Simone Lück-Hildebrandt
Warum Europa nicht ohne die Entwicklung eines eigenständigen Bewusstseins erfolgreich sein wird: Angesichts der Orientierungslosigkeit, die zurzeit die Gemüter zu beherrschen scheint, hat sich „die Zeit“ entweder Rat suchend an einen gewandt, von dem sie glaubt, dass er die internationale Gemengelage mit genügend Abstand und Kenntnis ausgewogen darzustellen und zu beurteilen versteht oder ihre - in der Zeit-Redaktion - bereits vorgefasste Meinung bestätigt. Ihre Wahl traf auf Joschka Fischer, den ehemaligen Außenminister der Bundesrepublik. (Die Zeit, 18.02.2016). Gleich die ersten Erklärungen Fischers zu der Frage nach Putins Zielen zeigen, dass er nicht wirklich in eine notwendige vertiefende Analyse der russischen Situation einsteigt, sondern lieber an der Oberfläche bleibt, indem er die Gefahr eines militärischen Eingreifens Russlands in Polen und den baltischen Staaten mit den Worten, “Man will das ‚nahe Ausland‘ wieder unter russische Kontrolle bringen“, heraufbeschwört. Das Scheitern der von Deutschland angebotenen Modernisierungspartnerschaft macht er daran fest, dass Putin beschlossen habe, „... dass Russland im Wesentlichen Energie- und Rohstoffexporteur bleibt und damit die Machtstruktur, die dahintersteckt, erhalten wird“. Von dieser Machtstruktur, deren einziges Standbein für außenpolitisches Handeln – nach Fischers Auffassung – die militärische Stärke ist, gehen Gefahren aus, über die sich „Teile der europäischen Wirtschafts- und politischen Elite“ nicht im Klaren seien. Fischer unterlässt es, danach zu fragen, aufgrund welchen politischen Klimas die Modernisierungs-partnerschaft gescheitert ist. So geht er mit keinem Wort auf die Ausdehnung der Nato nach Osten ein, die am Ende des Ost-West-Konflikts noch nicht zum erstrebenswerten Zielkatalog gehörte und insbesondere von den USA betrieben wurde, kein Hinweis erfolgt über die Stationierung von Raketenstellungen in Osteuropa unter dem angeblichen Vorwand, gegen Angriffe aus dem Iran gewappnet zu sein, ganz zu schweigen von der Aufkündigung des Dialogs beispielsweise im Nato-Russland-Rat. Die deutsch- bzw. europäisch-russische Kooperation betrachtet Fischer unter dem Blickwinkel der konservativen Tradition Preußens - über Bismarck bis hin zu den heutigen Konservativen; die SPD schließt er mit dem Hinweis auf die Ostpolitik und „eine unterschwellige deutsch-nationale Orientierung“ ein. Die „leuchtende“ Aus-nahme in der deutschen Nachkriegsgeschichte sei Adenauer gewesen, der 1949 begriffen hätte, dass nur durch eine eindeutige Westbindung Deutschland „aus dieser Rolle des schwankenden Halmes zwischen Ost und West“ befreit werden könne. Dass diese Entscheidung zur Westbindung von den westlichen Siegermächten im engen Verbund mit den Vergabebedingungen des Marshallplans vor 1949 getroffen worden war (z.B. mit der 1948 einseitig gegen die Sowjetunion durchgeführten Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen und den Westsektoren Berlins) und damit konstituierend für die zunehmende Teilung Deutschlands wurde, erwähnt Fischer genauso wenig wie die schon unter Adenauer begonnene Öffnung der Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion (Röhren gegen Erdöl). Aus dem Blickwinkel Fischers, der die Aufgabe dieser Westbindung als größte Gefahr betrachtet, wird jegliche Annäherung an Russland – ob politisch oder wirtschaftlich – als Wunschtraum einer deutsch-russischen Symbiose abgetan, die in der Vergangenheit nie funktioniert hätte und in der Zukunft zu „Instabilität, Unsicherheit und Misstrauen“ führen würde. Ist einmal dieses „Axiom“ – d.h. die eindeutige Westbindung Deutschlands bzw. Europas darf unter keinen Umständen aufgegeben werden – gesetzt, leiten sich alle anderen Argumentationen Fischers daraus „logisch“ ab. Zum Beispiel sieht er die augenblickliche Diskussion über unsere Identität, unsere Werte als notwendig an, unterstellt aber zugleich Russland, diese Debatte aus machtpolitischen Interessen in seinem Sinne anzuheizen. Dass Russland in gleicher Weise die Informationskanäle nutzt, um Unruhe zu stiften, wie umgekehrt „der Westen“ mit seinem Potential die innerrussische Bewegung in Richtung auf eine Regimeveränderung unterstützt, liegt auf der Hand, wird aber von Fischer nicht aufgedeckt. So ist es für ihn auch kein Widerspruch, die Ablehnung der Türkei als Vollmitglied der EU zu kritisieren, jedoch und das fast zur gleichen Zeit beginnende „Einfrieren“ der Beziehungen zu Russland aber (Sanktionspolitik) unerwähnt zu lassen. Erdogan, meint er, sei zwar „kein einfacher Partner“, mit ihm müsse man aber gemeinsam in der Bewältigung des Syrien-Konflikts handeln. So wie es auch „gewichtige Argumente normativer und moralischer Natur“ gegen Saudi-Arabien [gäbe d.Verf.], aber ohne dieses Land eine Lösung für Syrien zu suchen, brächte nun einmal nichts. Dass auch ohne die Einbeziehung Russlands und des syrischen Machthabers Assads ebenfalls keine Lösung gefunden werden kann, verdeutlicht Fischer nur sehr unzulänglich. Was würde z.B. nach der Beseitigung des Alawitenregimes passieren? Wäre der dann folgende Vormarsch des Islamischen Staates - von maßgeblichen Kräften Saudi-Arabiens finanziell unterstützt - bis an die Küsten des Mittelmeeres für Fischer akzeptabler? Fischers Denkmuster ist klar: die Türkei und Saudi-Arabien sind Teil des westlichen Bündnisses. Sie dürfen zwar gelegentlich kritisiert, aber auf keinen Fall ausgegrenzt werden – man braucht sie ja noch für die Bewältigung der drängenden Aufgaben. Russland dagegen ist nicht nur nicht Teil des westlichen Bündnisses, sondern seine Dialogbereitschaft wird grundsätzlich in Frage gestellt und als gefährliches taktisches „Unterwanderungsmanöver“ gebrandmarkt. Das Etikett „Reich des Bösen“, das er Saudi-Arabien nicht anheften will, verleiht er unterschwellig Putins Russland. Vom Einsatz im Kosovo, den er aufgrund der dahinterstehenden „Ordnungsidee“, den Balkan nach und nach in die EU zu integrieren, rechtfertigt, zieht er eine direkte Linie zu der Umbruchsituation in Osteuropa im Jahre1989. Seiner Auffassung nach ging es den Osteuropäern nicht nur um Demokratie, sondern um den Wunsch, „nie wieder auf der falschen Seite der Geschichte [zu] stehen, nämlich auf der russisch-imperialen Seite ...“ Der Westen sei darauf vorbereitet gewesen, den Weg nach Europa – in die Nato und in die EU – zu öffnen. D.h. im Klartext: auch dem „Westen“ ging es keineswegs nur um demokratische Entwicklungen, sondern um das eindeutige Interesse, die eigene Einflusssphäre zu Ungunsten Russlands auszudehnen. Ob andererseits bereits 1989 die osteuropäische Bevölkerung die Eingliederung in die EU bereits als vorrangig zu erstrebendes Ziel vor Augen hatte, wäre zumindest eine Frage, die genauer analysiert werden müsste. In jedem Fall ist die Gleichsetzung der Situation auf dem Balkan von 1999 mit derjenigen in Osteuropa von 1989 problematisch. Die unterschiedlichen komplexen Zusammenhänge, die zum Zusammenbruch des Ostblocks einerseits und zum Einsatz im Kosovo andererseits geführt haben, werden bei einer solchen Sichtweise völlig ausgeblendet und einer als gradlinig ausgegebenen Strategie „des Westens“ untergeordnet. So ist es dann auch das Fehlen einer solchen „europäischen Perspektive“ zurzeit des Arabischen Frühlings und die völlige Zerstrittenheit im Maghreb und im Nahen Osten, die – nach Fischer – eine Ordnung von außen völlig unmöglich macht. Der Einsatz des Westens in Libyen – ohne jegliche Perspektive für die Zeit nach Gaddafi –, wodurch zusätzlich Öl in das Feuer des Chaos gegossen und dem Islamischen Staat aufgrund des Machtvakuums Entfaltungsmöglichkeiten geboten hatte, bleibt in dieser Argumentationslinie unerwähnt. Zwar gibt Fischer zu, dass mit der US-amerikanischen Intervention im Irak die im Ersten Weltkrieg von Engländern und Franzosen geschaffene Nahost-Ordnung vollends ins Chaos gestürzt wurde, die Entstehung des IS in den irakischen Gefängnissen nach besagter Intervention stattgefunden hat, aber er spricht zugleich den Europäern jegliche Handlungsoption aufgrund ihrer Schwäche ab, da sie nicht bereit seien, „Soldaten in den erforderlichen Größenordnungen bereitzustellen“. D.h. Lösungsmöglichkeiten werden nur unter der militärischen Perspektive durchgespielt, die sich jedoch aufgrund der fehlenden europäischen Ordnungsidee – wie bereits oben ausgeführt – überhaupt nicht anbieten. Auf die Frage, ob man sich nicht von den USA verlassen fühlen müsste, wenn man betrachte, dass sie erst das Chaos im Mittleren Osten angerichtet hätten und dann Europa die hohe Anzahl der Flüchtende überließen, antwortet Fischer recht vage. Einerseits sieht er das Ende der USA als Weltführungsmacht gekommen, andererseits dürften sie sich nicht einfach als die größte wirtschaftliche und militärische Macht aus der Weltpolitik zurückziehen. Die Gefahr eines Machtvakuums wäre zu groß. Zugleich traut er aber auch den alten Strukturen des internationalen Staatensystems kaum noch zu, Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Letztendlich ließe sich alles, meint er, „unter der generellen Überschrift eines Niederganges der Herrschaft des Westens über den Rest der Welt (…) – Niedergang der Herrschaft des weißen Mannes“ einordnen. Aber findet dieser Niedergang - angesichts der verschiedenen TTIP-ähnlichen Handelsabkommen, die sich über die ganze Welt erstrecken - überhaupt statt? Dieser Frage müsste sich Fischer zumindest stellen. Dieser wichtige ökonomische Aspekt spielt im dem Interview mit ihm überhaupt keine Rolle. Stattdessen wird von Fischer für die prekäre Situation der „Niedergang der Herrschaft des weißen Mannes“ als Auslöser für die Ängste der unteren Mittelklasse in den USA und in Europa benannt. Auch In seiner Argumentation bleibt völlig unerwähnt, dass die Folgen der Globalisierung und der Deregulierung, d.h. die Auswirkungen des insgesamt neoliberalen Wirtschaftskonzepts, die entscheidende Grundlage für diese Situation bilden. Welche Schlussfolgerung ist nun aus diesem – wie die Interviewer selbstironisch anmerken – „größenwahnsinnigen Gespräch“ zu ziehen? Wer wie Fischer trotz des sich verändernden weltweiten Kräfteverhältnisses rückwärtsgewandt weiterhin auf der bedingungslosen Festigung des innerwestlichen Dreiecks - mit den USA an der Spitze und Europa sowie Japan an der Basis - festhält und für die Europäische Union mit samt des Mitglieds Deutschland nicht nach neuen weltweiten Perspektiven sucht, versagt als Außenpolitiker. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/bbfee30dae8a4d1982393201a6551c0f" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt Archive
September 2019
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