1 Frankreich und Deutschland – ein Ursprung, zwei Länder, eine jahrhundertelange
Feindschaft Zunächst müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Frankreich und Deutschland vor über 1200 Jahren aus einem Land erwachsen sind: dem Frankenreich. Die Einheit dieses Reiches war zwar gleich nach dem Tod von Karl dem Großen in Frage gestellt, seine Aufteilung unter seinen Söhnen war unumgänglich, aber die Straßburger Eide (842) sind nicht nur ein Dokument der Entstehungsgeschichte der französischen und der deutschen Sprache, sondern zeugen von der gegenseitigen Anerkennung beider Reiche auf Augenhöhe. Spätestens mit dem Ausbruch der Religionskriege wird dieses Verhältnis zerstört. Während des dreißigjährigen Krieges kämpft das katholische Frankreich auf Seiten des protestantischen Schwedens, um das Heilige römische Reich deutscher Nationen in die Knie zu zwingen. Die Befürchtung, dass ein einheitliches Deutsches Reich in der Mitte Europas zu groß ist, ist seither einer der Grundzüge französischer Politik. Friedrich II, an der Spitze des aufstrebenden preußischen Königreiches hat zwar großes Interesse an französischer Kultur (er empfängt Voltaire auf dem Schloss Sanssouci), aber die einstige gegenseitige Anerkennung zwischen Franzosen und Deutschen wird aufgrund der oben beschriebenen widersprechenden geopolitischen Machtinteressen nicht wiederbelebt. Die Französische Revolution – ein Wendepunkt in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen? Auch die Euphorie, die durch die Französische Revolution unter den deutschen Intel-lektuellen ausgelöst wird, ändert an dieser Grundkonstante nichts. Im Gegenteil, die Eroberungsfeldzüge, mit denen Napoleon ganz Europa überzieht, rufen die Befreiungskriege hervor und verankern mit dem Versuch, ein einheitliches Deutschland zu gründen, ein Nationalgefühl, das sich zwar in erster Linie auf die kulturelle Zusam-mengehörigkeit beruft, als Widerpart aber eine tiefe Ablehnung gegenüber allem Französischen hat. Der preußisch/deutsch-französische Krieg 1870/71 besiegelt dann die sog. Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Ein Bruderstreit wie zwischen Kain und Abel Mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in denen das Deutsche Reich Frankreich überfällt und schließlich von 1940 bis 1944 besetzt, endet die lange Epoche der wechselseitigen tödlichen Zerstörung der beiden Länder. Angesichts dieser desaströsen Entwicklung erinnert die über tausendjährige Beziehung beider Länder ein bisschen an die Geschichte von Kain und Abel. 2 Die Entstehungsgeschichte der deutsch-französischen Freundschaft nach 1945 Ein holpriger Anfang: Montanunion (ab 1951) – EWG (1957) – Elysée Vertrag 1963 = Frankreich als Wächter der Einbindung Westdeutschlands in die westliche Gemeinschaft Zwar war Frankreich – als besiegtes Land – nicht an den großen Konferenzen über die Nachkriegsordnung beteiligt, aber auf Anraten Churchills wird es zur vierten Besatzungsmacht in Deutschland aufgewertet und besetzt somit das Saarland und Teile des Rheinlandes sowie zwei Sektoren in Berlin. Das französische Besatzungsregime ist – im Vergleich zum amerikanischen und britischen – verständlicherweise eher von dem Gedanken der Vergeltung getragen und deshalb besonders rigide. Erst nachdem sich bereits die amerikanische und britische Zone im Hinblick auf den anzustrebenden Wiederaufbau des Weststaates zusammengeschlossen haben, ist die französische Seite bereit, diesem Zusammenschluss zu folgen. Auch Jean Monnet und Robert Schumann, die Wegbereiter der europäischen Eini-gung, befürworteten die Aufnahme Deutschlands in die Montanunion (ab 1951) nicht in erster Linie aus freundschaftlichem Interesse, sondern um das durch den Marshall-plan wiedererstarkende Westdeutschland rechtzeitig einzuhegen. Die Politik der europäischen Integration war von dem Wunsch getragen, die Bundesrepublik so eng wie möglich an den Westen zu binden. In Paris übersah man nicht, dass die europäi-sche Integration gleichzeitig eine Zementierung der deutschen Spaltung bedeutete. Mit Bezug auf den deutschen Wunsch einer Wiedervereinigung äußerte der Politologe Henri Ménudier: „Auch ein wiedervereinigtes demokratisches Deutschland als Mitglied der EG würde eine Hegemonialstellung in der Gemeinschaft einnehmen. Eine EG ohne den deutschen Partner würde aber in die Bedeutungslosigkeit fallen. Frankreich und die anderen Staaten in Europa wünschen eigentlich keine Wiedervereinigung und betrachten dieses Ziel als unrealistisch.“ (Zitat aus R. Hildebrandt, Die deutsche Frage) Dennoch wird mit der Gründung der Montan-Union und später – 1957 – der EWG der erste Schritt in Richtung auf die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland gemacht. Die entscheidende Geste der Versöhnung wird jedoch erst 1963 von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im Elysée-Vertrag vollzogen: übrigens zwei Jahre nach dem Mauerbau, die entscheidende Maßnahme, die auf jeden Fall sicher stellte, dass auf lange Zeit Deutschland in der Mitte Europas schwach bleiben würde. Mit diesem Elysée-Vertrag ist jedoch zugleich das deutsch-französische Jugendwerk gegründet worden – ein ganz konkreter Baustein der deutsch-französischen Freundschaftsbeziehungen, aus dem inzwischen ein „ganzes Hochhaus“ geworden ist, betrachtet man die Vielzahl an Austauschbegegnungen, Projekten, kulturellen Aktivitäten, die deutsche und französische Jugendliche in erster Linie, mit ihnen aber auch viele andere Drittpartner, zusammenbringen. Darüber jedoch an späterer Stelle mehr. Die Erwartungen der Eliten an die deutsch-französische Freundschaft sind in der Zeit bis 1989/90 insofern komplementär,
3 1989/90 – Das Ende der Geschichte oder „Neuer Wein in alten Schläuchen“ Als eine erste Vorkehrung zur Verhinderung von Instabilität befürwortete Mitterrand eine Nato-Reform. Frankreich, "der Verbündete der Vereinigten Staaten", werde an der Errichtung einer "europäischen Achse, zu der auch die Deutschen gehören", mitar-beiten (Die Zeit,30.3.90). Damit machte die französische Führung unmissverständlich klar, dass die bevorstehende Vereinigung Deutschlands ein engeres Zusammen-rücken der Westeuropäer (Frankreich, Großbritannien, Niederlande) und eine inten-sivere Zusammenarbeit mit den USA nach sich ziehen würde. Von seinem Besuch in den Staaten (20. April 1990) zurückgekehrt, vertrat Mitterrand die Ansicht, dass die USA eine Schlüsselstellung in den Sicherheitsfragen Europas behalten müssten und die Stationierung von amerikanischen Soldaten eine unbedingte Notwendigkeit dar-stelle. (vgl. Reinhard Hildebrandt, Die deutsche Frage) Die Veränderung der Hierarchie zwischen Frankreich und Deutschland Nach 1989 und vor allem nach dem Zusammenbruch des Ostblocks veränderten sich die Rollen Frankreichs und Deutschlands in Europa. Das aus dem Kalten Krieg stammende herrschaftliche Bewusstsein Frankreichs gegenüber der Bundesrepublik ver-schob sich unmerklich zugunsten des vereinigten Deutschlands. Die Forderung Frank-reichs, in einigen Ländern der EU – darunter Deutschland – den Euro einzuführen, gründete sich auf der Hoffnung, dass damit die D-Mark als europäische Leitwährung zu beseitigen wäre und der wirtschaftliche Spielraum Frankreichs damit erweitert würde. Das Gegenteil jedoch trat ein: die Bundesrepublik konnte sich nicht nur mit der einverleibten DDR ein neues Absatzgebiet, sondern auch mit den übrigen osteuropäischen Ländern verlängerte Werkbänke schaffen, in denen zu äußerst günstigen Löhnen die Produkte für deutsche Firmen hergestellt wurden. Der bis heute anhaltende Höhenflug der deutschen Exportindustrie – zum Leidwesen aller anderen Staaten der EU – konnte beginnen. Damit entwickelte sich die Bundesrepublik Deutschland zum zentralen „Player“ der EU und spätestens seit der Griechenland-Krise geschah auch auf politischem Gebiet. Jetzt kam stärker zum Vorschein, dass Deutschland sich als der „Anführer“ der nördlichen EU-Staaten und Frankreich als derjenige der südlichen EU-Staaten verstand und auch künftig verstehen würde. D.h. das deutsch-französischen Duo ist in gegnerischen Lagern angesiedelt, was die Zusammenarbeit nicht einfacher macht. Andererseits gab es und gibt es immer noch enge Abstim-mungen zwischen beiden Staaten z.B. in der Bewältigung des Ukraine-Konflikts, bei dem Erhalt des Abkommens mit dem Iran, in Bezug auf die Aufrechterhaltung des INF-Vertrages. Das schon seit langem vorhandene ökonomische Schwergewicht und die zunehmende politische Bedeutung Deutschlands haben zu einer tiefen Verunsicherung der französischen Bevölkerung geführt und die Beziehungen beider Länder zueinander kompliziert. Macron – ein Politiker mit europäischen Ambitionen / Merkel und Scholz - deutsche Politiker als Bremser Diese für Frankreich ungünstige psychologische Ausgangssituation änderte sich mit der Präsidentschaft Macrons 2017. Seine Versuche, in der europäischen Union eine neue Dynamik zu entfalten und damit Frankreich wieder einen gewichtigeren Stellenwert einzuräumen, gab der französischen Bevölkerung einen Teil ihres Selbstbewusstseins gegenüber Deutschland zurück. Je länger sich jedoch die deutsche Seite gegenüber den europapolitischen Vorschlägen Macrons (Gründung einer europäischen Solidargemeinschaft, Einführung einer europäischen Transaktionssteuer, eine einheitliche europäische Digitalsteuer, Gründung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft) zögerlich verhielt und es noch immer tut, gerät Macron mit seinen innenpolitischen Reformen ins Hintertreffen und damit sehr stark unter Druck. Die Bewegung der „Gelbwesten“ hat seine Zustimmungswerte in den Keller rutschen lassen und bei der Wahl zum EU-Parlament ist seine Partei auf den zweiten Platz hinter der von Le Pen gelandet. Auch in der Haltung gegenüber dem Brexit vertritt Frankreich – im Gegensatz zu Deutschland – einen strikteren Kurs, aber Deutschland hat sich durchgesetzt und damit die Frage darüber, wann es zu einem Austritt Großbritanniens aus der EU kommen wird, auf die lange Bank geschoben. Die von Macron angemahnten EU-Reformschritte geraten damit wieder in den Hintergrund und die Liste der „Unerfreulichkeiten“ im deutsch-französischen Verhältnis wird immer länger. Und das trotz des im Januar 2019 unterzeichneten Aachener Vertrages, der eine Ergänzung und Vertiefung des Elysée-Vertrages von 1963 darstellt. Wolfgang Streeck (Soziologe und emeritierter Professor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftswissenschaften) fassts die aktuelle Situation in „Le Monde diplomatique“ (Mai 2019) wie folgt zusammen. Für ihn stellt die EU ein liberales bzw. neoliberales Imperium dar, das aus einem Zentrum und der Peripherie besteht. Im Zentrum befindet sich Deutschland gemeinsam mit Frankreich, wobei er verdeutlicht, dass sich Deutschland hinter Frankreich versteckt und Frankreich genau daraus Kraft schöpft. Allerdings begeht Deutschland dabei den Fehler, Präsident Macron nicht genügend mit geeigneten Maßnahmen gegen die eigne kritische Bevölkerung bei seinem Programm der „wirtschaftlichen Germanisierung“ (programme de la germanisation économique) abzusichern. Genau dieser Fehler – sich einerseits hinter Frankreich zu verstecken und es andererseits bei den ökonomischen Problemen auflaufen zu lassen – hat dann auch dazu geführt, dass auf den verzweifelten Versuch Deutschlands, die Migrationsfrage sowie die Flüchtlingskrise über gemeinsame Maßnahmen der EU zu regeln, von französischer Seite nur mit Schweigen beantwortet wurde und damit ein Kompromiss mit den osteuropäischen EU-Staaten auf lange Zeit vertagte. Der sich abzeichnende Brexit führt dazu, dass Frankreich die einzige Nuklearmacht in der ist, die zugleich auch einen Sitz im Sicherheitsrat der UNO innehat, unterstreicht Streeck. Das Machtpotential, das Frankreich daraus ziehen könnte, eröffnet die Möglichkeit, die deutsche Wirtschaftskraft wieder in den eigenen Dienst zu stellen. Betrachtet man die augen-blicklichen deutsch-französischen Beziehungen aus der „Vogelperspektive“ kommt man zu folgender Metapher: Der „deutsch-französische“ Motor stottert. 4 Gibt es sie eigentlich: die deutsch-französische Freundschaft? 4.1 Unterschwellig verbindende Strömungen Warum nur spricht man trotz der dargestellten Probleme, die man auch für den ökonomischen Bereich (man denke an deutsch-französische Konzerne wie z.B. Airbus oder „arte“) aufzeigen könnte, dennoch von der deutsch-französischen Freundschaft. Ist es ein Phantom, das gerne herbeigeredet wird und sich gut für Sonntagsreden eignet, oder gibt es sie wirklich? Meine weiteren Ausführungen möchte ich unter einen Vorbehalt stellen: Ich sehe zwar einerseits die Probleme, die im deutsch-französischen Verhältnis bestehen, bin jedoch andererseits so sehr dem Französischen verbunden (warum erkläre ich später), dass ich mich ganz bewusst in diesem Teil zu meiner subjektiven Haltung bekenne. Die Tatsache, dass Deutschland und Frankreich aus einem Reich entstanden sind, macht schon verständlich, dass es tiefliegende Verbindungen geben muss, derer wir uns gar nicht immer bewusst sein können. Aber natürlich lassen sich anhand der Kultur, der Handwerkskunst, der Zivilisation im allgemeinen wechselseitige Beziehungen zwischen beiden Ländern erkennen und auch benennen. Die Erschütterung, die der Brand von Notre-Dame in Deutschland (natürlich auch in Europa und der Welt) ausgelöst hat, die tiefe Anteilnahme mit den Opfern der Attentate in Frankreich zeigt m.E. ganz gut diese tiefer liegenden Verbindungen. Die Tatsache, dass an den deutschen Höfen (natürlich nicht nur dort) vorzugsweise französisch gesprochen wurde, man sich in der Baukunst, in den Sitten, der Mode an Frankreich orientierte, ist zwar wiederum mit politischen wie wirtschaftlichen Entwicklungen erklärbar, hatte jedoch eben ganz entscheidende Wirkungen auf die grundlegenden Strömungen in der deutschen Gesellschaft. Die umgekehrte Beeinflussung ist weniger dominant. Sie ist jedoch deutlich im Bereich der Musik und im Bereich der Philosophie. Alle aktuellen namhaften französischen Philosophen (Merleau-Ponty, Derrida, Foucault, Nancy, Morin, Xixous etc.) beziehen sich auf Hegel, Nietzsche, Heidegger, Husserl und beherrschen natürlich auch die deutsche Sprache. Beim Einfluss der Mode bleibt es auf Lagerfeld beschränkt, dessen Lebensmittelpunkt dann aber auch Frankreich bzw. Paris war. Auch einige, aber wenige, Stars und Regisseure aus der Film- und Musikbranche haben nach Frankreich hineingewirkt: Marlene Dietrich, Romy Schneider und Wim Wenders seien als drei Beispiele erwähnt. Marlene Dietrich und Romy Schneider wurden jedoch aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber Deutschland bzw. gegenüber der kleinbürgerlichen Enge der Nachkriegszeit eigentlich nach Frankreich „ver-trieben“ und sind dann erst sehr viel später – teilweise erst nach ihrem Tod - wieder in Deutschland gewürdigt worden. Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ begei-sterte das französische Publikum, weil er den Klassikern der „nouvelle vague“ so ähnlich war und das „Mystische“ der deutschen Teilung in Szene setzte. Ansonsten wirkt das aktuelle Deutschland im Bereich der Literatur, des Films sowie der Musik wenig nach Frankreich hinein: aktuelle deutsche Romane werden selten ins Französische übersetzt, auf den Filmfestspielen in Cannes gelangen deutsche Filme selten in den Wettbewerb, die neue deutsche Welle in der Musikszene wird in Frankreich kaum wahrgenommen, obwohl Hip-Hop und Rap sich z.T. auch von französischen Bands inspirieren lässt. Einzig Berlin ist inzwischen der Sehnsuchtsort vieler junger Franzosen (die jedoch auch eher dem links-intellektuellen Milieu zuzuordnen sind) geworden und sich in der Stadt eine Existenz aufbauen, um dem z.T. zentralistisch rigiden Frankreich zu entkommen. Aber auch diese Betrachtung, die natürlich aus Zeitgründen unvollständig ist, richtet ihren Blick auf bestimmte Schichten in beiden Gesellschaften, die wenig mit „dem einfachen Mann, der einfachen Frau auf der Straße“ zu tun haben. Zu erklären bleibt noch, wie sich so etwas Seltsames wie die Idee von der deutsch-französischen Freundschaft entfaltet hat? 4.2 Die alltägliche deutsch-französische Freundschaft Die beiden Weltkriege als verbindendes Element?! So paradox es klingen mag, aber es waren die Kriege, die breite Bevölkerungs-schichten aus beiden Ländern näher zusammengebracht haben. Wer kennt nicht die vielen Erzählungen, die davon berichten, dass - französische und deutsche Soldaten im ersten Weltkrieg zu Weihnachten in ihren gegnerischen Schützengräben gemeinsam Lieder gesungen haben, - im zweiten Weltkrieg französische Zwangsarbeiter durchaus freundliche Aufnahme auf deutschen Bauernhöfen finden konnten und sie deren Besitzer, die als Soldaten an der Front kämpften, ersetzten. Die vielen realen Liebes- und Freundschaftsgeschichten, von denen einige Eingang in die Literatur oder den Film gefunden hatten (Hiroshima, mon amour, Frantz), zeugen von diesen Begegnungen. Meine Eltern, beide während des 2. Weltkrieges in Frankreich (meine Mutter als Sekretärin von Siemens in Paris; mein Vater als Soldat in Paris und an der Atlantikküste) haben mir so viele wundervolle Geschichten über dieses Land und die Leute erzählt, dass in mir eine ganz tiefe Zuneigung entstanden ist, Frankreich ist eigentlich meine zweite Heimat geworden. Aber auch umgekehrt gibt es solche menschlichen Erfahrungen: die Sängerin Corinne Douarre ist Ende der 90iger Jahre auf den Spuren ihres Vaters (Zwangsarbeiter in Plauen) nach Berlin gekommen und singt sehr be-rührende Geschichten über ihre deutsch-französischen Wirkungskreis. (Chanson einblenden „Zusammen oder getrennt“). Das deutsch-französische Jugendwerk als Motor für Partnerschaften verschiedenster Art Dieser in jenen äußerst finsteren Zeiten entstandene Wunsch nach einem gemein-samen Frieden, nach gegenseitiger Entschuldigung über zugefügtes Leid, nach Versöhnung, hat dann auch zu dem großen Erfolg der Partnerschaften (Städte-, Gemeinden-, Sport- und Schulpartnerschaften) beigetragen, der vor allem mit der Gründung des deutsch-französischen Jugendwerk in Gang gesetzt wurde. In den letzten Jahren haben jeweils rund 200000 Jugendliche und junge Erwachsene an den verschiedensten Austauschvorhaben teilgenommen – angefangen von den Grund-schulkindern, über die Schüler*innen, Student*innen bis hin zu den Lehrer*innen. Seit 1963 sind es neun Millionen. Mehr und mehr wendet man sich auch an die Jugendlichen, die weniger Chancen aufgrund schwieriger Situationen im Elternhaus haben. Über Programme und Projekte, die besonders auf sie ausgerichtet (Sport, Tanz, berufsbildende Projekte) sind, sollen sie für das jeweilige Partnerland aufge-schlossen werden. Viele derjenigen, die an diesen Austauschvorhaben teilgenommen haben, sind in ihrem späteren beruflichen Leben weiterhin im deutsch-französischen Kontext tätig. Diese Projekte sind gerade in den letzten Jahren keineswegs ausschließlich auf die beiden Länder spezialisiert geblieben, sondern beziehen häufig einen dritten Partner ein. Hier richtet sich der Blick vor allem nach Osten. In Berlin gibt es zudem noch den Vorteil, dass es eine zweite deutsch-französische Struktur (centre français, im Berliner Bezirk Wedding) gibt, die das deutsch-französisch Jugendwerk unterstützt, aber vor allem auch eigene Programme im Bereich des Sports, der Kunst, der Natur, der Musik anbietet, die Jugendlichen aus allen Schichten offenstehen. Wichtig ist dabei, dass die Beherrschung der Partnersprache keineswegs die Voraussetzung für die Teilnahme ist, sondern umgekehrt: über die Teilnahme wird das Interesse an der Partnersprache geweckt und gefördert; die dazu erforderlichen Akteure bzw. Mittler oder Übersetzer stehen zur Verfügung und bieten Aktivitäten zur Sprachanimation an. Um den ersten Schritt hin zu dem Anderen (dem Franzosen/dem Deutschen) zu machen, geht es nie um Sprache, sondern immer um die Öffnung zum Anderen. Auch wenn sich Deutsche und Franzosen gar nicht verständigen können – wie z.B. die Eltern meines Mannes gegenüber einem ehemaligen frz. Zwangsarbeiter und seiner Ehefrau – so verstanden sie sich doch bestens über ihre Herzenswärme, über die Anerkenntnis, dass das tägliche Leben jeweils die gleichen Herausforderungen und Formen der Bewältigung mit sich bringt. Das gemeinsame Tun und die gemeinsame Bewältigung von Proble-men schafft eine Verständigungsbasis, die der beste Garant für die Bewahrung des friedlichen Zusammenlebens ist. Dies haben die deutsch-französischen Beziehungen in exemplarischer Weise immer wieder bewiesen. Andere Länder beneiden uns genau darum. Dennoch sollte nach wie vor im Bildungsbereich darum gekämpft werden, dass – neben Englisch – Französisch in Deutschland und Deutsch in Frankreich eine wichtige Position einnimmt. Die Fähigkeit, die Sprache des Partners zu beherrschen, bleibt eine wichtige Voraussetzung für die deutsch-französische Verständigung. Ein Mythos, der nicht zerstört, sondern – mit realistischem Blick – gepflegt werden sollte Gemessen an der Realität ist es sicher richtig, wenn man die deutsch-französische Freundschaft als einen Mythos betrachtet. Diesen Mythos sollten wir aber unbedingt pflegen und an ihn glauben, dann kommen wir seiner Verwirklichung – bei allen Rück-schlägen – immer ein Stückchen näher … ohne ihn je zu konkretisieren. D.h. statt globaler Warnungen können eine klare Analyse der Machtverhältnisse, Erkenntnisse über bereits Erreichtes, über zu Bewahrendes und Hoffnungen auf weiter Auszu-bauendes hilfreich sein, um den Blick in die Zukunft zu richten.
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AutorReinhard Hildebrandt Archive
September 2019
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