Politiker verweisen gern auf die Unzulänglichkeiten der Zivilgesellschaft, wenn ihre politischen Aktionen nicht den gewünschten Erfolg erbracht haben. Als erstrebenswerte Entwicklungsaufgabe sehen sie an, in weniger entwickelten Staaten zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern und zivilgesellschaftliche Strukturen zu installieren. In ihren Äußerungen erhält der Begriff der Zivilgesellschaft eine Eindeutigkeit, die ihm in der wissenschaftlichen Analyse jedoch nicht zukommt. Außerdem kann sich zivilgesellschaftliches Engagement nicht immer auf eine Unterstützung durch den Staat verlassen und der Staat ruft die Zivilgesellschaft auch nicht zur Hilfe, wenn er im Widerstreit mit transnationalen Unternehmen und dem weltweit agierenden Finanzkapital zu unterliegen droht. 1. Begriffsbestimmung von Zivilgesellschaft Setzt man in der Definition von Zivilgesellschaft den Begriff Gesellschaft vorerst bereits als bekannt voraus und konzentriert sich ganz auf die Begriffsbestimmung von zivil versus unzivil, begleitet die Aufzählung der vielfältigen positiven Bedeutungen stets ihre absolute Negation. Dieses Gegensatzpaar – zivil und unzivil – ist konstitutiv für jede Definition von Zivilgesellschaft. Begrenzt man z.B. Zivilgesellschaft auf den „Dritten Sektor“ in der Gesellschaft, sind alle anderen Sektoren unzivil und deshalb ausgeschlossen. Wird im Unterschied zu dieser Version unter Zivilgesellschaft vor allem der Bereich der Gesamtgesellschaft verstanden, in dem die Fähigkeit zu Konflikt- und Konsensbildung in der Öffentlichkeit besonders ausgeprägt ist, sind alle anderen Bereiche als unzivil definiert, in denen diese Fähigkeit nicht nachgefragt wird. Assoziiert man in einer weiteren Version mit Zivilgesellschaft alles das, was – entsprechend der Global Governance Theorie und der aus ihr abgeleiteten Forderung nach Good Governance – als „gute Gesellschaft“ bezeichnet wird, ist alles „Nichtgute“ aus der Definition auszuschließen. Welche Variation der Zivilgesellschaft man auch auswählt, das jeweils unzivile Element bleibt immer jenseits der fixierten Grenze als ausgeschlossener Sektor existent. Ob und welcher Einfluss von ihm auf den definierten Bereich in Form eines von ihm ausgehenden Bedeutungsüberschusses ausgeht, ist ungewiss, wird im Prozess der Begriffsbestimmung nicht mehr thematisiert bzw. als Randbedingung gleich Null gesetzt. Indirekt beobachtbar ist dies an den Überschneidungen der drei Varianten von Zivilgesellschaft. Sie stehen nicht beziehungslos nebeneinander. So ist in Teilen des Dritten Sektors auch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Konflikt- und Konsensbildung zu erkennen und darin angesiedelt sind ebenso Bereiche, die man als Teil der „guten Gesellschaft“ bezeichnet. Die drei Varianten nehmen eine unterschiedliche Proportionierung der Gesamtgesellschaft vor und sie zeichnen sich durch eine unterschiedliche Reichweite aus. Zielt die Definition von Zivilgesellschaft nicht nur auf die zivilen Bereiche der Gesamtgesellschaft, sondern zugleich auch auf das zivile Engagement von Menschen, kompliziert das widersprüchliche Verhalten selbstbestimmter Individuen zusätzlich die Begriffsbestimmung. Handelnde Individuen schwanken zwischen selbstgesetzlichen und eigennützlichen Haltungen hin und her, bevorzugen je nach Bereich und Zeit mal die eine und mal die andere Verhaltensweise. Die dem zivilgesellschaftlichen Handeln zugeordnete Handlungslogik ist davon ebenfalls nicht frei. Unzulänglich ist deshalb trotz ihrer Länge die im „Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland“ (Wissenschaftszentrum Berlin [WZB], Berlin Juni 2009) vorgelegte Definition. 2. Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft Das Gegenteil von Zivilgesellschaft ist nicht der Staat, wie viele meinen, sondern die unzivile Gesellschaft. Der Staat setzt die von Individuen praktizierte Widersprüchlichkeit als eine seiner Existenzbedingungen voraus. Verhielten sich die Individuen ausschließlich selbstgesetzlich, würde der Staat sehr bald überflüssig werden. Verfolgten sie andererseits immer nur ihren Eigennutz, erhielte – trotz Anwendung schärfster Sanktionsmittel – der Staat keine Chance, in das Chaos ordnend einzugreifen, um den formlosen Gegenhalt in der Gesellschaft dauerhaft zu erhalten. Als Mindestanforderung für die Entstehung von Staaten ist notwendig, dass ausschließlich vom Eigennutz getriebene Individuen mindestens dem Staat selbstgesetzliches Handeln zuweisen. Funktionsfähig wird er deshalb noch lange nicht, was man am unzulänglich verfassten Staatsvertragsmodell von Hobbes gut nachweisen kann. Die Abkehr des Staates von der Behandlung seiner Bürger als hörige Untertanen hin zum zivilgesellschaftlich orientierten Staat, der selbstbestimmten Individuen ein hohes Maß an Autonomie zugesteht, ist nicht zu verwechseln mit der Hinwendung der Individuen zu ausschließlich selbstgesetzlichem Handeln. Die Forderung nach mehr Autonomie gegenüber privaten und ökonomischen, und ganz besonders gegenüber staatlichen Herrschaftsformen führt nur zu einem neuen Mischungsverhältnis zwischen beiden Verhaltensweisen. Zur Entstehung zivilgesellschaftlich freundlicher Staatsformen haben viele Philosophen und Theoretiker beigetragen, so unter anderem Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, John Locke, Charles de Secondat Montesquieu, Emmanuel Joseph Sieyès, aber auch Bernard de Mandeville und Adam Smith. In ihren Schriften behandeln sie vor allem die Herausbildung des Individuums, das einen Freiraum gegenüber Herrschaftsansprüchen des Adels und der Fürstenhäuser beansprucht. Erst nachdem der Staat den Bürger als sich selbst bestimmendes Individuum anerkannt hat, bekommen zivilgesellschaftsnahe Gesellschaftsmodelle, in denen zwischen Staat und Gesellschaft ein austariertes Verhältnis angestrebt wird und das Individuum den vom Staat bereitgestellten Freiraum vorfindet, eine Realisierungschance. Unter den vielen Theoretikern, die sich der Entwicklung solcher Modelle gewidmet haben, muss insbesondere Jürgen Habermas erwähnt und kritisch gewürdigt werden, während im Gegensatz dazu die Systemtheorie von Niklas Luhmann als zivilgesellschaftsfernes Gesellschaftsmodell zu bezeichnen ist. Es stuft das Individuum zur systemergebenden „Form-Person“ herab, das sich dem vorgegebenen Handlungsspielraum anzupassen hat, dem ihm das System zubilligt. Luhmann rechtfertigt mit seiner Systemtheorie das, was z.B. Guido Strack über Organisationen schrieb: „Organisationen neigen dazu, Mitarbeiter auf das für sie Wichtige zu reduzieren: das reine Funktionieren. Menschen werden dort nicht als Individuen gebraucht, die sich Gedanken machen, sondern als Maschinenteile, die im Sinne der Organisation funktionieren.“ (Frankfurter Rundschau, 24. 1. 2011). Ein sich selbst bestimmendes Individuum hat im Systemmodell Luhmanns nur als reduzierte „Form-Person“ einen Platz. 3. Die bereichslogisch orientierte Definition von Zivilgesellschaft im Kontext wechselseitiger Abhängigkeit gesellschaftlicher Kräfte 3.1. Das autonom handelnde selbst-bestimmte Individuum Was auf den ersten Blick fremdartig klingt, entspricht dennoch der Realität: Das auf sich selbst – und andere – bezogene autonom agierende Individuum verfügt über ein begrenztes Machtpotential. Der individuellen Machtausübung geht die Ausformulierung des eigenen Willens, dessen Kommunizierung und die Entschlusskraft zur praktischer Umsetzung des Willens voraus. Insofern entstammen Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung der gleichen Wurzel. Führt die Wahrnehmung der eigenen Freiheitsoptionen zur Be- oder Verhinderung der Selbsterhaltungs- und Selbstverwirklichungsoptionen Anderer, ist mit wechselseitigen Abwehrreaktionen zu rechnen. Das Ausmaß an entzogener bzw. weiterhin gewährter Selbstverwirklichungsmöglichkeit entscheidet darüber, ob zwischen den Individuen ein Verhältnis von gleich zu gleich, von Über- und Unterordnung oder von Herrschaft und Abhängigkeit entsteht. Je mehr sich Selbsterhaltung und Streben nach Selbstverwirklichung mit Eigennutz paaren, desto geringer wird selbstgesetzliches Handeln zum Zuge kommen. In der Regel agiert das Individuum aber weder ausschließlich eigennützlich noch stets selbstgesetzlich. Selbstverwirklichungsbestrebungen finden in allen Sphären der Gesellschaft, so in der Ökonomie, dem Staat, in der Gemeinschaft und auch in der Sphäre der Zivilgesellschaft statt. Wenn sich z.B. das Individuum mit seiner Arbeit identifiziert und das auf dem Markt nachgefragte Produkt seiner Arbeit als sein veräußertes Selbst betrachtet, verschmelzen Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung zu einer Einheit. In einer sinnentleerten abstumpfenden Arbeit jedoch, die sich weit über den normalen Arbeitstag erstreckt und nur auf der Höhe des Existenzminimums entlohnt wird, treten Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung weit auseinander. Letzteres ist oftmals in erzwungenen Über- und Unterordnungs-, Herrschafts- und Abhängigkeits- und Hegemonialverhältnissen der Fall. 3.2. Die Akteure des zivilgesellschaftlichen Umfelds im Spiegel der Theorien 3.2.1. Das normative Zivilgesellschaftsverständnis und die Flucht in das Konzept Dieter Gosewinkel und Dieter Rucht nehmen die Zivilgesellschaft als eine „gesellschaftliche Teilsphäre in Blick, die sich gegenüber den Sphären des Staates, der Wirtschaft und diversen Formen von Gemeinschaft durch eine spezifische Art der Interaktion auszeichnet: eine von wechselseitiger Anerkennung geprägte Koordination und Kooperation interessengeleiteter Individuen und Assoziationen.“ (WZB-Jahrbuch 2003, Berlin, S.14). In den Überlappungszonen würden die unterschiedlichen Handlungslogiken „gleichsam füreinander ‚übersetzt’ und dadurch kommunikativ anschlussfähig“ (ebd.S.54). Das hieße nicht, dass Zivilgesellschaft in ihrem Innern wie auch in ihrem ‚Grenzverkehr’ ohne Macht, Markt und Solidarität auskommt.“(ebd.S.54). Entgegen dieser Einsicht formulieren sie als Richtschnur: „Aber diese Mechanismen sind für die Zivilgesellschaft nicht konstitutiv“. Und unmittelbar danach gelangen sie resignierend zu dem Schluss, dass zivilgesellschaftliche Elemente empirisch neben unzivilen Elementen und Tendenzen „möglicherweise lediglich als Enklaven“ zu lokalisieren seien. Statt tiefer zu bohren und intensiver als bisher das widersprüchliche Verhalten zwischen selbstgesetzlichem und eigennützigen Handeln selbstbestimmter Individuen zu erforschen, weichen sie jetzt auf eine handlungslogische Konzeptualisierung von Zivilgesellschaft aus (ebd. S.51/52). An die Stelle des „Seins“ tritt damit die Kategorie des „Sollens“. Wie viel vom Erwünschten schließlich umsetzbar ist, überlassen sie der praktischen Politik und der Zukunft. Sven Reichardt untersucht hingegen, wie stichhaltig die Erklärungen unterschiedlicher Theoretiker für die tendenzielle Gewaltfreiheit in der Zivilgesellschaft sind und ob das normative und deskriptive Zivilgesellschaftsverständnis aufeinander bezogen werden können, wenn der Aspekt der Gewalt im Mittelpunkt der Analyse steht. Sein Ausgangspunkt ist die empirisch eindeutig feststellbare Gewalt und nicht die normative Betrachtungsweise von Gosewinkel und Rucht (Reichardt, Sven, Konzeptionelle Überlegungen zur Zivilgesellschaft aus historischer Sicht, WZB-Jahrbuch 2003, S.61-82). Reichardt verweist auf die Stammtische und die Vereinsstruktur in der Weimarer Zeit, die für den Nationalsozialismus zum Trainingsplatz wurden und der NS-Bewegung ermöglichten, weiter zu expandieren. Reichardt zieht aus den Beispielen negativer Vergemeinschaftungen zwar den Schluss, dass Vergemeinschaftung noch keine hinreichende Begründung für ein friedliches Zusammenleben der Menschen als mündige Bürger liefert, aber hält dennoch an der von Gosewinkel und Rucht als Ausweichstrategie formulierten handlungslogischen Konzeptualisierung von Zivilgesellschaft fest. Dies zeigt sich insbesondere an Sven Reichardts Kritik an Rödel, Frankenberg, Dubiel und Darendorf. Sven Reichardt setzt diesen drei normativen Konzepten nicht den Blick auf empirisch erfassbares Verhalten der Individuen entgegen, sondern äußert nur seine Vermutung, dass in einer Gesellschaft, in der „alle Auffassungen und Interessen zur Geltung kommen“ (Frankenberg) sollen, letztlich nicht erfüllbare Erwartungen geweckt würden. Aus Frustration über die unvermeidlich langwierigen Beratungs-, Vermittlungs- und Entscheidungsprozesse werde es zu gewalttätig ausgetragenen Kurzschlusshandlungen kommen, postuliert er ohne weitere Begründung. In seiner düsteren Vorausschau setzt er sich auch vollständig von Helmut Dubiels asymptotischer Annäherung an den Idealzustand vollkommen selbstgesetzlichen Handelns ab und verwirft ebenfalls den Tugenddiskurs, der von Darendorf propagiert worden ist. Gegen das liberale Konzept Darendorfs wendet Reichardt ohne Begründung ein, dass das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und Unabhängigkeit auf der einen und Erziehungstechniken der Überwachung und Disziplinierung auf der anderen Seite immer prekär bleibe. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass Reichardt die normative Sichtweise Gosewinkels und Ruchts beibehält und sich auf Konzeptkritik beschränkt. In diesem Kontext ist übrigens ein Blick auf das normative Konzept von Avishai Margalit aufschlussreich (Margalit, Avishai, Politik der Würde – Über Achtung und Verachtung, Frankfurt am Main 1999). Margalit äußert sich zur Würde des Menschen. Im Zentrum seiner Theorie steht das Streben nach einer nicht demütigenden Gesellschaft. Sein kritischer Blick fällt auf den Dritten Sektor in der Gesellschaft, der nach der Meinung vieler Theoretiker das Zentrum der Zivilgesellschaft bilden soll. Magalit versteht unter Demütigung alle Verhaltensformen, die eine Person in ihrer Selbstachtung verletzen. Darunter fällt für Margalit vor allem die Bevormundung von Bedürftigen in Wohlfahrtsverbänden. Fremdbestimmt in ihrem Selbstverwirklichungsstreben und verletzt in ihrer Selbstachtung würden behinderte, kranke, ältere oder jugendliche Menschen von Sachbearbeitern und Pflegepersonal, wenn ihnen das eigene Denken und Handeln entweder aus übertriebener Fürsorge oder der Neigung zu dominantem Verhalten abgenommen werde. Diese Gefahr bestehe insbesondere im Dritten Sektor, der oftmals als zentraler Bereich der Zivilgesellschaft angesehen wird. 3.2.2. Deskriptives oder bereichslogisches Verständnis von Zivilgesellschaft Die bereichslogisch orientierte Definition von Zivilgesellschaft basiert letztlich auf dem normativ ausgelegten Demokratiemodell von Habermas. Für Habermas bieten die unvermachtete Öffentlichkeit und eine starke Zivilgesellschaft der Lebenswelt Schutz vor den administrativen und ökonomischen Imperativen der beiden anderen Gewalten: Geld und administrative Macht. Diese beiden Mächte unterliegen der Funktionslogik selbstreferentieller Systeme (Niklas Luhmann). Sie versuchen vergeblich, die Lebenswelt einzuengen. Es entsteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis (Interdependenz) zwischen der unvermachteten Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft einerseits und dem Staat und der Wirtschaft andererseits. So definiert in Anlehnung an diese normative Auslegung von Gesellschaft z.B. der schon erwähnte „Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerlichen Engagements in Deutschland“ den Dritten Sektor auf folgende Weise: „Die zivilgesellschaftlichen Organisationen bilden (…) jenen gesellschaftlichen Bereich, der zwischen den Polen Markt, Staat und Familie angesiedelt ist. Sie sind durch eine formale Struktur, organisatorische Unabhängigkeit vom Staat, eigenständige Verwaltung, gemeinnützige Ausrichtung und freiwilliges Engagement gekennzeichnet. Als Vereine, Verbände, Stiftungen, gemeinnützige GmbHs oder Genossenschaften sind sie in ihrer Gesamtheit unentbehrlich für das Funktionieren der deutschen Gesellschaft geworden; heute wird von ihnen erwartet, dass sie wesentliche Beiträge zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme leisten.“ (ebd. S.14). Dieser Dritter Sektor wird von den Autoren des Berichts als „institutioneller Kern oder Infrastruktur der Zivilgesellschaft“ bezeichnet“ (ebd.S.14). Als Handlungslogik wird den Engagierten von den Autoren des Berichts im Einklang mit Gosewinkel und Rucht zugeschrieben, dass von ihnen „auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse eine reibungs- und konfliktarme Koordination von interessengeleiteten Individuen, Gruppen und Assoziationen gesucht werde. Sie beinhaltet den Respekt vor dem Recht der Existenz und freien Entfaltung anderer Personen und Gruppen – ein Recht, das nur dort seine Grenze findet, wo eigene Rechte bzw. kollektive Güter verletzt werden.“ (ebd.S.45/46). Die Akteure dieses Bereichs, heißt es weiter, „müssen sich immer wieder auf gemeinsame Problemsichten einigen und den Umfang und das Ausmaß staatlicher und nichtstaatlicher Regulierung aushandeln. Engagementpolitik bezeichnet sich demzufolge dadurch aus, das Individuen, Verbände, private Organisationen und Unternehmen, öffentliche Organisationen und staatliche Akteure gleichberechtigt oder hierarchisch in verschiedenen Akteurskonstellationen und Netzwerken zusammenarbeiten.“(ebd.S.15). Wer jedoch zuvor wie Gosewinkel/Rucht glatt, arglos und machtvergessen formuliert, dass in den Überlappungszonen die unterschiedlichen Handlungslogiken „gleichsam füreinander ‚übersetzt’ und dadurch kommunikativ anschlussfähig“ gemacht werden (ebd. S.54), aber die Essenz dieser Übersetzungsaufgabe nicht definiert, reagiert z.B. wie Priller/Zimmer mit Erstaunen über die subjektiven Einschätzungen von Führungskräften von Wohlfahrtsverbänden auf die Frage, welche Auswirkungen zunehmender Ökonomisierungsdruck auf die Identität ihrer Organisationen hat und zeigt sich betroffen über die Anpassungsleistungen von Führungspersonen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Wer sich nicht darüber klar ist, warum es zuvor eine große Nähe zur Handlungslogik des Staates gab, der wird auch kaum Begründungen dafür finden, warum jetzt die Nähe zur ökonomischen Handlungslogik „Geld“ gesucht wird. Es reicht eben nicht aus, in einem Spannungsverhältnis mit zwei vollständig gegensätzlichen Handlungslogiken für die Überlappungszone zwischen ihnen die kommunikative Anschlussfähigkeit lediglich zu postulieren oder als gegebene Tatsache hinzunehmen und nicht weiter nachzuhaken (Priller,Eckard/Zimmer, Anette, Dritte-Sektor-Organisationen zwischen „Markt“ und „Mission“, WZB-Jahrbuch 2003, S.105-127). Nicht nur im Überlappungsbereich existiert für sich selbst bestimmende Individuen bereits ein Nebeneinander von selbstgesetzlichem und eigennutzorientiertem Handeln. Das Problem vergrößert sich, wenn auf der Seite der zivilgesellschaftlichen Organisation ein Repräsentationsverhältnis zwischen Repräsentanten und repräsentierten Mitgliedern sowie Dritten vorliegt (in Wohlfahrtsverbänden üblich). Indem der Repräsentant für den Anderen handelt, handelt er zugleich für sich selbst. Der Anspruch, für die Anderen zu denken und zu handeln, ist gegen seine Perversion, nur noch für sich zu agieren und den repräsentierten Anderen fremde Zwecke zu unterschieben, nicht immun. Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbsterhaltung des Repräsentanten ausschließlich selbstgesetzlich gesteuert ist und immer nur als triebfreies „Bewusstseinsüberich“ fungiert. Es kann deshalb auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Repräsentant einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung zur Erleichterung seiner Führungsaufgabe bzw. aus Karrieregründen die Handlungslogik des subventionierenden Staates oder Unternehmens ganz übernimmt. 4. Zivilgesellschaftliches Engagement im Umfeld hegemonialer Formationen Die in der Begriffsbestimmung von Zivilgesellschaft zunächst als gegeben vorausgesetzte Definition von Gesellschaft ging unhinterfragt davon aus, dass in ihr die einzeln agierenden Individuen sowie die in Gruppen bzw. als gesellschaftliche Kräfte auftretenden Verbände untereinander nur unbedeutende Machthierarchien ausgeformt haben. Interdependenz zwischen annähernd gleichen Kräften wäre das durchgängige Prinzip ihres Zusammenlebens in einer solchen Gesellschaft. In der gegenwärtigen Welt muss sich jedoch zivilgesellschaftliches Engagement im Umfeld hegemonialer Formationen bewähren. Dies trifft sowohl für das Feld der Diskursivität zu, auf dem diskursive Formationen untereinander um Deutungshoheit streiten und Hegemonie über andere anstreben, wie auch für das gesamte gesellschaftliche Ensemble relativ stabiler sozialer und staatlicher Formen, in denen hegemoniale Formationen um den Ausbau und die Erhaltung des Terrains kämpfen, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat. Während Foucault die Ebene der Diskursivität noch unzulänglich mit dem von ihm geprägten Begriff des „Macht/Wissen“-Dispositivs“ lediglich aus der Perspektive des Individuums beschreibt, das sich dem bedrückenden „Macht/Wissen“-Dispositiv“ durch den „Körper und die Lüste“ nur zeitweilig zu entziehen vermag, bearbeitet Ernesto Laclau – im Anschluss an Jaques Derridas Theorie der Dekonstruktion – sowohl die Ebene der Diskursivität wie das gesellschaftliche Ensemble relativ stabiler sozialer Formen aus dem Blickwinkel der „Logik“ der Hegemonie. Ein hegemoniales Verhältnis ist für Laclau eine Beziehung, „in der ein partikulares Element die unmögliche Aufgabe einer universalen Repräsentation übernimmt,…“ bzw. die „Partikularität der Entscheidung die Funktion einer imaginären Schließung übernimmt – während sie aber nicht in der Lage ist, eine tatsächliche und endgültige Schließung herbeizuführen…“. (Laclau, Ernesto, Dekonstruktion, Pragmatismus, Hegemonie, in Mouffe, Chantal (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus – Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999. S.136; Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991). Zusammen mit den versetzten Lebenszeiten diskursiver Funktionen und flottierender Elemente erzeugen hegemoniale Formationen den formlosen Gegenhalt des strukturierten Ganzen einer Gesellschaft, dem ebenfalls immanent eine Vergänglichkeitsspur eingezeichnet ist. Dem Entstehens- und Vergehensprozess einer endlichen Struktur istdie Spur ihrer Vergänglichkeit immanent eingezeichnet, aber in der Pluralität der zu jedem Zeitpunkt möglichen Arrangements verborgen. Welche Abfolge aktueller Arrangements die Spur exakt trifft und die Lebenszeit der Struktur maximal erfüllt, entzieht sich der Erkennbarkeit. Anstelle weniger hegemonialer Formationen müsste den selbstbestimmten Individuen die Aufgabe zufallen, aus der Pluralität der möglichen Arrangements ein Angebot auszuwählen. Sie sähen sich zwar auch gezwungen, auf dem Hintergrund des begrenzten Angebots zu entscheiden, aber in der Einschätzung der Wahlmöglichkeiten könnten sie aus der Fülle der Arrangements schöpfen, die sich bereits in ihren erfahrungsgesättigten Horizonten als Maßstab niedergeschlagen haben. Je mehr selbstbestimmte Individuen in der Lage und bereit wären, sich an diesem Auswahlprozess kompetent zu beteiligen, desto breiter würde die Entscheidungsgrundlage und desto transparenter gestaltete sich der Entscheidungsprozess. Denn die hegemonialen Formationen, die diese Arrangements bisher fast ausschließlich vornehmen, entscheiden nicht auf der Grundlage idealer Unterordnungsverhältnisse, in denen die Untergeordneten ihre Selbstbestimmung im Dienen vollkommen erfüllt sehen. Fast immer steht in Hegemonien der hegemonisierenden Seite die Hegemonisierten antagonistisch – mit dem Resultat der Ausübung von struktureller Gewalt – gegenüber. Das Ausmaß an struktureller Gewalt nimmt in der gegenwärtigen Periode der Globalisierung zu. Nach dem Eindringen von transnationalen Unternehmen und global agierendem Finanzkapital in bisher stärker auf sich selbst bezogene Zirkulationssphären geht sie einher mit der Erschöpfung etablierter repräsentativer Demokratien und vor allem mit der Schwächung der Staaten. Zur Abwehr von Gefahren in zunehmend entgrenzten Zirkulationssphären müsste der Staat bereitwilliger als bisher mit der Zivilgesellschaft Kooperationsabkommen schließen. An der Antwort auf die Frage, ob und wieweit er dazu fähig ist, wird sich die Zukunft der repräsentativen Demokratie entscheiden. 4.1.Abkehr von der Vorstellung der staatlichen Administration als heilige Ordnung und Aufbrechen der Hierarchie für zivilgesellschaftliches Engagement Nachdem die Autoren des Bonner Grundgesetzkommentars in einem ersten Schritt den Art. 20 Abs. II Satz 1 (Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.) in der Weise interpretiert haben, dass die Staatsgewalt als höchste Gewalt statt vom realen Volk von einer „nicht-organisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ „ausgeht“, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll, und im zweiten Schritt erklären, dass die z.B. in Preußen nach Zensuswahlrecht gewählten Abgeordneten der Bildungs- und besitzenden Klasse zwar noch Herren über das reale Volk waren, verantwortlich nur diesem handlungsunfähigen, entindividualisierten „Volk als Ganzem“ und damit letztlich nur sich selbst verpflichtet, sprechen sie im dritten Schritt von einer inzwischen eingetretenen Neuverteilung der gesellschaftlichen Macht. Die nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählten Abgeordneten in der nun „egalitären Volksvertretung“ seien jetzt die Repräsentanten des Volkes. Dies behaupten sie, obwohl sich an der Ausgangsposition für die Herrschaft des Staates kein Deut geändert hat. Die Staatsgewalt geht weiterhin von dieser „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“, dieser „konkret geistigen Ganzheit“ der versammelten Individuen aus. Offensichtlich muss sie zunächst auf deren Seite existiert haben und dann in einem wie auch immer gearteten Übertragungsakt die Gewalt an den Staat übergeben worden sein. Sollte auf Seiten des Volkes überhaupt keine Ansammlung von Gewalt existiert haben, hätte auch keine Gewalt übertragen werden können. Wenn die Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. II ausschließlich von der „konkret geistigen Ganzheit“ des Volkes „ausgeht“ und die versammelten Individuen nur noch unter dem Gesichtspunkt der „politisch ideellen Einheit“ begriffen werden, vermindert sich der Status der darin real existierenden Individuen und die zu ihnen gehörige individuelle Macht verschwindet unter der sich über ihren Köpfen erhebenden „Totalität der Staatsbürger“. Wenn nur der Begriff „Totalität des Volkes“ und nicht die konkret versammelten Individuen zum Ausgangspunkt der Staatsgewalt erklärt werden, mutieren die eigentlichen „Träger der Macht“ zu fleisch- und blutentleerten Elementen dieser Totalität. In den Begriffen „politisch ideelle Einheit“ und „konkret geistige Ganzheit“ rangiert das reale Volk nur noch als begriffliche Schimäre. Sie als Quelle der Staatsgewalt zu bezeichnen bedeutet, dass der konkreten Gewalt des Staates ein abstrakter Volksbegriff als Ausgangspunkt seiner Macht gegenübergestellt wird. Indem der Staat sich nur auf dieses Abstraktum „Volk“ bezieht und diesen handlungsunfähigen „Träger der Macht“ zu seinem Referenzobjekt erklärt, ist erkennbar, dass er sich nur auf sich selbst bezieht, nur sich selbst gegenüber verantwortlich zeichnet. Der Staat lässt sich vom beherrschten Volk durch Wahlen legitimieren. Das zur Abgabe seiner Stimme aufgerufene Wahlvolk kann nur die gerade im Amt befindlichen Repräsentanten bestätigen oder abwählen, nicht jedoch das sie zu Beherrschten degradierende Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnis aufkündigen. Ein solcher Versuch würde von den Herrschenden als grundgesetzwidrig betrachtet und wäre Anlass genug, den übergesetzlichen Notstand auszurufen. Mit Fraenkel betonen die Kommentatoren des Bonner Grundgesetzes, dass Demokratie „egalitär kontrollierte und legitimierte Repräsentation“ sei und dekretieren: „Die Demokratie kann und will die Differenzierung des Staatsverbandes in Herrschende und Beherrschte nicht aufheben, sondern die Herrschenden in Form des im Rahmen der egalitären (auf Gleichheit und Mehrheitsentscheidungen beruhenden) Repräsentation wirksamen Legitimierungs- und Kontrollmechanismus in Abhängigkeit bringen.“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, Art. 20 Abs. II Satz 1 GG, S.25). „Ein Rechtsverhältnis der Repräsentation zwischen dem Volk und dem Parlament besteht also nicht, weil das Volk nur im Staat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichten zukommen könnten;…“ (ebd.S.26). “Diese Auffassung” postulieren die Kommentatoren des Grundgesetzes, „… ist nicht eine Missachtung der politischen Tatsachen (…), sondern eine Folge der Unterscheidung zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.S.26). Aus den „ideologischen Vorstellungen über den eigentlichen ‚Träger’ der Staatsgewalt ein Rechtsverhältnis zwischen Volk und Parlament zu konstruieren“, wäre ihrer Ansicht nach „abzulehnen“. Mit anderen Worten: Der eigentliche „Träger“ der Staatsgewalt waren immer die Herrschenden, wie man sie auch im Einzelnen benennt. Diese ideologische Idee verwerfen die Grundgesetzkommentatoren nicht. Diese Idee müsste jedoch zugunsten des selbstbestimmten Individuums entweder ganz aufgegeben oder wenigstens eingegrenzt werden. Heutzutage ist der Staat maßlosen „Gemeinwohlbelangen“ starker gesellschaftlicher Kräfte ausgesetzt. Ohne hilfreiche Kooperationspartner ist er der Untergrabung seiner vom „Volk als Ganzes“ abgeleiteten Legitimation zur Erhaltung der Gesellschaft chancenlos ausgeliefert, was insbesondere am devoten Verhalten der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) zu erkennen war. Die Zivilgesellschaft könnte er als Kooperationspartner gewinnen, sofern er bereit wäre, die seiner Hierarchie eigene starre Legitimationskette aufzubrechen und als zusätzliche Legitimationsquelle das sich selbst bestimmende Individuum anzuerkennen. 4.2. Der Weg der SPD vom Aufschrei als Oppositionspartei über den hinhaltenden Widerstand als Regierungspartei bis hin zum teilweisen Einverständnis mit den Forderungen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) Im Oktober 2000 gründete der Arbeitgeberverband Gesamtmetall die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), nachdem bereits 1998 der Chef der Deutschen Bank, Breuer, und der ehemalige Bundesbankdirektor Tietmeier der neuen sozialdemokratisch geführten Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer verdeutlicht hatten, dass sie in Zukunft die Herrschaft des Finanzkapitals zu akzeptieren hätten. Bald nach der Regierungsübernahme zeichnete sich die Abkehr von der zunächst zivilgesellschaftlich orientierten Politik ab und aus der Gegenstrategie der Vergangenheit zum Neoliberalismus wurde hinhaltender Widerstand gegenüber der von der INSM nachdrücklich geforderten Anpassung an die Vorgaben aus den USA. Nach dem Rezept, „Schlimmeres verhüten zu wollen“, reduzierte man den zivilgesellschaftlichen Diskurs auf die Forderung nach „mehr Eigenverantwortung für das Individuum“ und kam damit bereits dem Forderungskatalog der INSM entgegen: „Die Notwendigkeit von Reformen in die Köpfe der Bürger zu bringen, sie darüber zu informieren, was aus unserer Sicht notwendig ist.“ (Dr. Hans Werner Busch, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, in einem Interview vom 24. Mai 2004, in www.boeckler.de/pdf/p_arbp_096.pdf). Die INSM-Forderungen lauteten im Einzelnen:
In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Einzelleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ In dieser Erklärung stand schon das wegen geringerer Steuereinnahmen notwendig gewordene Einsparargument im Vordergrund, während in der vergangenen Legislaturperiode noch der Appell an das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger und der Übergang vom Versorgungsstaat zum aktivierenden Staat dominierte. Der Regierungserklärung der rot-grünen Regierung zu Beginn ihrer zweiten Amtsperiode waren in der ersten Amtsperiode vergebliche Versuche vorangegangen, den Forderungen der INSM nach drastischer Senkung der unternehmensrelevanten Steuern entgegen zu kommen und auf diese Weise die Binnenkonjunktur wieder anzukurbeln. Nachdem sich abzeichnete, dass diese Maßnahmen zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts nicht greifen würden und als Folgen der drastisch reduzierten Steuereinnahmen der Sozialstaat unfinanzierbar geworden war, berief die Regierung im November 2002 die Rürup-Kommission zur nachhaltigen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Die Kommission schlug folgenden Maßnahmenkatalog zur Altersvorsorge vor:
Unter dem Obertitel Hartz I wurden die Vorschläge der Hartz-Kommission zur Neuregelung des Arbeitsmarktes in die Praxis ab Januar 2003 umgesetzt: Einrichtung von Personal-Service-Agenturen (PSA), Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen und die Einführung der Verpflichtung, sich bei Erhalt der Kündigung unverzüglich arbeitslos zu melden. Hartz II führte die Ich-AG ein und brachte die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung (Mini-Jobs). Hartz III regelte die Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit und mit Hartz IV wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Die Gesundheitsministerin von der Partei der Grünen hatte in der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung (1998-2002) noch die Kosten des Gesundheitswesens mit einer Positivliste für Medikamente drastisch zu Lasten der Pharmaindustrie senken wollen, aber scheiterte und trat von ihrem Amt zurück. Die gleiche Regierung legte am 20. November 2002 kurz nach ihrer Wiederwahl eine neue Liste vor, der zu Folge Krankenkassen nur noch Arzneimittel bezahlen sollten, die ein unabhängiges Fachgremium auf eine Liste gesetzt hatte. Der Bundesrat, in dem die von der Opposition aus CDU/CSU und FDP regierten Länder die Mehrheit hatten, lehnte die Positivliste im Mai 2003 ab. Die INSM hatte den Einbau von Markt- und Wettbewerbselementen in die Altersvorsorge gefordert. Ein kapitalgedecktes System der privaten Versicherer, bei dem jeder für sich spart, sei der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung nicht nur überlegen, sondern zugleich auch demographieresistenter; was sich nach der Finanzkrise als völlig illusorisch erwiesen hat. Die durchschnittliche Rentenhöhe müsse abgesenkt und die Rentenanpassungsformel an die Lohnentwicklung revidiert werden. Da absehbar sei, dass niedrigere Geburtenraten und steigende Lebenserwartung zur Austrocknung des bisherigen Finanzierungssystems führe, sei die Altersgrenze für die Verrentung von 65 auf 67 Jahre anzuheben. Meinhard Miegel, der INSM sehr nahestehend, sah darin zugleich ein Instrument der Regierung, den Erwerbstätigen Druck machen zu können; denn je höher die offizielle Altergrenze festgelegt werde, desto stärker fiele tatsächliches Renteneintrittsalter und gesetzlich festgelegte Altergrenze auseinander und umso mehr Abschläge müssten früher aus dem Erwerbslebens Ausscheidende hinnehmen. (Tagesspiegel, 22.8.2005). Im Geiste der INSM und in tiefer Sorge über den ihrer Ansicht nach „erschreckenden Mangel an ökonomischem Sachverstand“ in der Bewältigung der „drastische und schmerzhafte Reformen“ verlangenden „strukturellen Krise“, publizierten 240 Wirtschaftsprofessoren kurz vor der vorzeitigen Bundestagswahl 2005 den „Hamburger Appell“. Sie wandten sich gegen die kaufkraftorientierte hegemoniale Formation und bezeichneten es als „falsch und gefährlich“, eine Wachstumsschwäche durch Anhebung der Binnennachfrage zu überwinden. Statt dessen plädierten sie für „äußerste Lohnzurückhaltung“, um die Arbeitskosten zu senken. Mehr Arbeitsplätze gäbe es nur bei „niedrigerer Entlohnung der ohnehin schon Geringverdienenden“. Die notwendige Konsolidierung der Staatsfinanzen erfordere „weitreichende Einschnitte“ bei allen Ausgaben, einschließlich derjenigen für soziale Sicherungssysteme (http://www1.uni-hamburg.de/IWK/appell.htm). Ihr Appell, das Lohnniveau letztlich mit demjenigen Chinas oder Indiens kompatibel zu machen, hatte die Rückführung der sozialen Sicherungssysteme und der aller übrigen Staatsausgaben auf das rudimentäre Niveau dieser beiden Staaten zur logischen Folge und forderte die rot-grüne Regierung und ihre Nachfolger auf, die mit der „Steuerreform“ vom Jahre 2001 begonnene Senkung der Staatsfinanzen fortzusetzen. Nachdem bereits zuvor die konservativ-liberale Regierung unter Bundeskanzler Kohl mit ihrer Wiedervereinigungspolitik die Axt an eine solide Haushaltspolitik des Staats gelegt hatte, setzten SPD und Grüne mit der Einführung von Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne und den Maßnahmen zur Kapitalmarktliberalisierung im Jahre 2001 den Niedergang der Staatsfinanzen fort, zusätzlich von der Opposition aus CDU und FDP beschleunigt, die Eichels „Steuervergünstigungsabbaugesetz“ mit ihrer Mehrheit im Bundesrat ablehnte (Herz, Wilfried, „Wenn der Rotstift regiert“, in: Die Zeit, 8.5. 2003). Nach traditioneller Art unternahm die Schröder/Fischer-Regierung zunächst den Versuch, die „Pferde zum Saufen zu tragen“ bzw. die lahmende Konjunktur sowohl von der Seite der Nachfrage wie des Angebots durch Einkommensteuersenkungen und Reduzierung der Unternehmenssteuern wieder auf Trab zu bringen. Höhere Wachstumsraten der Volkswirtschaft würden, so kalkulierte sie, quasi automatisch zu einem steigenden Angebot von Arbeitsplätzen führen und die alarmierend hohe Arbeitslosenzahl auf ein Maß zurückführen. Die Opposition überbot jedes Mal die von der Regierung getroffene Steuersenkung und entfachte geradezu fieberhaft ein Feuerwerk mit weiteren Steuersenkungsplänen, angefangen beim Märzschen Bierdeckel, dessen Platz angeblich ausreichte für die Niederschrift des gesamten Steuersystems, bis hin zum radikalen Vorschlag von Paul Kirchhof, der die Verarmung des Staates und den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zum Ziel hatte. Angesichts der Informationsoffensive der zunehmend hegemonial auftretenden INSM verfehlten Informationen über den Unterschied von nominalen und realen Steuersatz bei den Unternehmenssteuern jegliche Wirkung. Zwar lag der nominale Steuersatz vor 2001 bei 38,7 Prozent, aber laut Lorenz Jarras zahlten die deutschen Kapitalgesellschaften effektiv nur einen Steuersatz von 20 Prozent, der nach der veränderten Steuergesetzgebung von 2001 sogar auf 10 Prozent sank und damit den Steuersatz der meisten Konkurrenten auf dem Weltmarkt unterbot (Herz, Wilfried, „Fiasko für den Fiskus“, in: Die Zeit, 17.2.2005) (Müller, Mario, „Das ist Bush-Philosophie“ – Interview mit Lorenz Jarras, in: Frankfurter Rundschau, 27.1.2005). Die rot-grüne Regierung sah sich dem zunehmend konjunkturschädigenden und klimaverschlechternden Einfluss der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ausgesetzt, die als eigentliche Ursachen für die Verlagerung von Produktionsbereichen ins kostengünstigere Ausland fälschlicherweise die im internationalen Vergleich nominal hohen Steuersätze in der Unternehmensbesteuerung sowie die angeblich wettbewerbsschädlich hohen Lohnnebenkosten herausstellte. Als Folge der weiter anhaltenden Kaufzurückhaltung aufgrund steigender Ängste vieler Arbeitnehmer vor Entlassung, dem kaufkraftsenkenden Ausbau des Niedriglohnsektors, der entmutigend niedrigen Lohnabschlüsse durch die inzwischen geschwächten Gewerkschaften, der einnahmebedingt erzwungenen Investitionskürzungen der Kommunen, Länder und beim Bund selbst sowie der stark reduzierten Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen auf Seiten der Unternehmen verpufften ihre konjunkturbelebenden Maßnahmen fast vollständig. Wie weitgehend die rot-grüne Bundesregierung Bereitschaft zeigte, den hinter der INSM versammelten heterogenen gesellschaftlichen Kräften entgegen zu kommen, um im Gegenzug das von der INSM geschaffene Negativbild einzugrenzen, lässt sich an der vollen steuerlichen Geltendmachung von Kosten für Auslandsinvestitionen und der sehr niedrigen Versteuerung von Auslandserträgen mit 2 Prozent ablesen. Dieses dauerhafte Steuersparmodell, das dem Fiskus jedes Jahr Milliarden kostete, sollte ganz offensichtlich der Stärkung der Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen in den mittelosteuropäischen und asiatischen Ländern dienen und war letztlich nur zu rechtfertigen, wenn dem Verlust an Arbeitsplätzen durch die staatlich subventionierte Produktionsverlagerung in der erstarkenden deutschen Exportindustrie mittelfristig ein höheres inländisches Arbeitsplatzangebot auf der Basis der im Ausland kostengünstig produzierten Vorprodukte quasi automatisch folgte (Müller, Mario; „Im Steuerdschungel“, Frankfurter Rundschau, 22.1.2005). 4.3. Der begrenzte Lebenszyklus hegemonialer Formationen Der Lebenszyklus hegemonialer Formationen unterliegt dem ihnen ureigenen Entstehens- und Vergehensprozessen. Ihnen ist als endliche Struktur die Spur der Vergänglichkeit eingezeichnet. Aus der Sicht der Initiatoren hat die hegemoniale Formation dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn es ihrer hegemonialen Praxis gelungen ist, die auf dem Felde der Diskursivität formulierten Ziele, Strategien und Taktiken optimal umzusetzen. Aber für die Akteure ist weder die Diskrepanz zwischen der Fülle der möglichen Alternativen und der begrenzten Anzahl der von ihnen erkannten, noch die mögliche Vielzahl von Arrangements, die das strukturierte Ganze anbietet und der Nähe der von ihnen ausgewählten zur unentdeckbar in die endliche Struktur eingezeichneten Spur der Vergänglichkeit ersichtlich. Selbst die fürstlichste finanzielle und intellektuelle Ausstattung vermag diesen Mangel nicht auszuschalten. Die Vehemenz, mit der Befürworter der INSM auf der einen Seite und der Kaufkrafttheorie auf der anderen Seite immer wieder aufeinander prallten, zeugt von einer tiefgreifenden Differenz in der Ausgestaltung der Gesellschaftsstruktur und der Positionierung des Individuums in ihr. Oberflächlich betrachtet stritten die Vertreter der Freiheit des Marktes gegen die Befürworter von staatlichem Dirigismus, Neoklassiker gegen Keynesianer, Verteidiger der Freiheit des Individuums gegen Behüter des Individuums, Propagandisten der Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung durch das Individuum gegen Beschützer der Nichtprivilegierten, Leistungsträger gegen Leistungsempfänger, Globalisierungsbefürworter gegen Globalisierungsgegner. Im Kern stritt man sich jedoch um die Fragen:
Bestätigt wurde in der gesamten Auseinandersetzung die dienende Funktion der Wissenschaft. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich die gesamte sogenannte volkswirtschaftliche „Kompetenz“ von der INSM einfangen lassen und selbst die Vertreter der Kaufkrafttheorie waren nicht in der Lage, über ihre Gegnerschaft zur INSM hinaus weiter gestreckte Ziele der INSM zu erkennen und wirksam zu bekämpfen. 4.4. Die Gefährdung des Gemeinwohls Bezieht der Staat sich in der Gemeinwohlbestimmung ausschließlich auf seinen erfahrungsgesättigten Horizont, oktroyiert er der Gesellschaft seine Gemeinwohlvorstellung. Um in den Kreis der staatlich anerkannten Gemeinwohlansprüche zu gelangen, führt der Weg entweder über die Anpassung an die zuvor aufgestellten Prämissen oder über die Einflussnahme auf die Bestimmungsgründe für die Prämissen. Der Verfassungsstaat verzichtet sowohl in der Aufstellung von Prämissen wie in der Bewertung der unterschiedlichen Gemeinwohlansprüche nicht auf seine letztendliche Entscheidung. Im Verfassungsstaat unterliegt der gesamte Prozess der Entscheidungsfindung der öffentlichen Überprüfung anhand allgemein anerkannter Plausibilitätskriterien. Der kooperative Staat entspricht der in der gesamtgesellschaftlichen Mächtehierarchie herabgestuften Position des heutigen Staates. Ein Staat, der Gemeinwohlpolitik durch Einbeziehung organisierter Interessen betreibt und durch ausgehandelte Vereinbarungen und Verträge implementiert, bestellt zwar „Hüter, Wächter und Anwälte des Gemeinwohls“, von denen die Einhaltung der Vereinbarungen und Verträge kontrolliert wird, aber die aus der Machtdifferenz zwischen den organisierten Interessen erwachsenen Einflussunterschiede können sie nicht beseitigen. Sie müssen akzeptieren, dass die einen aufgrund ihres geringen gesellschaftlichen Stellenwerts vergebens auf Anhörung pochen, während die anderen lautlos, aber wirkungsvoll, Lobbyarbeit für und in den Ministerien sowie bei den Parlamentariern, aber auch in den Medien sowie in den politikberatenden wissenschaftlichen Instituten betreiben. Wenn staatliche Organe von Vertretern des organisierten Interesses durchsetzt sind, kann der von außen ausgehende Druck durch einen von innen ausgeübten verstärkt werden. Widerstand der gesetzgebenden und administrativen Staatsorgane gegen einen derartigen Zangengriff ist nahezu zwecklos. In der Regel werden die mächtigsten organisierten Gruppeninteressen sowohl intern wie von außen angreifend die einflussreichsten sein, woraus folgt, dass der kooperative Staat in der Sortierung von und Festlegung auf dominierende Gemeinwohlbelange gegenüber den organisierten Interessen nicht neutral ist. Geblieben ist ihm das Privileg, dem aus dem Ringen von kontrastierenden gesellschaftlichen Kräften hervorgegangenen spezifischen Gemeinwohlbelange mittels demokratisch legitimierter Entscheidungen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Geltung und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Im aktivierenden Staat, in dem staatliche Aktivitäten der Funktionsfähigkeit einer vernetzten, selbstorganisierten Gesellschaft dienen und Gemeinwohlverantwortung als Aufgabe der organisierten Interessen angesehen wird, verzichtet der Staat auf jede eigene Steuerungskompetenz und unterstellt allen autonom handelnden gesellschaftlichen Kräften ein starkes Streben nach Selbstverwirklichung. Er vertraut darauf, dass entstandene Marktungleichgewichte, durch die die optimale Funktionsfähigkeit der Gesellschaft vorübergehend beeinträchtigt wird, von den selbstreferentiell organisierten Gegenkräften in überschaubarer Zeit ausgeglichen werden kann. Für den Fall, dass eine optimale Markt- und Funktionsgerechtigkeit nicht umgehend wiederherzustellen ist, greift er „aktivierend“ den beeinträchtigten gesellschaftlichen Kräften unter die Arme, fördert ihre Eigeninitiative durch finanzielle und institutionell bereitgestellte Anreize und fordert ebenso von ihnen die Bereitschaft, sich selbst aktiv in den Anpassungsprozess einzubringen. Setzt sich in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung die Deutungshoheit der Erfolgreichen durch und gewinnen deren Theorien die Diskurshoheit, fällt es dem aktivierenden Staat zunehmend schwer, nicht zum Steigbügelhalter der mächtigsten unter den organisierten Interessen zu werden. Der lediglich aktivierende Staat läuft in der Tat Gefahr, seine Verpflichtung zu sozialstaatlichem Handeln verkümmern zu lassen und sich aus der umfassenden Verantwortung zu verabschieden, in die ein Staat, der seine Macht aus einem fiktiven Gesellschaftsvertrag ableitet, eingebunden ist und bleibt. Je mehr sich der lediglich aktivierende Staat in der Artikulation und Selektion von Gemeinwohlbelangen zurückhält, desto stärker trumpfen mächtige, durchaus netzartig verknüpfte organisierte Interessen auf. Wird durch ihre gesellschaftliche Praxis sogar der soziale Frieden gefährdet und gewalttätige Demonstrationen, Streiks und Terror breiten sich aus, erschallt unweigerlich der Ruf nach mehr polizeistaatlichen Reaktionen. Der Staat sieht sich dann gezwungen, im Sicherheitsbereich aufzurüsten und sich zunehmend im obrigkeitsstaatlichen Sinne zu äußern. Vor diesem Hintergrund ist eine Zuschreibung der Gemeinwohlverantwortung auf die machtpolitisch sehr viel geringer organisierte Zivilgesellschaft nicht nachvollziehbar. Sie entspricht nicht der tatsächlich vorfindbaren Machtverteilung. Wenn der Zivilgesellschaft die Verantwortung für das Gemeinwohl zugeteilt wird, muss zuvor das Machtpotential der Zivilgesellschaft ausgelotet und der Einfluss der ihr zugeschriebenen Handlungslogik auf die andersartigen Handlungslogiken von Ökonomie und Staat aufgewiesen werden. Der auf die Herstellung von Öffentlichkeit rekurrierende Habermassche „zivilgesellschaftliche Belagerungszustand“ wird nur dann von organisierten Interessen ernst genommen, wenn von ihm Konsequenzen für die Belagerten zu befürchten sind. Wie mächtig muss die Zivilgesellschaft sein, damit sie Verantwortung übernehmen kann? 4.5. Kooperationsmöglichkeiten zwischen Staat und Zivilgesellschaft 4.5.1. Die Schwächung des Staates durch hegemoniale Formationen Die Erhaltung des strukturierten Ganzen kann in Normalzeiten nicht das Anliegen der Praxis hegemonialer Formationen (z.B. des Finanzkapitals) sein, sondern im Vordergrund steht bei ihnen
Hegemoniale Formationen propagieren bevorzugt diskursive Formationen, die dem Staat das Recht des Eingreifens zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts gänzlich absprechen. Gleichzeitig unterlaufen sie die in etablierten Demokratien a priori festgelegten Verfahren durch massive Lobbyarbeit. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit erwecken sie wider besseren Wissens den Eindruck, dass der formlose Gegenhalt nicht auf ihren zeitlich versetzten endlichen Strukturen basiert, sondern behaupten, dass ihm eine sich selbst steuernde unendliche Struktur (Markt) eigentümlich sei, die des korrigierenden staatlichen Eingriffs zur Erhaltung des Gemeinwohls nur gelegentlich bedürfe. Die Struktur hegemonialer Formationen ist äußerst selten mit derjenigen idealer Unterordnungsverhältnisse zu vergleichen, deren Aufrechterhaltung keinerlei Kosten verursacht. Die gesellschaftliche Realität wird sehr viel häufiger von unausgeglichenen Unterordnungsverhältnissen bestimmt. Sie sind nicht mehr kostenfrei. Je größer der Unmut der Hegemonisierten gegenüber den Anmaßungen der Hegemonisierenden ausfällt, desto stärkere Besänftigungsmaßnahmen müssen schließlich eingesetzt werden, um das Verhältnis funktionsfähig zu erhalten. Unausgeglichene Unterordnungsverhältnisse unterliegen außerdem stets der Gefahr, von der Unterordnung zur Unterdrückung der Hegemonisierten überzuwechseln und ein Unterdrückungsverhältnis zu begründen. Wenn Unterordnungsverhältnisse zu Orten von Antagonismen transformiert werden, ist entweder für die unterdrückende Seite die Möglichkeit vorhanden, mit einer – das bestehende Unterdrückungsverhältnis – rechtfertigenden diskursiven Formation zu antworten (und gleichzeitig den Grund der Unzufriedenheit unter den Unterdrückten abzumildern) oder diskursive Formationen zu fördern, die ausschließlich der Konservierung der Unterdrückung dienen und darauf abzielen, den demokratischen Diskurs vorübergehend oder ganz zu unterbrechen und dieses Verhalten auch institutionell abzusichern. Beides erfordert einen erheblichen finanziellen, organisatorischen sowie vor allem intellektuellen Aufwand und hat zur Folge, dass die stets knappen Ressourcen bereits für diesen Zweck verbraucht werden und nicht mehr zur Förderung anderer produktiver Leistungen zur Verfügung stehen. Aber genau so wenig wie in der Praxis von Unterdrückungsverhältnissen der Antagonismus zwischen der unterdrückenden und der unterdrückten Seite für ewige Zeiten Bestand hat und die Beteiligten beider Seiten dauerhaft an ihn gebunden sind, ist auch die Grenze zwischen dem hegemonisierenden und hegemonisierten Bereich einer hegemonialen Formation nicht auf immer festgeschrieben, sondern unterliegt einem ständigen Prozess der Verschiebung einzelner Formationen von der einen zur anderen Seite, so dass sie zwar existent, aber dennoch zeitlich und räumlich nicht exakt fixierbar ist. Den Maßstab zur Auslotung des ihnen verfügbaren Flexibilitätsspielraums, mit dessen Hilfe hegemoniale Formationen herausfinden, ob sie den ihnen verfügbaren Spielraum überdehnen oder unzulänglich nutzen, entnehmen sie jedoch nicht primär dem auf die Gesamtgesellschaft abzielenden Gemeinwohl, sondern vorrangig der Analyse des Vergleichs ihrer eigenen Situation mit derjenigen konkurrierender hegemonialer Formationen. Aus dieser wechselseitigen Beobachtung und Anpassung ihrer Konkurrenzsituation ergeben sich jedoch Folgen für die Ausgestaltung des Gemeinwohls. Empfinden beispielsweise Hegemonisierte die ihnen abgeforderte Unterordnung nicht mehr als notwendig, sondern als ungerechtfertigten Zwang und rebellieren dagegen, kann es zu Abwanderungen, Unruhen, Streiks und Aufständen kommen, in deren Verlauf nicht nur das Binnenverhältnis der unmittelbar betroffenen hegemonialen Formation berührt ist, sondern auch dasjenige der übrigen Formationen. Die Gesamtgesellschaft ist eine auf sich selbst und auf andere bezogene komplex strukturierte Zirkulationssphäre. Das Gemeinwohl dieser Gesellschaft ist auf die Zirkulation aller Teile dieses Ganzen in der Erwartung gerichtet, dass sie dem Gerechtigkeitsempfinden der Majorität der Gesellschaftsmitglieder entspricht. Die um Anerkennung als geltendes Gemeinwohl konkurrierenden verschiedenartigen Gemeinwohlansprüche sind außer in einer die Gesamtgesellschaft destabilisierenden Krise nicht gewillt, die ureignen Aufgaben des Staates für längere Zeit zu übernehmen bzw. ganz an die Stelle des Staates zu treten. Die Stellvertreterposition würde ihnen – nach ihren eigenen Worten – „Selbstlosigkeit“ im Handeln abverlangen, was sie strikt ablehnen. Eine solche Übernahme ist außerdem immer mit Kosten verbunden, die im Vorhinein nur unzulänglich kalkulierbar sind. Am Ende einer eventuell erforderlich werdenden Niederhaltung von Unruhen, Eindämmung chaotischer Entwicklungen und Zerschlagung von Aufständen stünde ihnen möglicherweise sogar die eigene Vernichtung bevor. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass hegemoniale Formationen zwar an einem schwachen Staat interessiert sind, aber die Erhaltung des formlosen Gegenhalts bürden sie ihm dennoch im wohlverstandenen eigenen Interesse allein auf. Daraus folgt, dass der Staat gegen seine Schwächung durch hegemoniale Formationen ankämpfen muss, um für den Fall der Gefährdung des formlosen Gegenhalts stets gerüstet zu sein. 4.5.2. Freiwilliger oder erzwungener Verzicht des Staates auf die Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft Umbruchzeiten sind ein mahnendes Zeichen dafür, dass auch der Gesellschaft immanent eine Vergänglichkeitsspur eingezeichnet ist. Um nicht fahrlässig oder gar völlig unvorbereitet in unkalkulierbare Umbrüche zu geraten und sich schicksalhaft den Ereignissen ausliefern zu müssen, wird dem Staat das Recht auf Eingriffe zugestanden und seine umfassende Schlichtertätigkeit anerkannt. Auf der Skala staatlicher Eingriffe zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts stehen neben der Schlichtertätigkeit
Ein bereits schwach gewordener Staat erhält keine Gelegenheit mehr, die Sphäre der Diskursivität offen zu halten. Ein solcher Staat muss z.B. private Hochschulen und Forschungsinstitute, die von dominanten hegemonialen Formationen finanziert werden, dulden und zusätzlich mit Geld aus Steuereinnahmen subventionieren, ohne als Gegenleistung Einfluss auf die Einhaltung der Pluralität zu erhalten. Ein schwacher Staat hat keine Instrumente mehr in der Hand, den Theorien der Erfolgreichen, so einseitig sie auch sein mögen, die Diskurshoheit zu entwinden und diskursive Formationen gegen sie zu fördern. Ihm fehlen schlichtweg die Mittel, das dazu notwendige Wissenschaftspersonal anzuwerben und finanziell sowie organisatorisch und institutionell auszustatten. Ein schwach gewordener Staat ist auch chancenlos geworden in der Aufdeckung von Interessengemeinschaften zwischen Vertretern der auf Diskurs- und Deutungshoheit bedachten Theorieproduzenten und Redakteuren wissenschaftlich anerkannter und angesehener Journale. Wenn letztere sich im Eigentum von hegemonialen Formationen befinden und die Eigentümer dafür sorgen, dass ihre Journale ein hohes Renommee unter publizierenden Wissenschaftlern erringen, greifen sie auch auf den Übergangsbereich zwischen der Ebene der Diskursivität und der Öffentlichkeit zu. Dem schwachen Staat gelingt es auch immer weniger, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit zu erhalten und in letzterer den Machtanspruch hegemonialer Formationen zurückzuweisen. Seine eigene Veröffentlichungspraxis tritt schließlich in den Dienst der hegemonialen Formationen, unterscheidet sich immer weniger von jenen und verstärkt schließlich deren Herrschaft über den öffentlichen Raum. Untersagen hegemoniale Formationen dem Staat nicht nur das Eingreifen in ihre Binnenverhältnisse, sondern hindern ihn auch an der Ausübung seiner übrigen Aktivitäten zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts, gerät die Gesellschaft auf die abschüssige Bahn der Desintegration, gekennzeichnet
4.6. Staat und Zivilgesellschaft Wenn der formlose Gegenhalt in der aus einer Vielzahl von endlichen Strukturen bestehenden Gesellschaft optimieren werden soll, können Gemeinwohlbelange starker hegemonialer Formationen nicht so behandelt werden, als ob es Pflicht des Staates sei, sie kritiklos umzusetzen. Nach der Umsetzung jener Gemeinwohlbelange von den eigenen Fehlentscheidungen abzulenken, indem die eigene fehlerhafte Politik als „Versagen“ der Zivilgesellschaft deklariert wird, die sich nicht rechtzeitig und genügend stark als Kontrollfaktor betätigt hätte, ist unredlich und überschätzt außerdem die Durchschlagskraft des von Habermas der Zivilgesellschaft zugedachten Belagerungszustandes bei weitem. Sinnvoller und weiterführender wäre die Suche nach einer in geordneten Bahnen verlaufenden Kooperation von Staat und Zivilgesellschaft. Noch viel dringlicher für die Kooperation mit der Zivilgesellschaft wäre jedoch die Beseitigung hierarchisch bedingter Beschränkungen staatlicher Verwaltung. In ihrem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau „Ein Stück Staatsgewalt zurückholen“ vom 15. 12. 2010 fragte Christine Hohmann-Dennhardt, Richterin am Bundesverfassungsgericht, anlässlich der Proteste gegen das Projekt Stuttgart 21, wie viel direkte Demokratie es denn sein dürfe? Ihre überraschende Antwort lautete: so viel Demokratie, wie die Bürger nachfragen! Die Reputation des Parlaments könne durchaus Abbruch erleiden, wenn parlamentarische Entscheidungen per Volksabstimmung zunichte gemacht werden, aber auch umgekehrt gelte, dass das Beharren auf politischen Entscheidungen, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, für die Demokratie schädlich sei. Sie gelangte zu dieser Auffassung, weil offenbar ihre Interpretation des Artikels 20 Absatz II Satz 1 des Grundgesetzes (Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus) nicht mehr mit der bisher vorherrschenden Auffassung der Grundgesetzkommentatoren vollkommen übereinstimmt. Danach besteht zwischen dem Volk und dem Parlament kein Rechtsverhältnis der Repräsentation, „weil das Volk nur im Staat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichtenzukommen könnten;…“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, S. 26). Gemäß dieser Auslegung muss „zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.) unterschieden werden. Hingegen schrieb Christine Hohmann-Dennhardt: „Mehrheitlich will also das Volk die Gewalt, die von ihm ausgeht, öfter zu sich zurückkehren lassen und sie selbst ausüben“. Das Volk wolle „mehr Demokratie in direkter Form wagen“. Indem Hohmann-Dennhardt postuliert, dass prinzipiell so viel Demokratie gewährt werden soll, wie die Bürger nachfragen, öffnet sie implizit das gesamte Feld bis hin zur Infragestellung des Repräsentationsverhältnisses und sogar darüber hinaus bis in den Raum totaler Verneinung von Herrschaft. Gemäß Hermann Hills Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“ bedarf die Legitimation amtliches Handelns mit Entscheidungscharakter der Rückführung auf das Gesamtvolk und muss laut Art. 20 Abs. 2 GG parlamentsvermittelt sein. Die staatliche Hierarchie ist als überkommene „heilige Ordnung“ bisher unantastbar. Als auf sich selbst bezogene und in Exekutive, Legislative und Judikative gegliederte Herrschaft duldet sie das reale Volk weder über noch neben sich. Laut Hill wird „Bürgerbeteiligung … daher traditionell aus rechtlicher Sicht nur im Vorfeld staatlicher Entscheidung akzeptiert.“ (Hill, Hermann, Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“, in König, Klaus/Kropp, Sabine (Hrsg.), Theoretische Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Verwaltung – Speyerische Forschungsberichte 263, 2009. S.203). Hill verweist jedoch auf neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen eine „vorsichtige Öffnung dieses Dogmas“ zu erkennen sei. So werde etwa für die Legitimation einer Entscheidung „nicht mehr allein auf eine ununterbrochene Legitimationskette über das Parlament zum Volk abgestellt“, „vielmehr“ sei „das Legitimationsniveau als Gesamtheit und das Zusammenwirken unterschiedlicher Legitimationsquellen, die je nach Sachbereich verschieden zusammengesetzt sein können, entscheidend“.(ebd.). „Eine weitere Öffnung des demokratischen Prinzips nach Art. 20 Abs. 2 GG in Hinblick auf Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt in bestimmten Bereichen“ werde „durch den Hinweis auf die Idee des sich selbstbestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung (Art. 1 Abs. 1 GG) erzielt.“ (ebd.). Dieser Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Art 1 Abs. 1 GG fordert vom Staat aber nur, es als seine Verpflichtung anzusehen, die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“. Seine Herrschaftsfunktion wird durch diese Verpflichtung nicht in Frage gestellt. Den sich selbstbestimmenden Menschen jedoch als Legitimationsquelle einzubeziehen, hieße entweder, den bisher abstrakten Volksbegriff aufzugeben und die Vielzahl sich selbst-bestimmender Individuen bzw. das reale Volk als Legitimationsquelle der Gewalt des Staates zu bestimmen, oder den bisherigen Bezug auf den abstrakten Volksbegriff zwar beizubehalten, aber zugleich zu begrenzen. Im ersten Fall würde das reale Volk uneingeschränkt die Staatsgewalt legitimieren und der Staat wäre ihm rechenschaftspflichtig. Im zweiten Fall bliebe die Herrschaft des Staates über das reale Volk nicht im gleichen Umfang wie bisher erhalten. Die Staatsgewalt verlöre ihre bisherige alleinige Definitionshoheit und sähe sich in der Ausübung ihrer Herrschaft durch eine neben ihr gleichberechtigt existierende Definitionsmacht in Gestalt des sich selbst-bestimmenden Individuums nach Art. 1 Abs. 1 GG eingeschränkt. Wie wenig sich der Staat bisher jedoch bewegt hat, lässt sich aus der folgenden Bemerkung Hills entnehmen: „Obwohl somit Rechtsstaat und Demokratie in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft unter Berufung auf Leitbegriffe wie Legitimation, Verantwortung, Transparenz, Rationalität und Rechenschaftslegung schrittweise neu gedacht werden, bleiben etwa eigenverantwortliche Entscheidungen bürgerschaftlicher Gruppen über die Verwendung von Globalbudgets, etwa im Rahmen von Quartiersmanagement, nach wie vor verfassungsrechtlich problematisch.“ (ebd.). Hermann Hill entscheidet sich in einem von ihm vorgeschlagenen Modell zur „Verknüpfung von klassischer repräsentativer Demokratie und neuen Formen kooperativer Demokratie bzw. bürgerschaftlichen Engagements nur für die stärkere Berücksichtigung der sich selbst-bestimmenden Individuen. In seinem Modell beschließen Gemeinderäte in ihrer Satzung, wie in Entwicklungs- und Rahmenprogrammen die Beiträge bürgerschaftlichen Engagements einbezogen werden können, z.B. durch eine „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft und eine Gemeinwohlprüfung durch den Rat“ (ebd.). Weitergehend als bei Hill bedürfte die „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft“ im Gemeinderat jedoch bei Gleichberechtigung beider Legitimationsquellen auch der Bestätigung durch die Bürger, die diese Vorschläge ursprünglich erarbeitet haben. Wenn ihr Einspruchsrecht nur aufschiebenden Charakter hätte, läge trotz gleichberechtigter Legitimationsquellen eine Kompetenzbegrenzung bei der Formulierung von Recht vor. Käme der Einspruch jedoch einem Veto gleich, dass der Gesetzgeber nur überwinden kann, indem er auf die Wünsche der Aktivbürger eingeht, läge nur eine Kompetenzabstufung vor und bei Streitfällen müsste eine von beiden Seiten zu akzeptierende vermittelnde Instanz geschaffen werden. Nach Christoph Reichart unterscheidet sich eine „zivilgesellschaftliche Verwaltung“ vom bürokratischen oder manageriellen Verwaltungstyp: „Vor allem geht es um das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern: In der zivilgesellschaftlichen Verwaltung ist die Beziehung offen, kooperativ und tendenziell partnerschaftlich angelegt. Der Bürger hat klare Rechte und Einflussmöglichkeiten gegenüber Staat und Verwaltung und nimmt diese auch wahr. Die Verwaltung nimmt die Anliegen der Bürger ernst und mobilisiert Bürgergruppen oder zivilgesellschaftliche Organisationen, um dadurch zusätzliche Ressourcen sowie Legitimationsquellen zu nutzen.“ (Reichart, Christoph, Zivilgesellschaftliche Verwaltung aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften, in: Klaus König/Sabine Kropp [Hrsg.], a.a.O. S.209). So ungewöhnlich diese neuartige Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Aktivbürgerschaft auf dem ersten Blick auch erscheint, so vertraut ist dem Staat eine solche Situation im Verhältnis von Legislative, Exekutive und Judikative seit langem. Aus der Formulierung des Art. 79 Abs. III GG, dass Exekutive und Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das Recht gebunden sind, ergibt sich eine Einschränkung des Gesetzgebers. Die Grundgesetzkommentatoren betonen zwar die grundsätzliche Identifizierung von „Gesetz“ und „Recht“ und meinen, das „Gesetz“ habe gewissermaßen die Vermutung für sich, zugleich „Recht“ zu sein, aber wenn z.B. oberste Richter zur Auffassung gelangen sollten, dass ein Gesetz nicht oder nicht mehr dem „Rechtsempfinden“ entspricht, würden sie an den Gesetzgeber die Forderung richten müssen, das Gesetz „rechtskonform“ zu gestalten (Kommentar zum GG … S.9/10). Legislative und Judikative sind beide durch unterschiedliche Rechtsquellen legitimiert, Recht zu schöpfen. In Anlehnung an dieses Beispiel wäre für die neuartige Gewaltenteilung zwischen Staat und Aktivbürgern ein Einspruchsrecht der Bürger denkbar, das beim Gesetzgeber eine Gesetzesänderung erzwingen würde. In einem solchen Fall bliebe nur noch der Zeitraum festzulegen, in dem die Änderung zu vollziehen ist. Was die von Hill geforderte Gemeinwohlprüfung durch den Gemeinderat anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Staat schon seit langem seine Alleinbestimmung des Gemeinwohls aufgegeben hat bzw. musste. Am Beispiel der geringen Gegenwehr, den die vergangenen zwei Bundesregierungen und die jetzige den Gemeinwohlbelangen der transnationalen Unternehmen und des Finanzkapitals entgegen gesetzt haben, könnte sich z. B. das Ausmaß der Gemeinwohlprüfung im Falle von Gemeinwohlbelangen aus der Aktivbürgerschaft orientieren; steht doch die den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zugeordnete Handlungslogik dem Demokratieideal sehr viel näher als die gewinn- bzw. geldorientierte Handlungslogik von Unternehmen und Finanzkapital. Angesichts der Schwäche des Staates gegenüber Wirtschafts- und Finanzunternehmen wäre die Zivilgesellschaft in der Tat ein relevanter Partner des vielgliedrigen Staates. Die verschiedenen Ansätze zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Charakters der Verwaltung sind sowohl im Bereich der Leistungserbringung wie in der Aktivierung der Bürger also durchaus ausbaufähig. Ein scheinbar unüberwindbares Hindernis bleibt jedoch das Maß an Selbstrepräsentation der Repräsentanten in einer repräsentativen Demokratie. Selbstrepräsentation der Staatsvertreter und pekuniäre Zuwendungen aus Wirtschaft und Finanzkapital finden – wie leider die Erfahrung zeigt – nun einmal eher zusammen als die zu gemeinsamen Handeln von Staat und Zivilgesellschaft auffordernde Beschwörung, das Demokratieideal gemeinsam hochzuhalten. Gelegenheit dazu böten neue Technologien. Sie hätten das Potential, die Möglichkeiten politischer Partizipation zu revolutionieren. Das Konzept „Offene Staatskunst“ gibt den Entscheidungsträgern im Staat ihre Handlungsfähigkeit zurück. Die entscheidenden Fragen lauten, wie kann in einer bisher abgeschotteten, nahezu geheimen Sphäre des Regierens eine offene, partizipative Strategie der Macht erfolgreich sein und an welchen Schnittstellen im Lebenslauf eines Policy Cycle – Initiierung, Formulierung, Implementierung, Evaluierung – kann „Offene Staatskunst“ andocken, um Effektivität, Kapazität und Legitimität von Politik und Verwaltung zu verbessern? (Co:llaboratory, Abschlussbericht der Tagung Das Internet & Gesellschaft – „Co:llaborator, Oktober 2010, 1. Aufl.). Wie weit die konkrete Praxis jedoch von den verfügbaren Möglichkeiten noch entfernt ist, zeigt sich an folgendem Zitat: „Statt den ersten Diskussionsentwurf (das ist ein Gesetzesentwurf vor der Beschlussfassung im Kabinett) in einem intransparenten Verfahren nur an andere Ressorts und an ausgewählte Lobbyisten zu verschicken, könnte er auch veröffentlicht werden, frei zur Stellungnahme durch jede und jeden. Und die Stellungnahmen und Änderungswünsche wären ebenfalls für alle offen. Ja man könnte sogar eine Texthistorie offen legen: welche Änderungen an einem Vorschlag wurden gemacht und auf welchen Input gehen diese zurück?“ (ebd.S.25). Aber, bezogen auf die konkrete Praxis, ist mit einiger Resignation festzustellen: „Zu schwer wiegt noch die Furcht vor dem Kontrollverlust. Was eigentlich erstaunlich ist, denn wir erleben ja seit einiger Zeit, wie vor unseren Augen politische Macht mehr und mehr erodiert. Gibt es den Entscheidungsspielraum wirklich noch, den die Vertreter von Bundesministerien und Bundestag so vehement verteidigen?“ (ebd. S.25). Oder hat sich bereits die Verantwortung aus dem Parlament gestohlen (Christian Bommarius), der Macht hinterher, die jetzt ebenfalls andernorts zu residieren scheint. (Frankfurter Rundschau, 16. 2. 2011). <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/d2884358890049269a9d45ffea02fd44" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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