gaidar mit Russland versucht wurde und von übereifrigen Vertretern der Global Governance Theorie immer noch gefordert wird (Tagesspiegel, 17.12.2009). Nicht rundweg abzulehnen, sondern kritisch zu begleiten ist beispielsweise die Auseinandersetzung der russischen Führung mit den Demonstranten für mehr Demokratie in Russland. Es ist daran zu erinnern, dass die Entmachtung des russischen Parlaments bereits unter dem Premierminister Ryschkow im Jahre 2004 geschah. Als Folge des Terroranschlags in Beslan wurde das Konzept der „Machtvertikale“ durchgesetzt (Christian Esch, Teure Bühne, Frankfurter Rundschau, 1.12.2011). Schon zur Zeit der Auflösung des Obersten Sowjets im Oktober 1993 mit Panzern und schwerer Artillerie lieferten sich die Kontrahenten einen Richtungsstreit: „In Wahrheit war es eine gewaltsame Lösung für einen Richtungsstreit: Chasbulatow wollte eine soziale Marktwirtschaft, Jelzin deren Reinkultur (Elke Windisch, Die unvollendete Revolution, Tagesspiegel, 19.8. 2011). Auf dem Petersburger Wirtschaftsforum im Juni 2012 griff Putin die Forderung nach mehr Demokratie in folgenden Sätzen auf: „Der Hunger nach Reformen treibt die Entwicklung des Landes natürlich voran, aber er wird kontraproduktiv und sogar gefährlich sein, wenn er zum Zusammenbruch der Bürgergesellschaft und des Staates führt. Jeder, der sich mit Politik beschäftigen will, jeder, der sich für einen Politiker hält, muss seine Position ausschließlich im Rahmen des Gesetzes zum Ausdruck bringen.“ (RIANovosti,22.06.2012 in http://de.rian.ru/ world/201220622/263850602.html). Russland ist nicht mehr nur der Rohstoff- und Energielieferant sowie der Absatzmarkt der Europäischen Union, sondern unternimmt den Versuch, mit der Hilfe ausländischer Unternehmen die veraltete eigene Industrie zu erneuern und die Weiterverarbeitung von Rohstoffen und Energie in die eigene Hand zu nehmen. Die russische Führung, schreibt Elke Windisch, „hat es satt, stets nur die Rolle des Rohstofflieferanten zu geben, will daher bei deutschen Unternehmen als Investor einsteigen und erhofft sich so Zugriff auf Spitzentechnologien und Bares beim lukrativen Geschäft mit den westlichen Kunden“ (Zweierlei, Tagesspiegel, 18.7.2011). Wladimir Putin stellte z.B. in einem Zeitungsartikel vom April 2012 wirtschaftliche Veränderungen sowie die nun anstehende Privatisierung großer Staatsunternehmen in Aussicht. Angekündigt war die Zusammenstellung der Liste bereits im Jahre 2010 (Frankfurter Rundschau, 27.7.2010). Eingeleitet würde eine diversifizierte, mittelstandsorientierte und global wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur mit einem höheren Anteil an modernen Technologien (Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, a.a.O.). Auf welche Unzulänglichkeiten die angestrebte Modernisierung stößt, benannte Johannes Voswinkel bereits 2010 in seinem Zeit-Artikel „Runderneuerung auf Russisch“ vom 6.5.2010. In Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft, Staat mangele es an Grundlagen für die innovative Wende. Die jüngere Generation fehle in den Hochschulen. Sie sei ausgewandert oder in die vor einigen Jahren boomenden Banken- und Investmentfirmen gewechselt. Die Bürokratie sei ein stark hemmender Faktor. Innovative Produkte kämen erst nach einem „Lizenzmarathon von bis zu 16 Behörden auf den Markt“ (ebd.). Ruslan Grinberg, Leiter des Wirtschaftsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaft, fasste die Probleme in seinem Artikel „Wir brauchen den Dollar“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 9. 6. 2011 in folgenden Worten zusammen: „Deshalb ist für Russland eine eigene Industriepolitik existentiell. … Der Finanzkapitalismus hat Russland sehr geschadet. Manager denken heute nicht an eine langfristige Produktion, sondern ans schnelle Geld. Zudem haben wir in der Reformzeit unsren Markt zu früh geöffnet und damit den eigenen Produzenten geschadet. Dann wurden auch noch die staatlichen Subventionen abgeschafft – auf Rat von außen. Der Westen vertrat damals sinngemäß die Position: Macht, was wir sagen, aber macht nicht, was wir tun. Denn weder die Amerikaner noch die Chinesen oder die Deutschen sind an einem neuen Konkurrenten Russland interessiert.’ Gebt uns Öl, Gas, Metalle und Dünger’, sagen sie, ‚und wir liefern dafür alles, von der Wurst bis zum Computer’“. In bezug auf die Chinesen fügte er noch hinzu: „Die Amerikaner machen zwar manchen Unfug, aber man kann sie immerhin verstehen und ihre Handlungen vorhersehen. Im Gegensatz dazu wissen wir nicht, wie eine Pax China aussähe. Im Moment verfolgt China eine vernünftige und anständige Politik. Aber bleibt das so?“(ebd.). Damit es noch länger so bleibt, lässt Russland zu, dass China in Sibirien Betriebe errichtet, in denen Chinesen als Arbeitskräfte arbeiten. Außerdem liefert Russland nach Fertigstellung von Pipelines Öl und Gas zur dortigen Weiterverarbeitung (Karl Grobe, Das chinesisch-russische Tandem, Frankfurter Rundschau, 19.10.2009). 4. Russlands Einordnung in die globale Machtstruktur Russland, merkte Boho Lo an, “has a messianic vision of Russia as an ‚independent’ pole in a multi-polar order, an Eurasian bridge between East and West, and a fully signed-up member of the Asian community.”(Boho Lo, Russia: The Eastern Dimension, in Dutkiewicz und Dmitri Trenin, a.a.O., S.353-402, S.360). Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts maßen die selbsternannten „Sieger“ dem geschrumpften Russland jedoch eine sehr viel bescheidenere Rolle zu (mit der Ausnahme der deutschen Regierungen) und im Kampf gegen seine Degradierung isolierte sich Russland strategisch immer mehr (Dmitri Trenin, Die einsame Weltmacht, Die Zeit, 5.2.2009). Als Zeuge für diese us-amerikanische Strategie gegen Russland eignet sich auf ganz besondere Weise Zbigniew Brzezinski. „Den strategischen Ausblick, den er vor 15 Jahren skizzierte, sah das Vordringen der USA und ihrer europäischen Verbündeten bis nach Zentralasien vor. Indem die EU sich nach Osten ausdehnen sollte, die Nato gleichfalls Richtung Georgien und Ukraine expandieren würde und Pipelinerouten durch verbündete Staaten bis ins kaspische Becken hineinverlegt werden sollten, hoffte Brzezinski eine Art neue Seidenstraße bis nach China etablieren zu können. Die entscheidende Bedeutung dieser neuen Handelsroute bestand für ihn darin, dass sie dem Westen erlauben würde, seinen Einfluss bis in das Zentrum des mit Abstand wichtigsten Kontinents der Welt – Eurasien – auszudehnen. Gelänge es, eine geopolitische Ordnung Eurasiens zu gestalten, so würde diese automatisch auch für andere Teile der Welt Verbindlichkeit erlangen. Zugleich würde dieses Vorgehen Russland – die größte Landmacht auf dem eurasischen Kontinent – an seiner Südflanke umgehen und so die ehemalige Supermacht zum Randstaat einer zukünftigen Weltordnung degradieren.“ (Hauke Ritz, Warum der Westen Russland braucht – Die erstaunliche Wandlung des Zbigniew Brzezinski, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7, 2012, S. 89-98, S.91). Brzezinski propagierte lange Zeit im Verein mit den Neokonservativen die Vorstellung von Russland als einem gescheiterten Staat bzw. failed state (Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S.180). Er setzte sich für die Teilung Russlands in eine europäische, sibirische und fernöstliche Republik ein, um leichter Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten aufnehmen zu können. Die Einbeziehung Russlands in die westlich dominierte Weltordnung lehnte er ab und meinte: „Russland war eindeutig zu rückständig und durch den Kommunismus zu heruntergewirtschaftet, um ein brauchbarer demokratischer Partner der Vereinigten Staaten zu sein.“ (ebd. S.153)3. Die Einbindung Chinas in die von den USA vorangetriebene Globalisierung von Produktion und Handelsverkehr sah Brzezinski durch das von multinationalen Korporationen und Organisationen eng geknüpfte Netz gewährleistet (ebd. S.307). Wie abwegig und der Lächerlichkeit preisgegeben mutete dagegen der neunjährige Versuch Jelzins an, Russland in den Westen zu integrieren. Auch Putins frühere Versuche, von den USA als gleichwertiger Partner anerkannt zu werden, um mit ihnen Geschäfte auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu tätigen (Rede Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007), musste an der Intransigenz der USA scheitern (Katrin Bennhold, Putin urges West and Russia to cooperate, International Herald Tribune, January 29, 2009). Dmitri Trenin schilderte die Reaktion der russischen Machtelite auf diese Zurückweisungen: „Weil Russland sich dem Westen nicht zu dessen Bedingungen anschließen wollte und weil es unfähig war, dem Westen die russischen Bedingungen zu diktieren, hat es sich für eine Position entschieden, die es eigentlich schon immer inne hatte: Es will einen Block postsowjetischer Staaten unter der Führung des Kremls schaffen.“ (Dmitri Trenin, ebd.). Dennoch unternahm auch der Nachfolger Putins im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, einen erneuten Anlauf zu einem Sicherheitsdialog in Europa mit dem Ziel, eine neue transatlantische Sicherheitsarchitektur zu errichten (Elke Windisch, Medwedew will euro-asiatische Sicherheitspartnerschaft, Tagesspiegel, 1.12.2009). „A new comprehensive European (Collective) Security Treaty would be the best option. It might include all states and the key international organizations (the EU, Nato, the CIS, and CSTO), operating in the Euro-Atlantc space, although it might be open for all the interested states.”(Valdai-Report, December, 2009, a.a.O. S.17). Aber auch er scheiterte nicht nur am Unwillen der us-amerikanischen Machtelite, die eine weitere Hinwendung der EU zu Russland mit allen Mitteln zu verhindern suchte. (FAZ-Net, EU-Russland-Gipfel – Gegensätze unter „europäischen Freunden“, 22.5.2009). Dmitri Trenin sah den Fehler der russischen Sicherheitspolitik in der Fixierung auf die Vereinigten Staaten: „Amerika als Hauptfeind – diese Perspektive verdreht Moskaus strategische Weltanschauung. Sie führt dazu, dass Ressourcen verschwendet werden, und produziert Enttäuschung über das immense Ungleichgewicht zwischen den ehemaligen Rivalen des Kalten Krieges.“ (ebd.). Aus der Einsicht, von den USA keinerlei Entgegenkommen erwarten zu dürfen, konzentrierte sich im nächsten Schritt die russische Führung zunächst auf die Bereinigung des Verhältnisses zu den vormals unter russischem Einfluss stehenden osteuropäischen Staaten. Wenn es gelang, insbesondere zu Polen und Tschechien ein besseres Verhältnis aufzubauen, konnten die USA jene Länder nicht mehr in ihrer Kampagne gegen ein engeres Verhältnis zwischen der EU und Russland instrumentalisieren, um insbesondere Deutschland daran zu hindern, über die Rohstoff- und Energiezusammenarbeit hinaus ein stärker partnerschaftliches Verhältnis zu Russland zu entwickeln. Seit langem fordert die Deutsche Energie-Agentur GmbH „Kooperation durch Verflechtung“, d.h. über den Rohstoff- und Energiehandel hinaus eine intensivere Zusammenarbeit in Industrie und Dienstleistung (Stephan Kohler, Kalter Krieg und Energie, Tagesspiegel, 24.9.2008, Walther Stützle, Russland muss an den Tisch, Frankfurter Rundschau, 2.4.2009). Selbst der ehemalige russische Präsident Gorbatschow erinnerte die EU nochmals an die notwendige stärkere Einbindung Russlands: „Europa kann nur dann zu einem starken Global Player werden, wenn es wirklich allen Europäern, im Osten und Westen, eine gemeinsame Heimat wird.“ (Frankfurter Rundschau, 6.11.2009). Im Zusammenhang mit der Raketenabwehr erinnerte auch Gernot Erler im Jahre 2012 nochmals an die Versäumnisse der Vergangenheit, als er fragte: „Warum hat der Westen das Angebot von Medwedew, in einen umfassenden Dialog über eine Euroatlantische Sicherheitsarchitektur einzutreten, ins Leere laufen lassen, um jetzt tatenlos zuzusehen, wie schon zum zweiten Male das Thema Raketenabwehr zu einem ernsthaften Konflikt zwischen USA, Nato und Moskau heranwächst? Warum wird die Bundesregierung hier nicht aktiv, obwohl Deutschland mit der Kommandozentrale in Rammstein bei diesem Konflikt in der vordersten Frontlinie stehen wird?“ (Frankfurter Rundschau, 7.5.2012). Erler erwähnte nicht die alleinige Souveränität der USA über Rammstein als Folge des weiterhin existierenden Truppenvertrages mit den USA, der Teile des Besatzungsstatut aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unbefristet verlängert. Was das jedoch für den Aufbau des Raketenabwehrsystems (Kommandozentrale in Rammstein und Stationierung der Raketen in Polen, Rumänien und auf Schiffen im Mittelmeer) bedeutet, zeigte bereits Christopher Ziedler auf, als er über die Machtvertikale innerhalb der Nato schrieb: „Entweder die europäischen Nato-Staaten machen mit oder bekommen ein US-System vorgesetzt.“ (Tagesspiegel, 23.4.2010). Einsichtsfähiger als zuvor zeigte sich die amerikanische Führung erstmals, nachdem der Transport von militärischen und zivilen Gütern nach Afghanistan über pakistanisches Territorium immer unsicherer wurde und zentralasiatische Staaten für die Errichtung von Stützpunkten gewonnen werden mussten. Zum Stützpunkt in Kirgisistan konnte man jedoch zu Lande nur über Russland und das angrenzende Kasachstan gelangen. Zur Versorgung der Nato-Truppen öffnete das direkt an Afghanistan angrenzende Nachbarland Kirgisistans, Tadschikistan, im Januar 2009 einen Transitweg. „US-Kommandeur David Petraeus hatte zuvor gesagt, die Nato habe mit Kasachstan und Russland bereits eine Einigung erzielt.“ (Frankfurter Rundschau, 22.1.2009). Deren Zustimmung erreichte man jedoch nur mit Gegenleistungen, wozu unter anderem z.B. der Abschluss des Start-Abkommens über strategische Abrüstung zwischen den USA und Russland zählte (Klaus-Dieter Frankenberger, Was Russland braucht, Frankfurter Allgemeine, 17.9. 2010). Bezogen auf die der iranischen Führung von den USA unterstellte Entwicklung von Atomwaffen, der man mit einem erzwungenen oder von außen unterstützten Regimewechsel begegnen möchte, und auf den immer mehr in einen Bürgerkrieg ausartenden Konflikt in Syrien wurde deutlich, dass die USA bis in die Gegenwart an einem Containment Russlands wie Chinas arbeiten und die Europäische Union mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln (militärisch, ökonomisch und finanziell) ins gemeinsame Boot holen wollen. Warum lassen sich die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU immer wieder von den USA in eine Konfrontation mit Russland und China hinein manövrieren? Gelingt ein Regimewechsel in Syrien, muss Russland wahrscheinlich seinen letzten am Mittelmeer liegenden militärischen Stützpunkt aufgeben. Für das Assad-Regime gilt jedoch wie für alle diktatorisch regierenden Machthaber im Nahen Osten (Saudi-Arabien, Bahrain, Iran, Sudan, einige Emirate): in ihrem Allmachtsglauben unterschätzen sie den massiven Einfluss der heutzutage verfügbaren Kommunikationsmöglichkeiten, die dank technologischer Entwicklungen alle Grenzen leicht überwinden. Durch diktatorische Maßnahmen erzeugte Unzufriedenheit in der Bevölkerung kann zusätzlich von außen entflammt und kanalisiert werden. Der Irak könnte künftig sowohl von der Türkei wie von Syrien aus in die Zange genommen werden und gezwungen sein, die Bindungen an den Iran zu kappen. Die Einkreisung des Irans wäre mit den drei Ausnahmen an den Grenzen zu Armenien, Turkmenistan und (über das Kaspische Meer) zu Russland perfekt. In der Versorgung mit Öl weist die us-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton die bisherigen Abnehmer iranischen Öls darauf hin, dass Saudi-Arabien und die Emirate ihre Förderungsmenge erhöhen können. Das feudale und demokratiefeindliche Regime Saudi-Arabiens stand noch nie im Blickpunkt us-amerikanischer Menschenrechts- und Demokratiepolitik und der Einmarsch saudischer Truppen in Bahrain wurde zwar nicht gerechtfertigt, aber weitgehend von den im Falle Syriens so stark um die Menschenrechte besorgten USA und Europäern mit Stillschweigen übergangen. Ob und wie viele Menschen in Syrien schon oder künftig noch durch Waffen getötet werden, die von Saudi-Arabien und den Emiraten finanziert und mit Hilfe der CIA nach Syrien über die Türkei eingeschleust werden, zählt in der medialen Öffentlichkeit weit weniger als die Menschen, die von der syrischen Armee und Milizen bereits jetzt und in den weiter aufflammenden Gefechten noch dem Tod ins Auge sehen müssen. Sollte es den USA gelingen, den ölreichen Nahen Osten wieder völlig zu kontrollieren, wird der Druck auf die zentralasiatischen Republiken, sich dem Einfluss der USA zu öffnen, wieder zunehmen. Die dauerhafte Stationierung us-amerikanischer Truppen in Afghanistan dient – wie schon erwähnt – auch diesem strategischen Ziel. Wenn Menschenrechtspolitik und Empörung über Gräueltaten der Durchsetzung von Interessen dienen, ist Vorsicht angesagt. Die Eindämmung Chinas wird aller Wahrscheinlichkeit nach am Konflikt im südchinesischen Meer ansetzen und könnte zu einem späteren Zeitpunkt dazu führen, dass europäische und japanische Unternehmen ultimativ von den USA aufgefordert werden, wie im Falle Irans ihre Geschäftsbeziehungen mit China einzuschränken und später ganz aufzugeben. Als schwachen Ersatz für die ausfallenden Exportmärkte würde man womöglich den vielleicht dann wieder etwas aufnahmefähigeren US-Markt anbieten. Der Druck auf den Euro und die Verschärfung der Schuldenkrise südeuropäischer Euro-Länder bewirkt eine Schwächung Kontinentaleuropas und könnte, wenn keine Lösungen gefunden werden, den USA und Großbritannien zur Wiedererlangung der Dominanz ihrer anglo-amerikanischen Hegemonie verhelfen, einschließlich erneuter vom Finanzkapital erzeugter globaler Krisen und einer noch mächtigeren Position des militärisch-industriellen Komplexes der USA. Dieser – insgesamt für die kontinentalen Staaten Europas – abträglichen Entwicklung kann wirksam begegnet werden, wenn die kontinentaleuropäischen Mitglieder der EU ihre Selbständigkeit stärker als bisher erkennen, die strategische Partnerschaft mit Russland durch eine industrielle Verflechtung ergänzen, zugleich chinesischen Investitionen im Euroraum keine Steine in den Weg legen und mit allen verfügbaren Mitteln darum kämpfen, die Banken- und Staatsschuldenkrise in den Griff zu bekommen. Denn eines ist klar: Der nordamerikanische Kontinent und die als „Flugzeugträger“ der USA dienende Insel Großbritannien verlieren an Stärke, wenn sich die Staaten Kontinentaleuropas und Asiens auf ihre gemeinsamen Interessen verständigen und Russland als Rohstoff- und Energielieferanten sowie als industriell potentes Scharnier voll einbinden. Die russische Führung ist sich der Brisanz der Entwicklung übrigens bewusst. Sie hat sich dafür ausgesprochen, den prozentualen Anteil des Euros an ihren Devisenreserven, der nach Putin ungefähr 50 Prozent ausmacht, beizubehalten. Sollten allerdings Machteliten einiger westeuropäischer Staaten immer noch – wie vor dem ersten Weltkrieg und in den darauf folgenden zwanziger Jahren – stillschweigend eine Politik der Eingrenzung Deutschlands favorisieren (Aufforderung des französischen Präsidenten Mitterrand an die USA im Jahre 1990, zur Sicherheit Frankreichs weiterhin Truppen in Deutschland zu stationieren), würden sie dazu beitragen, dass Europa in der multipolaren Machtstruktur der Zukunft eine immer unbedeutendere Position einnimmt. Sehr erfreulich wäre, wenn sich diese Annahme als unbegründet erweisen sollte. Endnoten1Darauf verweist auch Roland Götz in „Kapitalflucht aus Russland – Eine Gefahr für die Volkswirtschaft, in Osteuropa, Heft 10, Oktober 2011, S.83-94): „Kapitalflucht ist ein schneller Abzug von Kapital aus einem Land, in dem es gefährdet ist, in andere Länder, wo die Gefährdung geringer ist.“(ebd.S.86). Jedoch wird bei der simplen Gleichsetzung von Nettokapitalabfluss und Kapitalflucht übersehen, dass Russland als Rohstoffexporteur zugleich ein Kapitalexportland sein muss. Nicht jeder Kapitalabfluss ist mit Kapitalflucht gleichzusetzen. Verzeichnet ein Land z.B. positive Investitionsanreize, können inländische Banken normalerweise genügend Kapital zur Verfügung stellen. 2„Mit der Jackson-Vanik-Klausel waren 1974 Einschränkungen für den Handel mit der UdSSR eingeführt worden. Die Ursache für deren Billigung war das Fehlen der Reisefreiheit in der Sowjetunion. Seit 1989 beschließt der US-Kongress jährlich ein Moratorium über die Wirkung der Klausel, offiziell bleibt sie allerdings weiterhin in Kraft.“(ebd.). 3Nicht ganz so prononciert aber dennoch in die gleichen Richtung weisend erschallte es auf deutscher Seite in politikwissenschaftlichen Instituten der Universitäten (z.B. der Freien Universität Berlin), in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) (ausgenommen Alexander Rahr, der inzwischen die DGAP frustriert verlassen hat), dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), und wissenschaftlichen Beraterstäben in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ganz zu schweigen von der letztlich kontraproduktiven Einseitigkeit in der Berichterstattung führender Zeitungen und Journale. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/9de771fe5656441e88279d4b40032c9f" width="1" height="1" alt="" /> |
AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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