Wenn der Mensch weder ausschließlich selbstgesetzlich (entsprechend dem Vernunftprinzip Immanuel Kants) noch rein eigennützig handelt, sondern je nach Gelegenheit diese oder jene Verhaltensweise wählt (z.B. regelgerecht als Fahrer eines Autos und wenig später als Radfahrer auf dem Radweg regelwidrig entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung, um eigennützig das zeitraubende Überqueren der Straßenkreuzung zu vermeiden), entsteht für die Herausarbeitung einer alle Tätigkeitsbereiche gleichermaßen umfassenden Handlungslogik ein Problem. In sich widerspruchsfreie Handlungslogiken können sich dann nur auf Teilbereiche seines gesamten Handlungsspektrums beziehen. Für Überlappungszonen wird entweder anerkannt, dass sich unterschiedliche Handlungslogiken überschneiden können, so dass für diese Bereiche keine widerspruchfreie Handlungslogik verfügbar ist, oder der Überlappungsbereich wird auf eine einfache Grenzlinie reduziert, jenseits derer auf der einen Seite strikt nach der einen und auf der anderen Seite ausschließlich nach der anderen Logik gehandelt wird.Denkbar ist auch, die Verhaltensweisen handelnder Menschen den strengen Bedingungen von Institutionen oder Organisationen zu unterwerfen. Den Institutionen und Organisationen deduktiv zugeschriebene Handlungslogiken werden dann zum Maßstab ihres Handelns. Voraussetzung für diese Festlegung ist jedoch, dass Individuen entsprechend der Systemtheorie Niklas Luhmanns vom vielfältig und widersprüchlich agierenden Individuum zur eindimensionalen Form-Person herabgestuft werden können, die in ihren Aktionen auf den vom System vorgegebenen Handlungsspielraum und auf die für das System deduktiv bestimmte Handlungslogik begrenzt sind. Luhmann haucht dem von ihm “autopoietisch“ bezeichneten System das Quantum an Leben ein, das er den Individuen entzieht. Systeme werden jedoch von den in ihnen agierenden, in sie involvierten Menschen betrieben. Ohne sie sind sie leblose Konstrukte.
I. Selbstgesetzliche und Eigennützige Verhaltensweisen in den der Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zugeordneten Hand- lungslogiken 1. Die Handlungslogik der Politik 1.1 Macht exekutierende Individuen in der Politik Das Wort Politik stammt vom griechischen Wort POLIS ab, was übersetzt „Stadt“ bedeutet. Gemeint ist das Recht aller Bürger einer Stadt, über ihr Leben mitzubestimmen. Mitbestimmung der Bürger heißt in der parlamentarischen Demokratie, dass die Bürger Repräsentanten wählen, denen sie die Repräsentation ihres Willens übertragen und deren Entscheidungen sie vertrauen. Das Repräsentationsverhältnis ist laut Max Weber „primär dem Tatbestand“ geschuldet, „dass das Handeln bestimmter Verbandszugehöriger (Vertreter) den übrigen zugerechnet wird oder von ihnen gegen sich als ‚legitim’ geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, S. 24). Hierbei bleibt offen, ob der Repräsentant seinen Eigennutz völlig hintan stellt und ausschließlich die Meinung der Repräsentierten vertritt oder in seine Funktion als Repräsentant auch seine eigene Meinungsbildung einfließen lässt und mehr oder weniger umfangreich zur Geltung bringt (Repräsentation der Repräsentierten einschließlich Selbstrepräsentation des Repräsentanten). Das Repräsentationsverhältnis wird ebenso auf den von Thomas Hobbes unterstellten – in sich widersprüchlichen – Staatsvertrag zwischen Volk und Herrscher zurückgeführt, in dem Hobbes dem Repräsentanten ausschließlich selbstgesetzliches Handeln und dem Repräsentierten eigennütziges Verhalten zuweist. „Hobbes zerreißt die dem Selbsterhaltungsstreben der Individuen unzertrennlich zugrunde liegenden beiden Momente von Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz. Beide Momente konstituieren zusammen die Selbsterhaltung der Individuen. Ihre Selbsterhaltung geschieht weder ausschließlich in der Verfolgung von Eigennutz noch als reine Ausführung von selbstgesetzlichem Denken und Handeln.“ (Reinhard Hildebrandt, Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2009, S.18/19). Hobbes deformiert im Widerspruch zur empirisch nachweisbaren Verhaltensweise die realen Menschen zu Kunstfiguren. „Wenn Hobbes … den Individuen in willkürlicher Weise unterstellt, dass sie im Falle ihrer drohenden Selbstzerfleischung das Moment der Selbstgesetzlichkeit auf den absoluten Souverän übertragen und für sich selbst nur noch das Moment des Eigennutzes reservieren wollen, entzieht er sowohl dem absolut herrschenden Souverän wie den von ihm beherrschten Individuen einen unveräußerlichen Teil ihrer Selbsterhaltung. Weder kann der Souverän ausschließlich selbstgesetzlich handeln noch können die ihm unterworfenen Individuen nur nach Eigennutz streben und das Moment der Selbstgesetzlichkeit gänzlich vernachlässigen.“ (ebd.). Stellt die der Politik zugeordnete Handlungslogik ausschließlich auf Thomas Hobbes Postulat der Selbstgesetzlichkeit herrschaftlichen Handelns ab, ist jeder Widerspruch der Machtunterworfenen gegen die Entscheidungen des Machthabers eigennützig und damit aus der Sicht des Herrschers unvernünftig. Dies gilt jedoch nur dann, wenn vom Herrscher entweder – analog zu Kant – selbstgesetzliches und dem Gesetz der Vernunft gemäßes Handeln identisch gesetzt werden, oder unter vernunftgemäßem Handeln die Anerkennung des geschichtlich Gewordenen als ehernes Gesetz verstanden wird. Nach Jean Jacques Rousseau, der die nahtlose Übereinstimmung zwischen Machthaber und Machtunterworfenen in der Bestimmung von Selbstgesetzlichkeit postuliert, ist eigennütziges Handeln ausgeschlossen. Der Gesellschaftsvertrag Rousseaus postuliert, dass sich die Gesetzgebung stets dem „Gemeinwillen“ zu beugen hat. 1.2 Gesetzmäßiges Handeln von Macht exekutierenden Individuen in Legislative, Exekutive und Judikative Das Recht aller Bürger im modernen Staat, über ihr Leben mitzubestimmen, erstreckt sich auf die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Von diesen drei Bereichen moderner Staatlichkeit scheint insbesondere die Exekutive der Handlungslogik, die der Politik insgesamt zugeordnet wird (Exekution von Macht), am nächsten zu stehen. Sind gemäß Grundgesetz Handlungen der Exekutive Gesetz und Recht unterworfen, entsteht der Eindruck, dass eigennütziges Handeln eliminiert, selbstgesetzliches dominiert und Restbestände von Eigennützlichkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vollständig getilgt werden können. Die Legislative schränkt ihr machtpolitisches Exekutionsrecht durch das Zugeständnis des Volksbegehrens und der Volksabstimmung auf regionaler und kommunaler Ebene ein, besteht aber in der Regel nach erfolgtem Bürgereinspruch darauf, dass erst durch den Erlass eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung das Ergebnis endgültig legitimiert wird. Der Abgleich von Interessen im Parlament und das daraufhin entstandene Gesetz wird als Ergebnis des Waltens „praktischer Vernunft“ (Grundgesetzkommentar) gefeiert, wird aber dem erhobenen Anspruch häufig nicht gerecht. Die Judikative begrenzt die ihr zugewiesene Handlungslogik, indem sie das in der Gesellschaft praktizierte Gewohnheitsrecht in der Rechtssprechung berücksichtigt. Laut GG kann sie bei fehlender Deckungsgleichheit von Gesetz und Recht den Gesetzgeber auffordern, das nicht mehr dem gewandelten Rechtsempfinden entsprechende Gesetz zu revidieren. Schlussfolgerung aus 1.1 und 1.2: Die der Politik zugeordnete Handlungslogik ist mit der Ausnahme der unrealistischen Hobbesschen Annahme reiner Selbstgesetzlichkeit, die beim Herrscher angesiedelt ist, und der ebenfalls unrealistischen Annahme jeglichen Fehlens eigennützigen Handels im Gesellschaftsvertrag Rousseaus stets mit den beiden Konstitutionsmerkmalen der Selbsterhaltung (Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz) behaftet. Da demokratische Institutionen keine Systeme bilden, in denen Menschen nur noch systemkonform funktionieren, sind auch die in der Legislative, Exekutive und Judikative agierenden Menschen entgegen dem äußerlichen Anschein nach nicht frei von Eigennutz bzw. Selbstrepräsentation. Empirisch nachweisbare Korruption in der Exekutive, nicht unter Korruptionsverdacht gestellte interessengeleitete Zuwendungen an Mandatsträger in der Legislative und dem sogenannten Zeitgeist ausgelieferte Akteure der Judikative sind eine nicht selten zu findende Verhaltensweise im Alltag der Institutionen des modernen Staates. 2. Die Handlungslogik der Wirtschaft 2.1 Das Geld als „zentrales Interaktionsmedium“ (Parsons) Dem Geld als „zentralem Interaktionsmedium“ liegen Tauschverhältnisse zugrunde: z.B. Ware gegen Ware, Ware gegen Geld, Geld gegen Ware, Gebrauchswert gegen Gebrauchswert, Arbeitskraftangebot gegen Arbeitslohn, zahlungsfähige Nachfrage gegen quantitatives und qualitatives Warenangebot, Produktionskosten gegen erzielte Gewinne, Geld gegen mehr Geld. Auf welche Weise die unterschiedlichen Tauschverhältnisse in Theorien gegossen werden, entscheidet darüber, ob das Geld als alleiniges „zentrales Interaktionsmedium“ angesehen wird. Diese Eigenschaft erlangt es nur, wenn die Tauschverhältnisse in den Rahmen eines ideal konzipierten Marktmodells eingepasst werden, auf dem Macht- und Informationsunterschiede zwischen den Marktteilnehmern ausgeschaltet sind. In solchen Modellen kann sogar der Eigennutz zum Motor des wirtschaftlichen Engagements und zum „selbstgesetzlichen“ bzw. „vernünftigen“ Handeln in der Marktwirtschaft erhoben werden (z.B. bei Adam Smith und de Mandeville). John Locke postulierte z.B. in seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ von 1690 sogar, dass starke private Eigentumsrechte das Gemeinwohl am besten sichern. Andere Theorien hingegen beklagen das eigennützige Streben nach Profit als unersättliche Gier, als Beseitigung der ursprünglichen Gleichheit der Marktteilnehmer, als herrschaftsorientiertes Streben nach Marktmacht und Herrschaft des Unternehmens- und Finanzkapitals über die Politik (z.B. Kritik am Shareholderkapitalismus). Sie vertreten die Exekution von Macht als „zentrales Interaktionsmedium“ der Wirtschaft. Als Schlussfolgerung ergibt sich: Ideale Marktsituationen existieren nur im Modell. Die Marktrealität hingegen ist machtdurchsetzt. Die Hypothese, dass Geld das „zentrale Interaktionsmedium“ der Wirtschaft sei, bleibt dem Modelldenken verhaftet und behandelt die Exekution von Macht auf realen Märkten als zu vernachlässigende Randbedingung der Theorie. Auf vermachteten Märkten dominiert indessen – entgegen der Theorie – die Exekution von Macht, und zwar in allen Formen eigennützigen Handelns, was nicht ausschließt, dass von den Marktteilnehmern auch Rechtssicherheit gefordert und praktiziert wird. 3. Die zivilgesellschaftlichem Engagement zugeordnete Handlungslogik 3.1 Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik bei Gosewinkel/Rucht Gosewinkel/Rucht beginnen ihre umfangreiche Definition mit folgender Feststellung: Auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse, einschließlich des Respekts vor der Existenz und freien Entfaltung anderer Personen und Gruppen wird eine reibungs- und konfliktarme Koordination von interessengeleiteten Individuen, Gruppen und Assoziationen angestrebt. Sie findet ihre Grenze an der Verletzbarkeit eigener Rechte bzw. kollektiver Güter. (Gosewinkel/Rucht, WZB-Jahrbuch 2003, S.45). Festzuhalten ist nach diesem Definitionsanfang: Die wechselseitige Anerkennung von interessengeleiteten Individuen, Gruppen und Assoziationen akzeptiert sowohl deren selbstgesetzliches wie eigennütziges Handeln. Respekt vor der Existenz und freien Entfaltung anderer schließt nicht prinzipiell aus, dass Individuen abwechselnd selbstgesetzlich oder eigennützig handeln können. Selbst das Bewusstsein über die Verletzbarkeit der eigenen Rechte hält Individuen nicht davon ab, je nach Situation mal selbstgesetzlich und mal eigennützig zu handeln. Gleiches trifft für Beachtung kollektiver Güter zu. Hierbei bezieht sich Selbstgesetzlichkeit auf die Anerkennung dieser Güter als Konkretisierung des Gemeinwohls, eigennütziges Handeln ignoriert ihren Gemeinwohlcharakter. Gosewinkel/Rucht lassen es nicht bei dieser Anfangsdefinition bewenden. Die wechselseitige Anerkennung, argumentieren sie, fuße auf der „Überzeugungskraft der Vorteile kooperativen Handelns (bis hin zur Figur des ‚Gesellschaftsvertrages’)“. Ihrer Meinung nach resultiert aus der „abstrakten Einsicht in die Vorteile friedlicher Koexistenz und kompromissbereiter Kooperation“ etwas Neues. Das Neue bezeichnen sie als „integrative Kraft“ (ebd.S.45/46). Dagegen ist einzuwenden, dass die Vorteile kooperativen Handelns zu aller erst empirisch nachweisbar sein müssen. Die Überzeugungskraft kooperativen Verhalten kann nicht einseitig aus dem fiktiven Gesellschaftsvertrag Jacques Rousseaus abgeleitet werden, der eigennütziges Handeln der Individuen völlig ausschließt. Gosewinkel/Ruchts enge Verknüpfung der „integrativen Kraft“ mit selbstgesetzlichem Handeln hat zur Folge, dass in ihrer Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik eigennütziges Handeln keinen Platz mehr findet und die „normative Kraft des Faktischen” nur noch unter dem Gesichtspunkt selbstgesetzlichen Handelns analysiert wird. Das faktische Handeln der Individuen besteht jedoch – je nach Gegebenheit – sowohl aus selbstgesetzlichen wie eigennützigen Verhaltensweisen, was Gosewinkel/Rucht auch eingestehen müssen, wenn sie feststellen, dass zivilgesellschaftliche Elemente und Tendenzen „möglicherweise lediglich als Enklaven“ (ebd.) zu lokalisieren seien. Diese Bemerkung verweist auf die Unangemessenheit ihres konstruierten utopischen Ideals gegenüber der empirisch feststellbaren Verhaltensweise von Menschen. Legt man diesen utopischen Maßstab an, ist zivilgesellschaftliches Handeln empirisch nicht mehr auffindbar und man wundert sich, in welchem Ausmaß Menschen zu eigennützigem Handeln fähig sind, obwohl doch ihre Tätigkeit zuvor eindeutig im zivilgesellschaftlichen Aktionsfeld lokalisiert wurde. In gemeinnützigen Organisationen, die als Kernbereich der Zivilgesellschaft beschrieben werden, können Repräsentanten je nach Gelegenheit sowohl eigennützig wie selbstgesetzlich handeln. Gemäß Gosewinkel/Rucht handeln sie dann „unzivil“. Gosewinkel/Rucht kehren am Schluss ihrer langen Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik wieder zur wechselseitigen Anerkennung zurück und stecken den Bereich der Zivilgesellschaft ab. Sie schreiben: „Praktisch konkretisiert sich die wechselseitige Anerkennung in prozeduralen Regeln, also in der Akzeptanz bestimmter Verfahren des Umgangs miteinander. Die dadurch geregelte Interaktionssphäre kann als Bereich der Zivilgesellschaft bezeichnet werden.“ (ebd. S.46). Wenn entgegen der Empirie zuvor eigennütziges Handeln aus der zivilgesellschaftlichen Handlungslogik ausgeschlossen worden ist, können prozedurale Regeln auch nur selbstgesetzliches Handeln regeln. Bereiche der Zivilgesellschaft, in denen eigennütziges Handeln unübersehbar sind, bleiben undefiniert. 3.2. Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik Entgegen der unzulänglichen Definition Gosewinkel/Ruchts enthält die zivilgesellschaftliche Handlungslogik selbstgesetzliche wie eigennützige Anteile. Zivilgesellschaftlich tätige Bürger bemühen sich jedoch, in ihren wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen den Eigennutz auf ein Minimum zurückzudrängen. Sie stoßen hierbei auf eine unüberwindbare Grenze. Aus der Sensibilität über ihre eigene Verwundbarkeit und die des Anderen erwächst ihnen sowohl Verantwortung für den Anderen wie für sich selbst. Tendiert der eigennützige Anteil gegen null, sind Individuen immer mehr bereit, ihre Identität mit den Anderen zu teilen. Sie existieren nicht mehr nur „für-sich-selbst“, dem das Andere als separates „Für-sich-selbst“ gegenüber steht, sondern ersetzen in ihrer Identität das „Für-sich“ durch das „Für-Anderes“. Als „Für-Anderes-selbst“ haben sie die Verantwortung für den Anderen in die eigene Identität aufgenommen. Indem sie für sich selbst verantwortlich bleiben, übernehmen sie im gleichen Umfang Verantwortung für das Andere (in sich selbst). In einem derart austarierten Beziehungsverhältnis teilt die Grenzlinie das „Für-sich“ und „Für-Anderes“ in vollkommen gleiche Teile. Wenn jedoch dem an selbstgesetzliches wie eigennütziges Handeln gebundenen Individuum die gleichgewichtige Aufteilung zwischen „Für-sich“ und „Für-Anderes“ versagt bleibt, ist sein Bestreben, die Grenzlinie exakt zu treffen, zum Scheitern verurteilt. Er läuft stets Gefahr, entweder bereits vor der Grenzlinie anzuhalten oder sie zu überschreiten. Bleibt er vor ihr stehen, richtet sich sein verbliebener Anteil des Eigennutzes gegen den Anderen und kann ein gegen den Anderen gerichtetes Über- und Unterordnungsverhältnis verursachen. Ein solches Verhältnis bedarf zu seiner Realisierung jedoch der Duldung durch den Anderen. Überschreitet er die Grenzlinie, setzt er sich dem gegen ihn gerichteten Eigennutzanteil des Anderen ungeschützt aus und gerät selbst in die Position des potentiell Untergeordneten. Sind nicht nur zwei zivilgesellschaftlich engagierte Individuen an einem Arrangement beteiligt, sondern mehrere, ist das Bestreben, der Grenzlinie so nahe wie möglich zu kommen, noch weniger erreichbar als in einem Zweierverhältnis. Die Definition zivilgesellschaftlichen Engagements stößt hier auf eine ihr inhärente Grenze, die angesichts des hohen Anteils an unterbewusstem und automatisiertem Verhalten der Menschen auch nicht durch Regeln ausgehebelt werden kann. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass zivilgesellschaftlich engagierte Individuen zu jedem Augenblick bemüht sein müssen, den Ausgleich zwischen ihnen wieder herzustellen. Regeln können ihnen hierbei helfen und die Bereitschaft, für den Rest des nicht zu Regelnden offen zu sein und stets zu bleiben. II. Notwendige Offenheit der Handlungslogiken untereinander 1. Das Postulat der Übersetzungsfähigkeit von Handlungslogiken Wie Gosewinkel/Rucht zu postulieren, dass unterschiedliche Handlungslogiken in den Überlappungszonen „gleichsam füreinander ‚übersetzt’ und dadurch kommunikativ anschlussfähig“ gemacht würden (a.a.O.S.54), ist erstens zu allgemein, zweitens missverständlich und greift drittens zu kurz. Wer – wie sie – deduktiv von der Hypothese ausgeht, dass Handlungslogiken entweder nur macht-, geld- oder auf gegenseitige Anerkennung fixiert sind und außerdem postuliert,
1.1 Das ideale Über- und Unterordnungsverhältnis als das notwendig gemeinsame Dritte zwischen der Handlungslogik der Politik und der Handlungslogik zivilgesellschaftlichen Engagements Jede Herrschaft strebt ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis an. In einem solchen Verhältnis wird Macht unsichtbar. Zwischen den Herrschenden und den Beherrschten besteht vollkommene Harmonie. Herrschaft beruht in einem idealen Über- und Unterordnungsverhältnis darauf, dass das Maß der geforderten Unterordnung stets mit dem Maß an Dienst(-bereitschaft) deckungsgleich ist. Hegel postuliert z.B. Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, a.a.O.153f). Nicht anders behandelt Niklas Luhmann die Verhaltensweise des Machtunterworfenen: „Der Machtunterworfene wird erwartet als jemand, der sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat,…“ (Luhmann, Niklas, 1988, 2.Aufl.: Macht, Stuttgart, S.21). Sein antizipatives Handeln „bezieht sich nicht nur auf die Reaktionen des Machthabers im Falle der Nichtbefolgung seiner Wünsche, also auf die Vermeidungsstrategien, sondern auch auf die Wünsche selbst. Der Machthaber braucht gar nicht erst zu befehlen, auch seine unbefohlenen Befehle werden schon befolgt. Sogar die Initiative zum Befehl kann auf den Unterworfenen verlagert werden; er fragt nach, wenn ihm unklar ist, was befohlen werden würde.“ (Luhmann,a.a.O.,S.36). Damit Deckungsgleichheit zwischen Fürsorge des Über- und Dankbarkeit des Untergeordneten besteht, müssten in den Betroffenen Unterordnungsrituale so stark verankert sein, dass sie sogar in ihr Unterbewusstsein und ihr automatisiertes Verhalten herabgesunken sind. Die Befehle des Machthabers würden dann nicht nur bewusst und freiwillig eingehalten, sondern erzeugten im Machtunterworfenen zusätzlich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Ein ideales Unterordnungsverhältnis errichtet lediglich „eine Reihe differentieller Positionen zwischen den sozialen Agenten…“ (Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991, S.213). Ein solches System von Differenzen, „das jede soziale Identität als Positivität konstruiert“, kennt keinen Antagonismus. Es gleicht einem „genähten sozialen Raum“ (ebd.). Ideale Unterordnungsverhältnisse sind empirisch nachweisbar. In ihnen wird Macht zwar exekutiert, aber sie erscheint nicht im Bewusstsein der Untergeordneten. Im Falle eines idealen Unterordnungsverhältnisses herrscht Gleichheit zwischen der auf Exekution von Macht basierenden Handlungslogik in der Politik und der Machtunterschiede ausblendenden zivilgesellschaftlichen Handlungslogik. Die eine Handlungslogik ist vollkommen in die andere übersetzbar und das Postulat von Gosewinkel/Rucht ist damit erfüllt. Für unausgeglichene Unterordnungsverhältnisse ist die Übersetzbarkeit in einem kleinen Rahmen auch noch gegeben, wenn die zivilgesellschaftliche Handlungslogik zulässt, dass in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen die „Überzeugungskraft der Vorteile kooperativen Handelns“ kleine Machtunterschiede toleriert. Ein nicht austariertes Unterordnungsverhältnis akkumuliert auf der Seite des Untergeordneten Unmut und auf der Seite des Übergeordneten Anmaßung, aber der Untergeordnete stellt dass Verhältnis insgesamt nicht in Frage. 1.2 Der ideale Markt als ausgeschlossenes Drittes zwischen der Handlungslogik der Politik und der Handlungslogik des Geldes Verhalten sich Marktteilnehmer als homo oeconomicus und tauschen als kleine Produzenten und Händler auf dem idealen Markt Ware gegen Geld und Geld gegen Ware, besteht unter ihnen zur Exekution von Macht weder Anlass noch Bedarf. Das Geld als „zentrales Interaktionsmedium“ der Wirtschaft schließt damit die Handlungslogik der Politik aus. Zwischen beiden Handlungslogiken existiert keine Übersetzbarkeit. Das gemeinsame Dritte zwischen beiden Handlungslogiken kommt erst ins Spiel, wenn das Marktgeschehen zunehmend von ungleichen Marktteilnehmern beherrscht wird und letztere zur Absicherung ihrer Marktvorteile Macht exekutieren. Je angebots- und nachfragemächtiger einzelne Marktteilnehmer werden, desto mehr muss auch der Staat mit Regeln in das Marktgeschehen eingreifen, um dem Verdrängungsprozess kleinerer Marktteilnehmer durch größere Einhalt zu gebieten. Die Übersetzbarkeit der Handlungslogik des Geldes in die machtorientierte Handlungslogik des Staates wird zunehmend unproblematisch. 1.3 Der ideale Markt als notwendiges Drittes zwischen der Handlungslogik des Geldes und der zivilgesellschaftlichen Handlungslogik Der ideale Markt funktioniert ohne die Akkumulation von Macht unter den Marktteilnehmern. Die Handlungslogik zivilen Engagements schließt die Exekution von Macht aus. Beide Handlungslogiken sind untereinander vollkommen übersetzbar. Je weniger ideal das Marktgeschehen jedoch abläuft, desto größer wird die Exekution von Macht in ihm. Die Übersetzbarkeit einer Handlungslogik in die andere nimmt zunehmend ab. 2. Das Postulat der Anschlussfähigkeit von Handlungslogiken Was heißt Anschlussfähigkeit? Außer im Falle der vollkommenen Übersetzbarkeit durch die Anwesenheit eines vermittelnden dritten Elements sind unterschiedliche Handlungslogiken derart konzipiert, dass sie untereinander nicht anschlussfähig sein können. Sie werden es nur dann, wenn die handlungslogisch auf sie gepolten Menschen in die Diskussion über die Anschlussfähigkeit einbezogen werden. Unter der Voraussetzung, dass Menschen wahlweise selbstgesetzlich oder eigennützig handeln, jedoch ihre wechselhafte Verhaltensweise in der sie umgebenden Handlungseinheit nicht auf nur eine Verhaltensweise reduzieren, ist die Anschlussfähigkeit zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken stets gewährleistet. Laut Gosewinkel/Rucht versetzt die „integrativen Kraft“, welche Akteure aus ihrer „abstrakten Einsicht in die Vorteile friedlicher Koexistenz und kompromissbereiter Kooperation“ gewonnen haben, auch in die Lage, unterschiedliche Handlungslogiken „kommunikativ anschlussfähig“ zu machen. Gemäß Gosewinkel/Rucht verhilft den Akteuren dieses geistige Rüstzeug im Dialog mit anderen zur Einsicht, dass
2.1 Überschneidung von Handlungslogiken im „Dritten Sektor“ – ein exemplarisches Beispiel Ein starker Staat kann zivilgesellschaftliche Einrichtungen in seine Obhut nehmen und ihnen Aktionsmöglichkeiten zubilligen oder verschließen. Einflussreiche Wirtschaftsverbände können Nichtregierungsorganisationen in ihrer Wirksamkeit begrenzen, sie stillschweigend aufkaufen und sie für ihre Interessen einspannen. Welche Auswirkung hat beispielsweise zunehmender Ökonomisierungsdruck auf die Identität zivilgesellschaftlicher Organisationen, die für lange Zeit als solidaritätsbasiert, normen- und wertorientiert bezeichnet wurden? Wie reagieren sie auf die abnehmende Finanzierung durch die öffentliche Hand (staatliche Administration auf örtlicher, regionaler oder zentraler Ebene)? Wie haben sie in der Vergangenheit auf Forderungen nach Verrechtlichung und/oder Bürokratisierung durch den Staat reagiert? Welche Verhaltensänderungen sind zu beobachten, nachdem Wirtschaftsunternehmen auf sie zugreifen? Welche Auswirkungen hat der zunehmende Ökonomisierungsdruck vor allem auf ihre Repräsentanten? Folgende Fragen bedürfen der Beantwortung:
Als zivilgesellschaftliche Einrichtung herrscht zwar per definitionem die Handlungslogik selbstgesetzlich basierter gegenseitiger Anerkennung vor, aber auch dies beruht auf dem Ausgleich individueller Machtausübung sich selbstbestimmender Individuen, bei denen der Machtinstinkt nicht vollständig durch selbstgesetzliches Handeln ausgelöscht worden ist, und folgt der Einsicht, dass die Wahrnehmung der eigenen Freiheitsoptionen zur Be- und Verhinderung der Selbsterhaltungs- und Selbstverwirklichungsoptionen anderer führen kann. Je weniger Einsicht in den zwar überdeckten, aber deshalb nicht ausgelöschten Machtinstinkt vorherrscht, desto leichter kann sich ein auf bestehenden Differenzen in der Machtstellung der beteiligten Individuen basierendes egoistisch orientiertes Handeln unbemerkt oder verschwiegen einschleichen. Daraus ergibt sich folgender Schluss: Im Überlappungsbereich existiert auch für sich selbstbestimmende Individuen bereits ein Nebeneinander von Macht- und Wertorientierung und eine eindeutige Zuordnung zur einen oder anderen Seite ist nicht immer möglich. Das Zuordnungsproblem vergrößert sich, wenn auf der Seite der zivilgesellschaftlichen Organisation ein Repräsentationsverhältnis zwischen Repräsentanten und repräsentierten Mitgliedern sowie Dritten vorliegt (in Wohlfahrtsverbänden üblich). Hier repräsentiert sich der Repräsentant auch immer selbst. Indem er für den Anderen handelt, handelt er zugleich für sich selbst (Die Bewegung vom Repräsentierten zum Repräsentanten wird durch eine Bewegung vom Repräsentanten zum Repräsentierten (z.B. Beharren auf dem „Staatswohl“) supplementiert.). Der Anspruch, für die Anderen zu denken und zu handeln, ist gegen seine Perversion, nur noch für sich zu agieren und den repräsentierten Anderen fremde Zwecke zu unterschieben, nicht immun. Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbsterhaltung des Repräsentanten ausschließlich selbstgesetzlich gesteuert ist und immer nur als triebfreies „Bewusstseinsüberich“ fungiert. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass der Repräsentant einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung zur Erleichterung seiner Führungsaufgabe bzw. aus Karrieregründen die Handlungslogik des subventionierenden Staates ganz übernimmt. Wenn in einer solchen Situation der Staat den Anforderungskatalog an die Dienstleister erweitert, ohne zugleich deren Handlungsspielraum zu öffnen, wird das Führungspersonal geneigt sein, der weiteren Verrechtlichung und Bürokratisierung selbst dann nur hinhaltenden Widerstand entgegen zu setzen, wenn es in der Öffentlichkeit mit Protest auf die zivilgesellschaftlich einengenden Maßnahmen des Staates reagiert. Vom unterstellten Spannungsverhältnis im Wohlfahrtsstaat zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen bleibt jedoch in einem solchen Fall kaum etwas übrig. Welche Auswirkungen hat der zunehmende Ökonomisierungsdruck auf die Identität zivilgesellschaftlicher Organisationen? Wer sich nicht darüber klar ist, warum es zuvor eine große Nähe zur Handlungslogik des Staates gab, der wird auch kaum Begründungen dafür finden, warum jetzt die Nähe zur ökonomischen Handlungslogik „Geld“ gesucht wird. Die Übernahme der geldorientierten Handlungslogik geschieht vor dem bereits geschilderten Verhaltenshintergrund des Führungspersonals zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und verläuft nach dem gleichen Muster wie bei der Staatsorientierung. In dem Maße, in dem Einrichtungen des Dritten Sektors verstärkt bemüht sind, Leistungen effizient und effektiv anzubieten, steigt die Nähe der Repräsentanten zur Handlungslogik „Geld“ bis hin zu einer Umfunktionierung der zivilgesellschaftlichen zu erwerbswirtschaftlichen Einrichtungen. 2.2 Öffnung der hierarchischen Struktur des Staates Im Neoliberalismus, in dem selbst der Staat zum Diener der Wirtschaft deklariert wird, bleibt der Zivilgesellschaft ebenfalls kein anderes Schicksal erspart. In einer Zeit, in der eine vom Unternehmenssektor finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ zur hegemonialen Formation heranwächst und für die eigene hegemoniale Praxis in der Gesellschaft die unangefochtene Deutungshoheit beansprucht, unterliegt zivilgesellschaftliches Engagement einem erdrückenden Machtanspruch und läuft Gefahr, hilfesuchend zu machtdurchsetzten Handlungen zu greifen. Wird das austarierte Verhältnis zwischen Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft durch ein hierarchisches ersetzt, ist letztlich jede Form von Gesellschaft gefährdet und ein Zusammenbruch aller demokratischer Lebensformen unvermeidlich. Wenn staatliche Einrichtungen ihre besondere Existenz gegenüber der Wirtschaft erhalten wollen, müssen sie Abschied nehmen von der Tendenz, staatlich finanzierte zivilgesellschaftliche Einrichtungen auf ökonomisch ausgerichtete Effizienz- und Effektivitätskriterien zu programmieren. Mit dieser Politik entkernen sie einen potentiellen Verbündeten und liefern ihn der ökonomischen Unterwanderung aus, was man an den zunehmenden meist kurzfristigen Projektvereinbarungen zwischen Unternehmen und Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen, vermittelt von Freiwilligen-Agenturen auf künstlich geschaffenen Märkten, gut erkennen kann. Würde jedoch die staatliche Administration ihre eigene aus dem Absolutismus überkommene hierarchische Struktur gegenüber zivilgesellschaftlichen Anforderungen öffnen, gewönne sie einen Verbündeten und stärkte sich selbst gegen weitere Übergriffe der Wirtschaft. Das Verhältnis zwischen Staat, Ökonomie und Zivilgesellschaft könnte aufs Neue austariert werden und die vielfältigen, nahe an der Lebenswelt angesiedelten zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von selbstbestimmten Individuen erhielten einen staatlichen Ansprechpartner, der mit ihnen auf gleicher Wellenlänge sendet und empfängt. 12 <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/dbc5a7c90d2b44a4bc3870927c1d1cc8" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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