Vorliegender Text wurde am Tag der Europawahlen als Kommentar aus deutscher Sicht in einem französischen Online-Magazin veröffentlicht. Die europäische Entwicklung von der Gründung der Montanunion bis zur EU wird dabei in den größeren weltpolitischen Kontext eingeordnet.
1. Etappen der räumlichen Entfaltung Die Entstehung der Europäischen Union hat zwei Geburtshelfer. Nach dem Ende des II. Weltkrieges sollte die Kohle- und Stahlindustrie Deutschlands eng mit der westeuropäischen verschmolzen werden, um nicht wieder wie nach dem ersten Weltkrieg als Nukleus einer erneuten deutschen Aufrüstung zu dienen. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bzw. Montanunion entstand ein enger Verbund der westeuropäischen Schwerindustrie mit weitreichenden Folgen für die verarbeitende Industrie, den Handel und den gesamten Dienstleistungsbereich. Die Zukunft Deutschlands war fortan unabänderlich mit der ganz Westeuropas verkettet. Der zweite Geburtshelfer waren die USA. Sie wollten sich künftig auf dem europäischen Kontinent fest verankern und benötigten dafür einen einheitlichen und durch keine Grenzen zerschnittenen Wirtschaftsraum. Nur ein solcher Raum bot us-amerikanischen Unternehmen längerfristig geeignete Absatz- und Investitionschancen. Der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) lag ein Interessenausgleich zwischen Frankreich und Deutschland zugrunde: Die EWG öffnete der wieder aufstrebenden deutschen Industrie einen zollfreien Absatzmarkt und im Ausgleich dafür wurde die französische Agrarwirtschaft durch hohe Agrarsubventionen gestützt; wobei anzumerken ist, dass Frankreich seinen Widerstand gegen die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EWG erst aufgab, nachdem die französische Wirtschaft allein als Gegengewicht zur gewachsenen deutschen Wirtschaftskraft zu schwach geworden war. Der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks im Jahre 1973 eröffnete den Reigen der stufenförmigen Ausdehnung der EWG. Die Erweiterung ging zunächst in südliche Richtung (Griechenland 1981) und dann in südwestliche Richtung (1986: Spanien, Portugal). Diese beiden Erweiterungen geschahen in der Absicht, diktatorisch geprägte Gesellschaften aus ihrer Rückständigkeit zu befreien und sie beschleunigt ökonomisch und politisch an Europa anzubinden. Nach Gründung der Europäischen Union (1992) traten die zuvor in der EFTA (Europäische Freihandelsassoziation) versammelten und der Neutralität verpflichteten Länder Österreich und Schweden der Union bei (1995). Im gleichen Jahr wurde auch das bis dahin ökonomisch auf die Sowjetunion orientierte und jetzt nach neuen Absatzmärkten und Sicherheit ausschauende Finnland Mitglied der EU. 2004 begann mit Slowenien die schrittweise Angliederung der Konkursmasse des zerfallenen Jugoslawiens an die EU. Die Aufnahme Zyperns und Maltas im gleichen Jahr (2004) demonstrierte das stärker werdende Bestreben der EU, künftig im gesamten Mittelmeerraum präsent zu sein. Mit dem ebenfalls 2004 erfolgenden Beitritt der Länder aus dem vormaligen Staats- und Einflussgebiet der Sowjetunion (Baltische Länder, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) überwand die EU die jahrzehntelange Teilung Europas in ein sowjetisch geprägtes Mittel- und Osteuropa und ein auf die USA orientiertes Westeuropa. Die bis 2007 verschobene Aufnahme von Rumänien und Bulgarien arrondierte diese Entwicklung und versetzte die noch nicht zur EU gehörigen westlichen Balkanstaaten in eine Binnenlage innerhalb des von der EU umschlossenen Territoriums. Als Schlussfolgerung ergibt sich folgendes Bild: Die Ost- und Südostausdehnung der Europäischen Union hat die Geographie der EU entscheidend verändert. Ihr Schwergewicht wurde in Richtung Osten verschoben. Aus der EU mit Frankreich als Herz und dem Mittelpunkt Paris ist eine Ellipse mit Deutschland als zweitem Standbein der EU und Berlin als zweitem Brennpunkt geworden. In den beiden Brennpunkten Paris und Berlin konzentriert sich seit einigen Jahren das Kräftefeld der neuen EU. 2. Folgen der Vertiefung der Europäischen Union – am Beispiel der Einführung des Euros als Gemeinschaftswährung Bereits lange vor der Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 empfanden andere Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Geldpolitik der deutschen Bundesbank als stark einschränkende Kraft für ihre eigene Konjunktur- und Fiskalpolitik. Die Deutsche Währung war zur faktischen Leitwährung Europas aufgestiegen und die Bundesbank nahm zunehmend inoffiziell die Rolle einer europäischen Zentralbank ein. Der Unwillen der übrigen Mitgliedsländer verstärkte sich erheblich, als dann auch noch die Vereinigung Deutschlands vorwiegend mit geldpolitischen Mitteln betrieben wurde. Die von Frankreich gewünschte Einführung des Euro als neue europäische Gemeinschaftswährung – im Jahre 1999 zunächst als Buchgeld und ab 2002 als gesetzliches Zahlungsmittel – sollte diesen unbefriedigenden Zustand definitiv beenden. Als Gegenleistung erklärten sich alle Gründungsländer der neuen Währung lediglich damit einverstanden, dass die Ausgestaltung der Europäischen Zentralbank (EZB) nach dem Muster der Bundesbank erfolgen sollte und künftig vorwiegend der Bekämpfung inflationärer Entwicklungen zu dienen hatte. Auf die Einschränkung ihres geldpolitischen Handlungsspielraums reagierte nun die deutsche Seite mit dem Instrument der Lohnstückkostensenkung. Im Verein mit der deutschen Wirtschaft und unter stillschweigender bzw. teilweise unter öffentlichem Druck erfolgenden Duldung der deutschen Gewerkschaften unterlief sie die von den übrigen Mitgliedsländern beabsichtigte Reduzierung traditioneller deutscher Wettbewerbsvorteile. Der Ausbau eines Niedriglohnsektors und die frühzeitige Verlagerung lohnintensiver Produktionsbereiche in die künftig zur EU gehörigen ost- und südosteuropäischen Länder senkte die Lohnstückkosten unter das Niveau der Nachbarländer. Dank der neu gewonnenen Wettbewerbsvorteile eroberte die bundesdeutsche Wirtschaft immer mehr Bereiche des EU-Binnenmarktes und avancierte schließlich sogar global zum „Exportweltmeister“. Dabei verlor der Euro seine abschreckende Wirkung und entwickelte sich sogar umgekehrt zur Stütze des bundesdeutschen Exportmotors auf dem Weltmarkt. Für lange Zeit verhallten kritische Stimmen völlig wirkungslos, von denen die einseitige Ausrichtung der bundesdeutschen Wirtschaft auf den Export beanstandet und als drückende Last für die deutschen Lohnempfänger beklagt wurde. Selbst mahnende Worte der Nachbarländer, ob etwa die deutsche Wirtschaft noch nachträglich das Ziel des ersten Weltkriegs – die wirtschaftliche Dominanz im ost- und südosteuropäischen Raum – anstreben wolle, verklangen ohne ausreichenden Widerhall. Angesichts der von den USA ausgehenden Globalisierung der Finanz- und Realwirtschaft sei man zum Handeln gezwungen und müsse die eigene Wettbewerbsposition unter allen Umständen stärken – so die Kommentare von Vertretern der Wirtschaft und Politik. 3. Bestrebungen zur Schaffung einer sicheren und diversifizierten Versorgung mit Energie für die expandierende EU Hatte schon die Einbeziehung des Baltikums in die EU den Argwohn Russlands hervorgerufen, verstärkte sich das russische Misstrauen noch mehr, als Pläne zur Umgehung Russlands in der Versorgung der EU mit Erdöl und Erdgas publik wurden. Anstatt die bestehenden Pipelines auszubauen und Russland als sichere Versorgungsquelle zu nutzen, unterstützte die EU den von den USA geförderten Bau von Pipelines für den Transport von Erdöl und Erdgas vom Kaspischen Meer durch Aserbeidschan, Georgien zum Schwarzen Meer (Supsa) und die Türkei zum Mittelmeer (Ceyhan) und projektierte außerdem eine weitere Gaspipeline (Nabucco), die ebenfalls vom Kaspischen Meer durch Georgien, die Türkei und Bulgarien bis nach Ungarn führen sollte. Damit wurde russischen Territorium gezielt umgangen. Als ein deutsch-russisches Konsortium die Verlegung einer Gaspipeline durch die Ostsee von Russland nach Deutschland plante, stieß es auf vorwiegend politisch motivierten Widerstand vor allem in den Baltischen Staaten und Polen und darüber hinaus zusätzlich auf ökologische Bedenken in Finnland und Schweden. Die Ostausdehnung der EU auf das vormals zur Sowjetunion gehörende Baltikum und das damals im sowjetischen Einflussbereich liegende Polen behinderte die EU in der Aufnahme gut nachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland. Mit der Ostausdehnung nahm die EU Länder auf, die nicht in der EU-Mitgliedschaft, sondern in der Aufnahme enger Beziehungen zu den USA ihre Sicherheit gewährleistet sahen. Die Mitgliedschaft in der Nato war für sie der Garant ihrer Unabhängigkeit und selbst bevorzugte deutsch-russische Beziehungen stießen auf ihren massiven Widerstand. Als Folge beider Entwicklungen,
Den USA unter der Führung des Präsidenten Bush Jr. gelang sogar die Herabstufung einiger Mitglieder der EU zum Erfüllungsgehilfen us-amerikanischer Hegemonialbestrebungen. Die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Antiraketen in Polen war Teil der Gesamtstrategie der USA zur Wiederbelebung des Ost-West-Konflikts und verletzte die grundlegenden Interessen Europas. Die USA avancierten außerdem zum Beschützer einiger Balkanstaaten und schwächten damit die Präsenz der EU auch in diesem Gebiet. Ihre Vorgehensweise demonstrierte beispielhaft, wie schwach und teilbar die EU von der Bush-Administration eingeschätzt wurde und in welcher abfälligen Weise sie Europa zum Exerzierfeld ihrer globalen Interessen zu machen versuchte. Zur Zersplitterung der EU trug auch die lange Zeit verfolgte Strategie bundesdeutscher Regierungen bei, eine Mittlerposition zwischen Frankreich und den USA einnehmen zu wollen. Berlin als neuer östlicher Brennpunkt der EU verlor in dieser Zeit drastisch an Wirksamkeit. Erst die von den USA ausgehende Finanzkrise bewirkte eine Umkehr zugunsten der EU. 4. Stärkung der EU als Resultat der Schwächung des Finanzplatzes London Eine mit den USA gleichwertige Position erlangte die EU zu einem Zeitpunkt, als das anglo-amerikanische Finanzimperium erste Schwächeerscheinungen zeigte und neben der Wall Street auch der Finanzplatz London an Bedeutung verlor. Britische Regierungen hatten in der Vergangenheit ausschließlich die Stärkung des Finanzplatzes London vor Augen. So lange z.B. die City von London der Labourregierung genügend Steuereinnahmen einbrachte, um ihre Sozialprogramme zu finanzieren, beharrte sie auf ihrer Sonderstellung zu den USA und übernahm jede Maßnahme – sinnvoll oder nicht -, die über den Atlantik herüberschwappte. Britische Regierungen unterschieden nie deutlich zwischen ihren Interessen, die ihnen aus ihrer Mitgliedschaft in der EU erwuchsen, und ihren transatlantischen Interessen, die sie als Teil der anglo-amerikanischen Hegemonie formulierten. In Konfliktfällen saß ihnen das „transatlantische Hemd“ immer näher als der „europäische Rock“. Bei der Aufrechterhaltung von Steueroasen, die unter britischer Oberhoheit standen, und in der Deregulierung von Finanzoperationen transnationaler Unternehmen und weltweit agierender Investmentbanken vertraten sie stets deren Interessen. Die von den USA ausgehende Globalisierungsstrategie fand ihr volle Unterstützung. Bisher ist nicht absehbar, wann und unter welchen Bedingungen Großbritannien den Interessen der EU Vorrang einräumen wird. Eine Rückkehr zum Neuaufbau von Industrien wäre eine der zu erfüllenden Bedingungen. Eine andere bestünde in der Einbettung der Londoner Finanzwelt in die Geld- und Handelsgeschäfte Kontinentaleuropas, z.B. durch eine enge Kooperation zwischen den Börsen von London, Paris und Frankfurt. Voraussetzung dafür wäre die Abkehr vom Euro-Dollar und die Hinwendung zum Euro, ob mit oder ohne Beibehaltung des Pfund Sterling. 5. Wechselbeziehung zwischen europäischer Identität und kollektivem Gedächtnis Es wäre vermessen zu behaupten, heutzutage bestünde bereits eine ausgeprägte europäische Identität auf der Grundlage eines allen Europäern gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses. Das britische Beispiel zeugt geradewegs vom Gegenteil. Es wird noch sehr lange dauern, bis das Beispiel eines deutsch-französischen Geschichtsbuchs durch ein englisch-französisches oder englisch-deutsches ergänzt sein wird. Es wird noch sehr viel länger dauern, bis ein solches gemeinsames Geschichtsbuch seinen Weg in die Schulen findet und die national begrenzten kollektiven Gedächtnisse zusammenführt. In den gegenwärtig existierenden kollektiven Gedächtnissen dominiert noch die Ausgrenzung der anderen und in nicht wenigen Fällen sogar die Schuldübertragung für gesamteuropäische Fehlleistungen auf die jeweils anderen. Trotz vieler gemeinsamer Werte, die den Europäern erst dann richtig bewusst werden, wenn sie sich in anderen Kulturen begegnen und mit der Andersheit anderer Kulturen auseinandersetzen müssen, scheitert die Entfaltung einer gemeinsamen Identität immer noch an den unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Bei der Erzeugung eines gemeinsamen europäischen kollektiven Gedächtnisses kommt den beiden Brennpunkten der europäischen Ellipse eine herausragende Bedeutung zu. Paris und Berlin haben hier ihre ureigene Aufgabe noch nicht voll erkannt, aber der Anfang ist bereits gemacht. 09 <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/3818ea47d7e54ae7a16b33c9e41cffff" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt Archive
September 2019
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