1. Demokratien machen Fehler, Putins Autokratie gefährdet die Menschheit Vittorio Hösle unterlegt seinem Artikel ein einfaches Schema, in dem der einen Seite zwar (un)verzeihliche Fehler vorgehalten werden, der anderen Seite aber aggressives Verhalten mit hohem Gefahrenpotential für die Erhaltung des Weltfriedens. Die (un)verzeihlichen Fehler rechnet er „dem Westen“ an, das gefährliche Ausmaß an Aggressivität Putins Russland. Selbst die Sowjetunion der 70iger und 80iger Jahre sei weniger aggressiv gewesen. Dabei vergisst er, dass in der Entspannungsperiode zu Beginn der siebziger Jahre die damalige deutsche Bundesregierung auf die Sowjetunion zugegangen ist, um im Gespräch mit der sowjetischen Führung einen Wandel der Beziehungen herbeizuführen. 1.1 (Un)verzeihliche Fehler des demokratischen „Westens“ Hösle konstatiert: „Der Westen hat im neuen Jahrhundert viele Fehler gemacht. Ich nenne nur: Die Kündigung des ABM-Vertrags 2001 durch die USA war unklug, die Verletzung des Völkerrechts im Irakkrieg 2003 skandalös, der Sturz Gaddafis 2011 ohne Klärung seiner Nachfolge unverantwortlich, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo schuf einen gefährlichen Präzedenzfall, und man hätte in Kiew auf die legale Abwahl Janukowitschs im Herbst 2014 warten sollen. All dies sollte man zugeben. Angesichts der horrenden Folgen eines Krieges mit Russland ist es ferner völlig vernünftig, dass man wegen der Ukraine nicht einen solchen Krieg riskieren will und kann.“ (ebd. S.110). 1.2 Aggressivität russischer Oligarchen Er unterscheidet zwischen „guten“ Oligarchen, die sich Putin nicht beugen, und den „bösen“, die Putin zu Diensten seien. Putin „benutze“ die Oligarchen, so wie er sie brauche. Für die Aggressivität des heutigen Russlands führt Hösle fünf Gründe an (ebd.S.105):
Den russischen Oligarchen droht Hösle für ihr aggressives Verhalten Strafe an: „Aber der Aggressor muss dafür einen Preis zahlen, und zwar einen wirtschaftlichen wie einen diplomatischen; denn moralische Argumente fruchten nicht mehr. Nachgeben würde nur zu noch mehr Forderungen führen. Empfindliche wirtschaftliche Sanktionen sollten folgen, wenn das Abkommen von Minsk verletzt wird – allerdings so, dass weitere wirtschaftliche Druckmittel übrig bleiben. Denn dieses Mittel muss möglichst lange zur Verfügung stehen – in der Hoffnung, dass die Oligarchen aus Angst vor weiteren Verlusten protestieren, statt auf die ‚patriotische Linie‘ einzuschwenken. Auch am Konflikt nicht beteiligten Staaten, zumal China, muss die Gefährlichkeit der russischen Politik klargemacht werden.“ (ebd.S.110). 2. Hösles Abwehrstrategien des „Guten“ gegen das „Böse“ Hösle empfiehlt: „Alle Versuche, die USA und die EU zu entfremden, müssen abgewehrt werden“, zumal die USA dahin tendierten, „sich stärker dem pazifischen Raum zuzuwenden, in dem ganz andere Wachstumsmöglichkeiten existieren“ (ebd.S.110). Er schlussfolgert: „Der politische Einigungsprozess in der EU muss vertieft werden – dass der Kreml sich durch ihn bedroht fühlt, belegt ja seine Unterstützung der antieuropäischen extremen Rechten.“ (ebd.). Insbesondere aber müsse „die wahre Natur des Putinschen Regimes deutlich gemacht werden“, denn „die Ablenkung der westlichen öffentlichen Meinung durch geringere Probleme, wie die Abhöraffäre, aber selbst ernsthafte wie den islamischen Terror, hat es erst ermöglicht, dass Russland durch einen Coup überraschen konnte, der in Wahrheit vorhersehbar hätte sein müssen.“ (ebd.). Zudem lasse Putin die zunehmende Schwäche Russlands gegenüber dem mächtiger werdenden China nicht mehr viel Zeit, als „Sammler russischer Erde“ in die Geschichtsbücher einzugehen (ebd.S.109). Putin verfolge eine langfristige Strategie, die Ukraine zu destabilisieren. Dass die USA und die EU seit langem versuchen, die Ukraine in das westliche Lager einzubinden, ist Hösle jedoch keine Erwähnung wert. Hösle zielt letztlich darauf ab, dass anders als im vergangenen Ost-West-Konflikt der Unterschied zwischen „Gut“ und „Böse“ nicht mehr an der unüberbrückbaren Kluft zwischen freiheitlichem Denken und Handeln des „Westens“ auf der einen Seite und dem als aggressiv definierten Marxismus-Leninismus sowjetischer Führer auf der anderen Seite zu erkennen sei, sondern jetzt an Putins aggressivem Nationalismus, der für die „freie Welt“ sehr gefährlich werden könne. In der Erklärung seines Konzeptes greift Hösle zur Verharmlosung, Fehlinterpretation und Falschinformation. Die begangenen Fehler, schlägt er vor, sollte „der Westen“ zugeben. Unterschwellig legt er nahe, dass es danach umso gerechtfertigter ist, dem „Bösen“ den Kampf anzusagen. Im Einzelnen ist folgendes zur Benennung der Fehler zu sagen: 3. Hösle verharmlost die Kündigung des ABM-Vertrags 2001 durch die USA. Sie sei „unklug“ gewesen. Zu erklären wäre jedoch, dass die globale Sicherheitsarchitektur der USA die Kündigung des Vertrages notwendig machte. Die USA hatten 2001 den ABM–Vertrag von 1972 formell gekündigt, um das Raketenabwehrsystem NMD installieren zu können (www.spiegel.de › Politik › Ausland 13.12.2001). Laut Spiegel-Kommentator „Pst“ aus dem Jahre 2001 war die Kündigung des ABM-Vertrags „ein weiteres Indiz für eine grundlegende Neuorientierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik. Sie kann nicht erst mit dem 11. September datiert werden, sondern geht zurück auf Weichenstellungen, die bereits George Bush der Ältere 1990/91 vorzunehmen versucht hatte, indem er vor dem Hintergrund des Kollapses der Sowjetunion und des Warschauer Pakts auf eine US-hegemoniale neue Weltordnung setzte. Zu diesem Zweck wurde die NATO auf neue Ziele verpflichtet wie etwa auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, den Kampf gegen die Proliferation von Nukleartechnologie, die Sicherung von Rohstoffquellen und des freien Welthandels sowie auf die Verwirklichung von Menschenrechten weltweit. So jedenfalls wurde es bereits in der Römischen Erklärung der NATO von 1991 formuliert. Die USA waren es auch, die sich über zahlreiche internationale Abmachungen hinweg setzten, etwa gegen die weltweite Ächtung von Antipersonen-Minen oder gegen die in Rom 1998 beschlossene Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) …“. Der Spiegel sagte voraus: „Die Welt wird sich auf eine Entwicklung einstellen müssen, die geprägt sein wird von der Durchsetzung nationaler Interessen der einzigen Weltmacht USA – notfalls mit brachialer militärischer Gewalt. Seit dem Jahr 2000 stehen die Zeichen weltweit wieder auf mehr Rüstung und auf mehr regionale Kriege und Bürgerkriege. Der avisierte langjährige ‚Krieg gegen den Terror‘ wird eher noch mehr solcher Konflikte hervorbringen als zu einer Eindämmung des Terrorismus beitragen. All das muss im Auge behalten werden, wenn man über die Folgen der Aufkündigung des ABM-Vertrags nachdenkt. Die USA haben – schon vor dem 11. September – zahlreiche ähnliche einseitige Schritte unternommen, die in ihrer Gesamtheit der globalen Sicherheitsarchitektur schweren Schaden zufügen.“ Hösle verharmlost diese gravierenden Veränderungen als Folge der globalen Sicherheitsarchitektur der USA und bezeichnet die Kündigung des ABM-Vertrags lediglich als „unklug“. 4. Für Hösle ist die Verletzung des Völkerrechts im Irakkrieg 2003 „skandalös“! Laut Duden wird skandalös mit ärgerlich, anstößig, unerhört übersetzt. Insbesondere die Bedeutung des Wortes ärgerlich trifft auf die völkerrechtswidrige Invasion in den Irak durch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten nicht zu. Die Invasion war weit mehr als nur ein Ärgernis. Sie beruhte offiziell auf der ungeprüften und willkommenen Falschinformation eines irakischen Chemikers, der den USA den Vorwand für die längst beschlossene Invasion lieferte. Der Einmarsch war auch nicht anstößig bzw. unerhört, was üblicherweise mit unanständig, gemein, empörend usw. übersetzt wird und zur Beschreibung von unmoralischen Verhaltensweisen herangezogen wird. In der internationalen Politik geht es laut Egon Bahr niemals um moralische Werte, sondern um die Durchsetzung von Interessen. Im Interesse der USA an der Vertreibung des Diktators Saddam Hussain lag der Zugriff auf die Erdölressourcen des Irak. Die Frankfurter Allgemeine schrieb am 16. 9. 2002 unter dem Titel „Vereinigte Staaten: Kampf um Öl statt Krieg gegen Terror“: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass Washington seine Abhängigkeit von Saudi-Arabien verringern möchte. Der Anteil an saudischem Öl bei den amerikanischen Importen wurde in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgeschraubt. Stattdessen setzte Amerika auf alternative Lieferanten. Auf Dauer sind die Saudis aber nicht zu umgehen: Das Land am Golf ist nicht nur der wichtigste Erdölproduzent der Welt, es verfügt auch über die größten Vorkommen. Doch das Regime in Saudi-Arabien ist instabil, Experten befürchten über kurz oder lang seinen Zusammenbruch. Im schlimmsten Fall könnten dann Islamisten die Macht ergreifen und die würden das verhasste Amerika sicher nicht mehr so bereitwillig mit Erdöl beliefern. …“. Unter dem Begriff „Irak als Zukunftsinvestition“ erklärte die Zeitung: „Beim diskutierten Angriff auf den Irak geht es nicht nur um den Sturz eines Unrechtsregimes, sondern auch um die Zukunft der amerikanischen Energieversorgung, munkeln Amerika-kritische Stimmen. Der Irak exportiert derzeit auf Grund internationaler Sanktionen seit dem Golfkrieg weniger als zwei Millionen Barrel pro Tag. Bagdad würde gerne sechs Millionen fördern. Nach einem Machtwechsel könnte der Irak wieder ungebremst Öl produzieren, das, so wird gemutmaßt, seinem „Befreier“ Amerika zu Gute käme. Eine Investition in die Zukunft, schließlich verfügt das Land über die zweitgrößten Reserven der Welt. Dem halten Experten entgegen, dass der Irak bereits jetzt an seiner Kapazitätsgrenze fördere. Seine Anlagen seien veraltet und es bedürfe hoher Investitionen, um sie wieder in Schuss zu bringen. Doch davor müsste Saddam Hussein erst einmal gestürzt und durch ein stabiles pro-amerikanisches Regime ersetzt werden.“ (FAZ, 16.9.02). Spiegel Online deckte „die Verquickung von wirtschaftlichen Zielen und militärischem Vorgehen durch Dick Cheney, früherer Chef des Petrologistik-Konzerns Halliburton und heutiger Vize-Präsident der USA und George W. Bush“ auf, die in den USA offen diskutiert wurde. Jimmy Carter, US-Präsident von 1976 bis 1980 und Träger des Friedensnobelpreises 2002, rechnete am 5.9.2002 in der „Washington Post“ in ungewöhnlich scharfer Form mit der Bush-Politik ab und verglich die Politik seines Nachfolgers mit „Unrechtsregimen“. „Wir haben unsere Missachtung der restlichen Welt auch gezeigt, indem wir aus mühsam vereinbarten internationalen Abkommen ausgestiegen sind. Verträge über Rüstungskontrolle, Konventionen über biologische Waffen, Umweltabkommen und Vereinbarungen, mit denen die Folterung und Bestrafung von Kriegsgefangenen verhindert werden soll – all das haben wir nicht nur abgelehnt, sondern auch all jene bedroht, die an diesen Abkommen festhalten. Diese ganze einseitige Politik isoliert die Vereinigten Staaten immer mehr von den Nationen, die wir brauchen, um den Terrorismus zu bekämpfen.“ Mit dem Irak-Krieg haben die USA die gesamte arabische Region bis zum heutigen Tag in Brand gesetzt. Es besteht keinerlei Hoffnung auf Frieden. Das von Hösle benutzte Wort „skandalös“ wird diesem Vorgang keinesfalls gerecht. 5. Der für Hösle „unverantwortliche“ Sturz Gaddafis, ohne seine Nachfolge vorher zu klären Um Missverständnisse zu vermeiden eines vorab: Gaddafi war ein Diktator und in zunehmendem Maße in seinen Handlungen unberechenbar. Die von ihm und seinen Schergen Unterdrückten hatten allen Anlass, gegen ihn aufzubegehren. Jedoch nur sie waren berechtigt, einen Regimewechsel herbeizuführen und nur ihnen kam die Klärung der Nachfolge zu, nicht den Interventionsmächten USA, Großbritannien und Frankreich, die ihre eigenen Interessen verfolgten. Wenn es keine Vorabklärung unter den Rebellen gab, war dies vor allem eine Folge der traditionellen Gegensätze zwischen der Bevölkerung im Westen und im Osten des Landes. Einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken, ging in einem Vortrag am 8. Juni 2011 in Düsseldorf näher auf diese Gegensätze ein. Während es am „Tag des Zorns“ (17.2. 2011), in mehreren Städten Ost-Libyens zu Demonstrationen kam und die größte davon in al-Beidha, mit 1500 Teilnehmern stattfand, demonstrierten Tausende Gaddafi-Anhänger in mehreren Städten des Westens für Gaddafi. Henken verweist in seinem Vortrag auf die Neue Züricher Zeitung (NZZ): „Der Nordosten des Landes […]steht traditionell dem Regime eher kritisch gegenüber. Al-Beidha hat den Ruf, noch den 1969 abgesetzten König Idriss as-Senussi zu verehren, und in Benghasi und an den Hügeln des Jebel Akhbar hielt sich lange eine islamistische Opposition. Der relative Aufruhr im Osten kann deshalb nicht einfach als Anzeichen für eine Oppositionswelle im ganzen Land gedeutet werden.“ (NZZ 18.2.11). Aus dem selben Artikel der NZZ gibt Henken die Einschätzung des langjährigen Nahost-Korrespondenten der Zeitung, Victor Kocher, wieder. Kocher schreibt: „Hier zeichnet sich das historische Selbstbewusstsein der Cyrenaika wieder ab, jenes Ostteils des Landes, der ursprünglich das wahre Macht- und Wirtschaftszentrum darstellte. Von dort stammte der Nationalheld und Unabhängigkeitskämpfer Omar al-Mukhtar, der im Kampf gegen die italienischen Kolonisten gefallen ist. Und dort sind die Wurzeln der Senussi-Dynastie, aus welcher der letzte König Idriss stammte, den Gaddafi 1969 stürzte. In den Augen der Libyer aus der Cyrenaika ist das Ghadhafi-Regime eine illegitime und zur effizienten Regierung unfähige Konstruktion aus verspäteten Versatzstücken des Nasserismus.“ Einen Monat nach Beginn der Rebellion in der Cyrenaika standen Gaddafis Truppen vor den Toren Bengasis. Gaddafi versprach allen Aufständischen, die ihre Waffen niederlegten, eine Amnestie und bot den Rebellen sogar einen Fluchtweg und offene Grenzübergänge in Richtung Ägypten an. (Henken zitiert hier A.J Kuperman, „False pretense for war in Libya? The Boston Globe, 14.4.2011). Am 19. März begannen die USA, Großbritannien und Frankreich den Beschuss libyscher Truppen von ihren vor der Küste Libyens zusammen gezogenen Kriegsschiffen aus. Der UN-Sicherheitsrat hatte zuvor aus der Befürchtung, ein Völkermord stünde bevor („Responsibility to Protect“), die UN-Resolution 1973 beschlossen. „Die Option, Krieg gegen Gaddafi zu führen, wurde“ laut Lühr Henken „in Washington, London und Paris bereits vor dem 17.3., dem Tag der UN-Resolution, konkret in Angriff genommen. Obama hatte bereits in der Woche vor dem 17. März ‚eine Genehmigung zur Unterstützung der Rebellen‘ durch den CIA unterzeichnet.“(focus.de, 31.3.11). Diese Autorisierung umfasste ‚auch die Lieferung von Waffen an die libyschen Rebellen‘ (FAZ 1.4.11). Das konservative Wall Street Journal berichtete am 17. März: „Laut offiziellen Vertretern der USA und der libyschen Rebellen hat das ägyptische Militär damit begonnen, mit Wissen Washingtons Waffen für die Rebellen über die Grenze nach Libyen zu senden. Die Lieferung umfasst meist Kleinfeuerwaffen wie Sturmgewehre und Munition.“ (hintergrund.de, Libysche Notizen von Peter Dale Scott, 31.3.11). Im UN-Sicherheitsrat hatten sich Brasilien, Indien, China und Russland neutral verhalten. Sie und Südafrika, das ursprünglich zugestimmt hatte, warfen der NATO und den Interventionsmächten nunmehr vor, die zum Schutz von Zivilisten ausgesprochene Interventionsbefugnis in der Praxis für einen Regimewandel genutzt zu haben, die so nicht vom Mandat gedeckt gewesen sei. Die Resolution des Sicherheitsrats bot in der Tat keine völkerrechtliche Handhabe, einen unmittelbaren Sturz des Regimes durch außerlibysche Interventionsmächte zu rechtfertigen. Das Gaddafi-Regime bekämpfte eine bewaffnete Rebellion im Osten des Landes und nicht das unbewaffnete libysche Volk in allen Teilen des Landes1. Der Streit über die Frage, ob das Mandat einen Regimewechsel deckte, führte schließlich dazu, dass die Durchführbarkeit von Responsibility to Protect-Interventionen gänzlich in Frage gestellt wurde. Hösle kritisiert nicht die Absicht der USA, Großbritanniens und Frankreichs, in Libyen einen Regimewechsel herbeizuführen, sondern bezeichnet es als unverantwortlich, dass die Interventionsmächte keinerlei Vorkehrungen für die Nach-Gaddafi-Zeit getroffen hätten. Aber der Sturz Gaddafis konnte nicht die Spannungen zwischen dem Ost- und Westteil des Landes beenden, sondern hatte zur Folge, dass nunmehr in ganz Libyen sektiererische Gewalt herrschte und Schleuser zunehmend die chaotische Situation Libyens ausnutzten, um von Flüchtlingen Geld für die Schiffspassage nach Europa zu erpressen. Die mit dem Regimewechsel verbundene Hoffnung der Interventionsmächte, künftig den alleinigen Zugriff auf die reichen libyschen Erdöl- und Erdgasquellen und weitere wertvolle Rohstoffe Libyens zu erhalten, ist in der Tat erst recht nicht in Erfüllung gegangen. 6. Hösle konstatiert: „Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo schuf einen gefährlichen Präzedenzfall.“ Die Ursachen für den Zerfall Jugoslawiens reichen weit in die Geschichte zurück. Bereits der Zusammenschluss zu Jugoslawien am Ende des Ersten Weltkriegs zwang Völker und Gebiete zusammen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Herauslösung des Kosovo aus Serbi- en gingen Konflikte zwischen der serbischen und albanischen Bevölkerung voraus. Die mehrheitlich moslemischen Kosovo-Albaner strebten nach Unabhängigkeit von Serbien. Aber warum drängten insbesondere die USA auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien und unternehmen alle erdenklichen Anstrengungen zur Verselbständigung des Kosovo? Die USA unterhielten im Kosovo die Militärbasis „Camp Bondsteel“, die sie auf einem Gelände von 386 Hektar mit Platz für 5000 Soldaten und 52 Hubschrauberlandeplätze ohne die Einwilligung Serbiens zwei Monate nach dem Einmarsch US-amerikanischer Truppen in Serbien ab August 1999 errichtet hatten und bei einem weiteren Verbleib des Kosovo bei Serbien für unsicher hielten. Mit der Unterstützung der USA und den wichtigsten europäischen Staaten erklärte das Parlament in Priština am 17. Februar 2008 den Kosovo für unabhängig, nachdem zuvor die mehrheitlich albanische Bevölkerung in einem Referendum dafür gestimmt hatte. Am 22. 7. 2010 entschied der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, dass die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien nicht gegen das Völkerrecht verstößt. Zwar war die Entscheidung für keine Seite bindend, aber für die internationale Anerkennung des Kosovo als souveräner Staat von großer Bedeutung. „Die Entscheidung darüber, ob die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht steht, galt als heikel“, erklärte die Völkerrechtsexpertin Bibi van Ginkel. Die Richter hätten abwägen müssen, „wie das Recht der Staaten auf territoriale Integrität und das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung zu-einander stünden.“ (Süddeutsche.de, Politik, Unabhängigkeit des Kosovo ist rechtens, 22.7. 2010). Für ihre Entscheidung war ausschlaggebend, dass nach Auffassung der Richter die Verfolgungen der Albaner durch die Serben eine Autonomie des Kosovo innerhalb Serbiens unmöglich gemacht hätten. Die Gegner der Gerichtsentscheidung hielten eine Zustimmung beider Konfliktparteien und der UN für zwingend notwendig. Der serbische Präsident Boris Tadic warnte nach der Entscheidung vor den Folgen des Urteils: „Sollte durch die Haltung des Gerichts ein neues Prinzip gelten, würde in der Welt ein ganzer Prozess losgetreten, neue Staaten zu schaffen. Dies würde viele Regionen in der Welt destabilisieren.“ (Handelsblatt, Unabhängigkeit des Kosovo ist rechtens, 22.7.2010). Dies ist in den folgenden Jahren auch in Abchasien, Südossetien und auf der Krim Realität geworden und droht erneut in der Ostukraine. Russland hatte sich damals vehement gegen das Haager Gerichtsurteil ausgesprochen, musste aber erkennen, dass die USA und die EU dem Urteil uneingeschränkt zustimmten. Als später die russische Führung diesen Präzedenzfall zu ihren Gunsten nutzte, rief sie nicht nur vehementen US-amerikanischen und europäischen Protest hervor, sondern wurde darüber hinaus mit Sanktionen belegt. 7. Hösle meint, „man hätte in Kiew auf die legale Abwahl Janukowitschs im Herbst 2014 warten sollen“. Er erwähnt jedoch nicht die gravierenden Begleitumstände seines Sturzes. Nach einer gefährlichen Zuspitzung der Lage in den ersten Tagen des Februars 2014 zwischen der Bereitschaftspolizei und Oppositionskräften auf dem Maidan reisten am 20./21. 2. 2014 die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands nach Kiew und vereinbarten mit Janukowitsch sowie den drei Oppositionsparteien einen Vertrag über vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen sowie die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ innerhalb von zehn Tagen (Nina Jeglinski, Lage in Kiew außer Kontrolle, Tagesspiegel, 21.2.2014). Die noch in Haft befindliche Julia Timoschenko forderte die Opposition auf, nicht mehr mit Janukowitsch zu reden. Er verantworte den Einsatz von Scharfschützen gegen die Demonstranten auf dem Maidan am 20. 2. 2014. Wer jedoch die Scharfschützen befehligte, blieb zunächst unklar. Es konnten sowohl unter Janukowitschs Befehl stehende Scharfschützen gewesen sein wie auch angeworbene Söldner, die entweder auf eigene Rechnung oder im Auftrag der Opposition handelten. Zu erkunden, aus welcher Richtung die Schüsse abgefeuert wurden, gab mehr Aufschluss. Wurden die Getöteten vom Eingang des Regierungsclubs, also von vorn erschossen, waren es Scharfschützen der Sondereinheit Berkut unter dem Oberbefehl Janukowitschs, der jedoch mehrmals betonte, niemals einen Schießbefehl erteilt zu haben. Wurden die Opfer jedoch im Rücken getroffen, waren die Täter angeworbene Söldner, die aus dem Musik-Konservatorium im Zentrum des Maidan schossen, das von Demonstranten besetzt war. Berkut-Polizisten, die versuchten, Demonstranten an der Erstürmung des Regierungsclubs zu hindern, wurden – wie sich später herausstellte – tatsächlich von vorn getroffen und die von ihnen zurückgedrängten Demonstranten von hinten. Videomitschnitte vom Platz zwischen dem Musik-Konservato-rium und dem Regierungsclub und ein abgehörtes Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet „nähren schon frühzeitig den Verdacht, dass mehrere Berkut-Polizisten und Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, also nicht auf Befehl von Janukowitsch“ (Andreas Heinemann-Grüder, Ukraine: Revolution und Revanche, Blätter für deutsche und internationale Politik, 2014: 40). „Der neue Innenminister, Arsen Awakow, räumt[e] vieldeutig ein, dass eine ‚dritte Macht‘ (jenseits der staatlichen Berkut-Kräfte und der Demonstranten) eine ‚Schlüsselrolle‘ auf dem Maidan gespielt habe. Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ermittelte gegen die Scharfschützen, gab aber nur bekannt, dass es sich um ukrainische Staatsbürger handele.“ (ebd.). Im Internet fand inzwischen eine ausgedehnte Kontroverse über den Schusswechsel auf dem Maidan statt. „Die detaillierte Analyse der Bilder vom Verlauf der Handlungen durch den kanadisch-ukrainischen Politikwissenschaftlicher Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa hat ergeben, dass auch die Oppositionskräfte Scharfschützen einsetzten und dabei nicht nur Polizisten, sondern auch die eigenen Leute unter Feuer nahmen. Nach seinen Aussagen führt die Spur zum Rechten Sektor.“ (http://www.heise.de/tp/artikel/ 43/43590/1.html). Recherchen der BBC ergaben, dass unter den Maidan-Demonstranten bereits am 19. 2. 2014 Scharfschützen angeworben wurden. Einer von ihnen schilderte sein Eintreffen im Musik-Konservatorium am Morgen des 20. 2. 2014. Ab 7 Uhr habe er wie ein anderer Schütze neben ihm auf Polizisten und auf das Dach eines gegenüberliegenden Einkaufszentrums geschossen. „Ich schoss auf ihre Beine und tiefer“, beteuerte der Schütze Sergei. „Ich schoss nicht, um zu töten.“ (Neue Hinweise: Schossen auch prowestliche Demonstranten in die Maidan-Menge? http://www.focus.de/politik//ausland/ukraine-krise/maidan.-blutbad-in …, 16.2.2015). Nach einer Weile seien Männer gekommen und einer habe seinen Fuß auf ihn gestellt und gesagt: „Alles ist in Ordnung, aber hör mit dem auf, was du machst.“ (ebd.). Diese Vorgänge bestätigend berichtete der Journalist und Bürgerrechtler Andriy Shevchenko von einem Anruf des Berkut-Einsatzleiters: „Andriy, jemand schießt auf meine Jungs“, hätte er gesagt. Nach seiner Aussage kamen die Schüsse vom Musik-Konservatorium (ebd.). Die Tatsache, dass sich auch unter die Oppositionskräfte Scharfschützen gemischt hatten, beleuchtete die Vorgänge auf dem Maidan in völlig anderer Weise und zeigte, wie fatal sich die unwahre Behauptung – nur Berkut-Polizisten hätten auf Befehl Janukowitschs geschossen – auf die weitere Entwicklung des Konflikts auswirkte. Kaum hatten die drei Außenminister Kiew wieder verlassen, übernahmen Regierungsgegner in der Nacht vom 20. zum 21. 2. 2014 unter Anwendung militärischer Gewalt die Macht. Der Befehlshaber der bis zu 60 000 Kämpfer umfassenden Nationalgarde Samoobrona, Juri Parubi, torpedierte zusammen mit dem Chef des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, den Vertrag der drei Außenminister mit Janukowitsch und erzwang den sofortigen Machtwechsel (Ulrich Krökel, „Bis zum Sieg“, Frankfurter Rundschau, 15./16.3.2014). Janukowitsch sprach von einem Staatsstreich, flüchtete unmittelbar vor seiner bevorstehenden Gefangennahme und der von ihm befürchteten Ermordung aus seiner Residenz ins ostukrainische Donezk und verließ mit Hilfe russischer Einheiten das Land in Richtung Russland (F.A.S.-E-Paper, Sikorski: Putin verlangte Einsatz von Gewalt, 24.1.2015, dpa, T Online, 9.3.2015). Ihm wurde später von Adam Daniel Rotfeld, ehemaliger Außenminister Polens, vorgeworfen, dass er sich nicht den anrückenden Putschisten entgegen gestellt hätte. Als aufrechter Präsident hätte er weder die Gefangennahme noch den Tod fürchten dürfen. Aus der Flucht Janukowitschs leitete Rotfeld absichtlich irreführend ab, dass den Putschisten die Macht in die Hände gefallen sei. Man könne deshalb gar nicht von einen Putsch sprechen (Adam Daniel Rotfeld, Podiumsmitglied auf der Tiergarten Konferenz der Friedrich Ebert Stiftung, Berlin, 11. 9. 2014). 8. Hösle schlägt vor, alle obigen 8 Punkte „sollte man zugeben.“ Jedoch „angesichts der horrenden Folgen eines Krieges mit Russland ist es ferner völlig vernünftig, dass man wegen der Ukraine nicht einen solchen Krieg riskieren will und kann.“ Kehrt man zurück zu Hösles einfachem Schema des Unterschieds zwischen „Gut“ und „Böse“, der nicht mehr an der unüberbrückbaren Kluft zwischen freiheitlichem Denken und Handeln des „Westens“ auf der einen Seite und dem als aggressiv definierten Marxismus-Leninis-mus sowjetischer Führer auf der anderen Seite zu erkennen sei, sondern jetzt an Putins aggressivem Nationalismus, der für die „freie Welt“ sehr gefährlich werden könne, wird erkennbar, was Hösle mit seinem Artikel bezweckt. Er propagiert alle Maßnahmen unterhalb eines heißen Krieges und rechtfertigt die von den USA ausgehende und von der EU mitgetragene Sanktionsspirale gegen Russland. Habe man sich „im „Westen“ zu seinen eigenen Fehlern bekannt, wasche man sich rein und könne umso härter gegen Putin zuschlagen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass er die Neuauflage eines Ost-West-Konflikts willkommen heißt, in dem sich die altbekannten Mechanismen der wechselseitigen Schuldzuweisungen, der Hochrüstung, der gegenseitigen Bedrohung und der Handelseinschränkungen wiederholen. Dass von einer solchen negativen Entwicklung die USA profitieren und insbesondere Deutschland Einbußen erleidet, kalkuliert Hösle offenbar ein2. __________________ 1 Die Resolution „verlangt eine sofortige Waffenruhe, und ein vollständiges Ende der Gewalt und aller Angriffe und Missbrauchshandlungen gegen Zivilpersonen“; sie ermächtigt „die Mitgliedsstaaten, […], alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen , […] um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete in Libyen, einschließlich Bengasis, zu schützen, unter Ausschluss ausländischer Besatzungstruppen jeder Art in irgendeinem Teil libyschen Hoheitsgebiets.“ Sie „beschließt, ein Verbot aller Flüge im Luftraum Libyens zu verhängen, um zum Schutz der Zivilpersonen beizutragen.“ (Lühr Henken). Sie bekräftigte das Waffenembargo, erließ Reiseverbote und fror Vermögenswerte von libyschen Banken im Ausland und der großen Nationalen Ölgesellschaft NOC ein. 2 Rätselhaft ist, was die Redaktion der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ bewegt hat, den Artikel von Vittorio Hösle in ihr Journal aufzunehmen, widerspricht er doch der Ausrichtung des Journals ganz erheblich. Eine Punkt für Punkt Auseinandersetzung mit einem im Journal erschienenen Artikel lehnt die Redaktion bedauerlicherweise ab. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/bb97bef9f3144910bef58d39a2e2927c" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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