Der norwegische Friedensforscher Johan GALTUNG erweiterte 1969 die klassische Definition von “Gewalt” (violence) um das Konzept der “strukturellen Gewalt” (structural violence). In diesem Konzept wird nicht mehr nur das „destruktive Handeln eines Täters oder einer Tätergruppe“ behandelt, sondern die Form von Gewalt, die in der Gesellschaft systemisch wirkt und durch die menschliche Grundbedürfnisse in der Weise beschränkt werden, dass die potentielle Entfaltung der Individuen ein-geschränkt ist. Gewalt wird in dieser umfassenden Definition nicht mehr konkreten personalen Akteuren zugerechnet. Sie unterminiert anonym alle Werte, Normen, Institutionen, Diskurse sowie Prozesse, wodurch sich die Strukturen einer Gesellschaftsformation herausbilden.
Galtungs Ansatz, der sich am Ziel orientiert, strukturelle Gewalt insgesamt aus den Interaktionssystemen herauszunehmen, verdeckt mit seinem Vorgehen jedoch die Möglichkeit, aufzuzeigen, dass in jeder Gesellschaftsformation unabänderlich strukturelle Gewalt enthalten ist. Folglich muss analysiert, welches Maß an struktureller Gewalt das gesellschaftliche Ganze in seinem Fortbestand bedroht oder – im Gegenteil – sogar erhält. 1. Struktureller Gewalt hegemonialer Formationen Zunächst eine Definition zum Begriff „diskursive Formation“: Dies ist eine zuerst im wissenschaftlichen Betrieb entstandene spezifische Form des Denkens und Erarbeitens von Regelmäßigkeiten im analysierten Untersuchungsfeld, die später auch in der Rechtsprechung, der Ökonomie, der Verwaltung, der öffentlichen Diskussion Verbreitung findet. Andere Teilnehmer am Diskurs werden auffordert, ihre differierenden oder gleichgerichteten Positionen ebenfalls als diskursive Formation zu formulieren und der Diskussion zur Verfügung zu stellen. Die Existenz von Unterordnungsverhältnissen in einer Gesellschaft ist nicht gleichzusetzen mit der Anwesenheit von struktureller Gewalt. Wenn in Unterordnungsverhältnissen antagonistische Beziehungen werden, hat die unterordnende Seite die Möglichkeit, - entweder mit einer diskursiven Formation das bestehende Unterordnungsverhältnis zu rechtfertigen und gleichzeitig den Grund der Unzufriedenheit unter den Untergeordneten abzumildern bzw. ganz zu beseitigen, - oder strukturelle Gewalt zuzulassen, d.h. nur noch diskursive Formationen zu fördern, die ausschließlich der Konservierung der in Frage gestellten Unterordnungsverhältnisse dienen. Diese Reaktion ist die bevorzugte Verhaltensweise hegemonialer Formationen. Sie vermeiden entweder die direkte Auseinandersetzung mit der widersprechenden diskursiven Formation oder unterbrechen den demokratischen Diskurs vollständig. Alle am aktuellen Antagonismus unbeteiligte diskursive Formationen werden je nach Einschätzung des von ihnen möglicherweise ausgehenden Widerspruchpotentials als untergeordnete, zu unterdrückende, vernachlässigbare oder auf absehbare Zeit nicht zu beachtende Formationen behandelt. 2. Eingriffsrecht des Staates als Folge seines Gewaltmonopols zur Erhaltung des strukturierten Ganzen Was sich als "Gesellschaft" und "Staat" darstellt, ist ein vielgliedriges Ganzes, das sich im ständigen Aufbruch befindet. Es ist das sedimentierte Resultat widerstreitender einzelner wie assoziierter autonomer Einheiten. In ihrer wechselvollen Auseinandersetzung wachsen sie zu artikulatorischen und hegemonialen Formationen heran, die entsprechend ihrer je spezifischen Ausprägung zu unterschiedlichsten Praxen fähig sind. In einem derart formulierten strukturierten Ganzen kann der in der Selbsterhaltung des Ganzen tätige Staat weder als übergeordnetes Zentrum noch als zentraler Knoten-punkt des strukturierten Ganzen begriffen werden. In seiner Selbsterhaltungstätigkeit unterliegt er gleichfalls dem allgemeinen Horizont der Veränderung. Die Art und Weise, wie der Staat den Gegensatz zwischen seiner Selbsterhaltungstätigkeit und seinen übrigen Aktivitäten auf eine der aktuellen Struktur des Ganzen angemessene Form bringt, vollzieht sich ebenso wie der gesamte Transformationsprozess im Rahmen eines umfassenden Diskurses, in dessen einheitsstiftender Sicht sämtliche autonomen Einheiten lediglich als fragmentierte Elemente erscheinen. Zur umfangreichen Skala staatlicher Eingriffe zählen: – Unterstützung aufsteigender hegemonialer Formationen gegen bereits etablierte. – Ständiges Ausloten von Flexibilitätsspielräumen und -grenzen hegemonialer Formationen. – Schlichtertätigkeit (mit oder ohne Rückgriff auf das von ihm ausgeübte Gewaltmonopol). – Offenhalten des Feldes der unendlichen Diskursivität für die Aktivierung und Reaktivierung flottierender Elemente. Staatliche Eingriffsformen können jedoch nur dann wirksam werden, wenn der Staat seine Autonomie gegenüber den hegemonialen Formationen bewahrt hat. Er darf also weder institutionell noch personell zulassen, dass seine der Selbsterhaltung des strukturierten Ganzen dienenden Eingriffsmöglichkeiten mit den Handlungsmöglichkeiten hegemonialer Formationen verwechselbar werden oder austauschbar sind. Er wird dann entweder zu deren Anhängsel oder treibt an vorderster Stelle deren Unter-drückungspraxen voran. Im ersten Fall zeigt sich der Staat in seiner das strukturierte Ganze erhaltenden Tätigkeit hilflos gegenüber der strukturellen Gewalt, die von den hochrangigen hegemonialen Formationen ausgeht. Im zweiten Fall legitimiert er sie sogar, leugnet den Wechsel von Unterordnung zu Unterdrückung und ordnet selbst an, mit welchen Formen der physischen wie psychischen Gewalt die von der strukturellen Gewalt Unterdrückten im Zaume gehalten werden sollen. 3. Konservative Rechtfertigungsvarianten struktureller Gewalt 3.1 Die „Konservative Revolution“ Moeller van den Brucks (1923) Ausgangspunkt konservativer Rechtfertigung ist die Bestimmung der autonomen Einheiten, in die sich die zugrunde liegende Substanz des alles umfassenden Lebensstroms unmittelbar zerlegt. In dieser einfachsten Form des Lebendigen waltet nach den Worten Moeller van den Brucks etwas „Ewiges“, „das sich immer wieder herstellt und zu dem jede Entwicklung zurückkehren muss“. Als autonome Einheit mit „unveränderbarer Natur“ figuriert der Mensch; als Lebendiges ist er der Substanz entäußert, die ihm gegenüber eine „statische, von Menschenverstand unantastbare, wesenhafte Ordnung der Welt“ darstellt. Das Moment der „unveränderbaren Natur“ des Menschen ist für Hans Freyer (1926), der die “konservative Revolution von rechts” forderte, ohne das zweite Moment des „aktiven Nichts“, der vorwärtstreibenden Kraft, die ständige Wiederherstellung des Anfangszustandes in einem „reinen Prozess”, “die Überführung des Endlichen in Unendliches, sich stets Gleichbleibendes, Ewiges “, nicht zu denken. (zit. bei Herzinger, Richard, 1994: Das aktive Nichts – Die konservative Revolution und die deutsche Übermoderne, in: Frankfurter Rundschau, 12.2.94) Hans Freyer erweitert Möller van den Brucks Feststellung. Er propagiert einen vom menschlichen Geist verursachten Zerfall des ursprünglichen Gleichklangs zwischen der unveränderbaren Natur der autonomen Einheit (Mensch) und der statischen vom Menschen-verstand unantastbaren wesenhaften Ordnung der Welt, und unterstellt, dass eine Tendenz zur Rückkehr des verlorenen Idealzustandes erkennbar sei. Nachdem in der proletarischen Revolution des 19. Jahrhunderts die letzte ausgeschlossene Klasse (das Proletariat) in die Gesellschaft integriert wurde und der Kampf der Partialinter-essen in den Zwang zum Interessenausgleich umgeschlagen sei, wäre im Innern der nunmehr entstandenen „industriellen Gesellschaft“ das “Volk” als etwas Ganzheitliches heranwachsen. Dieses “organische Gebilde” Volk erklärt er zum „historischen Subjekt“ der „Revolution von rechts“. Es beantworte den Hochverrat des Geistes gegen das Leben durch den Hochverrat des Geistes gegen den Geist (Ernst Jünger) und führe die einstmals abgebrochene bzw. durch den Geist abgelenkte Entwicklung wieder zurück zum ursprünglichen Gleichklang. Laut Freyer ist das Volk der „Sinn, der in der Welt der industriellen Gesellschaft aufgeht, der lebendige Kern, um den die Mittel des industriellen Systems zum ersten Mal zu einer Welt zusammengefügt werden…“. Das Volk bringe in einer „totalen Revolution“ den „totalen Staat“ hervor, der sich „von der Gesellschaft emanzipiert“; und beide zusammen – das „Volk“ und sein „Staat“ – integrierten auf „organische“ Weise die technischen Möglichkeiten, die die industrielle Revolution hervorgebracht habe, und setzten sie zum ersten Male zum Wohle des Ganzen ein. Das Ideal der „organischen Gemeinschaft“ erscheint laut Freyer als das notwendige und unausweichliche Resultat der objektiven geschichtlichen Bewegung, fasst Richard Herzinger Freyers „Dynamismus“ kritisch zusammen (ebd.). Eine stärkere Rechtfertigung und Verherrlichung struktureller Gewalt scheint in der Tat kaum denkbar. In der zu Ende gehenden Weimarer Republik drängten jene Gedanken zur Tat. Der erbittert geführte Konkurrenzkampf diskursiver Formationen um Hegemonie, um die maßgebliche Gestaltung des strukturierten Ganzen, einschließlich des damit engstens verbundenen Konkurrenzkampfes zwischen den verschiedenen Universalitätsansprüchen um das herrschende Herrschafts- und Legitimationsprinzip, führte zum Ergebnis, dass die Praxis einer weit im rechten Spektrum angesiedelten hegemonialen Formation alle anderen zu dominieren vermochte. Aus der Sicht der siegreichen Formation - der NSDAP - schienen alle im Kampf Unterlegenen unterschiedslos dem Lager der Hegemonisierten anzugehören, obgleich bei realistischer Betrachtung einige der unterlegenen hegemonialen Formationen noch für einige Zeit im mehr oder weniger großem Umfang an der Herrschaftsarbeit beteiligt werden mussten. Auch der Staat wurde lediglich als Hilfsinstrument zur Verstärkung der höchstrangigen hegemonialen Praxis angesehen und an seiner angestammten Aufgabe gehindert, die Flexibilitätsmöglichkeiten aller um Hochrangigkeit konkurrierenden hegemonialen Praxen zum Zweck der optimalen Erhaltung des strukturierten Ganzen auszuloten. Schon in der Übergangszeit von der Demokratie zur absoluten Herrschaft der NSDAP gelang es dem Staat immer weniger, mit den an der Herrschaftsarbeit in zweit- und drittrangiger Position Beteiligten gemeinsame Äquivalenzketten zur Untergrabung der mit absolutem Führungsanspruch auftretenden hegemonialen Formation zu bilden und seinen Anspruch auf authentische Interpretation des Herrschafts- und Legitimationsprinzips zu behaupten. In einer von ihr als total bezeichneten Revolution ergriff schließlich die dominant auftretende hegemoniale Formation - die National-Sozialistische Deutsche Arbeiter-Partei - die absolute Herrschaft, errichtete unter ihrer Herrschaft den totalen Staat, brach jeglichen Widerstand mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und verlangte von allen Untergeordneten absoluten Gleichklang im Denken und Handeln. Die NSDAP täuschte gemäß Herbert Wehners Analyse des Nationalsozialismus aus dem Jahre 1942/43 bereits durch den Parteinamen vor, eine gelungene Synthese vorher einander in schärfster Gegnerschaft gegenüberstehenden Ideenströmungen zu sein (in: Die Zeit, 25.2.94). Als scheinbar Regelmäßigkeit in der Verstreuung schloss sie ganz verschiedene Elemente ein: Unter dem Begriff „national“ reihten sich jene diskursiven Formationen in die von ihr propagierte Äquivalenzenkette ein, die nach dem ersten Weltkrieg „die offene oder versteckte Feindschaft gegen die für einen friedlichen Aufbau sich einsetzenden politischen Richtungen als Kennzeichen nationalen Bewusstseins betrachteten“ (ebd.). Mit dem zugkräftigen Begriff „sozialistisch“, in Verbindung mit dem Begriff „national“, brachte sie flottierende Elemente hinter sich, die eigentlich der Arbeiterbewegung zuneigten, und schuf mit dem Begriff „Deutscher Sozialismus“ sogar für Teile des Mittelstandes und der Unternehmer Identifikationsmöglichkeiten. Das Wort „Deutsch“ nahm vor allem die außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschen in den Fokus und versuchte ein Wir-Gefühl auch unter parteiferneren Subjektpositionen zu erzeugen. Laut Wehner lag auf dem Wort „Arbeiter“ von Beginn an eine besondere Betonung. Die NSDAP sollte nicht irgendeine von vielen bürgerlichen Parteien sein, keine normale Wahlpartei, sondern eine „Arbeiter-Partei“, die auch vielen Versprengten und Enttäuschten des ersten Weltkrieges Halt bot und sie zu „Deutschen Arbeitern“ emporhob, die sich von den als vaterlandslos bezeichneten internationalen Arbeitern unterschieden. Mit dem Ausspruch „Sind wir nicht alle Arbeiter?“ rückte die Entfaltung eines neuen Menschentyps in den Blickpunkt, der in Ernst Jüngers 1932 erschienenen Schrift „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“ als Mischung von menschlichem Industrieroboter und hochtechnisiertem Krieger jenseits „bürgerlicher Freiheit“ eine neue Welt schaffen sollte, eine „organische Konstruktion“, in der Mensch und Technik wieder mit den ewigen Geboten des „Lebens“ verschmelzen würden (Richard Herzinger, ebd.). Das Wort „Partei“ im Namen der NSDAP zielte auf „Volksgemeinschaft“ und verharrte nicht bei der üblichen Bedeutung des Begriffes. In dieser Volksgemeinschaft sollte sich der einzelne nicht nur aufgehoben fühlen, sondern auch Schutz vor wieder aufflackernden Interessenkämpfen der Vergangenheit finden. Der Führer würde schon dafür sorgen, dass sich die Großen nicht über das „Volk“ erheben könnten, und aus dem Volk würden auf allen Ebenen der Massenbewegung viele kleine, Hitler treu ergebene Führer an der Herrschaftsarbeit aktiv Anteil nehmen. Die Reduzierung der autonomen Elemente zu Gliedern der Volksgemeinschaft, die das Recht des Einzelnen dem Machtwort des Führers unterordnete, löste die Universalität des Rechts als herrschendes Legitimationsprinzip ab und ordnete es dem blindem Vertrauen auf die Weisheit und Güte des Führers als der neuen Legitimationsgrundlage unter. Aus der anfangs viele Gesichter zeigenden, nach Hegemonie strebenden Praxis der NSDAP wurde so nach Ergreifung und Umformung der Staatsmacht die artikulatorische Praxis einer scheinbar absolut herrschenden Formation, in die sich die unterlegenen, an der Herrschaftsarbeit zunächst noch zu beteiligenden Formationen immer stärker einzubinden hatten und schließlich zur totalen Unterordnung gezwungen wurden: – die deutschnationalen Kreise um Hugenberg (aus Industrie und adeligem Großagrariertum); – Reichswehrgeneräle um General Schleicher; – Kaisertreue und einige Mitglieder des Hauses Hohenzollern; – Politiker und Einflusspersonen aus dem katholischen Zentrum. Die Verschmelzung von höchstrangiger Formation und Staat hatte jedoch zur Folge, dass deren Entstehens- und Vergehenszeit – auf „tausend“ Jahre angelegt und nach zwölf Jahren bereits an ihrem Endpunkt angelangt – vom strukturierten Ganzen als eigene Entstehens- und Vergehenszeit akzeptiert werden musste. Selbst nach dem Fall der NS-Herrschaft fand der Staatstheoretiker Carl Schmitt, der mittels seiner Ideen einer der (geistigen) Führer des Führers zu sein glaubte, keine Worte des Bedauerns oder gar des politischen Irrtums. Für ihn gab es das Ich, das verantwortlich sein könnte, nicht, oder es war unterwegs gestorben. Statt des zersplitternden Ichs verlangte es Schmitt nach der „reinen Identität“ seines „Selbst“, aus dem das verunreinigende „Andere“ ausgeschlossen ist. Nach dem gleichen Muster hatte die „reine Macht“ alles Heterogene auszuschließen. „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird“, schrieb er in seiner Abhandlung über die „Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“. Auf diesem Hintergrund verfasste er im „Glossarium“ folgende am 19. 11. 1947 formulierte Selbstentlastung: „Vor Gott ist alles Künftige schon gewesen und was uns als Gegenwart trifft, ist wie der Lichtstrahl eines entfernten Sternes, der längst erloschen ist. … So besteht die Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung darin, dass sie das, was wir als unsere Gegenwart empfinden, ignoriert. Als Gott zuließ, dass Hunderttausende Juden getötet wurden, sah er gleichzeitig schon die Rache, die sie an Deutschland nahmen, und was er heute mit den Rächern und Vergeltern sieht, werden die Menschen in einer unerwartet anderen Gegenwart erleben.“ (Thomas Assheuer, a.a.O.). 3.2 Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Volkssouveränität und Rechtsstaat zugunsten des Rechtsstaats Ganz allgemein gilt: Als erhaltenswert Angesehenes gegen die Zeit starr zu verteidigen, wirkt sich als strukturelle Gewalt aus und erzeugt Unterdrückung. Die von Hans Maier getroffene Unterscheidung des Staates zwischen Leistungsträger und Instrument der Daseinsvorsorge einerseits und dem Kernbereich (Frieden und Recht zu sichern) andererseits, ist nicht einfach eine wertneutrale Differenzierung des Komplexes „Staat“, sondern bereits vom Willen diktiert, das Ensemble sozialer und staatlicher Formen, das etablierten hegemonialen Formationen entstammt, im Namen von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu bewahren. Denn eine „Ordnung an sich“ gibt es nicht, und welcher Bereich des Chaos geordnet ist oder scheint, ist nicht dem Zufall überlassen. Die Aufforderung, Recht durchzusetzen, bedarf der Ergänzung durch die Frage nach dem Verhältnis zwischen der „Normativität des Rechts und seiner Zielrichtung und Angewiesenheit auf tatsächliche Geltung“ (Rainer Wahl, a.a.O.). Den indivi-duellen und gesellschaftlichen Schaden sowie die Verfolgungsbedürftigkeit von Ver-brechen wie z.B. bei Tötungsdelikten bestreitet niemand, aber es gibt auch eine Reihe von Verbrechen (u.a. Wirtschaftsdelikte), die allein deshalb weniger stark verfolgt wer-den können, weil gerade diese Strafverfolgungsbehörden personell und finanziell chronisch unterbesetzt sind. Eine unspezifische Aufforderung zur Verbrechensbekämpfung ist also wenig glaubwürdig. Als „altkonservatives“ Abfallprodukt bezeichnet Maier „Fremdheit gegenüber Pluralismus und Parteienregiment“. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte schon Max Weber gefordert, dass ein „charismatischer Führer“ notwendig sei, damit Demokratie gelingen könne. Politik werde nur von wenigen bestimmt, deshalb dürften Parteien nur nach der Art der Gefolgschaft organisiert werden. Adenauer, der die „Deutschen“ für demokratieunfähig hielt, glaubte, die Zeit bis zur Heranreifung eines demokratischen Bewusst-seins mit der „Kanzler-Demokratie“ überbrücken zu können. „Er rechnete bei der Mas-se der Bürger mit der freiwilligen Unterordnung unter die Führung der geistigen Elite bzw. der „Durchdrungenen“ (Botho Strauß). Maiers „aufgeklärter Konservatismus“ geht vor allem „pfleglich“ mit der Verfassungstradition um und betrachtet sie als das „notwendige Widerlager unserer Tageskämpfe und -aktionen. Sein Verfassungspatriotismus bezieht sich insbesondere auf die als Kernbereich bezeichneten „Freiheitstraditionen“ und deren jüngere und ältere Freiheitselemente, wie beispielsweise den „gemeinen Mann und seine Geschichte, landständische und frühparlamentarische Traditionen, die Hanse, das Bürgertum der Städte“ und die „spezifisch deutsche Tradition des Naturrechts und der Freiheits- und Menschenrechte“. Das Prinzip der Volkssouveränität, das alle Macht vom Volke ausgeht, betrachtet er im Spiegel dieser Freiheitstraditionen. Indem er diese Freiheitstraditionen zum Maßstab erklärte, interpretierten sie für ihn nicht mehr nur den Grundsatz der Volkssouveränität, sondern konnten auch Kommandogewalt über ihn erlangen (wie übrigens im Bundesverfassungsgerichtsurteil zum § 218 geschehen). In die gleiche Rich-tung zielt Maiers Empfehlung, zwar „nationales Pathos“ zu vermeiden, jedoch auf die Stärkung nationalen Zugehörigkeitsgefühls im Volk nicht zu verzichten und die zwischen den hochrangigen hegemonialen Formationen umkämpfte Definitionsmacht über dieses Identifizierungsan- und -gebot im konservativen Sinne zu nutzen. Maier unterscheidet die verschiedenen konservativen Strömungen danach, ob sie etablierte Rechte und Vorrechte entweder in starrer Verteidigung oder beweglicher Anpassung – gegen die Zeit oder im Einklang mit ihr – erhalten wollen. 3.3 Die Machttheorie Niklas Luhmanns Mit dem Zeitkriterium spricht Hans Meier einen Aspekt struktureller Gewalt an, der insbesondere bei Niklas Luhmanns „Recht der Gesellschaft“ starke Beachtung findet und den unauslöschbaren Keim struktureller Gewalt freilegt. Im Zustand grenzenloser Flexibilität im Verhältnis zwischen Hegemonisierenden und Hegemonisierten gleichen sich die Erwartungen beider Seiten stets ohne Zeitverzug aus und erzeugen friedvolle Unter- und Überordnung. Wenn z.B. bei Hegel das Maß der vom Herrn geforderten Unterordnung unter seine Anweisungen mit dem Maß an Dienst(-bereitschaft) des Knechts für alle denkbaren Zustände deckungsgleich ist und das Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht mit dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn stets übereinstimmt, ist jegliche Unterdrückung und damit jegliche strukturelle Gewalt ausgeschlossen. Antagonistische diskursive Formationen erhalten dann keinerlei Realisierungschancen. Ein vollständiger Ausgleich tritt auch dann ein, wenn vormals Hegemonisierende und Hegemonisierte gemeinsam zunehmend Unwillen und Unfähigkeit zur Entfaltung von Macht entwickeln. Eine solche, in vielen Endzeitentwürfen und Utopien vorweggenommene herrschaftslose Zeit kennt selbstverständlich auch keine strukturelle Gewalt. Da es aber sowohl den Zustand unendlicher Flexibilität wie den des Ausschlusses jeglicher Fremdbestimmung gegenwärtig nicht gibt – und vielleicht auch nie geben wird – ist mit der Ausprägung struktureller Gewalt zu rechnen. Strukturelle Gewalt ist für Luhmann kein ernst zu nehmender Begriff. Macht entsteht laut Luhmann im Gefolge von „Interaktionskonstellationen“ (Luhmann, 1988: Macht, S.14). Als reines Spiel mit verteilten und vom Auftraggeber finanzierten Rollen dient die Verdoppelung ausschließlich dem Machterhalt. Die Zeit „fungiert“ erst dann „struktur-gebend“, wenn sich progressive und konservative Kräfte periodisch ablösen können (in einer parlamentarischen Demokratie u.a. durch Wahlen oder durch Richtungs-kämpfe innerhalb der regierenden Partei[en]). Luhmanns Ausführungen zur struktur-gebenden Funktion der Zeit gelten unmittelbar für das Bemühen hochrangiger hege-monialer Formationen um die Schaffung eines ihnen adäquaten Ensembles sozialer und staatlicher Formen, in dem ihre „Zukunftsprojektionen“ rechtsverbindlich geworden sind und die der anderen Unrecht. Der Keim zu struktureller Gewalt ist damit gelegt. Er nimmt aber erst konkrete Formen an, wenn etablierte Rechte und Vorrechte in starrer Verteidigung gegen die Zeit bzw. gegen das Aufbegehren der sich unter-drückt fühlenden Hegemonisierten erhalten werden.“ (ebd. S.14). 4. Die sozialpolitische Diskussion unter der Bedingung der Globalisierung Hans-Olaf Henkel, ehemaliger Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, warnte im Tagesspiegel vom 12. 2. 1995: "Die sozialpolitische Diskussion gerät zunehmend in eine Schieflage." Es werde zu viel darüber nachgedacht, wie das Sozialprodukt gerecht verteilt werden könne, und zu wenig, wie das Sozialprodukt zu vermehren sei. Er forderte: "Zukünftig darf nicht das Aufteilen, sondern muss das Backen eines größeren Kuchens das erste Ziel verantwortlicher Politik sein". Für ihn wie für seine Mitstreiter wie z.B. Hilmar Kopper (damaliger Chef der Deutschen Bank) oder Klaus Murmann (damaliger Präsident des Bundesverbandes der Arbeitgeber) war die Staatsquote sowie die Abgabenquote zu hoch, die Sozialausgaben über-stiegen die Investitionen und insgesamt waren die Ausgaben für soziale Zwecke auf unverantwortliche drei Prozent des Bruttosozialprodukts angestiegen. Alle Forderungen wurden in folgende Formulierungen verpackt: Das soziale Netz müsse an die enger gewordenen Finanzspielräume angepasst und grundsätzlich umorientiert werden. Leitgedanke müsse die Stärkung der Eigenverantwortung und Eigenvorsorge der Bürger sein, was in der Konsequenz hieße, soziale Leistungen abzubauen. Man brauche wieder mehr Markt und mehr Wettbewerb. Hinter diesen Forderungen stand das Verlangen, die im strukturierten Ganzen als hochrangig geltenden hegemonialen Formationen gegenüber den niederrangigen zu stärken. Andernfalls drohe der Zerfall der gesellschaftlichen Fundamente. André Leysen (früheres Verwaltungsratsmitglied der Treuhandanstalt) wandelte auf einer Tagung im März 1995 die seit der Französischen Revolution gültige Resolution von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" in „Freiheit, Gleichheit, Bezahlbarkeit" um. Alle Aussagen zusammen liefen darauf hinaus, dass Unternehmensvertreter vom Staat die Zulassung eines höheren Maßes an struktureller Gewalt in der Erhaltung des sozialen Friedens erwarteten und staatliche Tätigkeit zur Erhaltung des strukturierten Ganzen vor allem dazu dienen sollte, die Entwicklung hochrangiger hegemonialer Formationen zu fördern. Der Staat befand sich an der Wegscheidung, – entweder die Erhaltung des strukturierten Ganzen mit dem Wohlergehen der welt-weit tätigen hegemonialen Formationen gleichzusetzen und die Lebensdauer des strukturierten Ganzen deren Lebenserwartung unterzuordnen, – oder die Grenzen des strukturierten Ganzen weiter als die der Nationalstaaten zu ziehen. Im ersten Fall würde der Staat seine Autonomie gegenüber den hegemonialen Formationen verlieren: d.h. der von jenen ausgehenden strukturellen Gewalt hilflos zu folgen (statt sie auf ein Minimum zu begrenzen) und alle Formen struktureller Gewalt zu legitimieren, den Wechsel von Unterordnung zu Unterdrückung zu leugnen, selbst anzuordnen, welche Formen der physischen und psychischen Gewalt angewendet werden sollen, um Hegemonisierte unter Druck zu halten. In beiden Versionen hätte er den hegemonialen Formationen nichts mehr entgegenzusetzen und das strukturierte Ganze würde mit ihnen, z.B. in einer umfassenden Finanzkrise, untergehen. Im zweiten Fall müssten hegemoniale Formationen auf dem Felde der Diskursivität Formationen entfalten, die einen Staat propagieren und institutionalisieren, der die Grenzen des neuen strukturierten Ganzen auszufüllen vermag. Die Autonomie dieses Staates wäre dann von ihnen als unantastbar zu betrachten, und wie alle übrigen vereinzelten oder assoziierten autonomen Einheiten müssten sie sich in ihrer Tätigkeit zur Erhaltung des strukturierten Ganzen diesem Staat beugen, was im Falle der Europäischen Union zwar zunächst geschah, aber in jüngster Zeit zunehmend in Frage gestellt wird, wie z.B. in der Entscheidung Großbritanniens, aus der EU aus-zutreten sowie dem Verlangen einzelner osteuropäischer Mitgliedsstaaten, die bisherige, für alle EU-Staaten in gleicher Weise geltende balancierte Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative zugunsten der Legislative neu zu justieren. In den 2000er Jahren standen beide Optionen auf der Tagesordnung. Auf dem EU-Gipfel von Lissabon wurde eine Strategie entworfen, die EU zum wettbewerbs-fähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Innovation und soziale Kohäsion sollten zu Motoren dieser Strategie werden. Zur wirksamen Umsetzung hätte es weiterer suprastaatlicher Institutionen bedurft. Genau dies geschah aber nicht. Jeder Versuch, die Einrichtung solcher Institutionen voranzutreiben, scheiterte. Dem Interesse, vorrangig das Wohlergehen der weltweit tätigen hegemonialen Formationen in den Blick zu nehmen, diente die Realisierung neo-liberaler Wirtschaftsmodelle. So propagierte 1997 der britische Premierminister Tony Blair als erster das Konzept „New Labour“. Die deutsche Bundesregierung unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD) orientierte sich mit der Agenda 2010 an diesem Konzept und leitete ab 2003 einen grundlegenden Umbau des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes ein. In der Folgezeit entwickelte sich die Bundesrepublik Deutschland zwar zum Exportweltmeister und konnte mit immer niedrigeren Arbeitslosenzahlen aufwarten, aber bestieg im Bereich des Billiglohnsektors sowie bei prekär Beschäftigten einen der vorderen Plätze in der EU. 4.1 Hegemoniale Formationen mit durchschlagender Wirkung: die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft Im höchsten Maße schockiert über diese in der deutschen Bevölkerung weit verbreitete und von der ab 1998 regierenden neuen sozialdemokratisch-grünen Regierung bekundeten Ablehnung gegenüber der „new economy“ gründete im Oktober 2000 der Arbeitgeberverband Gesamtmetall die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). Bereits 1998 hatten der Chef der Deutschen Bank, Breuer, und der ehemalige Bundesbankdirektor Tietmeyer der neuen Regierung verdeutlicht, dass sie in Zukunft die Herrschaft des Finanzkapitals zu akzeptieren hätten. Bald nach der Regierungsübernahme zeichnete sich unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die Ab-kehr von der zunächst zivilgesellschaftlich orientierten Politik ab. Die Strategie gegen den Neoliberalismus wandelte sich zum hinhaltenden Widerstand gegenüber der von der INSM nachdrücklich geforderten Anpassung an die Vorgaben aus den USA. Nach dem Rezept, „Schlimmeres verhüten zu wollen“, reduzierte man den zivilgesellschaft-lichen Diskurs auf die Forderung nach „mehr Eigenverantwortung für das Individuum“ und kam damit bereits dem Forderungskatalog der INSM entgegen. Der einflussreiche und sehr bekannte deutsche Unternehmensberater Roland Berger und der Vorsitzen-de der Altana AG, Dr. Nikolaus Schweikart, beide „Botschafter“ der INSM, berieten Bundeskanzler Schröder in Wirtschaftsfragen. Sie handelten nach der Devise von Hans Werner Busch: „Die Notwendigkeit von Reformen in die Köpfe der Bürger … bringen, sie darüber … informieren, was aus unserer Sicht notwendig ist.“ (Dr. Hans Werner Busch, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, in einem Interview vom 24.05.04). Hielt sich die Initiative noch strikt an das Ziel, den Hauptvertreter der antagonistischen diskursiven Formation, die Gewerkschaften, nicht direkt anzugreifen und statt dessen auf den Feldern des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats mit dem Slogan „Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft“ neue Zeichen zu setzen, gerieten die Gewerkschaften mit der rot-grünen Regierung in eine kaum noch zu überbrückende Konfrontation. Als nach dem Wirksamwerden der Hartz-Gesetze im Jahre 2005 die Montagsdemonstrationen aus der Wendezeit 1989/90 wieder auflebten und neue diskursive Formationen der unzufriedenen Bevölkerung eine adäquate Sprache verliehen, sah sich die rot-grüne Regierung einer schwierigen Situation ausgesetzt, vergleichbar mit derjenigen der konservativen französischen Regierung nach der vollständigen Aufhebung der Kündigungsfristen für Berufsanfänger im Jahre 2006. Während jedoch der Sozialabbau in Frankreich auf massive Proteste der Studenten, arbeitslosen Jugendlichen, Gewerkschaften und linken Politiker stieß, denen sich die Regierung beugen und das Gesetz zum völligen Abbau des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger zurückziehen musste, gelang es der rot-grünen Regierung unter starkem Medieneinsatz die Montagsdemonstranten zu isolieren und den Protestaktionen die Stoßkraft zu nehmen. Statt verschärfter Straßenproteste mit angezündeten Autos und Barrikadenkämpfen wie in Frankreich verbreitete sich in der deutschen Bevölkerung eine Stimmung, in der die sozialstaatsfeindlichen Maßnahmen hingenommen wurden und in der zunehmende Motivationsverlust bei Langzeitarbeitslosen und Lernverweigerung bei chancenlos gewordenen Hauptschülern zu beklagen war. In beiden Gesellschaften hatten staatliche Administrationen versucht, der Gefährdung des formlosen Gegenhalts bzw. des gesellschaftlichen Zusammenhalts Einhalt zu gebieten. In Frankreich führten die lautstarken und gewalttätigen Proteste zum Rückzug der Regierung, während in Deutschland sowohl die von den Maßnahmen unmittelbar betroffene Bevölkerung wie die zunächst noch verschonte Mittelschicht der inneren Immigration verfielen. „Millionen Bürger verlieren das Vertrauen in die Demokratie“, urteilte Harald Schumann bereits vor den Bundestagswahlen im Februar 2005, „weil sie sehen, dass gewählte Politiker die Gewinne der ‚Reformen‘ nur den Privilegierten zuschanzen, während alle anderen draufzahlen. Die wachsende Wahlverweigerung und der Mitgliederverlust sind ein untrügliches Zeichen.“ (Tagesspiegel, 03.02.05). In den Wahlen avancierte die Partei der Nichtwähler zur „mitgliederstärksten Partei“, hinter der sich die beiden „Volksparteien“ und die kleineren Parteien einzureihen hatten. In der Wahlenthaltung zeigte sich, dass, anders als im Nachbarland Frankreich, zwar nicht sofort mit Unruhen gerechnet werden musste, wenn die Regierung zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts den Forderungen einer hegemonialen Formation sehr weit entgegenkam. Aber mit der zunehmenden gesellschaftlichen Passivität und politischen Abstinenz großer Bevölkerungsteile wurde eine für die Erhaltung der Demokratie negative Entwicklung in Gang gesetzt, die in der Gegenwart die Wähler zur mehr als zehnprozentigen Unterstützung der rechtspopulistischen Partei „Alternative für Deutschland“ (AFD) in mehreren Landtagswahlen und in der letzten Bundestagswahl geführt hat. Unübersehbar hatte sich auch die ökonomische Situation zum Nachteil der INSM verändert. Früher als von der INSM angenommen, verkehrten sich die Investitions-ströme. Wenn Unternehmen Produktionsverlagerungen in kostengünstige Produktionsorte vornahmen, kam nach einiger Zeit die Frage auf sie zu, ob sie aus dem bisherigen Markt völlig verschwinden und die gesamte Produktion ins kosten-günstigere Ausland verlegen oder ob sie nach einer Phase zurückgefahrener Investitionen erneut in ihren angestammten Produktionsstätten investieren sollten, um z.B. das technische Niveau zwischen ausgelagerten und angestammten Produktionsbetrieben nicht zu weit auseinander klaffen zu lassen. Sofern bestimmte Produktionsprozesse nicht ausgelagert werden konnten und in den Stammbetrieben verblieben, waren solche Angleichungsprozesse unausweichlich. Tatsächlich wurden in vielen bundesdeutschen Produktionsstätten wieder Investitionen vorgenommen und die Beschaffungsaufträge bei den traditionellen Lieferanten der Stammbetriebe verursachten dort eine steigende Nachfrage. Der Lebenszyklus hegemonialer Formationen unterliegt dem ihnen ureigenen Entstehens- und Vergehensprozessen. Ihnen ist als endliche Struktur die Spur der Vergänglichkeit eingezeichnet. Aus der Sicht der Initiatoren hat die hegemoniale Formation dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn es ihrer hegemonialen Praxis gelungen ist, die auf dem Felde der Diskursivität formulierten Ziele, Strategien und Taktiken optimal umzusetzen. Aber für die Akteure ist weder die Diskrepanz zwischen der Fülle der möglichen Alternativen und der begrenzten Anzahl der von ihnen erkannten noch die mögliche Vielzahl von Arrangements, die das strukturierte Ganze anbietet, ersichtlich, noch die Nähe zur nicht entdeckbaren Spur der Vergänglichkeit. Selbst die fürstlichste finanzielle und intellektuelle Ausstattung vermag diesen Mangel nicht auszuschalten, der sich außerdem in der Entscheidungs-findung erschwerend als Mangel an verfügbarer Zeit zeigt. Die Vehemenz, mit der Befürworter der INSM auf der einen Seite und Anhänger der Kaufkrafttheorie auf der anderen Seite immer wieder aufeinandergeprallten, zeugte von einer tiefgreifenden Differenz in der Ausgestaltung der Gesellschaftsstruktur, der Positionierung des Individuums in ihr und der Hinnahme von struktureller Gewalt. Oberflächlich betrachtet stritten die Vertreter der Freiheit des Marktes gegen die Befürworter von staatlichem Dirigismus, Neoklassiker gegen Keynesianer, Verteidiger der Freiheit des Individuums gegen Behüter des Individuums, Propagandisten der Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung durch das Individuum gegen die Beschützer der Nichtprivilegierten, Leistungsträger gegen Leistungsempfänger, Globalisierungsbefürworter gegen Globalisierungsgegner. Im Kern stritt man sich jedoch um die folgenden zwei Fragen: 1. Wieviel strukturelle Gewalt kann im Namen der Machterhaltung und -ausdehnung von den Privilegierten gegen die Nichtprivilegierten der Gesellschaft in Stellung gebracht werden, ohne dass von letzteren bereits der soziale Frieden und damit die demokratische Struktur in Frage gestellt wird? 2. Welche Aufgabe übernimmt der Staat in dieser Auseinandersetzung? Welcher der beiden Seiten dient er mehr? Kann er sich in der Erhaltung des formlosen Gegenhalts gegenüber beiden Seiten neutral verhalten? Viele osteuropäische Staaten, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts der EU angeschlossen hatten, gerieten mit – geringer Aussicht auf die Entwicklung einer eigenständigen Industriestruktur – als verlängerte Werkbänke völlig ungeschützt in den Sog der neoliberalen Welle. Auch südeuropäische Staaten, allen voran Griechenland, unterlagen dem Zugzwang „reformwilliger“ EU-Länder, die ihnen harsche Konditionen zum Abbau ihrer Staatsschulden (vor allem die Rückzahlung bei privaten Banken aufgenommener Kredite) diktierten. Harte Einschnitte in die Sozialgesetzgebung führten zu stark steigender Arbeitslosigkeit und hohen Abwanderungsquoten. Den europa- und weltweit operierenden Unternehmen gelang es im zunehmenden Maße, die Staaten untereinander auszuspielen. Sie selbst traten und treten gegen-über den einzelnen Staaten in finanziell gut ausgestatteten und breit gefächerten diskursiven Formationen als Sachwalter national agierender Unternehmen auf, die dem internationalen Konkurrenzdruck nur durch eine großzügigere staatliche Subventionspolitik und den Rückbau kostentreibender sozialstaatlicher Leistungen standhalten könnten. Gelingt die Aufweichungstaktik in einem Staat, wird sie vom gleichen Unternehmen in einem anderen Staat als erschwerter internationaler Kosten-druck beklagt. 4.2 Die Finanzkrise und ihre Folgen Die in den USA 2008 beginnende Finanzkrise, angeheizt durch eine massive, bereits seit längerem zu beklagende wachsende Haushaltsverschuldung und ein weiterhin hohes Handelsbilanzdefizit, versetzte dem amerikanischen Selbstbild einen empfindlichen Schlag. Sie untergrub die Position des US-amerikanischen Dollars als führen-de Weltreservewährung. Eine erste Infragestellung dieser Leitwährung hatte die Europäische Union bereits mit der Schaffung des Euro erzielen wollen, wodurch sie sich langfristig vom US-Dollar abzukoppeln und den Euro als neue Reservewährung neben dem Dollar zu platzieren versuchte. Als die Finanzkrise immer offensichtlicher wurde, brach das wechselseitige Vertrauen der Banken untereinander, das Vertrauen der Politik gegenüber den Banken und der Öffentlichkeit gegenüber dem Finanzsystem drastisch ein. Beklagt wurden in der öffentlichen Meinung vor allem die zunehmend illegitimen und undemokratischen Methoden, die in der Vergangenheit immer mehr zum Einsatz gelangt waren. Lange Zeit akzeptierten amerikanische Regierungen keinerlei Gründe, die sie gedrängt hätten, Underhills Vorschlägen zu folgen. So reagierten die USA mit Unverständnis, als die Europäer eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorschlugen. Hier hatte Geoffrey Underhill gefordert, „die USA sollten ernsthaft darüber nachdenken, ihre faktische Vetoposition hinsichtlich von Zusätzen zu den Artikeln aufzugeben; dies sollte gegen eine zusammengefasste, wenn auch ausreichend reduzierte EU-Stimme getauscht werden, wobei niemand ein Veto beanspruchen könnte“ (ibid.). Selbst als die Krise eine dramatische Wendung nahm und tatsächlich einige Länder erfolgreich versuchten, das „Hotel Capital Mobility“ des IWF zu verlassen, hielten die USA an ihrem Vetorecht fest. Jedoch blieb der privilegierte Status der USA (16,77 Prozent der Stimmrechte im IWF), der es ihnen erlaubte, unbegrenzt Schulden in ihrer eigenen Währung anzuhäufen, unangetastet. Kein anderes Mitgliedsland der Bretton-Woods-Institutionen genoss und genießt den gleichen Vorteil. Selbst China als der größte Kreditgeber und die Europäische Union als der wichtigste Wettbewerber der USA auf den Weltmärkten unternahmen keine entscheidenden Schritte. China versuchte sogar, die negativen Auswirkungen der Dollarschwäche zu umgehen, indem chinesische Währungsreserven von US-Dollar auf Euro umgeschichtet und chinesische Zinskonten durch Investitionen bei US-Banken und Investmenthäuser – wie Blackstone – ersetzt wurden. Blackstone ist einer der wichtigsten amerikanischen Investoren und bezeichnet sich selbst als „weltweit führender alternativer Vermögens- und Anlagenverwalter sowie Anlage- und Finanzberater“ (Internetseite der Blackstone-Gruppe). Die Europäische Union hatte zwar den Euro als ernsthafte Herausforderung gegenüber dem US-Dollar geschaffen, aber keinen dauerhaften Erfolg erzielt, den US-Dollar als Abrechnungswährung für Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas sowie hochwertige Güter wie Flugzeuge abzulösen. Bei aller verständlichen Abneigung vieler Bankmanager gegen die Entmachtung durch den Staat war es notwendig geworden, das bisherige System der Bankenregulierung langfristig „völlig neu“ zu konzipieren (Robert Heusinger „Dieses System ist katastrophal“, Frankfurter Rundschau, 07.04.09), was jedoch bis heute nur in sehr in geringem Maße geschehen ist. Die Globalisierung und mit ihr im Verbund die Digitalisierung haben ein Ausmaß erreicht, durch die die Autonomie des Staates zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts großen Einschränkungen unterworfen wird. Die weltweit agierenden Technologiekonzerne, die wegen des Niveaus der Digitalisierung gar nicht umgangen werden können, sind in der Lage, die Einzelstaaten nicht nur hinsichtlich der Versteuerung ihrer Gewinne gegeneinander auszuspielen, sondern auch ökonomischen sowie po-litischen Druck auszuüben, mit dem sie ihre Gewinnmargen entsprechend hoch halten. Der Lebensstil, der mit und durch diese Technologiekonzerne geprägt wird, passt perfekt zu den Vorstellungen der INSM über das größere Maß an Eigenverantwortung, das das Individuum in Zukunft zu übernehmen hat. Führt man sich vor Augen, unter welchen Bedingungen die Beteiligten eines Start Up arbeiten (lockere Arbeitsatmosphäre, vermeintlich flache Hierarchien, keine festen Arbeitszeiten, ständige Erreichbarkeit, relativ niedrige Löhne, wenig Absicherung für das Alter) und mit welchen Gefahren sie konfrontiert sind – nämlich von den großen Konzernen aufgekauft zu werden – wird deutlich, welches Maß an struktureller Gewalt dem Einzelnen auferlegt wird. Die noch nicht abgearbeiteten Folgen der Bankenkrise von 2008 und die Gefahren einer erneuten noch gravierenderen Bankenkrise gingen und gehen zu Lasten der Steuerzahler und beeinträchtigen in erster Linie Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen. Insgesamt haben diese einzelnen Prozesse zu einem steigenden Ungleichgewicht bei der Einkommensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland geführt; so ist z.B. die Armutsrisikoquote von rund elf Prozent Mitte der neunziger Jahre auf 15,8% im Jahre 2017 gestiegen. Gesteigert durch die komplexe Problematik der Flüchtlingskrise spricht man aktuell von einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft zwischen Gewinnern und Verlierern. Diese Spaltung erreicht auch in zunehmen-dem Maße die Mitte der Gesellschaft. Sie wird verschärft durch regionale Besonderheiten: bestimmte Gebiete in der ehemaligen Bundesrepublik (z.B. das Ruhrgebiet) und weite Teile der östlichen Bundesländer, die unter einer massiven Deindustrialisierung zu leiden hatten, befinden sich aufgrund fehlender Perspektive auf der Verliererseite. D.h. das Maß an struktureller Gewalt gegenüber diesen Bevölkerungsteilen hat in einer Weise zugenommen, in der die Demokratie in ihrer Funktionsweise bedroht wird. Wandten sich die Bundesbürger vor 2010 enttäuscht von der Politik ab (Politikverdrossenheit), wenden sie sich heutzutage rechts- bis rechts-extremen politischen Strömungen bzw. Parteien zu, die ihnen weiszumachen versuchen, ihre Probleme zu lösen, tatsächlich jedoch eine – geschickt kaschierte – rein marktorientierte Wirtschaftspolitik verfolgen. Diese diskursiven Formationen arbeiten mit der Angst vor weiterer Aufnahme von Migranten bzw. von Geflüchteten, die sie medial aufgeladen als „gezielte Unterwanderung des deutschen Volkes“ darstellen, und mit dem Versprechen, dass bei einer Politik des Abschottens die ökonomischen Probleme der Benachteiligten gelöst würden. Ein ähnlicher Mechanismus funktioniert auch in den anderen europäischen Ländern, wie man angesichts des bevorstehen-den Brexits im Vereinigten Königreich oder des Wahlerfolgs der Rechtspopulisten in Italien beobachten kann. 5. Abschluss und Ausblick - Der Staat als Motor der gesellschaftlichen Entwick- lung im Namen einer optimalen Selbstentfaltung der Subjekte – Flexibilitäts- spielräume und -grenzen in der Aktivierung flottierender Elemente Weder gleicht der reale Mensch dem Kunstprodukt „homo oeconomicus“ noch entspricht die reale Marktsituation dem mathematischen Modell des Marktes. Der ideale Markt des Modells existiert nicht in der Realität. Die Mathematik ist nicht in der Lage, die Realität angemessen darzustellen. Damit entfällt jegliche Rücksicht der Politik, auf die Selbstregulierung der Marktkräfte zu setzen. Je angebots- und nachfragemächtiger Marktteilnehmer werden, desto mehr muss auch der Staat mit Regeln in das Markt-geschehen eingreifen. Sein Maßstab kann nicht die Aktivierung der Selbstheilungskräfte des Marktes sein, sondern die Erhaltung des formlosen Gegenhalts mit den Mitteln der Demokratie. Der Staat folgt vornehmlich der Exekution von Macht als der ihm zugeschriebenen Handlungslogik. Dieser Handlungslogik bedienen sich auch die Vertreter der Unternehmen und der Banken. Konsequent fordert deshalb Stiglitz auch den Staat auf, im Sinne der Erhaltung demokratischer Strukturen und der Förderung des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls zu handeln. Stärker noch als schon von ihm erwähnt, muss das Versagen des Staates hervorgehoben werden. Sein Handeln darf sich nicht an den viel beschworenen „Selbstheilungskräften der Wirtschaft“ orientieren, sondern einzig und allein am Maßstab der Erhaltung der Demokratie. Der „marktkonforme Staat“ ist der Totengräber der Demokratie. Um das strukturierte Ganze zu erhalten muss im Vordergrund staatlicher Tätigkeit stets dessen Ausgangspunkt im Blickfeld stehen: nämlich die sich in vielfältige Elemente aufsplitternde autonome Einheit, aufgrund deren artikulatorischer Praxen sich erst das gewaltige Gebäude der Vielfalt diskursiver und hegemonialer Formationen bildet. Jeder Staat, der die Erhaltung des strukturierten Ganzen gegen die einzelne autonome Einheit ausspielt, beseitigt nicht nur langfristig die Existenzgrundlagen beider (und damit auch die eigene), sondern kalkuliert auch ein unbegrenztes Ausmaß an struktureller Gewalt ein. Sofern der Staat als Motor gesellschaftlicher Umgestaltung dienen soll, ist die Beeinträchtigung der Entfaltungsmöglichkeit der einzelnen autonomen Einheit der Maßstab für das Ausmaß struktureller Gewalt. Welches Ausmaß noch als zulässig und welches nicht mehr als akzeptabel erscheint, muss auf dem Felde der unendlichen Diskursivität im Konflikt der widerstreitenden diskursiven Formationen immer wieder erneut ausgefochten werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Beeinträchtigung sich nur auf die nicht-autonomen, artikulationsunfähigen Einheiten, oder auch auf die sich artikulierenden und in ihrer Elementform an den verschiedensten diskursiven und hegemonialen Formationen beteiligten autonomen Einheiten bezieht, oder darüber hinaus auch auf die in den Produktionsverhältnissen Unterdrückten oder sogar auf die sich immer gleichbleibende Substanz und den allgemeinen Lebensstrom. Das Individuum ist die sich selbst entwerfende extreme Differenz, einzigartig, frei in der Entfaltung seiner Elemente, darin angewiesen auf die volle Teilhabe an der Sphäre der Kommunikation und der politischen Entscheidung (Paolo Flores d’Arcais, Philosophie und Engagement, in: Frankfurter Rundschau, 16.05.95). Seine unaufgebbare Verschiedenheit wäre zweifellos am besten in der symmetrischen Teilhabe an der Macht aufgehoben, oder wenigstens in der Perspektive auf eine solche. Aber das Individuum ist eine an einen Körper gebundene artikulationsfähige autonome Einheit und zugleich eine Einheit, die in vielfältige Elemente aufgesplittet ist, von denen die einen zu Momenten diskursiver Formationen geworden sind und die anderen weiterhin flottieren. Als Teil diskursiver und hegemonialer Formationen trägt es zur Festigung des Ensembles relativ stabiler sozialer Formen bei. Als sich selbst immer wieder neu entdeckendes, neu erfindendes, „enorm wandlungsfähiges“, „selbstformendes“ Tier (Rorty) durchbricht es diese Formen immer wieder. Seine Einzigartigkeit erklärt sich durch das von Individuum zu Individuum spezifische Mischungsverhältnis beider Komponenten. In staatlichen Umgestaltungsmaßnahmen dieses Mischungsverhältnis prinzipiell für „alle“ zu erhalten, so dass den vereinzelten Einzelnen eine faire Chance zur Entfaltung ihrer selbst geboten wird, kennzeichnet die Grenze, die der strukturellen Gewalt gezogen ist. Selbstentfaltung, begriffen als Macht der privaten Autonomie, die den Vorrang des Politischen abgelöst hat, geht in ihrem Verständnis über die „Einseitigkeit des possessiven Individualismus“ hinaus. Das Mit-, Gegen- und Durcheinander in sich selbst vernünftiger Weltbilder, die als vielgestaltiges Ensemble nicht der Vernunft eines allen übergeordneten Weltbildes gehorchen, stellt eine weitere Ausdifferenzierung der Kategorie der sich selbst erhaltenden autonomen Einheiten dar. Sie übersteigt als solche den Pluralismus des Marktes und des Selbstinteresses (des besitzindividualistischen Atomismus). Die ursprünglich „romantisch inspirierte Erschließung einer weiteren, privaten Freiheits-dimension des Verlangens nach Differenz, der Rehabilitierung des unpolitischen und unvernünftigen Idioten, des eigensinnigen Kindes, der Poesie, der privaten Ironie“ ist zur „eigentlichen Quelle des Neuen“ geworden (ebd.). Dieses vielfältig motivierte Verlangen nach Differenz darf von staatlicher Umgestaltungspolitik im Namen eines angeblich höheren Wissens nicht zugeschüttet werden. Im Streit um den Grenzverlauf zwischen den Rechtssphären des öffentlichen und des privaten Lebens ist es umgekehrt der Treibstoff der Entwicklung, und zugleich geben die erkennbaren Differenzierungen an, in welche Richtung Umgestaltung mit einem Mindestmaß an struktureller Gewalt möglich ist. Gegenüber dem durch Gegenhalt der hegemonialen Formationen erzeugten und bereits partiell weltweit strukturiertem Ganzen verliert jedoch die auf kleinere strukturierte Ganze begrenzte selbsterhaltende Tätigkeit der Staaten unabwendbar an Bedeutung. Ihre auf kleinere, im nationalen Rahmen strukturierte Ganze bezogenen Entwicklungsvorhaben geraten zur Entwicklungstendenz, die dem partiell weltweit strukturierten Ganzen immanent ist, in den Gegensatz. Letztere präsentiert sich ihnen nicht als solche, sondern stets durchsetzt mit den von anderen Staaten unkoordiniert ins Spiel gebrachten. In dieser - die diversen nationalen Entwicklungsvorhaben vollständig vereinnahmenden - Form tritt sie als übermächtige Kraft auf und erzwingt in jeder ihr unterworfenen Gesellschaft ein höheres Maß an struktureller Gewalt, das sich für die Menschen ganz konkret durch den Verlust des Arbeitsplatzes, durch zunehmende Altersarmut, durch unbezahlbare Mieten etc. auswirkt. Sie wäre jedoch ganz anders gestaltet, wenn in sie Entwicklungstendenzen einflössen, die von transnationalen, unterhalb der Ebene eines Weltstaats angesiedelten Staaten ins Leben gerufen würden. Ob und wann einmal ein Weltstaat existieren wird und ob eine solche Entwicklung überhaupt wünschbar wäre, bleibt zu klären. Auf unabsehbare Zeit wird ein Weltstaat nur virtuell existieren, und zwar weitgehend in Form von UN- und anderen Kommissionen, die sich um die Verwirklichung einer "Welt-Ordnungspolitik" bemühen. In der aktuellen weltpolitischen Situation muss man jedoch eher entgegengesetzte Tendenzen befürchten. Unter diesem Blickwinkel sollte der Kampf um die Erhaltung und eine wirkliche Demokratisierung der Europäischen Union mit allen hier dargestellten Erkenntnissen geführt werden.
0 Kommentare
Politiker verweisen gern auf die Unzulänglichkeiten der Zivilgesellschaft, wenn ihre politischen Aktionen nicht den gewünschten Erfolg erbracht haben. Als erstrebenswerte Entwicklungsaufgabe sehen sie an, in weniger entwickelten Staaten zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern und zivilgesellschaftliche Strukturen zu installieren. In ihren Äußerungen erhält der Begriff der Zivilgesellschaft eine Eindeutigkeit, die ihm in der wissenschaftlichen Analyse jedoch nicht zukommt. Außerdem kann sich zivilgesellschaftliches Engagement nicht immer auf eine Unterstützung durch den Staat verlassen und der Staat ruft die Zivilgesellschaft auch nicht zur Hilfe, wenn er im Widerstreit mit transnationalen Unternehmen und dem weltweit agierenden Finanzkapital zu unterliegen droht. 1. Begriffsbestimmung von Zivilgesellschaft Setzt man in der Definition von Zivilgesellschaft den Begriff Gesellschaft vorerst bereits als bekannt voraus und konzentriert sich ganz auf die Begriffsbestimmung von zivil versus unzivil, begleitet die Aufzählung der vielfältigen positiven Bedeutungen stets ihre absolute Negation. Dieses Gegensatzpaar – zivil und unzivil – ist konstitutiv für jede Definition von Zivilgesellschaft. Begrenzt man z.B. Zivilgesellschaft auf den „Dritten Sektor“ in der Gesellschaft, sind alle anderen Sektoren unzivil und deshalb ausgeschlossen. Wird im Unterschied zu dieser Version unter Zivilgesellschaft vor allem der Bereich der Gesamtgesellschaft verstanden, in dem die Fähigkeit zu Konflikt- und Konsensbildung in der Öffentlichkeit besonders ausgeprägt ist, sind alle anderen Bereiche als unzivil definiert, in denen diese Fähigkeit nicht nachgefragt wird. Assoziiert man in einer weiteren Version mit Zivilgesellschaft alles das, was – entsprechend der Global Governance Theorie und der aus ihr abgeleiteten Forderung nach Good Governance – als „gute Gesellschaft“ bezeichnet wird, ist alles „Nichtgute“ aus der Definition auszuschließen. Welche Variation der Zivilgesellschaft man auch auswählt, das jeweils unzivile Element bleibt immer jenseits der fixierten Grenze als ausgeschlossener Sektor existent. Ob und welcher Einfluss von ihm auf den definierten Bereich in Form eines von ihm ausgehenden Bedeutungsüberschusses ausgeht, ist ungewiss, wird im Prozess der Begriffsbestimmung nicht mehr thematisiert bzw. als Randbedingung gleich Null gesetzt. Indirekt beobachtbar ist dies an den Überschneidungen der drei Varianten von Zivilgesellschaft. Sie stehen nicht beziehungslos nebeneinander. So ist in Teilen des Dritten Sektors auch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Konflikt- und Konsensbildung zu erkennen und darin angesiedelt sind ebenso Bereiche, die man als Teil der „guten Gesellschaft“ bezeichnet. Die drei Varianten nehmen eine unterschiedliche Proportionierung der Gesamtgesellschaft vor und sie zeichnen sich durch eine unterschiedliche Reichweite aus. Zielt die Definition von Zivilgesellschaft nicht nur auf die zivilen Bereiche der Gesamtgesellschaft, sondern zugleich auch auf das zivile Engagement von Menschen, kompliziert das widersprüchliche Verhalten selbstbestimmter Individuen zusätzlich die Begriffsbestimmung. Handelnde Individuen schwanken zwischen selbstgesetzlichen und eigennützlichen Haltungen hin und her, bevorzugen je nach Bereich und Zeit mal die eine und mal die andere Verhaltensweise. Die dem zivilgesellschaftlichen Handeln zugeordnete Handlungslogik ist davon ebenfalls nicht frei. Unzulänglich ist deshalb trotz ihrer Länge die im „Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland“ (Wissenschaftszentrum Berlin [WZB], Berlin Juni 2009) vorgelegte Definition. 2. Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft Das Gegenteil von Zivilgesellschaft ist nicht der Staat, wie viele meinen, sondern die unzivile Gesellschaft. Der Staat setzt die von Individuen praktizierte Widersprüchlichkeit als eine seiner Existenzbedingungen voraus. Verhielten sich die Individuen ausschließlich selbstgesetzlich, würde der Staat sehr bald überflüssig werden. Verfolgten sie andererseits immer nur ihren Eigennutz, erhielte – trotz Anwendung schärfster Sanktionsmittel – der Staat keine Chance, in das Chaos ordnend einzugreifen, um den formlosen Gegenhalt in der Gesellschaft dauerhaft zu erhalten. Als Mindestanforderung für die Entstehung von Staaten ist notwendig, dass ausschließlich vom Eigennutz getriebene Individuen mindestens dem Staat selbstgesetzliches Handeln zuweisen. Funktionsfähig wird er deshalb noch lange nicht, was man am unzulänglich verfassten Staatsvertragsmodell von Hobbes gut nachweisen kann. Die Abkehr des Staates von der Behandlung seiner Bürger als hörige Untertanen hin zum zivilgesellschaftlich orientierten Staat, der selbstbestimmten Individuen ein hohes Maß an Autonomie zugesteht, ist nicht zu verwechseln mit der Hinwendung der Individuen zu ausschließlich selbstgesetzlichem Handeln. Die Forderung nach mehr Autonomie gegenüber privaten und ökonomischen, und ganz besonders gegenüber staatlichen Herrschaftsformen führt nur zu einem neuen Mischungsverhältnis zwischen beiden Verhaltensweisen. Zur Entstehung zivilgesellschaftlich freundlicher Staatsformen haben viele Philosophen und Theoretiker beigetragen, so unter anderem Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, John Locke, Charles de Secondat Montesquieu, Emmanuel Joseph Sieyès, aber auch Bernard de Mandeville und Adam Smith. In ihren Schriften behandeln sie vor allem die Herausbildung des Individuums, das einen Freiraum gegenüber Herrschaftsansprüchen des Adels und der Fürstenhäuser beansprucht. Erst nachdem der Staat den Bürger als sich selbst bestimmendes Individuum anerkannt hat, bekommen zivilgesellschaftsnahe Gesellschaftsmodelle, in denen zwischen Staat und Gesellschaft ein austariertes Verhältnis angestrebt wird und das Individuum den vom Staat bereitgestellten Freiraum vorfindet, eine Realisierungschance. Unter den vielen Theoretikern, die sich der Entwicklung solcher Modelle gewidmet haben, muss insbesondere Jürgen Habermas erwähnt und kritisch gewürdigt werden, während im Gegensatz dazu die Systemtheorie von Niklas Luhmann als zivilgesellschaftsfernes Gesellschaftsmodell zu bezeichnen ist. Es stuft das Individuum zur systemergebenden „Form-Person“ herab, das sich dem vorgegebenen Handlungsspielraum anzupassen hat, dem ihm das System zubilligt. Luhmann rechtfertigt mit seiner Systemtheorie das, was z.B. Guido Strack über Organisationen schrieb: „Organisationen neigen dazu, Mitarbeiter auf das für sie Wichtige zu reduzieren: das reine Funktionieren. Menschen werden dort nicht als Individuen gebraucht, die sich Gedanken machen, sondern als Maschinenteile, die im Sinne der Organisation funktionieren.“ (Frankfurter Rundschau, 24. 1. 2011). Ein sich selbst bestimmendes Individuum hat im Systemmodell Luhmanns nur als reduzierte „Form-Person“ einen Platz. 3. Die bereichslogisch orientierte Definition von Zivilgesellschaft im Kontext wechselseitiger Abhängigkeit gesellschaftlicher Kräfte 3.1. Das autonom handelnde selbst-bestimmte Individuum Was auf den ersten Blick fremdartig klingt, entspricht dennoch der Realität: Das auf sich selbst – und andere – bezogene autonom agierende Individuum verfügt über ein begrenztes Machtpotential. Der individuellen Machtausübung geht die Ausformulierung des eigenen Willens, dessen Kommunizierung und die Entschlusskraft zur praktischer Umsetzung des Willens voraus. Insofern entstammen Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung der gleichen Wurzel. Führt die Wahrnehmung der eigenen Freiheitsoptionen zur Be- oder Verhinderung der Selbsterhaltungs- und Selbstverwirklichungsoptionen Anderer, ist mit wechselseitigen Abwehrreaktionen zu rechnen. Das Ausmaß an entzogener bzw. weiterhin gewährter Selbstverwirklichungsmöglichkeit entscheidet darüber, ob zwischen den Individuen ein Verhältnis von gleich zu gleich, von Über- und Unterordnung oder von Herrschaft und Abhängigkeit entsteht. Je mehr sich Selbsterhaltung und Streben nach Selbstverwirklichung mit Eigennutz paaren, desto geringer wird selbstgesetzliches Handeln zum Zuge kommen. In der Regel agiert das Individuum aber weder ausschließlich eigennützlich noch stets selbstgesetzlich. Selbstverwirklichungsbestrebungen finden in allen Sphären der Gesellschaft, so in der Ökonomie, dem Staat, in der Gemeinschaft und auch in der Sphäre der Zivilgesellschaft statt. Wenn sich z.B. das Individuum mit seiner Arbeit identifiziert und das auf dem Markt nachgefragte Produkt seiner Arbeit als sein veräußertes Selbst betrachtet, verschmelzen Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung zu einer Einheit. In einer sinnentleerten abstumpfenden Arbeit jedoch, die sich weit über den normalen Arbeitstag erstreckt und nur auf der Höhe des Existenzminimums entlohnt wird, treten Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung weit auseinander. Letzteres ist oftmals in erzwungenen Über- und Unterordnungs-, Herrschafts- und Abhängigkeits- und Hegemonialverhältnissen der Fall. 3.2. Die Akteure des zivilgesellschaftlichen Umfelds im Spiegel der Theorien 3.2.1. Das normative Zivilgesellschaftsverständnis und die Flucht in das Konzept Dieter Gosewinkel und Dieter Rucht nehmen die Zivilgesellschaft als eine „gesellschaftliche Teilsphäre in Blick, die sich gegenüber den Sphären des Staates, der Wirtschaft und diversen Formen von Gemeinschaft durch eine spezifische Art der Interaktion auszeichnet: eine von wechselseitiger Anerkennung geprägte Koordination und Kooperation interessengeleiteter Individuen und Assoziationen.“ (WZB-Jahrbuch 2003, Berlin, S.14). In den Überlappungszonen würden die unterschiedlichen Handlungslogiken „gleichsam füreinander ‚übersetzt’ und dadurch kommunikativ anschlussfähig“ (ebd.S.54). Das hieße nicht, dass Zivilgesellschaft in ihrem Innern wie auch in ihrem ‚Grenzverkehr’ ohne Macht, Markt und Solidarität auskommt.“(ebd.S.54). Entgegen dieser Einsicht formulieren sie als Richtschnur: „Aber diese Mechanismen sind für die Zivilgesellschaft nicht konstitutiv“. Und unmittelbar danach gelangen sie resignierend zu dem Schluss, dass zivilgesellschaftliche Elemente empirisch neben unzivilen Elementen und Tendenzen „möglicherweise lediglich als Enklaven“ zu lokalisieren seien. Statt tiefer zu bohren und intensiver als bisher das widersprüchliche Verhalten zwischen selbstgesetzlichem und eigennützigen Handeln selbstbestimmter Individuen zu erforschen, weichen sie jetzt auf eine handlungslogische Konzeptualisierung von Zivilgesellschaft aus (ebd. S.51/52). An die Stelle des „Seins“ tritt damit die Kategorie des „Sollens“. Wie viel vom Erwünschten schließlich umsetzbar ist, überlassen sie der praktischen Politik und der Zukunft. Sven Reichardt untersucht hingegen, wie stichhaltig die Erklärungen unterschiedlicher Theoretiker für die tendenzielle Gewaltfreiheit in der Zivilgesellschaft sind und ob das normative und deskriptive Zivilgesellschaftsverständnis aufeinander bezogen werden können, wenn der Aspekt der Gewalt im Mittelpunkt der Analyse steht. Sein Ausgangspunkt ist die empirisch eindeutig feststellbare Gewalt und nicht die normative Betrachtungsweise von Gosewinkel und Rucht (Reichardt, Sven, Konzeptionelle Überlegungen zur Zivilgesellschaft aus historischer Sicht, WZB-Jahrbuch 2003, S.61-82). Reichardt verweist auf die Stammtische und die Vereinsstruktur in der Weimarer Zeit, die für den Nationalsozialismus zum Trainingsplatz wurden und der NS-Bewegung ermöglichten, weiter zu expandieren. Reichardt zieht aus den Beispielen negativer Vergemeinschaftungen zwar den Schluss, dass Vergemeinschaftung noch keine hinreichende Begründung für ein friedliches Zusammenleben der Menschen als mündige Bürger liefert, aber hält dennoch an der von Gosewinkel und Rucht als Ausweichstrategie formulierten handlungslogischen Konzeptualisierung von Zivilgesellschaft fest. Dies zeigt sich insbesondere an Sven Reichardts Kritik an Rödel, Frankenberg, Dubiel und Darendorf. Sven Reichardt setzt diesen drei normativen Konzepten nicht den Blick auf empirisch erfassbares Verhalten der Individuen entgegen, sondern äußert nur seine Vermutung, dass in einer Gesellschaft, in der „alle Auffassungen und Interessen zur Geltung kommen“ (Frankenberg) sollen, letztlich nicht erfüllbare Erwartungen geweckt würden. Aus Frustration über die unvermeidlich langwierigen Beratungs-, Vermittlungs- und Entscheidungsprozesse werde es zu gewalttätig ausgetragenen Kurzschlusshandlungen kommen, postuliert er ohne weitere Begründung. In seiner düsteren Vorausschau setzt er sich auch vollständig von Helmut Dubiels asymptotischer Annäherung an den Idealzustand vollkommen selbstgesetzlichen Handelns ab und verwirft ebenfalls den Tugenddiskurs, der von Darendorf propagiert worden ist. Gegen das liberale Konzept Darendorfs wendet Reichardt ohne Begründung ein, dass das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und Unabhängigkeit auf der einen und Erziehungstechniken der Überwachung und Disziplinierung auf der anderen Seite immer prekär bleibe. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass Reichardt die normative Sichtweise Gosewinkels und Ruchts beibehält und sich auf Konzeptkritik beschränkt. In diesem Kontext ist übrigens ein Blick auf das normative Konzept von Avishai Margalit aufschlussreich (Margalit, Avishai, Politik der Würde – Über Achtung und Verachtung, Frankfurt am Main 1999). Margalit äußert sich zur Würde des Menschen. Im Zentrum seiner Theorie steht das Streben nach einer nicht demütigenden Gesellschaft. Sein kritischer Blick fällt auf den Dritten Sektor in der Gesellschaft, der nach der Meinung vieler Theoretiker das Zentrum der Zivilgesellschaft bilden soll. Magalit versteht unter Demütigung alle Verhaltensformen, die eine Person in ihrer Selbstachtung verletzen. Darunter fällt für Margalit vor allem die Bevormundung von Bedürftigen in Wohlfahrtsverbänden. Fremdbestimmt in ihrem Selbstverwirklichungsstreben und verletzt in ihrer Selbstachtung würden behinderte, kranke, ältere oder jugendliche Menschen von Sachbearbeitern und Pflegepersonal, wenn ihnen das eigene Denken und Handeln entweder aus übertriebener Fürsorge oder der Neigung zu dominantem Verhalten abgenommen werde. Diese Gefahr bestehe insbesondere im Dritten Sektor, der oftmals als zentraler Bereich der Zivilgesellschaft angesehen wird. 3.2.2. Deskriptives oder bereichslogisches Verständnis von Zivilgesellschaft Die bereichslogisch orientierte Definition von Zivilgesellschaft basiert letztlich auf dem normativ ausgelegten Demokratiemodell von Habermas. Für Habermas bieten die unvermachtete Öffentlichkeit und eine starke Zivilgesellschaft der Lebenswelt Schutz vor den administrativen und ökonomischen Imperativen der beiden anderen Gewalten: Geld und administrative Macht. Diese beiden Mächte unterliegen der Funktionslogik selbstreferentieller Systeme (Niklas Luhmann). Sie versuchen vergeblich, die Lebenswelt einzuengen. Es entsteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis (Interdependenz) zwischen der unvermachteten Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft einerseits und dem Staat und der Wirtschaft andererseits. So definiert in Anlehnung an diese normative Auslegung von Gesellschaft z.B. der schon erwähnte „Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerlichen Engagements in Deutschland“ den Dritten Sektor auf folgende Weise: „Die zivilgesellschaftlichen Organisationen bilden (…) jenen gesellschaftlichen Bereich, der zwischen den Polen Markt, Staat und Familie angesiedelt ist. Sie sind durch eine formale Struktur, organisatorische Unabhängigkeit vom Staat, eigenständige Verwaltung, gemeinnützige Ausrichtung und freiwilliges Engagement gekennzeichnet. Als Vereine, Verbände, Stiftungen, gemeinnützige GmbHs oder Genossenschaften sind sie in ihrer Gesamtheit unentbehrlich für das Funktionieren der deutschen Gesellschaft geworden; heute wird von ihnen erwartet, dass sie wesentliche Beiträge zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme leisten.“ (ebd. S.14). Dieser Dritter Sektor wird von den Autoren des Berichts als „institutioneller Kern oder Infrastruktur der Zivilgesellschaft“ bezeichnet“ (ebd.S.14). Als Handlungslogik wird den Engagierten von den Autoren des Berichts im Einklang mit Gosewinkel und Rucht zugeschrieben, dass von ihnen „auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse eine reibungs- und konfliktarme Koordination von interessengeleiteten Individuen, Gruppen und Assoziationen gesucht werde. Sie beinhaltet den Respekt vor dem Recht der Existenz und freien Entfaltung anderer Personen und Gruppen – ein Recht, das nur dort seine Grenze findet, wo eigene Rechte bzw. kollektive Güter verletzt werden.“ (ebd.S.45/46). Die Akteure dieses Bereichs, heißt es weiter, „müssen sich immer wieder auf gemeinsame Problemsichten einigen und den Umfang und das Ausmaß staatlicher und nichtstaatlicher Regulierung aushandeln. Engagementpolitik bezeichnet sich demzufolge dadurch aus, das Individuen, Verbände, private Organisationen und Unternehmen, öffentliche Organisationen und staatliche Akteure gleichberechtigt oder hierarchisch in verschiedenen Akteurskonstellationen und Netzwerken zusammenarbeiten.“(ebd.S.15). Wer jedoch zuvor wie Gosewinkel/Rucht glatt, arglos und machtvergessen formuliert, dass in den Überlappungszonen die unterschiedlichen Handlungslogiken „gleichsam füreinander ‚übersetzt’ und dadurch kommunikativ anschlussfähig“ gemacht werden (ebd. S.54), aber die Essenz dieser Übersetzungsaufgabe nicht definiert, reagiert z.B. wie Priller/Zimmer mit Erstaunen über die subjektiven Einschätzungen von Führungskräften von Wohlfahrtsverbänden auf die Frage, welche Auswirkungen zunehmender Ökonomisierungsdruck auf die Identität ihrer Organisationen hat und zeigt sich betroffen über die Anpassungsleistungen von Führungspersonen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Wer sich nicht darüber klar ist, warum es zuvor eine große Nähe zur Handlungslogik des Staates gab, der wird auch kaum Begründungen dafür finden, warum jetzt die Nähe zur ökonomischen Handlungslogik „Geld“ gesucht wird. Es reicht eben nicht aus, in einem Spannungsverhältnis mit zwei vollständig gegensätzlichen Handlungslogiken für die Überlappungszone zwischen ihnen die kommunikative Anschlussfähigkeit lediglich zu postulieren oder als gegebene Tatsache hinzunehmen und nicht weiter nachzuhaken (Priller,Eckard/Zimmer, Anette, Dritte-Sektor-Organisationen zwischen „Markt“ und „Mission“, WZB-Jahrbuch 2003, S.105-127). Nicht nur im Überlappungsbereich existiert für sich selbst bestimmende Individuen bereits ein Nebeneinander von selbstgesetzlichem und eigennutzorientiertem Handeln. Das Problem vergrößert sich, wenn auf der Seite der zivilgesellschaftlichen Organisation ein Repräsentationsverhältnis zwischen Repräsentanten und repräsentierten Mitgliedern sowie Dritten vorliegt (in Wohlfahrtsverbänden üblich). Indem der Repräsentant für den Anderen handelt, handelt er zugleich für sich selbst. Der Anspruch, für die Anderen zu denken und zu handeln, ist gegen seine Perversion, nur noch für sich zu agieren und den repräsentierten Anderen fremde Zwecke zu unterschieben, nicht immun. Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbsterhaltung des Repräsentanten ausschließlich selbstgesetzlich gesteuert ist und immer nur als triebfreies „Bewusstseinsüberich“ fungiert. Es kann deshalb auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Repräsentant einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung zur Erleichterung seiner Führungsaufgabe bzw. aus Karrieregründen die Handlungslogik des subventionierenden Staates oder Unternehmens ganz übernimmt. 4. Zivilgesellschaftliches Engagement im Umfeld hegemonialer Formationen Die in der Begriffsbestimmung von Zivilgesellschaft zunächst als gegeben vorausgesetzte Definition von Gesellschaft ging unhinterfragt davon aus, dass in ihr die einzeln agierenden Individuen sowie die in Gruppen bzw. als gesellschaftliche Kräfte auftretenden Verbände untereinander nur unbedeutende Machthierarchien ausgeformt haben. Interdependenz zwischen annähernd gleichen Kräften wäre das durchgängige Prinzip ihres Zusammenlebens in einer solchen Gesellschaft. In der gegenwärtigen Welt muss sich jedoch zivilgesellschaftliches Engagement im Umfeld hegemonialer Formationen bewähren. Dies trifft sowohl für das Feld der Diskursivität zu, auf dem diskursive Formationen untereinander um Deutungshoheit streiten und Hegemonie über andere anstreben, wie auch für das gesamte gesellschaftliche Ensemble relativ stabiler sozialer und staatlicher Formen, in denen hegemoniale Formationen um den Ausbau und die Erhaltung des Terrains kämpfen, das ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geboten hat. Während Foucault die Ebene der Diskursivität noch unzulänglich mit dem von ihm geprägten Begriff des „Macht/Wissen“-Dispositivs“ lediglich aus der Perspektive des Individuums beschreibt, das sich dem bedrückenden „Macht/Wissen“-Dispositiv“ durch den „Körper und die Lüste“ nur zeitweilig zu entziehen vermag, bearbeitet Ernesto Laclau – im Anschluss an Jaques Derridas Theorie der Dekonstruktion – sowohl die Ebene der Diskursivität wie das gesellschaftliche Ensemble relativ stabiler sozialer Formen aus dem Blickwinkel der „Logik“ der Hegemonie. Ein hegemoniales Verhältnis ist für Laclau eine Beziehung, „in der ein partikulares Element die unmögliche Aufgabe einer universalen Repräsentation übernimmt,…“ bzw. die „Partikularität der Entscheidung die Funktion einer imaginären Schließung übernimmt – während sie aber nicht in der Lage ist, eine tatsächliche und endgültige Schließung herbeizuführen…“. (Laclau, Ernesto, Dekonstruktion, Pragmatismus, Hegemonie, in Mouffe, Chantal (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus – Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999. S.136; Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991). Zusammen mit den versetzten Lebenszeiten diskursiver Funktionen und flottierender Elemente erzeugen hegemoniale Formationen den formlosen Gegenhalt des strukturierten Ganzen einer Gesellschaft, dem ebenfalls immanent eine Vergänglichkeitsspur eingezeichnet ist. Dem Entstehens- und Vergehensprozess einer endlichen Struktur istdie Spur ihrer Vergänglichkeit immanent eingezeichnet, aber in der Pluralität der zu jedem Zeitpunkt möglichen Arrangements verborgen. Welche Abfolge aktueller Arrangements die Spur exakt trifft und die Lebenszeit der Struktur maximal erfüllt, entzieht sich der Erkennbarkeit. Anstelle weniger hegemonialer Formationen müsste den selbstbestimmten Individuen die Aufgabe zufallen, aus der Pluralität der möglichen Arrangements ein Angebot auszuwählen. Sie sähen sich zwar auch gezwungen, auf dem Hintergrund des begrenzten Angebots zu entscheiden, aber in der Einschätzung der Wahlmöglichkeiten könnten sie aus der Fülle der Arrangements schöpfen, die sich bereits in ihren erfahrungsgesättigten Horizonten als Maßstab niedergeschlagen haben. Je mehr selbstbestimmte Individuen in der Lage und bereit wären, sich an diesem Auswahlprozess kompetent zu beteiligen, desto breiter würde die Entscheidungsgrundlage und desto transparenter gestaltete sich der Entscheidungsprozess. Denn die hegemonialen Formationen, die diese Arrangements bisher fast ausschließlich vornehmen, entscheiden nicht auf der Grundlage idealer Unterordnungsverhältnisse, in denen die Untergeordneten ihre Selbstbestimmung im Dienen vollkommen erfüllt sehen. Fast immer steht in Hegemonien der hegemonisierenden Seite die Hegemonisierten antagonistisch – mit dem Resultat der Ausübung von struktureller Gewalt – gegenüber. Das Ausmaß an struktureller Gewalt nimmt in der gegenwärtigen Periode der Globalisierung zu. Nach dem Eindringen von transnationalen Unternehmen und global agierendem Finanzkapital in bisher stärker auf sich selbst bezogene Zirkulationssphären geht sie einher mit der Erschöpfung etablierter repräsentativer Demokratien und vor allem mit der Schwächung der Staaten. Zur Abwehr von Gefahren in zunehmend entgrenzten Zirkulationssphären müsste der Staat bereitwilliger als bisher mit der Zivilgesellschaft Kooperationsabkommen schließen. An der Antwort auf die Frage, ob und wieweit er dazu fähig ist, wird sich die Zukunft der repräsentativen Demokratie entscheiden. 4.1.Abkehr von der Vorstellung der staatlichen Administration als heilige Ordnung und Aufbrechen der Hierarchie für zivilgesellschaftliches Engagement Nachdem die Autoren des Bonner Grundgesetzkommentars in einem ersten Schritt den Art. 20 Abs. II Satz 1 (Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.) in der Weise interpretiert haben, dass die Staatsgewalt als höchste Gewalt statt vom realen Volk von einer „nicht-organisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ „ausgeht“, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll, und im zweiten Schritt erklären, dass die z.B. in Preußen nach Zensuswahlrecht gewählten Abgeordneten der Bildungs- und besitzenden Klasse zwar noch Herren über das reale Volk waren, verantwortlich nur diesem handlungsunfähigen, entindividualisierten „Volk als Ganzem“ und damit letztlich nur sich selbst verpflichtet, sprechen sie im dritten Schritt von einer inzwischen eingetretenen Neuverteilung der gesellschaftlichen Macht. Die nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählten Abgeordneten in der nun „egalitären Volksvertretung“ seien jetzt die Repräsentanten des Volkes. Dies behaupten sie, obwohl sich an der Ausgangsposition für die Herrschaft des Staates kein Deut geändert hat. Die Staatsgewalt geht weiterhin von dieser „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“, dieser „konkret geistigen Ganzheit“ der versammelten Individuen aus. Offensichtlich muss sie zunächst auf deren Seite existiert haben und dann in einem wie auch immer gearteten Übertragungsakt die Gewalt an den Staat übergeben worden sein. Sollte auf Seiten des Volkes überhaupt keine Ansammlung von Gewalt existiert haben, hätte auch keine Gewalt übertragen werden können. Wenn die Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. II ausschließlich von der „konkret geistigen Ganzheit“ des Volkes „ausgeht“ und die versammelten Individuen nur noch unter dem Gesichtspunkt der „politisch ideellen Einheit“ begriffen werden, vermindert sich der Status der darin real existierenden Individuen und die zu ihnen gehörige individuelle Macht verschwindet unter der sich über ihren Köpfen erhebenden „Totalität der Staatsbürger“. Wenn nur der Begriff „Totalität des Volkes“ und nicht die konkret versammelten Individuen zum Ausgangspunkt der Staatsgewalt erklärt werden, mutieren die eigentlichen „Träger der Macht“ zu fleisch- und blutentleerten Elementen dieser Totalität. In den Begriffen „politisch ideelle Einheit“ und „konkret geistige Ganzheit“ rangiert das reale Volk nur noch als begriffliche Schimäre. Sie als Quelle der Staatsgewalt zu bezeichnen bedeutet, dass der konkreten Gewalt des Staates ein abstrakter Volksbegriff als Ausgangspunkt seiner Macht gegenübergestellt wird. Indem der Staat sich nur auf dieses Abstraktum „Volk“ bezieht und diesen handlungsunfähigen „Träger der Macht“ zu seinem Referenzobjekt erklärt, ist erkennbar, dass er sich nur auf sich selbst bezieht, nur sich selbst gegenüber verantwortlich zeichnet. Der Staat lässt sich vom beherrschten Volk durch Wahlen legitimieren. Das zur Abgabe seiner Stimme aufgerufene Wahlvolk kann nur die gerade im Amt befindlichen Repräsentanten bestätigen oder abwählen, nicht jedoch das sie zu Beherrschten degradierende Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnis aufkündigen. Ein solcher Versuch würde von den Herrschenden als grundgesetzwidrig betrachtet und wäre Anlass genug, den übergesetzlichen Notstand auszurufen. Mit Fraenkel betonen die Kommentatoren des Bonner Grundgesetzes, dass Demokratie „egalitär kontrollierte und legitimierte Repräsentation“ sei und dekretieren: „Die Demokratie kann und will die Differenzierung des Staatsverbandes in Herrschende und Beherrschte nicht aufheben, sondern die Herrschenden in Form des im Rahmen der egalitären (auf Gleichheit und Mehrheitsentscheidungen beruhenden) Repräsentation wirksamen Legitimierungs- und Kontrollmechanismus in Abhängigkeit bringen.“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, Art. 20 Abs. II Satz 1 GG, S.25). „Ein Rechtsverhältnis der Repräsentation zwischen dem Volk und dem Parlament besteht also nicht, weil das Volk nur im Staat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichten zukommen könnten;…“ (ebd.S.26). “Diese Auffassung” postulieren die Kommentatoren des Grundgesetzes, „… ist nicht eine Missachtung der politischen Tatsachen (…), sondern eine Folge der Unterscheidung zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.S.26). Aus den „ideologischen Vorstellungen über den eigentlichen ‚Träger’ der Staatsgewalt ein Rechtsverhältnis zwischen Volk und Parlament zu konstruieren“, wäre ihrer Ansicht nach „abzulehnen“. Mit anderen Worten: Der eigentliche „Träger“ der Staatsgewalt waren immer die Herrschenden, wie man sie auch im Einzelnen benennt. Diese ideologische Idee verwerfen die Grundgesetzkommentatoren nicht. Diese Idee müsste jedoch zugunsten des selbstbestimmten Individuums entweder ganz aufgegeben oder wenigstens eingegrenzt werden. Heutzutage ist der Staat maßlosen „Gemeinwohlbelangen“ starker gesellschaftlicher Kräfte ausgesetzt. Ohne hilfreiche Kooperationspartner ist er der Untergrabung seiner vom „Volk als Ganzes“ abgeleiteten Legitimation zur Erhaltung der Gesellschaft chancenlos ausgeliefert, was insbesondere am devoten Verhalten der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) zu erkennen war. Die Zivilgesellschaft könnte er als Kooperationspartner gewinnen, sofern er bereit wäre, die seiner Hierarchie eigene starre Legitimationskette aufzubrechen und als zusätzliche Legitimationsquelle das sich selbst bestimmende Individuum anzuerkennen. 4.2. Der Weg der SPD vom Aufschrei als Oppositionspartei über den hinhaltenden Widerstand als Regierungspartei bis hin zum teilweisen Einverständnis mit den Forderungen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) Im Oktober 2000 gründete der Arbeitgeberverband Gesamtmetall die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), nachdem bereits 1998 der Chef der Deutschen Bank, Breuer, und der ehemalige Bundesbankdirektor Tietmeier der neuen sozialdemokratisch geführten Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer verdeutlicht hatten, dass sie in Zukunft die Herrschaft des Finanzkapitals zu akzeptieren hätten. Bald nach der Regierungsübernahme zeichnete sich die Abkehr von der zunächst zivilgesellschaftlich orientierten Politik ab und aus der Gegenstrategie der Vergangenheit zum Neoliberalismus wurde hinhaltender Widerstand gegenüber der von der INSM nachdrücklich geforderten Anpassung an die Vorgaben aus den USA. Nach dem Rezept, „Schlimmeres verhüten zu wollen“, reduzierte man den zivilgesellschaftlichen Diskurs auf die Forderung nach „mehr Eigenverantwortung für das Individuum“ und kam damit bereits dem Forderungskatalog der INSM entgegen: „Die Notwendigkeit von Reformen in die Köpfe der Bürger zu bringen, sie darüber zu informieren, was aus unserer Sicht notwendig ist.“ (Dr. Hans Werner Busch, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, in einem Interview vom 24. Mai 2004, in www.boeckler.de/pdf/p_arbp_096.pdf). Die INSM-Forderungen lauteten im Einzelnen:
In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Einzelleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ In dieser Erklärung stand schon das wegen geringerer Steuereinnahmen notwendig gewordene Einsparargument im Vordergrund, während in der vergangenen Legislaturperiode noch der Appell an das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger und der Übergang vom Versorgungsstaat zum aktivierenden Staat dominierte. Der Regierungserklärung der rot-grünen Regierung zu Beginn ihrer zweiten Amtsperiode waren in der ersten Amtsperiode vergebliche Versuche vorangegangen, den Forderungen der INSM nach drastischer Senkung der unternehmensrelevanten Steuern entgegen zu kommen und auf diese Weise die Binnenkonjunktur wieder anzukurbeln. Nachdem sich abzeichnete, dass diese Maßnahmen zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts nicht greifen würden und als Folgen der drastisch reduzierten Steuereinnahmen der Sozialstaat unfinanzierbar geworden war, berief die Regierung im November 2002 die Rürup-Kommission zur nachhaltigen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Die Kommission schlug folgenden Maßnahmenkatalog zur Altersvorsorge vor:
Unter dem Obertitel Hartz I wurden die Vorschläge der Hartz-Kommission zur Neuregelung des Arbeitsmarktes in die Praxis ab Januar 2003 umgesetzt: Einrichtung von Personal-Service-Agenturen (PSA), Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen und die Einführung der Verpflichtung, sich bei Erhalt der Kündigung unverzüglich arbeitslos zu melden. Hartz II führte die Ich-AG ein und brachte die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung (Mini-Jobs). Hartz III regelte die Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit und mit Hartz IV wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Die Gesundheitsministerin von der Partei der Grünen hatte in der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung (1998-2002) noch die Kosten des Gesundheitswesens mit einer Positivliste für Medikamente drastisch zu Lasten der Pharmaindustrie senken wollen, aber scheiterte und trat von ihrem Amt zurück. Die gleiche Regierung legte am 20. November 2002 kurz nach ihrer Wiederwahl eine neue Liste vor, der zu Folge Krankenkassen nur noch Arzneimittel bezahlen sollten, die ein unabhängiges Fachgremium auf eine Liste gesetzt hatte. Der Bundesrat, in dem die von der Opposition aus CDU/CSU und FDP regierten Länder die Mehrheit hatten, lehnte die Positivliste im Mai 2003 ab. Die INSM hatte den Einbau von Markt- und Wettbewerbselementen in die Altersvorsorge gefordert. Ein kapitalgedecktes System der privaten Versicherer, bei dem jeder für sich spart, sei der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung nicht nur überlegen, sondern zugleich auch demographieresistenter; was sich nach der Finanzkrise als völlig illusorisch erwiesen hat. Die durchschnittliche Rentenhöhe müsse abgesenkt und die Rentenanpassungsformel an die Lohnentwicklung revidiert werden. Da absehbar sei, dass niedrigere Geburtenraten und steigende Lebenserwartung zur Austrocknung des bisherigen Finanzierungssystems führe, sei die Altersgrenze für die Verrentung von 65 auf 67 Jahre anzuheben. Meinhard Miegel, der INSM sehr nahestehend, sah darin zugleich ein Instrument der Regierung, den Erwerbstätigen Druck machen zu können; denn je höher die offizielle Altergrenze festgelegt werde, desto stärker fiele tatsächliches Renteneintrittsalter und gesetzlich festgelegte Altergrenze auseinander und umso mehr Abschläge müssten früher aus dem Erwerbslebens Ausscheidende hinnehmen. (Tagesspiegel, 22.8.2005). Im Geiste der INSM und in tiefer Sorge über den ihrer Ansicht nach „erschreckenden Mangel an ökonomischem Sachverstand“ in der Bewältigung der „drastische und schmerzhafte Reformen“ verlangenden „strukturellen Krise“, publizierten 240 Wirtschaftsprofessoren kurz vor der vorzeitigen Bundestagswahl 2005 den „Hamburger Appell“. Sie wandten sich gegen die kaufkraftorientierte hegemoniale Formation und bezeichneten es als „falsch und gefährlich“, eine Wachstumsschwäche durch Anhebung der Binnennachfrage zu überwinden. Statt dessen plädierten sie für „äußerste Lohnzurückhaltung“, um die Arbeitskosten zu senken. Mehr Arbeitsplätze gäbe es nur bei „niedrigerer Entlohnung der ohnehin schon Geringverdienenden“. Die notwendige Konsolidierung der Staatsfinanzen erfordere „weitreichende Einschnitte“ bei allen Ausgaben, einschließlich derjenigen für soziale Sicherungssysteme (http://www1.uni-hamburg.de/IWK/appell.htm). Ihr Appell, das Lohnniveau letztlich mit demjenigen Chinas oder Indiens kompatibel zu machen, hatte die Rückführung der sozialen Sicherungssysteme und der aller übrigen Staatsausgaben auf das rudimentäre Niveau dieser beiden Staaten zur logischen Folge und forderte die rot-grüne Regierung und ihre Nachfolger auf, die mit der „Steuerreform“ vom Jahre 2001 begonnene Senkung der Staatsfinanzen fortzusetzen. Nachdem bereits zuvor die konservativ-liberale Regierung unter Bundeskanzler Kohl mit ihrer Wiedervereinigungspolitik die Axt an eine solide Haushaltspolitik des Staats gelegt hatte, setzten SPD und Grüne mit der Einführung von Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne und den Maßnahmen zur Kapitalmarktliberalisierung im Jahre 2001 den Niedergang der Staatsfinanzen fort, zusätzlich von der Opposition aus CDU und FDP beschleunigt, die Eichels „Steuervergünstigungsabbaugesetz“ mit ihrer Mehrheit im Bundesrat ablehnte (Herz, Wilfried, „Wenn der Rotstift regiert“, in: Die Zeit, 8.5. 2003). Nach traditioneller Art unternahm die Schröder/Fischer-Regierung zunächst den Versuch, die „Pferde zum Saufen zu tragen“ bzw. die lahmende Konjunktur sowohl von der Seite der Nachfrage wie des Angebots durch Einkommensteuersenkungen und Reduzierung der Unternehmenssteuern wieder auf Trab zu bringen. Höhere Wachstumsraten der Volkswirtschaft würden, so kalkulierte sie, quasi automatisch zu einem steigenden Angebot von Arbeitsplätzen führen und die alarmierend hohe Arbeitslosenzahl auf ein Maß zurückführen. Die Opposition überbot jedes Mal die von der Regierung getroffene Steuersenkung und entfachte geradezu fieberhaft ein Feuerwerk mit weiteren Steuersenkungsplänen, angefangen beim Märzschen Bierdeckel, dessen Platz angeblich ausreichte für die Niederschrift des gesamten Steuersystems, bis hin zum radikalen Vorschlag von Paul Kirchhof, der die Verarmung des Staates und den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zum Ziel hatte. Angesichts der Informationsoffensive der zunehmend hegemonial auftretenden INSM verfehlten Informationen über den Unterschied von nominalen und realen Steuersatz bei den Unternehmenssteuern jegliche Wirkung. Zwar lag der nominale Steuersatz vor 2001 bei 38,7 Prozent, aber laut Lorenz Jarras zahlten die deutschen Kapitalgesellschaften effektiv nur einen Steuersatz von 20 Prozent, der nach der veränderten Steuergesetzgebung von 2001 sogar auf 10 Prozent sank und damit den Steuersatz der meisten Konkurrenten auf dem Weltmarkt unterbot (Herz, Wilfried, „Fiasko für den Fiskus“, in: Die Zeit, 17.2.2005) (Müller, Mario, „Das ist Bush-Philosophie“ – Interview mit Lorenz Jarras, in: Frankfurter Rundschau, 27.1.2005). Die rot-grüne Regierung sah sich dem zunehmend konjunkturschädigenden und klimaverschlechternden Einfluss der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ausgesetzt, die als eigentliche Ursachen für die Verlagerung von Produktionsbereichen ins kostengünstigere Ausland fälschlicherweise die im internationalen Vergleich nominal hohen Steuersätze in der Unternehmensbesteuerung sowie die angeblich wettbewerbsschädlich hohen Lohnnebenkosten herausstellte. Als Folge der weiter anhaltenden Kaufzurückhaltung aufgrund steigender Ängste vieler Arbeitnehmer vor Entlassung, dem kaufkraftsenkenden Ausbau des Niedriglohnsektors, der entmutigend niedrigen Lohnabschlüsse durch die inzwischen geschwächten Gewerkschaften, der einnahmebedingt erzwungenen Investitionskürzungen der Kommunen, Länder und beim Bund selbst sowie der stark reduzierten Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen auf Seiten der Unternehmen verpufften ihre konjunkturbelebenden Maßnahmen fast vollständig. Wie weitgehend die rot-grüne Bundesregierung Bereitschaft zeigte, den hinter der INSM versammelten heterogenen gesellschaftlichen Kräften entgegen zu kommen, um im Gegenzug das von der INSM geschaffene Negativbild einzugrenzen, lässt sich an der vollen steuerlichen Geltendmachung von Kosten für Auslandsinvestitionen und der sehr niedrigen Versteuerung von Auslandserträgen mit 2 Prozent ablesen. Dieses dauerhafte Steuersparmodell, das dem Fiskus jedes Jahr Milliarden kostete, sollte ganz offensichtlich der Stärkung der Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen in den mittelosteuropäischen und asiatischen Ländern dienen und war letztlich nur zu rechtfertigen, wenn dem Verlust an Arbeitsplätzen durch die staatlich subventionierte Produktionsverlagerung in der erstarkenden deutschen Exportindustrie mittelfristig ein höheres inländisches Arbeitsplatzangebot auf der Basis der im Ausland kostengünstig produzierten Vorprodukte quasi automatisch folgte (Müller, Mario; „Im Steuerdschungel“, Frankfurter Rundschau, 22.1.2005). 4.3. Der begrenzte Lebenszyklus hegemonialer Formationen Der Lebenszyklus hegemonialer Formationen unterliegt dem ihnen ureigenen Entstehens- und Vergehensprozessen. Ihnen ist als endliche Struktur die Spur der Vergänglichkeit eingezeichnet. Aus der Sicht der Initiatoren hat die hegemoniale Formation dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn es ihrer hegemonialen Praxis gelungen ist, die auf dem Felde der Diskursivität formulierten Ziele, Strategien und Taktiken optimal umzusetzen. Aber für die Akteure ist weder die Diskrepanz zwischen der Fülle der möglichen Alternativen und der begrenzten Anzahl der von ihnen erkannten, noch die mögliche Vielzahl von Arrangements, die das strukturierte Ganze anbietet und der Nähe der von ihnen ausgewählten zur unentdeckbar in die endliche Struktur eingezeichneten Spur der Vergänglichkeit ersichtlich. Selbst die fürstlichste finanzielle und intellektuelle Ausstattung vermag diesen Mangel nicht auszuschalten. Die Vehemenz, mit der Befürworter der INSM auf der einen Seite und der Kaufkrafttheorie auf der anderen Seite immer wieder aufeinander prallten, zeugt von einer tiefgreifenden Differenz in der Ausgestaltung der Gesellschaftsstruktur und der Positionierung des Individuums in ihr. Oberflächlich betrachtet stritten die Vertreter der Freiheit des Marktes gegen die Befürworter von staatlichem Dirigismus, Neoklassiker gegen Keynesianer, Verteidiger der Freiheit des Individuums gegen Behüter des Individuums, Propagandisten der Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung durch das Individuum gegen Beschützer der Nichtprivilegierten, Leistungsträger gegen Leistungsempfänger, Globalisierungsbefürworter gegen Globalisierungsgegner. Im Kern stritt man sich jedoch um die Fragen:
Bestätigt wurde in der gesamten Auseinandersetzung die dienende Funktion der Wissenschaft. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich die gesamte sogenannte volkswirtschaftliche „Kompetenz“ von der INSM einfangen lassen und selbst die Vertreter der Kaufkrafttheorie waren nicht in der Lage, über ihre Gegnerschaft zur INSM hinaus weiter gestreckte Ziele der INSM zu erkennen und wirksam zu bekämpfen. 4.4. Die Gefährdung des Gemeinwohls Bezieht der Staat sich in der Gemeinwohlbestimmung ausschließlich auf seinen erfahrungsgesättigten Horizont, oktroyiert er der Gesellschaft seine Gemeinwohlvorstellung. Um in den Kreis der staatlich anerkannten Gemeinwohlansprüche zu gelangen, führt der Weg entweder über die Anpassung an die zuvor aufgestellten Prämissen oder über die Einflussnahme auf die Bestimmungsgründe für die Prämissen. Der Verfassungsstaat verzichtet sowohl in der Aufstellung von Prämissen wie in der Bewertung der unterschiedlichen Gemeinwohlansprüche nicht auf seine letztendliche Entscheidung. Im Verfassungsstaat unterliegt der gesamte Prozess der Entscheidungsfindung der öffentlichen Überprüfung anhand allgemein anerkannter Plausibilitätskriterien. Der kooperative Staat entspricht der in der gesamtgesellschaftlichen Mächtehierarchie herabgestuften Position des heutigen Staates. Ein Staat, der Gemeinwohlpolitik durch Einbeziehung organisierter Interessen betreibt und durch ausgehandelte Vereinbarungen und Verträge implementiert, bestellt zwar „Hüter, Wächter und Anwälte des Gemeinwohls“, von denen die Einhaltung der Vereinbarungen und Verträge kontrolliert wird, aber die aus der Machtdifferenz zwischen den organisierten Interessen erwachsenen Einflussunterschiede können sie nicht beseitigen. Sie müssen akzeptieren, dass die einen aufgrund ihres geringen gesellschaftlichen Stellenwerts vergebens auf Anhörung pochen, während die anderen lautlos, aber wirkungsvoll, Lobbyarbeit für und in den Ministerien sowie bei den Parlamentariern, aber auch in den Medien sowie in den politikberatenden wissenschaftlichen Instituten betreiben. Wenn staatliche Organe von Vertretern des organisierten Interesses durchsetzt sind, kann der von außen ausgehende Druck durch einen von innen ausgeübten verstärkt werden. Widerstand der gesetzgebenden und administrativen Staatsorgane gegen einen derartigen Zangengriff ist nahezu zwecklos. In der Regel werden die mächtigsten organisierten Gruppeninteressen sowohl intern wie von außen angreifend die einflussreichsten sein, woraus folgt, dass der kooperative Staat in der Sortierung von und Festlegung auf dominierende Gemeinwohlbelange gegenüber den organisierten Interessen nicht neutral ist. Geblieben ist ihm das Privileg, dem aus dem Ringen von kontrastierenden gesellschaftlichen Kräften hervorgegangenen spezifischen Gemeinwohlbelange mittels demokratisch legitimierter Entscheidungen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Geltung und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Im aktivierenden Staat, in dem staatliche Aktivitäten der Funktionsfähigkeit einer vernetzten, selbstorganisierten Gesellschaft dienen und Gemeinwohlverantwortung als Aufgabe der organisierten Interessen angesehen wird, verzichtet der Staat auf jede eigene Steuerungskompetenz und unterstellt allen autonom handelnden gesellschaftlichen Kräften ein starkes Streben nach Selbstverwirklichung. Er vertraut darauf, dass entstandene Marktungleichgewichte, durch die die optimale Funktionsfähigkeit der Gesellschaft vorübergehend beeinträchtigt wird, von den selbstreferentiell organisierten Gegenkräften in überschaubarer Zeit ausgeglichen werden kann. Für den Fall, dass eine optimale Markt- und Funktionsgerechtigkeit nicht umgehend wiederherzustellen ist, greift er „aktivierend“ den beeinträchtigten gesellschaftlichen Kräften unter die Arme, fördert ihre Eigeninitiative durch finanzielle und institutionell bereitgestellte Anreize und fordert ebenso von ihnen die Bereitschaft, sich selbst aktiv in den Anpassungsprozess einzubringen. Setzt sich in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung die Deutungshoheit der Erfolgreichen durch und gewinnen deren Theorien die Diskurshoheit, fällt es dem aktivierenden Staat zunehmend schwer, nicht zum Steigbügelhalter der mächtigsten unter den organisierten Interessen zu werden. Der lediglich aktivierende Staat läuft in der Tat Gefahr, seine Verpflichtung zu sozialstaatlichem Handeln verkümmern zu lassen und sich aus der umfassenden Verantwortung zu verabschieden, in die ein Staat, der seine Macht aus einem fiktiven Gesellschaftsvertrag ableitet, eingebunden ist und bleibt. Je mehr sich der lediglich aktivierende Staat in der Artikulation und Selektion von Gemeinwohlbelangen zurückhält, desto stärker trumpfen mächtige, durchaus netzartig verknüpfte organisierte Interessen auf. Wird durch ihre gesellschaftliche Praxis sogar der soziale Frieden gefährdet und gewalttätige Demonstrationen, Streiks und Terror breiten sich aus, erschallt unweigerlich der Ruf nach mehr polizeistaatlichen Reaktionen. Der Staat sieht sich dann gezwungen, im Sicherheitsbereich aufzurüsten und sich zunehmend im obrigkeitsstaatlichen Sinne zu äußern. Vor diesem Hintergrund ist eine Zuschreibung der Gemeinwohlverantwortung auf die machtpolitisch sehr viel geringer organisierte Zivilgesellschaft nicht nachvollziehbar. Sie entspricht nicht der tatsächlich vorfindbaren Machtverteilung. Wenn der Zivilgesellschaft die Verantwortung für das Gemeinwohl zugeteilt wird, muss zuvor das Machtpotential der Zivilgesellschaft ausgelotet und der Einfluss der ihr zugeschriebenen Handlungslogik auf die andersartigen Handlungslogiken von Ökonomie und Staat aufgewiesen werden. Der auf die Herstellung von Öffentlichkeit rekurrierende Habermassche „zivilgesellschaftliche Belagerungszustand“ wird nur dann von organisierten Interessen ernst genommen, wenn von ihm Konsequenzen für die Belagerten zu befürchten sind. Wie mächtig muss die Zivilgesellschaft sein, damit sie Verantwortung übernehmen kann? 4.5. Kooperationsmöglichkeiten zwischen Staat und Zivilgesellschaft 4.5.1. Die Schwächung des Staates durch hegemoniale Formationen Die Erhaltung des strukturierten Ganzen kann in Normalzeiten nicht das Anliegen der Praxis hegemonialer Formationen (z.B. des Finanzkapitals) sein, sondern im Vordergrund steht bei ihnen
Hegemoniale Formationen propagieren bevorzugt diskursive Formationen, die dem Staat das Recht des Eingreifens zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts gänzlich absprechen. Gleichzeitig unterlaufen sie die in etablierten Demokratien a priori festgelegten Verfahren durch massive Lobbyarbeit. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit erwecken sie wider besseren Wissens den Eindruck, dass der formlose Gegenhalt nicht auf ihren zeitlich versetzten endlichen Strukturen basiert, sondern behaupten, dass ihm eine sich selbst steuernde unendliche Struktur (Markt) eigentümlich sei, die des korrigierenden staatlichen Eingriffs zur Erhaltung des Gemeinwohls nur gelegentlich bedürfe. Die Struktur hegemonialer Formationen ist äußerst selten mit derjenigen idealer Unterordnungsverhältnisse zu vergleichen, deren Aufrechterhaltung keinerlei Kosten verursacht. Die gesellschaftliche Realität wird sehr viel häufiger von unausgeglichenen Unterordnungsverhältnissen bestimmt. Sie sind nicht mehr kostenfrei. Je größer der Unmut der Hegemonisierten gegenüber den Anmaßungen der Hegemonisierenden ausfällt, desto stärkere Besänftigungsmaßnahmen müssen schließlich eingesetzt werden, um das Verhältnis funktionsfähig zu erhalten. Unausgeglichene Unterordnungsverhältnisse unterliegen außerdem stets der Gefahr, von der Unterordnung zur Unterdrückung der Hegemonisierten überzuwechseln und ein Unterdrückungsverhältnis zu begründen. Wenn Unterordnungsverhältnisse zu Orten von Antagonismen transformiert werden, ist entweder für die unterdrückende Seite die Möglichkeit vorhanden, mit einer – das bestehende Unterdrückungsverhältnis – rechtfertigenden diskursiven Formation zu antworten (und gleichzeitig den Grund der Unzufriedenheit unter den Unterdrückten abzumildern) oder diskursive Formationen zu fördern, die ausschließlich der Konservierung der Unterdrückung dienen und darauf abzielen, den demokratischen Diskurs vorübergehend oder ganz zu unterbrechen und dieses Verhalten auch institutionell abzusichern. Beides erfordert einen erheblichen finanziellen, organisatorischen sowie vor allem intellektuellen Aufwand und hat zur Folge, dass die stets knappen Ressourcen bereits für diesen Zweck verbraucht werden und nicht mehr zur Förderung anderer produktiver Leistungen zur Verfügung stehen. Aber genau so wenig wie in der Praxis von Unterdrückungsverhältnissen der Antagonismus zwischen der unterdrückenden und der unterdrückten Seite für ewige Zeiten Bestand hat und die Beteiligten beider Seiten dauerhaft an ihn gebunden sind, ist auch die Grenze zwischen dem hegemonisierenden und hegemonisierten Bereich einer hegemonialen Formation nicht auf immer festgeschrieben, sondern unterliegt einem ständigen Prozess der Verschiebung einzelner Formationen von der einen zur anderen Seite, so dass sie zwar existent, aber dennoch zeitlich und räumlich nicht exakt fixierbar ist. Den Maßstab zur Auslotung des ihnen verfügbaren Flexibilitätsspielraums, mit dessen Hilfe hegemoniale Formationen herausfinden, ob sie den ihnen verfügbaren Spielraum überdehnen oder unzulänglich nutzen, entnehmen sie jedoch nicht primär dem auf die Gesamtgesellschaft abzielenden Gemeinwohl, sondern vorrangig der Analyse des Vergleichs ihrer eigenen Situation mit derjenigen konkurrierender hegemonialer Formationen. Aus dieser wechselseitigen Beobachtung und Anpassung ihrer Konkurrenzsituation ergeben sich jedoch Folgen für die Ausgestaltung des Gemeinwohls. Empfinden beispielsweise Hegemonisierte die ihnen abgeforderte Unterordnung nicht mehr als notwendig, sondern als ungerechtfertigten Zwang und rebellieren dagegen, kann es zu Abwanderungen, Unruhen, Streiks und Aufständen kommen, in deren Verlauf nicht nur das Binnenverhältnis der unmittelbar betroffenen hegemonialen Formation berührt ist, sondern auch dasjenige der übrigen Formationen. Die Gesamtgesellschaft ist eine auf sich selbst und auf andere bezogene komplex strukturierte Zirkulationssphäre. Das Gemeinwohl dieser Gesellschaft ist auf die Zirkulation aller Teile dieses Ganzen in der Erwartung gerichtet, dass sie dem Gerechtigkeitsempfinden der Majorität der Gesellschaftsmitglieder entspricht. Die um Anerkennung als geltendes Gemeinwohl konkurrierenden verschiedenartigen Gemeinwohlansprüche sind außer in einer die Gesamtgesellschaft destabilisierenden Krise nicht gewillt, die ureignen Aufgaben des Staates für längere Zeit zu übernehmen bzw. ganz an die Stelle des Staates zu treten. Die Stellvertreterposition würde ihnen – nach ihren eigenen Worten – „Selbstlosigkeit“ im Handeln abverlangen, was sie strikt ablehnen. Eine solche Übernahme ist außerdem immer mit Kosten verbunden, die im Vorhinein nur unzulänglich kalkulierbar sind. Am Ende einer eventuell erforderlich werdenden Niederhaltung von Unruhen, Eindämmung chaotischer Entwicklungen und Zerschlagung von Aufständen stünde ihnen möglicherweise sogar die eigene Vernichtung bevor. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass hegemoniale Formationen zwar an einem schwachen Staat interessiert sind, aber die Erhaltung des formlosen Gegenhalts bürden sie ihm dennoch im wohlverstandenen eigenen Interesse allein auf. Daraus folgt, dass der Staat gegen seine Schwächung durch hegemoniale Formationen ankämpfen muss, um für den Fall der Gefährdung des formlosen Gegenhalts stets gerüstet zu sein. 4.5.2. Freiwilliger oder erzwungener Verzicht des Staates auf die Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft Umbruchzeiten sind ein mahnendes Zeichen dafür, dass auch der Gesellschaft immanent eine Vergänglichkeitsspur eingezeichnet ist. Um nicht fahrlässig oder gar völlig unvorbereitet in unkalkulierbare Umbrüche zu geraten und sich schicksalhaft den Ereignissen ausliefern zu müssen, wird dem Staat das Recht auf Eingriffe zugestanden und seine umfassende Schlichtertätigkeit anerkannt. Auf der Skala staatlicher Eingriffe zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts stehen neben der Schlichtertätigkeit
Ein bereits schwach gewordener Staat erhält keine Gelegenheit mehr, die Sphäre der Diskursivität offen zu halten. Ein solcher Staat muss z.B. private Hochschulen und Forschungsinstitute, die von dominanten hegemonialen Formationen finanziert werden, dulden und zusätzlich mit Geld aus Steuereinnahmen subventionieren, ohne als Gegenleistung Einfluss auf die Einhaltung der Pluralität zu erhalten. Ein schwacher Staat hat keine Instrumente mehr in der Hand, den Theorien der Erfolgreichen, so einseitig sie auch sein mögen, die Diskurshoheit zu entwinden und diskursive Formationen gegen sie zu fördern. Ihm fehlen schlichtweg die Mittel, das dazu notwendige Wissenschaftspersonal anzuwerben und finanziell sowie organisatorisch und institutionell auszustatten. Ein schwach gewordener Staat ist auch chancenlos geworden in der Aufdeckung von Interessengemeinschaften zwischen Vertretern der auf Diskurs- und Deutungshoheit bedachten Theorieproduzenten und Redakteuren wissenschaftlich anerkannter und angesehener Journale. Wenn letztere sich im Eigentum von hegemonialen Formationen befinden und die Eigentümer dafür sorgen, dass ihre Journale ein hohes Renommee unter publizierenden Wissenschaftlern erringen, greifen sie auch auf den Übergangsbereich zwischen der Ebene der Diskursivität und der Öffentlichkeit zu. Dem schwachen Staat gelingt es auch immer weniger, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit zu erhalten und in letzterer den Machtanspruch hegemonialer Formationen zurückzuweisen. Seine eigene Veröffentlichungspraxis tritt schließlich in den Dienst der hegemonialen Formationen, unterscheidet sich immer weniger von jenen und verstärkt schließlich deren Herrschaft über den öffentlichen Raum. Untersagen hegemoniale Formationen dem Staat nicht nur das Eingreifen in ihre Binnenverhältnisse, sondern hindern ihn auch an der Ausübung seiner übrigen Aktivitäten zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts, gerät die Gesellschaft auf die abschüssige Bahn der Desintegration, gekennzeichnet
4.6. Staat und Zivilgesellschaft Wenn der formlose Gegenhalt in der aus einer Vielzahl von endlichen Strukturen bestehenden Gesellschaft optimieren werden soll, können Gemeinwohlbelange starker hegemonialer Formationen nicht so behandelt werden, als ob es Pflicht des Staates sei, sie kritiklos umzusetzen. Nach der Umsetzung jener Gemeinwohlbelange von den eigenen Fehlentscheidungen abzulenken, indem die eigene fehlerhafte Politik als „Versagen“ der Zivilgesellschaft deklariert wird, die sich nicht rechtzeitig und genügend stark als Kontrollfaktor betätigt hätte, ist unredlich und überschätzt außerdem die Durchschlagskraft des von Habermas der Zivilgesellschaft zugedachten Belagerungszustandes bei weitem. Sinnvoller und weiterführender wäre die Suche nach einer in geordneten Bahnen verlaufenden Kooperation von Staat und Zivilgesellschaft. Noch viel dringlicher für die Kooperation mit der Zivilgesellschaft wäre jedoch die Beseitigung hierarchisch bedingter Beschränkungen staatlicher Verwaltung. In ihrem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau „Ein Stück Staatsgewalt zurückholen“ vom 15. 12. 2010 fragte Christine Hohmann-Dennhardt, Richterin am Bundesverfassungsgericht, anlässlich der Proteste gegen das Projekt Stuttgart 21, wie viel direkte Demokratie es denn sein dürfe? Ihre überraschende Antwort lautete: so viel Demokratie, wie die Bürger nachfragen! Die Reputation des Parlaments könne durchaus Abbruch erleiden, wenn parlamentarische Entscheidungen per Volksabstimmung zunichte gemacht werden, aber auch umgekehrt gelte, dass das Beharren auf politischen Entscheidungen, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, für die Demokratie schädlich sei. Sie gelangte zu dieser Auffassung, weil offenbar ihre Interpretation des Artikels 20 Absatz II Satz 1 des Grundgesetzes (Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus) nicht mehr mit der bisher vorherrschenden Auffassung der Grundgesetzkommentatoren vollkommen übereinstimmt. Danach besteht zwischen dem Volk und dem Parlament kein Rechtsverhältnis der Repräsentation, „weil das Volk nur im Staat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichtenzukommen könnten;…“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, S. 26). Gemäß dieser Auslegung muss „zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.) unterschieden werden. Hingegen schrieb Christine Hohmann-Dennhardt: „Mehrheitlich will also das Volk die Gewalt, die von ihm ausgeht, öfter zu sich zurückkehren lassen und sie selbst ausüben“. Das Volk wolle „mehr Demokratie in direkter Form wagen“. Indem Hohmann-Dennhardt postuliert, dass prinzipiell so viel Demokratie gewährt werden soll, wie die Bürger nachfragen, öffnet sie implizit das gesamte Feld bis hin zur Infragestellung des Repräsentationsverhältnisses und sogar darüber hinaus bis in den Raum totaler Verneinung von Herrschaft. Gemäß Hermann Hills Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“ bedarf die Legitimation amtliches Handelns mit Entscheidungscharakter der Rückführung auf das Gesamtvolk und muss laut Art. 20 Abs. 2 GG parlamentsvermittelt sein. Die staatliche Hierarchie ist als überkommene „heilige Ordnung“ bisher unantastbar. Als auf sich selbst bezogene und in Exekutive, Legislative und Judikative gegliederte Herrschaft duldet sie das reale Volk weder über noch neben sich. Laut Hill wird „Bürgerbeteiligung … daher traditionell aus rechtlicher Sicht nur im Vorfeld staatlicher Entscheidung akzeptiert.“ (Hill, Hermann, Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“, in König, Klaus/Kropp, Sabine (Hrsg.), Theoretische Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Verwaltung – Speyerische Forschungsberichte 263, 2009. S.203). Hill verweist jedoch auf neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen eine „vorsichtige Öffnung dieses Dogmas“ zu erkennen sei. So werde etwa für die Legitimation einer Entscheidung „nicht mehr allein auf eine ununterbrochene Legitimationskette über das Parlament zum Volk abgestellt“, „vielmehr“ sei „das Legitimationsniveau als Gesamtheit und das Zusammenwirken unterschiedlicher Legitimationsquellen, die je nach Sachbereich verschieden zusammengesetzt sein können, entscheidend“.(ebd.). „Eine weitere Öffnung des demokratischen Prinzips nach Art. 20 Abs. 2 GG in Hinblick auf Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt in bestimmten Bereichen“ werde „durch den Hinweis auf die Idee des sich selbstbestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung (Art. 1 Abs. 1 GG) erzielt.“ (ebd.). Dieser Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Art 1 Abs. 1 GG fordert vom Staat aber nur, es als seine Verpflichtung anzusehen, die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“. Seine Herrschaftsfunktion wird durch diese Verpflichtung nicht in Frage gestellt. Den sich selbstbestimmenden Menschen jedoch als Legitimationsquelle einzubeziehen, hieße entweder, den bisher abstrakten Volksbegriff aufzugeben und die Vielzahl sich selbst-bestimmender Individuen bzw. das reale Volk als Legitimationsquelle der Gewalt des Staates zu bestimmen, oder den bisherigen Bezug auf den abstrakten Volksbegriff zwar beizubehalten, aber zugleich zu begrenzen. Im ersten Fall würde das reale Volk uneingeschränkt die Staatsgewalt legitimieren und der Staat wäre ihm rechenschaftspflichtig. Im zweiten Fall bliebe die Herrschaft des Staates über das reale Volk nicht im gleichen Umfang wie bisher erhalten. Die Staatsgewalt verlöre ihre bisherige alleinige Definitionshoheit und sähe sich in der Ausübung ihrer Herrschaft durch eine neben ihr gleichberechtigt existierende Definitionsmacht in Gestalt des sich selbst-bestimmenden Individuums nach Art. 1 Abs. 1 GG eingeschränkt. Wie wenig sich der Staat bisher jedoch bewegt hat, lässt sich aus der folgenden Bemerkung Hills entnehmen: „Obwohl somit Rechtsstaat und Demokratie in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft unter Berufung auf Leitbegriffe wie Legitimation, Verantwortung, Transparenz, Rationalität und Rechenschaftslegung schrittweise neu gedacht werden, bleiben etwa eigenverantwortliche Entscheidungen bürgerschaftlicher Gruppen über die Verwendung von Globalbudgets, etwa im Rahmen von Quartiersmanagement, nach wie vor verfassungsrechtlich problematisch.“ (ebd.). Hermann Hill entscheidet sich in einem von ihm vorgeschlagenen Modell zur „Verknüpfung von klassischer repräsentativer Demokratie und neuen Formen kooperativer Demokratie bzw. bürgerschaftlichen Engagements nur für die stärkere Berücksichtigung der sich selbst-bestimmenden Individuen. In seinem Modell beschließen Gemeinderäte in ihrer Satzung, wie in Entwicklungs- und Rahmenprogrammen die Beiträge bürgerschaftlichen Engagements einbezogen werden können, z.B. durch eine „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft und eine Gemeinwohlprüfung durch den Rat“ (ebd.). Weitergehend als bei Hill bedürfte die „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft“ im Gemeinderat jedoch bei Gleichberechtigung beider Legitimationsquellen auch der Bestätigung durch die Bürger, die diese Vorschläge ursprünglich erarbeitet haben. Wenn ihr Einspruchsrecht nur aufschiebenden Charakter hätte, läge trotz gleichberechtigter Legitimationsquellen eine Kompetenzbegrenzung bei der Formulierung von Recht vor. Käme der Einspruch jedoch einem Veto gleich, dass der Gesetzgeber nur überwinden kann, indem er auf die Wünsche der Aktivbürger eingeht, läge nur eine Kompetenzabstufung vor und bei Streitfällen müsste eine von beiden Seiten zu akzeptierende vermittelnde Instanz geschaffen werden. Nach Christoph Reichart unterscheidet sich eine „zivilgesellschaftliche Verwaltung“ vom bürokratischen oder manageriellen Verwaltungstyp: „Vor allem geht es um das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern: In der zivilgesellschaftlichen Verwaltung ist die Beziehung offen, kooperativ und tendenziell partnerschaftlich angelegt. Der Bürger hat klare Rechte und Einflussmöglichkeiten gegenüber Staat und Verwaltung und nimmt diese auch wahr. Die Verwaltung nimmt die Anliegen der Bürger ernst und mobilisiert Bürgergruppen oder zivilgesellschaftliche Organisationen, um dadurch zusätzliche Ressourcen sowie Legitimationsquellen zu nutzen.“ (Reichart, Christoph, Zivilgesellschaftliche Verwaltung aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften, in: Klaus König/Sabine Kropp [Hrsg.], a.a.O. S.209). So ungewöhnlich diese neuartige Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Aktivbürgerschaft auf dem ersten Blick auch erscheint, so vertraut ist dem Staat eine solche Situation im Verhältnis von Legislative, Exekutive und Judikative seit langem. Aus der Formulierung des Art. 79 Abs. III GG, dass Exekutive und Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das Recht gebunden sind, ergibt sich eine Einschränkung des Gesetzgebers. Die Grundgesetzkommentatoren betonen zwar die grundsätzliche Identifizierung von „Gesetz“ und „Recht“ und meinen, das „Gesetz“ habe gewissermaßen die Vermutung für sich, zugleich „Recht“ zu sein, aber wenn z.B. oberste Richter zur Auffassung gelangen sollten, dass ein Gesetz nicht oder nicht mehr dem „Rechtsempfinden“ entspricht, würden sie an den Gesetzgeber die Forderung richten müssen, das Gesetz „rechtskonform“ zu gestalten (Kommentar zum GG … S.9/10). Legislative und Judikative sind beide durch unterschiedliche Rechtsquellen legitimiert, Recht zu schöpfen. In Anlehnung an dieses Beispiel wäre für die neuartige Gewaltenteilung zwischen Staat und Aktivbürgern ein Einspruchsrecht der Bürger denkbar, das beim Gesetzgeber eine Gesetzesänderung erzwingen würde. In einem solchen Fall bliebe nur noch der Zeitraum festzulegen, in dem die Änderung zu vollziehen ist. Was die von Hill geforderte Gemeinwohlprüfung durch den Gemeinderat anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Staat schon seit langem seine Alleinbestimmung des Gemeinwohls aufgegeben hat bzw. musste. Am Beispiel der geringen Gegenwehr, den die vergangenen zwei Bundesregierungen und die jetzige den Gemeinwohlbelangen der transnationalen Unternehmen und des Finanzkapitals entgegen gesetzt haben, könnte sich z. B. das Ausmaß der Gemeinwohlprüfung im Falle von Gemeinwohlbelangen aus der Aktivbürgerschaft orientieren; steht doch die den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zugeordnete Handlungslogik dem Demokratieideal sehr viel näher als die gewinn- bzw. geldorientierte Handlungslogik von Unternehmen und Finanzkapital. Angesichts der Schwäche des Staates gegenüber Wirtschafts- und Finanzunternehmen wäre die Zivilgesellschaft in der Tat ein relevanter Partner des vielgliedrigen Staates. Die verschiedenen Ansätze zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Charakters der Verwaltung sind sowohl im Bereich der Leistungserbringung wie in der Aktivierung der Bürger also durchaus ausbaufähig. Ein scheinbar unüberwindbares Hindernis bleibt jedoch das Maß an Selbstrepräsentation der Repräsentanten in einer repräsentativen Demokratie. Selbstrepräsentation der Staatsvertreter und pekuniäre Zuwendungen aus Wirtschaft und Finanzkapital finden – wie leider die Erfahrung zeigt – nun einmal eher zusammen als die zu gemeinsamen Handeln von Staat und Zivilgesellschaft auffordernde Beschwörung, das Demokratieideal gemeinsam hochzuhalten. Gelegenheit dazu böten neue Technologien. Sie hätten das Potential, die Möglichkeiten politischer Partizipation zu revolutionieren. Das Konzept „Offene Staatskunst“ gibt den Entscheidungsträgern im Staat ihre Handlungsfähigkeit zurück. Die entscheidenden Fragen lauten, wie kann in einer bisher abgeschotteten, nahezu geheimen Sphäre des Regierens eine offene, partizipative Strategie der Macht erfolgreich sein und an welchen Schnittstellen im Lebenslauf eines Policy Cycle – Initiierung, Formulierung, Implementierung, Evaluierung – kann „Offene Staatskunst“ andocken, um Effektivität, Kapazität und Legitimität von Politik und Verwaltung zu verbessern? (Co:llaboratory, Abschlussbericht der Tagung Das Internet & Gesellschaft – „Co:llaborator, Oktober 2010, 1. Aufl.). Wie weit die konkrete Praxis jedoch von den verfügbaren Möglichkeiten noch entfernt ist, zeigt sich an folgendem Zitat: „Statt den ersten Diskussionsentwurf (das ist ein Gesetzesentwurf vor der Beschlussfassung im Kabinett) in einem intransparenten Verfahren nur an andere Ressorts und an ausgewählte Lobbyisten zu verschicken, könnte er auch veröffentlicht werden, frei zur Stellungnahme durch jede und jeden. Und die Stellungnahmen und Änderungswünsche wären ebenfalls für alle offen. Ja man könnte sogar eine Texthistorie offen legen: welche Änderungen an einem Vorschlag wurden gemacht und auf welchen Input gehen diese zurück?“ (ebd.S.25). Aber, bezogen auf die konkrete Praxis, ist mit einiger Resignation festzustellen: „Zu schwer wiegt noch die Furcht vor dem Kontrollverlust. Was eigentlich erstaunlich ist, denn wir erleben ja seit einiger Zeit, wie vor unseren Augen politische Macht mehr und mehr erodiert. Gibt es den Entscheidungsspielraum wirklich noch, den die Vertreter von Bundesministerien und Bundestag so vehement verteidigen?“ (ebd. S.25). Oder hat sich bereits die Verantwortung aus dem Parlament gestohlen (Christian Bommarius), der Macht hinterher, die jetzt ebenfalls andernorts zu residieren scheint. (Frankfurter Rundschau, 16. 2. 2011). <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/d2884358890049269a9d45ffea02fd44" width="1" height="1" alt="" /> Wenn der Mensch weder ausschließlich selbstgesetzlich (entsprechend dem Vernunftprinzip Immanuel Kants) noch rein eigennützig handelt, sondern je nach Gelegenheit diese oder jene Verhaltensweise wählt (z.B. regelgerecht als Fahrer eines Autos und wenig später als Radfahrer auf dem Radweg regelwidrig entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung, um eigennützig das zeitraubende Überqueren der Straßenkreuzung zu vermeiden), entsteht für die Herausarbeitung einer alle Tätigkeitsbereiche gleichermaßen umfassenden Handlungslogik ein Problem. In sich widerspruchsfreie Handlungslogiken können sich dann nur auf Teilbereiche seines gesamten Handlungsspektrums beziehen. Für Überlappungszonen wird entweder anerkannt, dass sich unterschiedliche Handlungslogiken überschneiden können, so dass für diese Bereiche keine widerspruchfreie Handlungslogik verfügbar ist, oder der Überlappungsbereich wird auf eine einfache Grenzlinie reduziert, jenseits derer auf der einen Seite strikt nach der einen und auf der anderen Seite ausschließlich nach der anderen Logik gehandelt wird.Denkbar ist auch, die Verhaltensweisen handelnder Menschen den strengen Bedingungen von Institutionen oder Organisationen zu unterwerfen. Den Institutionen und Organisationen deduktiv zugeschriebene Handlungslogiken werden dann zum Maßstab ihres Handelns. Voraussetzung für diese Festlegung ist jedoch, dass Individuen entsprechend der Systemtheorie Niklas Luhmanns vom vielfältig und widersprüchlich agierenden Individuum zur eindimensionalen Form-Person herabgestuft werden können, die in ihren Aktionen auf den vom System vorgegebenen Handlungsspielraum und auf die für das System deduktiv bestimmte Handlungslogik begrenzt sind. Luhmann haucht dem von ihm “autopoietisch“ bezeichneten System das Quantum an Leben ein, das er den Individuen entzieht. Systeme werden jedoch von den in ihnen agierenden, in sie involvierten Menschen betrieben. Ohne sie sind sie leblose Konstrukte.
I. Selbstgesetzliche und Eigennützige Verhaltensweisen in den der Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zugeordneten Hand- lungslogiken 1. Die Handlungslogik der Politik 1.1 Macht exekutierende Individuen in der Politik Das Wort Politik stammt vom griechischen Wort POLIS ab, was übersetzt „Stadt“ bedeutet. Gemeint ist das Recht aller Bürger einer Stadt, über ihr Leben mitzubestimmen. Mitbestimmung der Bürger heißt in der parlamentarischen Demokratie, dass die Bürger Repräsentanten wählen, denen sie die Repräsentation ihres Willens übertragen und deren Entscheidungen sie vertrauen. Das Repräsentationsverhältnis ist laut Max Weber „primär dem Tatbestand“ geschuldet, „dass das Handeln bestimmter Verbandszugehöriger (Vertreter) den übrigen zugerechnet wird oder von ihnen gegen sich als ‚legitim’ geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, S. 24). Hierbei bleibt offen, ob der Repräsentant seinen Eigennutz völlig hintan stellt und ausschließlich die Meinung der Repräsentierten vertritt oder in seine Funktion als Repräsentant auch seine eigene Meinungsbildung einfließen lässt und mehr oder weniger umfangreich zur Geltung bringt (Repräsentation der Repräsentierten einschließlich Selbstrepräsentation des Repräsentanten). Das Repräsentationsverhältnis wird ebenso auf den von Thomas Hobbes unterstellten – in sich widersprüchlichen – Staatsvertrag zwischen Volk und Herrscher zurückgeführt, in dem Hobbes dem Repräsentanten ausschließlich selbstgesetzliches Handeln und dem Repräsentierten eigennütziges Verhalten zuweist. „Hobbes zerreißt die dem Selbsterhaltungsstreben der Individuen unzertrennlich zugrunde liegenden beiden Momente von Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz. Beide Momente konstituieren zusammen die Selbsterhaltung der Individuen. Ihre Selbsterhaltung geschieht weder ausschließlich in der Verfolgung von Eigennutz noch als reine Ausführung von selbstgesetzlichem Denken und Handeln.“ (Reinhard Hildebrandt, Staat und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2009, S.18/19). Hobbes deformiert im Widerspruch zur empirisch nachweisbaren Verhaltensweise die realen Menschen zu Kunstfiguren. „Wenn Hobbes … den Individuen in willkürlicher Weise unterstellt, dass sie im Falle ihrer drohenden Selbstzerfleischung das Moment der Selbstgesetzlichkeit auf den absoluten Souverän übertragen und für sich selbst nur noch das Moment des Eigennutzes reservieren wollen, entzieht er sowohl dem absolut herrschenden Souverän wie den von ihm beherrschten Individuen einen unveräußerlichen Teil ihrer Selbsterhaltung. Weder kann der Souverän ausschließlich selbstgesetzlich handeln noch können die ihm unterworfenen Individuen nur nach Eigennutz streben und das Moment der Selbstgesetzlichkeit gänzlich vernachlässigen.“ (ebd.). Stellt die der Politik zugeordnete Handlungslogik ausschließlich auf Thomas Hobbes Postulat der Selbstgesetzlichkeit herrschaftlichen Handelns ab, ist jeder Widerspruch der Machtunterworfenen gegen die Entscheidungen des Machthabers eigennützig und damit aus der Sicht des Herrschers unvernünftig. Dies gilt jedoch nur dann, wenn vom Herrscher entweder – analog zu Kant – selbstgesetzliches und dem Gesetz der Vernunft gemäßes Handeln identisch gesetzt werden, oder unter vernunftgemäßem Handeln die Anerkennung des geschichtlich Gewordenen als ehernes Gesetz verstanden wird. Nach Jean Jacques Rousseau, der die nahtlose Übereinstimmung zwischen Machthaber und Machtunterworfenen in der Bestimmung von Selbstgesetzlichkeit postuliert, ist eigennütziges Handeln ausgeschlossen. Der Gesellschaftsvertrag Rousseaus postuliert, dass sich die Gesetzgebung stets dem „Gemeinwillen“ zu beugen hat. 1.2 Gesetzmäßiges Handeln von Macht exekutierenden Individuen in Legislative, Exekutive und Judikative Das Recht aller Bürger im modernen Staat, über ihr Leben mitzubestimmen, erstreckt sich auf die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Von diesen drei Bereichen moderner Staatlichkeit scheint insbesondere die Exekutive der Handlungslogik, die der Politik insgesamt zugeordnet wird (Exekution von Macht), am nächsten zu stehen. Sind gemäß Grundgesetz Handlungen der Exekutive Gesetz und Recht unterworfen, entsteht der Eindruck, dass eigennütziges Handeln eliminiert, selbstgesetzliches dominiert und Restbestände von Eigennützlichkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vollständig getilgt werden können. Die Legislative schränkt ihr machtpolitisches Exekutionsrecht durch das Zugeständnis des Volksbegehrens und der Volksabstimmung auf regionaler und kommunaler Ebene ein, besteht aber in der Regel nach erfolgtem Bürgereinspruch darauf, dass erst durch den Erlass eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung das Ergebnis endgültig legitimiert wird. Der Abgleich von Interessen im Parlament und das daraufhin entstandene Gesetz wird als Ergebnis des Waltens „praktischer Vernunft“ (Grundgesetzkommentar) gefeiert, wird aber dem erhobenen Anspruch häufig nicht gerecht. Die Judikative begrenzt die ihr zugewiesene Handlungslogik, indem sie das in der Gesellschaft praktizierte Gewohnheitsrecht in der Rechtssprechung berücksichtigt. Laut GG kann sie bei fehlender Deckungsgleichheit von Gesetz und Recht den Gesetzgeber auffordern, das nicht mehr dem gewandelten Rechtsempfinden entsprechende Gesetz zu revidieren. Schlussfolgerung aus 1.1 und 1.2: Die der Politik zugeordnete Handlungslogik ist mit der Ausnahme der unrealistischen Hobbesschen Annahme reiner Selbstgesetzlichkeit, die beim Herrscher angesiedelt ist, und der ebenfalls unrealistischen Annahme jeglichen Fehlens eigennützigen Handels im Gesellschaftsvertrag Rousseaus stets mit den beiden Konstitutionsmerkmalen der Selbsterhaltung (Selbstgesetzlichkeit und Eigennutz) behaftet. Da demokratische Institutionen keine Systeme bilden, in denen Menschen nur noch systemkonform funktionieren, sind auch die in der Legislative, Exekutive und Judikative agierenden Menschen entgegen dem äußerlichen Anschein nach nicht frei von Eigennutz bzw. Selbstrepräsentation. Empirisch nachweisbare Korruption in der Exekutive, nicht unter Korruptionsverdacht gestellte interessengeleitete Zuwendungen an Mandatsträger in der Legislative und dem sogenannten Zeitgeist ausgelieferte Akteure der Judikative sind eine nicht selten zu findende Verhaltensweise im Alltag der Institutionen des modernen Staates. 2. Die Handlungslogik der Wirtschaft 2.1 Das Geld als „zentrales Interaktionsmedium“ (Parsons) Dem Geld als „zentralem Interaktionsmedium“ liegen Tauschverhältnisse zugrunde: z.B. Ware gegen Ware, Ware gegen Geld, Geld gegen Ware, Gebrauchswert gegen Gebrauchswert, Arbeitskraftangebot gegen Arbeitslohn, zahlungsfähige Nachfrage gegen quantitatives und qualitatives Warenangebot, Produktionskosten gegen erzielte Gewinne, Geld gegen mehr Geld. Auf welche Weise die unterschiedlichen Tauschverhältnisse in Theorien gegossen werden, entscheidet darüber, ob das Geld als alleiniges „zentrales Interaktionsmedium“ angesehen wird. Diese Eigenschaft erlangt es nur, wenn die Tauschverhältnisse in den Rahmen eines ideal konzipierten Marktmodells eingepasst werden, auf dem Macht- und Informationsunterschiede zwischen den Marktteilnehmern ausgeschaltet sind. In solchen Modellen kann sogar der Eigennutz zum Motor des wirtschaftlichen Engagements und zum „selbstgesetzlichen“ bzw. „vernünftigen“ Handeln in der Marktwirtschaft erhoben werden (z.B. bei Adam Smith und de Mandeville). John Locke postulierte z.B. in seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ von 1690 sogar, dass starke private Eigentumsrechte das Gemeinwohl am besten sichern. Andere Theorien hingegen beklagen das eigennützige Streben nach Profit als unersättliche Gier, als Beseitigung der ursprünglichen Gleichheit der Marktteilnehmer, als herrschaftsorientiertes Streben nach Marktmacht und Herrschaft des Unternehmens- und Finanzkapitals über die Politik (z.B. Kritik am Shareholderkapitalismus). Sie vertreten die Exekution von Macht als „zentrales Interaktionsmedium“ der Wirtschaft. Als Schlussfolgerung ergibt sich: Ideale Marktsituationen existieren nur im Modell. Die Marktrealität hingegen ist machtdurchsetzt. Die Hypothese, dass Geld das „zentrale Interaktionsmedium“ der Wirtschaft sei, bleibt dem Modelldenken verhaftet und behandelt die Exekution von Macht auf realen Märkten als zu vernachlässigende Randbedingung der Theorie. Auf vermachteten Märkten dominiert indessen – entgegen der Theorie – die Exekution von Macht, und zwar in allen Formen eigennützigen Handelns, was nicht ausschließt, dass von den Marktteilnehmern auch Rechtssicherheit gefordert und praktiziert wird. 3. Die zivilgesellschaftlichem Engagement zugeordnete Handlungslogik 3.1 Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik bei Gosewinkel/Rucht Gosewinkel/Rucht beginnen ihre umfangreiche Definition mit folgender Feststellung: Auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse, einschließlich des Respekts vor der Existenz und freien Entfaltung anderer Personen und Gruppen wird eine reibungs- und konfliktarme Koordination von interessengeleiteten Individuen, Gruppen und Assoziationen angestrebt. Sie findet ihre Grenze an der Verletzbarkeit eigener Rechte bzw. kollektiver Güter. (Gosewinkel/Rucht, WZB-Jahrbuch 2003, S.45). Festzuhalten ist nach diesem Definitionsanfang: Die wechselseitige Anerkennung von interessengeleiteten Individuen, Gruppen und Assoziationen akzeptiert sowohl deren selbstgesetzliches wie eigennütziges Handeln. Respekt vor der Existenz und freien Entfaltung anderer schließt nicht prinzipiell aus, dass Individuen abwechselnd selbstgesetzlich oder eigennützig handeln können. Selbst das Bewusstsein über die Verletzbarkeit der eigenen Rechte hält Individuen nicht davon ab, je nach Situation mal selbstgesetzlich und mal eigennützig zu handeln. Gleiches trifft für Beachtung kollektiver Güter zu. Hierbei bezieht sich Selbstgesetzlichkeit auf die Anerkennung dieser Güter als Konkretisierung des Gemeinwohls, eigennütziges Handeln ignoriert ihren Gemeinwohlcharakter. Gosewinkel/Rucht lassen es nicht bei dieser Anfangsdefinition bewenden. Die wechselseitige Anerkennung, argumentieren sie, fuße auf der „Überzeugungskraft der Vorteile kooperativen Handelns (bis hin zur Figur des ‚Gesellschaftsvertrages’)“. Ihrer Meinung nach resultiert aus der „abstrakten Einsicht in die Vorteile friedlicher Koexistenz und kompromissbereiter Kooperation“ etwas Neues. Das Neue bezeichnen sie als „integrative Kraft“ (ebd.S.45/46). Dagegen ist einzuwenden, dass die Vorteile kooperativen Handelns zu aller erst empirisch nachweisbar sein müssen. Die Überzeugungskraft kooperativen Verhalten kann nicht einseitig aus dem fiktiven Gesellschaftsvertrag Jacques Rousseaus abgeleitet werden, der eigennütziges Handeln der Individuen völlig ausschließt. Gosewinkel/Ruchts enge Verknüpfung der „integrativen Kraft“ mit selbstgesetzlichem Handeln hat zur Folge, dass in ihrer Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik eigennütziges Handeln keinen Platz mehr findet und die „normative Kraft des Faktischen” nur noch unter dem Gesichtspunkt selbstgesetzlichen Handelns analysiert wird. Das faktische Handeln der Individuen besteht jedoch – je nach Gegebenheit – sowohl aus selbstgesetzlichen wie eigennützigen Verhaltensweisen, was Gosewinkel/Rucht auch eingestehen müssen, wenn sie feststellen, dass zivilgesellschaftliche Elemente und Tendenzen „möglicherweise lediglich als Enklaven“ (ebd.) zu lokalisieren seien. Diese Bemerkung verweist auf die Unangemessenheit ihres konstruierten utopischen Ideals gegenüber der empirisch feststellbaren Verhaltensweise von Menschen. Legt man diesen utopischen Maßstab an, ist zivilgesellschaftliches Handeln empirisch nicht mehr auffindbar und man wundert sich, in welchem Ausmaß Menschen zu eigennützigem Handeln fähig sind, obwohl doch ihre Tätigkeit zuvor eindeutig im zivilgesellschaftlichen Aktionsfeld lokalisiert wurde. In gemeinnützigen Organisationen, die als Kernbereich der Zivilgesellschaft beschrieben werden, können Repräsentanten je nach Gelegenheit sowohl eigennützig wie selbstgesetzlich handeln. Gemäß Gosewinkel/Rucht handeln sie dann „unzivil“. Gosewinkel/Rucht kehren am Schluss ihrer langen Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik wieder zur wechselseitigen Anerkennung zurück und stecken den Bereich der Zivilgesellschaft ab. Sie schreiben: „Praktisch konkretisiert sich die wechselseitige Anerkennung in prozeduralen Regeln, also in der Akzeptanz bestimmter Verfahren des Umgangs miteinander. Die dadurch geregelte Interaktionssphäre kann als Bereich der Zivilgesellschaft bezeichnet werden.“ (ebd. S.46). Wenn entgegen der Empirie zuvor eigennütziges Handeln aus der zivilgesellschaftlichen Handlungslogik ausgeschlossen worden ist, können prozedurale Regeln auch nur selbstgesetzliches Handeln regeln. Bereiche der Zivilgesellschaft, in denen eigennütziges Handeln unübersehbar sind, bleiben undefiniert. 3.2. Definition zivilgesellschaftlicher Handlungslogik Entgegen der unzulänglichen Definition Gosewinkel/Ruchts enthält die zivilgesellschaftliche Handlungslogik selbstgesetzliche wie eigennützige Anteile. Zivilgesellschaftlich tätige Bürger bemühen sich jedoch, in ihren wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen den Eigennutz auf ein Minimum zurückzudrängen. Sie stoßen hierbei auf eine unüberwindbare Grenze. Aus der Sensibilität über ihre eigene Verwundbarkeit und die des Anderen erwächst ihnen sowohl Verantwortung für den Anderen wie für sich selbst. Tendiert der eigennützige Anteil gegen null, sind Individuen immer mehr bereit, ihre Identität mit den Anderen zu teilen. Sie existieren nicht mehr nur „für-sich-selbst“, dem das Andere als separates „Für-sich-selbst“ gegenüber steht, sondern ersetzen in ihrer Identität das „Für-sich“ durch das „Für-Anderes“. Als „Für-Anderes-selbst“ haben sie die Verantwortung für den Anderen in die eigene Identität aufgenommen. Indem sie für sich selbst verantwortlich bleiben, übernehmen sie im gleichen Umfang Verantwortung für das Andere (in sich selbst). In einem derart austarierten Beziehungsverhältnis teilt die Grenzlinie das „Für-sich“ und „Für-Anderes“ in vollkommen gleiche Teile. Wenn jedoch dem an selbstgesetzliches wie eigennütziges Handeln gebundenen Individuum die gleichgewichtige Aufteilung zwischen „Für-sich“ und „Für-Anderes“ versagt bleibt, ist sein Bestreben, die Grenzlinie exakt zu treffen, zum Scheitern verurteilt. Er läuft stets Gefahr, entweder bereits vor der Grenzlinie anzuhalten oder sie zu überschreiten. Bleibt er vor ihr stehen, richtet sich sein verbliebener Anteil des Eigennutzes gegen den Anderen und kann ein gegen den Anderen gerichtetes Über- und Unterordnungsverhältnis verursachen. Ein solches Verhältnis bedarf zu seiner Realisierung jedoch der Duldung durch den Anderen. Überschreitet er die Grenzlinie, setzt er sich dem gegen ihn gerichteten Eigennutzanteil des Anderen ungeschützt aus und gerät selbst in die Position des potentiell Untergeordneten. Sind nicht nur zwei zivilgesellschaftlich engagierte Individuen an einem Arrangement beteiligt, sondern mehrere, ist das Bestreben, der Grenzlinie so nahe wie möglich zu kommen, noch weniger erreichbar als in einem Zweierverhältnis. Die Definition zivilgesellschaftlichen Engagements stößt hier auf eine ihr inhärente Grenze, die angesichts des hohen Anteils an unterbewusstem und automatisiertem Verhalten der Menschen auch nicht durch Regeln ausgehebelt werden kann. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass zivilgesellschaftlich engagierte Individuen zu jedem Augenblick bemüht sein müssen, den Ausgleich zwischen ihnen wieder herzustellen. Regeln können ihnen hierbei helfen und die Bereitschaft, für den Rest des nicht zu Regelnden offen zu sein und stets zu bleiben. II. Notwendige Offenheit der Handlungslogiken untereinander 1. Das Postulat der Übersetzungsfähigkeit von Handlungslogiken Wie Gosewinkel/Rucht zu postulieren, dass unterschiedliche Handlungslogiken in den Überlappungszonen „gleichsam füreinander ‚übersetzt’ und dadurch kommunikativ anschlussfähig“ gemacht würden (a.a.O.S.54), ist erstens zu allgemein, zweitens missverständlich und greift drittens zu kurz. Wer – wie sie – deduktiv von der Hypothese ausgeht, dass Handlungslogiken entweder nur macht-, geld- oder auf gegenseitige Anerkennung fixiert sind und außerdem postuliert,
1.1 Das ideale Über- und Unterordnungsverhältnis als das notwendig gemeinsame Dritte zwischen der Handlungslogik der Politik und der Handlungslogik zivilgesellschaftlichen Engagements Jede Herrschaft strebt ein ideales Über- und Unterordnungsverhältnis an. In einem solchen Verhältnis wird Macht unsichtbar. Zwischen den Herrschenden und den Beherrschten besteht vollkommene Harmonie. Herrschaft beruht in einem idealen Über- und Unterordnungsverhältnis darauf, dass das Maß der geforderten Unterordnung stets mit dem Maß an Dienst(-bereitschaft) deckungsgleich ist. Hegel postuliert z.B. Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn (Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, a.a.O.153f). Nicht anders behandelt Niklas Luhmann die Verhaltensweise des Machtunterworfenen: „Der Machtunterworfene wird erwartet als jemand, der sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung hat,…“ (Luhmann, Niklas, 1988, 2.Aufl.: Macht, Stuttgart, S.21). Sein antizipatives Handeln „bezieht sich nicht nur auf die Reaktionen des Machthabers im Falle der Nichtbefolgung seiner Wünsche, also auf die Vermeidungsstrategien, sondern auch auf die Wünsche selbst. Der Machthaber braucht gar nicht erst zu befehlen, auch seine unbefohlenen Befehle werden schon befolgt. Sogar die Initiative zum Befehl kann auf den Unterworfenen verlagert werden; er fragt nach, wenn ihm unklar ist, was befohlen werden würde.“ (Luhmann,a.a.O.,S.36). Damit Deckungsgleichheit zwischen Fürsorge des Über- und Dankbarkeit des Untergeordneten besteht, müssten in den Betroffenen Unterordnungsrituale so stark verankert sein, dass sie sogar in ihr Unterbewusstsein und ihr automatisiertes Verhalten herabgesunken sind. Die Befehle des Machthabers würden dann nicht nur bewusst und freiwillig eingehalten, sondern erzeugten im Machtunterworfenen zusätzlich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Ein ideales Unterordnungsverhältnis errichtet lediglich „eine Reihe differentieller Positionen zwischen den sozialen Agenten…“ (Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991, S.213). Ein solches System von Differenzen, „das jede soziale Identität als Positivität konstruiert“, kennt keinen Antagonismus. Es gleicht einem „genähten sozialen Raum“ (ebd.). Ideale Unterordnungsverhältnisse sind empirisch nachweisbar. In ihnen wird Macht zwar exekutiert, aber sie erscheint nicht im Bewusstsein der Untergeordneten. Im Falle eines idealen Unterordnungsverhältnisses herrscht Gleichheit zwischen der auf Exekution von Macht basierenden Handlungslogik in der Politik und der Machtunterschiede ausblendenden zivilgesellschaftlichen Handlungslogik. Die eine Handlungslogik ist vollkommen in die andere übersetzbar und das Postulat von Gosewinkel/Rucht ist damit erfüllt. Für unausgeglichene Unterordnungsverhältnisse ist die Übersetzbarkeit in einem kleinen Rahmen auch noch gegeben, wenn die zivilgesellschaftliche Handlungslogik zulässt, dass in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen die „Überzeugungskraft der Vorteile kooperativen Handelns“ kleine Machtunterschiede toleriert. Ein nicht austariertes Unterordnungsverhältnis akkumuliert auf der Seite des Untergeordneten Unmut und auf der Seite des Übergeordneten Anmaßung, aber der Untergeordnete stellt dass Verhältnis insgesamt nicht in Frage. 1.2 Der ideale Markt als ausgeschlossenes Drittes zwischen der Handlungslogik der Politik und der Handlungslogik des Geldes Verhalten sich Marktteilnehmer als homo oeconomicus und tauschen als kleine Produzenten und Händler auf dem idealen Markt Ware gegen Geld und Geld gegen Ware, besteht unter ihnen zur Exekution von Macht weder Anlass noch Bedarf. Das Geld als „zentrales Interaktionsmedium“ der Wirtschaft schließt damit die Handlungslogik der Politik aus. Zwischen beiden Handlungslogiken existiert keine Übersetzbarkeit. Das gemeinsame Dritte zwischen beiden Handlungslogiken kommt erst ins Spiel, wenn das Marktgeschehen zunehmend von ungleichen Marktteilnehmern beherrscht wird und letztere zur Absicherung ihrer Marktvorteile Macht exekutieren. Je angebots- und nachfragemächtiger einzelne Marktteilnehmer werden, desto mehr muss auch der Staat mit Regeln in das Marktgeschehen eingreifen, um dem Verdrängungsprozess kleinerer Marktteilnehmer durch größere Einhalt zu gebieten. Die Übersetzbarkeit der Handlungslogik des Geldes in die machtorientierte Handlungslogik des Staates wird zunehmend unproblematisch. 1.3 Der ideale Markt als notwendiges Drittes zwischen der Handlungslogik des Geldes und der zivilgesellschaftlichen Handlungslogik Der ideale Markt funktioniert ohne die Akkumulation von Macht unter den Marktteilnehmern. Die Handlungslogik zivilen Engagements schließt die Exekution von Macht aus. Beide Handlungslogiken sind untereinander vollkommen übersetzbar. Je weniger ideal das Marktgeschehen jedoch abläuft, desto größer wird die Exekution von Macht in ihm. Die Übersetzbarkeit einer Handlungslogik in die andere nimmt zunehmend ab. 2. Das Postulat der Anschlussfähigkeit von Handlungslogiken Was heißt Anschlussfähigkeit? Außer im Falle der vollkommenen Übersetzbarkeit durch die Anwesenheit eines vermittelnden dritten Elements sind unterschiedliche Handlungslogiken derart konzipiert, dass sie untereinander nicht anschlussfähig sein können. Sie werden es nur dann, wenn die handlungslogisch auf sie gepolten Menschen in die Diskussion über die Anschlussfähigkeit einbezogen werden. Unter der Voraussetzung, dass Menschen wahlweise selbstgesetzlich oder eigennützig handeln, jedoch ihre wechselhafte Verhaltensweise in der sie umgebenden Handlungseinheit nicht auf nur eine Verhaltensweise reduzieren, ist die Anschlussfähigkeit zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken stets gewährleistet. Laut Gosewinkel/Rucht versetzt die „integrativen Kraft“, welche Akteure aus ihrer „abstrakten Einsicht in die Vorteile friedlicher Koexistenz und kompromissbereiter Kooperation“ gewonnen haben, auch in die Lage, unterschiedliche Handlungslogiken „kommunikativ anschlussfähig“ zu machen. Gemäß Gosewinkel/Rucht verhilft den Akteuren dieses geistige Rüstzeug im Dialog mit anderen zur Einsicht, dass
2.1 Überschneidung von Handlungslogiken im „Dritten Sektor“ – ein exemplarisches Beispiel Ein starker Staat kann zivilgesellschaftliche Einrichtungen in seine Obhut nehmen und ihnen Aktionsmöglichkeiten zubilligen oder verschließen. Einflussreiche Wirtschaftsverbände können Nichtregierungsorganisationen in ihrer Wirksamkeit begrenzen, sie stillschweigend aufkaufen und sie für ihre Interessen einspannen. Welche Auswirkung hat beispielsweise zunehmender Ökonomisierungsdruck auf die Identität zivilgesellschaftlicher Organisationen, die für lange Zeit als solidaritätsbasiert, normen- und wertorientiert bezeichnet wurden? Wie reagieren sie auf die abnehmende Finanzierung durch die öffentliche Hand (staatliche Administration auf örtlicher, regionaler oder zentraler Ebene)? Wie haben sie in der Vergangenheit auf Forderungen nach Verrechtlichung und/oder Bürokratisierung durch den Staat reagiert? Welche Verhaltensänderungen sind zu beobachten, nachdem Wirtschaftsunternehmen auf sie zugreifen? Welche Auswirkungen hat der zunehmende Ökonomisierungsdruck vor allem auf ihre Repräsentanten? Folgende Fragen bedürfen der Beantwortung:
Als zivilgesellschaftliche Einrichtung herrscht zwar per definitionem die Handlungslogik selbstgesetzlich basierter gegenseitiger Anerkennung vor, aber auch dies beruht auf dem Ausgleich individueller Machtausübung sich selbstbestimmender Individuen, bei denen der Machtinstinkt nicht vollständig durch selbstgesetzliches Handeln ausgelöscht worden ist, und folgt der Einsicht, dass die Wahrnehmung der eigenen Freiheitsoptionen zur Be- und Verhinderung der Selbsterhaltungs- und Selbstverwirklichungsoptionen anderer führen kann. Je weniger Einsicht in den zwar überdeckten, aber deshalb nicht ausgelöschten Machtinstinkt vorherrscht, desto leichter kann sich ein auf bestehenden Differenzen in der Machtstellung der beteiligten Individuen basierendes egoistisch orientiertes Handeln unbemerkt oder verschwiegen einschleichen. Daraus ergibt sich folgender Schluss: Im Überlappungsbereich existiert auch für sich selbstbestimmende Individuen bereits ein Nebeneinander von Macht- und Wertorientierung und eine eindeutige Zuordnung zur einen oder anderen Seite ist nicht immer möglich. Das Zuordnungsproblem vergrößert sich, wenn auf der Seite der zivilgesellschaftlichen Organisation ein Repräsentationsverhältnis zwischen Repräsentanten und repräsentierten Mitgliedern sowie Dritten vorliegt (in Wohlfahrtsverbänden üblich). Hier repräsentiert sich der Repräsentant auch immer selbst. Indem er für den Anderen handelt, handelt er zugleich für sich selbst (Die Bewegung vom Repräsentierten zum Repräsentanten wird durch eine Bewegung vom Repräsentanten zum Repräsentierten (z.B. Beharren auf dem „Staatswohl“) supplementiert.). Der Anspruch, für die Anderen zu denken und zu handeln, ist gegen seine Perversion, nur noch für sich zu agieren und den repräsentierten Anderen fremde Zwecke zu unterschieben, nicht immun. Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbsterhaltung des Repräsentanten ausschließlich selbstgesetzlich gesteuert ist und immer nur als triebfreies „Bewusstseinsüberich“ fungiert. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass der Repräsentant einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung zur Erleichterung seiner Führungsaufgabe bzw. aus Karrieregründen die Handlungslogik des subventionierenden Staates ganz übernimmt. Wenn in einer solchen Situation der Staat den Anforderungskatalog an die Dienstleister erweitert, ohne zugleich deren Handlungsspielraum zu öffnen, wird das Führungspersonal geneigt sein, der weiteren Verrechtlichung und Bürokratisierung selbst dann nur hinhaltenden Widerstand entgegen zu setzen, wenn es in der Öffentlichkeit mit Protest auf die zivilgesellschaftlich einengenden Maßnahmen des Staates reagiert. Vom unterstellten Spannungsverhältnis im Wohlfahrtsstaat zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen bleibt jedoch in einem solchen Fall kaum etwas übrig. Welche Auswirkungen hat der zunehmende Ökonomisierungsdruck auf die Identität zivilgesellschaftlicher Organisationen? Wer sich nicht darüber klar ist, warum es zuvor eine große Nähe zur Handlungslogik des Staates gab, der wird auch kaum Begründungen dafür finden, warum jetzt die Nähe zur ökonomischen Handlungslogik „Geld“ gesucht wird. Die Übernahme der geldorientierten Handlungslogik geschieht vor dem bereits geschilderten Verhaltenshintergrund des Führungspersonals zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und verläuft nach dem gleichen Muster wie bei der Staatsorientierung. In dem Maße, in dem Einrichtungen des Dritten Sektors verstärkt bemüht sind, Leistungen effizient und effektiv anzubieten, steigt die Nähe der Repräsentanten zur Handlungslogik „Geld“ bis hin zu einer Umfunktionierung der zivilgesellschaftlichen zu erwerbswirtschaftlichen Einrichtungen. 2.2 Öffnung der hierarchischen Struktur des Staates Im Neoliberalismus, in dem selbst der Staat zum Diener der Wirtschaft deklariert wird, bleibt der Zivilgesellschaft ebenfalls kein anderes Schicksal erspart. In einer Zeit, in der eine vom Unternehmenssektor finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ zur hegemonialen Formation heranwächst und für die eigene hegemoniale Praxis in der Gesellschaft die unangefochtene Deutungshoheit beansprucht, unterliegt zivilgesellschaftliches Engagement einem erdrückenden Machtanspruch und läuft Gefahr, hilfesuchend zu machtdurchsetzten Handlungen zu greifen. Wird das austarierte Verhältnis zwischen Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft durch ein hierarchisches ersetzt, ist letztlich jede Form von Gesellschaft gefährdet und ein Zusammenbruch aller demokratischer Lebensformen unvermeidlich. Wenn staatliche Einrichtungen ihre besondere Existenz gegenüber der Wirtschaft erhalten wollen, müssen sie Abschied nehmen von der Tendenz, staatlich finanzierte zivilgesellschaftliche Einrichtungen auf ökonomisch ausgerichtete Effizienz- und Effektivitätskriterien zu programmieren. Mit dieser Politik entkernen sie einen potentiellen Verbündeten und liefern ihn der ökonomischen Unterwanderung aus, was man an den zunehmenden meist kurzfristigen Projektvereinbarungen zwischen Unternehmen und Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen, vermittelt von Freiwilligen-Agenturen auf künstlich geschaffenen Märkten, gut erkennen kann. Würde jedoch die staatliche Administration ihre eigene aus dem Absolutismus überkommene hierarchische Struktur gegenüber zivilgesellschaftlichen Anforderungen öffnen, gewönne sie einen Verbündeten und stärkte sich selbst gegen weitere Übergriffe der Wirtschaft. Das Verhältnis zwischen Staat, Ökonomie und Zivilgesellschaft könnte aufs Neue austariert werden und die vielfältigen, nahe an der Lebenswelt angesiedelten zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von selbstbestimmten Individuen erhielten einen staatlichen Ansprechpartner, der mit ihnen auf gleicher Wellenlänge sendet und empfängt. 12 <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/dbc5a7c90d2b44a4bc3870927c1d1cc8" width="1" height="1" alt="" /> Politikverdrossenheit, verkrustete politische Strukturen, Parteiendemokratie sind arg strapazierte, um nicht zu sagen, inzwischen triviale Schlagworte, die jedoch auf das Unbehagen wenig durchlässiger Strukturen in unserer parlamentarisch verfassten Demokratie hinwiesen. Der Politikwissenschaftler Dr.Reinhard Hildebrandt beschäftigt sich seit längerem mit der Frage, wie die „Zivilgesellschaft“ größeren Spielraum an der politischen Gestaltung gewinnen kann. Er arbeitet an einem neuen Buch mit dem Titel „Öffnung des Staates zur Zivilgesellschaft – Abkehr von der Vorstellung staatlicher Administration als heilige Ordnung (Hierarchie) und Aufbrechen der Hierarchie“. Ein Kapitel dieses Buches hat Dr.Hildebrandt solon-line.de freundlicherweise vorab zur Verfügung gestellt, um den Diskurs zu eröffnen. In diesem Teil beschäftigt er sich vor allem mit dem Kommentar zum Grundgesetz und den Bezügen zu den Theorien von Hobbes, Rousseau und Carl Schmitt. Seine teilweise brisanten Thesen und Interpretationen sind bei näherem Hinsehen durch genaue Zitate gestützt, deren adäquate Beurteilung allerdings durch die Kenntnis der Geschichte politischer Philosophie erleichtert wird. Sind „wir“ tatsächlich „das Volk“? Geht alle Macht vom Volk aus? Oder ist „unsere“ Souveränität nur eine Chimäre? Der nachfolgende etwas längere Aufsatz reizt zur leidenschaftlichen Debatte, die wir im Solon gerne führen möchten.
1. Selbstrepräsentation der Repräsentanten 1.1 „Wir sind das Volk“ und die verlorene Souveränität Die trotzige Herausforderung des SED-Staats, zum Ausdruck gekommen in dem vielstimmigen Ausspruch, „Wir sind das Volk!“, entzog zwar nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 dem von der Sowjetunion mit der Führung beauftragten Personenkreis die Hoheitsbefugnisse und leitete die Etablierung „runder Tische“ ein, aber der dort begonnene Diskussionsprozess führte nicht zu einem Ergebnis, das von allen betroffenen Individuen – einschließlich der Entmachteten – nahezu einstimmig vertreten werden konnte. Vielmehr fühlten sich die „Runden Tische“ von der auf den Leipziger Montagsdemonstrationen vielstimmig vorgetragenen Forderung „Wir sind ein Volk!“ zeitlich zunehmend unter Druck gesetzt. Sie schlossen ihren Diskussionsprozess unvollendet ab und stimmten vorzeitig demokratischen Wahlen zu, sodass künftig lediglich die Mehrheit der von Parteien zuvor aufgestellten/selektierten und nach freien Wahlen in die Volkskammer berufenen Abgeordneten über die Zukunft entschied und nicht mehr die gesamte, zur bewussten Entscheidung fähige DDR-Bevölkerung in einer Ur-Abstimmung nach einer ausdauernden und alle Aspekte erörternden Aussprache. Die Mehrheitsfraktion setzte wegen der anscheinend unaufschiebbaren Sanierung der Finanzen den Beitritts- und Hoheitsansprüchen der Bundesrepublik Deutschland keinen eigenen Willen mehr entgegen. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland laut Art. 23 des GG verschwand auch die Erarbeitung einer im Grundgesetz vorgesehenen gemeinsamen Verfassung allmählich aus dem Blick. Die Souveränität, die der DDR-Bevölkerung als Ganzes zugestanden hätte und von ihr mit dem Slogan „Wir sind das Volk“ gegen die SED-Herrschaft beansprucht und durchgesetzt worden war, blieb ungenutzt und verfiel. Die Repräsentanten des bundesdeutschen Volkes favorisierten die nicht mehr verifizierbare Annahme, dass sich die Bevölkerung der Sowjetischen Besatzungszone, wenn ihr die freie Wahl von der sowjetischen Siegermacht nach 1945 zugestanden worden wäre, sowohl für die Erhaltung der Einheit Deutschlands wie für die Einführung der parlamentarischen Demokratie westlichen Stils entschieden hätte. Während ersteres auch in der sowjetischen Besatzungszone vielstimmig und aus unterschiedlichsten Gründen gefordert wurde, waren die Auffassungen über die künftige Wirtschaftsform – als Teil der demokratischen Verfassung eines weiterhin geeinten Deutschlands – durchaus geteilt. Noch stärkere Bemühungen, um eine Mitentscheidung der noch frei gewählten Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder auf der gemeinsamen Länderministerkonferenz herbeizuführen, hätte vielleicht zu einem anderen Resultat für ganz Deutschland geführt. Aber aus der Sicht der bundesdeutschen Repräsentanten war der von der sowjetischen Besatzungsmacht inzwischen ausgeübte Zwang so stark, dass eine Einigung niemals zustande gekommen wäre (Bis in die Gegenwart ist dieser Diskussionsgegenstand sehr emotional besetzt und wird kontrovers unter dem Stichwort „Zwangsvereinigung“ von KPD und SPD im Jahre 1946 diskutiert). Das bundesdeutsche Volk hätte deshalb bereits schon damals für die ostdeutsche Bevölkerung mitentscheiden müssen/können und sei dazu aufgrund ihrer von den westlichen Siegermächten eingeräumten freien Entscheidungsmöglichkeit zur Demokratie auch in der gesamten Folgezeit berechtigt gewesen. Aufgrund dieser Entwicklung stelle sich die Frage nach der unausgeschöpften Souveränität der ostdeutschen Bevölkerung gar nicht mehr und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland sei die einzig mögliche Konsequenz aus der deutschen Teilungsgeschichte. Mit diesem Ausgang der Souveränitätsdebatte wurde die Chance verworfen, die Frage nach der Souveränität des Volkes durch souveränes Handeln der gesamten zur bewussten Entscheidung fähigen DDR-Bevölkerung zu beantworten und die Idee der Volkssouveränität der Sphäre unbewiesener Grundannahmen zu entziehen. Eingebettet in eine Ideengeschichte und abgelöst vom jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehung von Ideen, werden Grundannahmen zu nicht mehr hinterfragten Axiomen und dienen der Legitimation etablierter Machtverteilung. Die in jedem Repräsentationsverhältnis unvermeidlich enthaltene Selbstrepräsentation der Repräsentanten (was z.B. auch für die der Mitglieder der Runden Tische zutraf) hätte zugunsten des selbstbestimmten Handelns der gesamten Bevölkerung – in einer Situation ähnlich der von Rousseau lediglich angenommenen Generalversammlung – weiter reduziert werden können. Auf dem Hintergrund und mit den Mitteln der heutzutage verfügbaren technischen Möglichkeiten wäre die staatliche Administration erstmals wirklich von einer real existierenden Generalversammlung beauftragt worden, die Geschäfte in ihrem Namen zu führen, ihr voll und ganz verantwortlich zu sein und im von ihr vorgegebenen Rahmen in Verhandlungen mit den Repräsentanten des bundesdeutschen Volkes zur Herbeiführung einer Vereinigung beider deutscher Staaten einzutreten. Die vorherrschende Ausformulierung des Repräsentationsprinzips, in der – im Verhältnis zum Repräsentanten – der Macht der Repräsentierten nur noch eine sehr untergeordnete Position zugewiesen wird, hätte durch gesellschaftliche Praxis überprüft, infrage gestellt und revidiert werden können. Einige Gründe sprachen jedoch gegen einen solchen zweifellos langwierigen Selbstfindungsprozess der ostdeutschen Bevölkerung und eines sich daran anschließenden Verhandlungsmarathons zur Erarbeitung einer Verfassung für ein wiedervereintes Deutschland.
Für die zivilgesellschaftliche Forderung nach Neuformulierung des Repräsentationsprinzips und Aufbrechen der „heiligen Ordnung“ staatlicher Administration ist die Beantwortung dieser Frage aber von großer Bedeutung. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten werden in der Regel nur dann von der staatlichen Administration ernst genommen, wenn sie entweder ohne große Probleme in staatliches Handeln integrierbar sind oder der Fall eingetreten ist, dass staatlicherseits keine Möglichkeit mehr besteht, zivilgesellschaftliche Aktivitäten als zu negierende Einzel- oder Gruppenaktivitäten zu diskreditieren und im Namen der Verantwortung gegenüber dem „Volk als Ganzes“ bzw. als Sachwalter des „Gemeinwohls“ zu ändern oder sogar ganz zu verwerfen. Auf welche Weise die Selbstrepräsentation des Repräsentanten auf ein Minimum beschränkt, die staatliche Hierarchie für eine faire Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren geöffnet und über das verbale Lob hinaus zivilgesellschaftliche Aktivität staatlicherseits gefördert werden kann, wird weiterhin Diskussionsgegenstand der nächsten Kapitel sein. Die Frage der Selbstrepräsentation der staatlichen Administration stellt sich übrigens in einer aus Siedlergemeinschaften entstandenen Gesellschaft (USA), die keine Volkssouveränität kennt, auf ganz andere Weise. Wenn das „Volk als Ganzes“ nicht als Quelle staatlicher Macht angesehen wird, sondern das einzelne, aus freiem Willen handelnde Individuum, das in einem unterstellten Staatsvertrag nicht seine Ur-Freiheit an den fortan absolut regierenden Souverän abtritt (Hobbes) oder in einer fiktiven Generalversammlung den Staat zu seinem selbstlos handelnden Repräsentanten bestimmt (Rousseau), sind der Machtausübung staatlicher Administration engere Grenzen gesetzt. Siedlergemeinschaften schützen sich selbst und ihr Eigentum durch die Entfaltung und Beachtung gemeinsamer Werte in ungeschriebenen sowie schriftlich fixierten Vertragsbeziehungen. Für Angelegenheiten, die über die Realisierungsmöglichkeiten der einzelnen Siedlergemeinschaft hinausreichen oder beim Schutz vor äußeren Feinden sind sie gezwungen, als gemeinschaftsübergreifende Institution den Staat zu errichten und finanziell mit ausreichenden Mitteln auszustatten. Dieser staatlichen Administration werden um der Bewahrung der individuellen Ur-Freiheit willen enge Handlungsgrenzen gesetzt. Sie kann diese Grenzen nur dann zugunsten der Selbstrepräsentation unterwandern bzw. hinausschieben, wenn die von ihr Repräsentierten der Meinung sind, dass ihre innere und äußere Sicherheit – z.B. im „Krieg Bushs gegen den Terror“ – durch unterlassene staatliche Aktionen gefährdet wäre. Ist die tatsächliche oder vermeintliche Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit gebannt, schlägt das Pendel in der Regel zurück. Je älter jedoch Siedlungsgesellschaften werden, desto stärker können im Laufe der Zeit entstandene Einkommens- und Vermögensunterschiede aufgrund ungleich gewordener Lebensverhältnisse dazu führen, dass Repräsentationsorgane und staatliche Administration nicht mehr nur mit sehr unterschiedlichen Interessen konfrontiert, sondern dass sie sogar vom privilegierten Teil der Bevölkerung einseitig zur Verfolgung ihrer Interessen in Anspruch genommen werden; denn ganz anders als in Gesellschaften, in denen der Staat seine Macht aus einem fiktiven Gesellschaftsvertrag ableitet, ist der Staat in Siedlungsgesellschaften nicht zur Hilfestellung für den weniger privilegierten oder gänzlich verarmten Teil der Bevölkerung verpflichtet. Sozialstaatlichkeit ist kein „Muss“ für ihn, sondern bestenfalls ein „Kann“, sofern es zur Erhaltung des sozialen Friedens opportun erscheint. 2. Das Verhältnis von Staat und „Volk“ im deutschen Grundgesetz – Eine kritische Aufarbeitung des Bonner Kommentars zum Grundgesetz 2.1 Zwischen Thomas Hobbes’ Staats- und Jean-Jacques Rousseau Gesellschaftsvertrag Art. 20 des Grundgesetzes fordert in Absatz II Satz 1 in scheinbar größtmöglicher Klarheit: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Was aber juristische Auslegungskunst unter dem Begriff „Volk“ versteht, wird erst nach einer sorgfältigen Analyse von Grundgesetzkommentaren deutlich und widerspricht der landläufigen Sichtweise des Volkes als Addition aller Individuen, die sich bewusst zu einer entscheidungsfähigen Gesamtheit zusammengeschlossen haben, vollkommen. Am Beispiel des Bonner Grundgesetzkommentars wird im folgenden die vorherrschende Interpretation herausgearbeitet. Bereits Art. 20 Abs. I stellt fest, dass die Bundesrepublik Deutschland ein „demokratischer“ Bundesstaat ist. Im Bonner Grundgesetzkommentar wird – mit Hinweis auf Carl Schmitt – Demokratie folgendermaßen erläutert: „Demokratie bedeutet soviel wie Herrschaft des Volkes über sich selber.“ Entsprechend dem Gleichheitsprinzip aller Individuen wird Demokratie als „Identität von ‚Regierenden und Regierten’“ definiert, wobei zwischen Regierenden und Regierten keine „qualitative Verschiedenheit“ bestehe (Bonner Grundgesetzkommentar, Bd. 5, S.3), was auf ein Über- und Unterordnungsverhältnis deutet, in dem beide Seiten in Zielbestimmung und Ausführungsmodalitäten völlig übereinstimmen und ihre Positionen untereinander als austauschbar betrachten; was zugleich ein Herrschafts-Abhängigkeitsverhältnis ausschließt. Im Sinne des Art. 20 Abs. I Satz 1 sind deshalb die Autoren des Kommentars auch mit Heller der Meinung, dass in der Demokratie der „Machtaufbau von unten nach oben“ vonstatten geht (ebd. S.4). Sie äußern sich zunächst nicht über das Wie, aber schließen Autokratie, Herrschaft einer Klasse, Kaste oder Gruppe aus. Unter Staatsgewalt verstehen sie – im Einklang mit Eichenberger und Anschütz – „die Gesamttätigkeit der staatlichen Herrschaft“. Sie bezeichnen sie „als organisatorisch und rechtsordnungsmäßig höchste Gewalt“ (ebd. S.4), woraus folgt, dass für sie unterhalb der staatlichen Gewalt niederrangige Gewalten existieren, auf die sie an dieser Stelle noch nicht eingehen. Laut Präambel des GG und Art. 146 GG ist das Volk nicht nur der Ursprung der Staatsgewalt, sondern außerdem der Träger der „verfassungsgebenden Gewalt“. Während über die originäre Machtposition, die dem Volk als Verfassungsgeber zukommt, die Auffassungen der Rechtsexperten stärker übereinstimmen, bestehen grundverschiedene Meinungen über die dem Volk noch verbleibende Macht, nachdem es die Staatsgewalt als „höchste Gewalt“ geschaffen hat. Legte man die Macht des Volkes beispielsweise im Sinne von Thomas Hobbes’ Staatsvertrag aus, hätten die Individuen nach der Aushändigung ihrer Ur-Freiheit an den absolut regierenden Souverän ihre Macht verloren und ebenso wäre die Gesamtheit der Individuen völlig machtlos geworden. Der Satz 1 des Art. 20 Abs. I GG („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“) wäre also in der Weise zu interpretieren, dass nach der Übertragung der „höchsten Gewalt“ vom Volk auf den Staat das Volk machtlos geworden ist. Würde man die entgegengesetzte Position von Jean-Jacques Rousseau zum Ausgangspunkt der Interpretation nehmen, stimmten „höchste Gewalt“ des Staates und Machtwille der versammelten Individuen stets überein. Für Rousseau ist jedes Individuum ausschließlich der Selbstgesetzlichkeit verpflichtet. Für Individuum und Staat gilt deshalb das Gesetz der Vernunft. Aus dieser Sicht betrachtet schließt der Satz 1 des Art. 20 Abs. I GG jegliche Machtdifferenz zwischen „oberster Gewalt“ des Staates und der weiterhin bestehenden Macht des Volkes aus. Die Frage nach dem imperativen Mandat erübrigt sich, weil Machtmissbrauch wegen der ausschließlichen Geltung der Vernunft ausgeschlossen ist. Die Autoren des Bonner Grundgesetzkommentars weisen auf die uneinheitliche Verwendung des Kollektivbegriffs „Volk“ hin und beziehen sich in ihrer Interpretation auch auf den Satz 2 des Art. 20 Abs. I (Die Staatsgewalt „wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“). Den „wirklich handelnden Teil des Volkes“ bezeichnen sie als „Aktivbürgerschaft“, als „faktischen Machtträger“, der zwar vom „Volk“ legitimiert sei, aber nicht mit ihm „identisch“ gesetzt, sondern nur „identifiziert“ werden könne (ebd. S.5). Mit Hinweis auf den Grundgesetzkommentator von Mangoldt stellen sie sodann kategorisch fest: „Legitimationsfaktor ist und bleibt das ‚Volk’ als ‚politisch ideelle Einheit’, die ‚Totalität der Staatsbürger’, die – obwohl eine ‚nicht-organisierte und nichtformierte Größe’ und ‚personell und sachlich dauernd im Fluss’ – doch in jedem Augenblick als ‚konkrete geistige Ganzheit’ gegenwärtig ist“. „In diesem (- … -) Sinne“, postulieren sie, ist also der in Art 20 Abs. II Satz 1 verwendete Begriff „Volk“ auszulegen und somit von dem in Abs. II 2, Halbs. 1 verwendeten Volksbegriff als einer objektiv-rechtlich konstituierten Funktionseinheit scharf zu unterscheiden.“ Ihre Auslegung sichern sie mit zahlreichen Verweisen auf andere Grundgesetzkommentatoren ab und fügen zusätzlich in die obige Klammer das Wort „natürlich“ ein. Aber was ist an der gesamten Auslegungsakrobatik „natürlich“, wenn alle „Staatsgewalt“ von einer „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ „ausgeht“, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll? Wenn die Staatsgewalt von dieser „konkret geistigen Ganzheit“ der versammelten Individuen „ausgeht“, muss sie offensichtlich zunächst auf deren Seite existiert haben und dann in einem wie auch immer gearteten Übertragungsakt an den Staat übergeben worden sein. Aber weder hat es zu irgendeinem historischen Zeitpunkt eine solche Versammlung gegeben noch war sie als „politisch ideelle Einheit“ handlungsfähig. Sie konnte daher die ihr immanente Volksgewalt gar nicht übergeben, noch kann sie von ihr zurückgefordert werden, falls sie vom Staat missbraucht werden sollte. Als handlungsunfähige „konkret geistige Ganzheit“ stand ihr das zugeschriebene Gewaltpotential gar nicht zur freien Verfügung. Sofern jedoch der Staat sich dieser Volksgewalt eigenhändig bemächtigt bzw. sich einfach zugeschrieben hat, erhält die Formulierung, dass alle Staatsgewalt vom Volke „ausgeht“, eine ganz andere Bedeutung. Sollte sogar auf Seiten des Volkes überhaupt keine Ansammlung von Gewalt existiert haben, hätte auch keine Gewalt übertragen werden können. In diesem Fall würde die Formulierung, dass alle Staatsgewalt vom Volke „ausgeht“, als Täuschungsversuch zu entlarven sein und würde davon ablenken, dass die Gewalt schon immer beim Staat selbst angesiedelt war. Wenn andererseits die Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. II ausschließlich von der „konkret geistigen Ganzheit“ des Volkes „ausgeht“ und die versammelten Individuen nur noch unter dem Gesichtspunkt der „politisch ideellen Einheit“ begriffen werden, vermindert sich der Status der darin real existierenden Individuen und die zu ihnen gehörige individuelle Macht verschwindet unter der sich über ihren Köpfen erhebenden „Totalität der Staatbürger“. Als unscheinbar gewordenes Teilchen der „Totalität“ werden sie in der gleichen Weise zum „Träger der Macht“ wie im absolutistischen Gottesgnadentum „Gott“ als Quelle der Macht fungierte. Da man die wirkliche Existenz „Gottes“ weder beweisen noch widerlegen konnte und allein der Glaube materielle Wirkung entfaltete, lag die Definitions-, organisatorische und institutionelle Macht über geistige und weltliche Dinge selbst dann bei den irdischen „Repräsentanten“ Gottes – den Fürsten, Königen und Kaisern -, wenn ihnen zuvor von vertrauensvoll Gläubigen die Macht „im Namen Gottes“ anvertraut worden war. Wenn also nur der Begriff „Totalität des Volkes“ und nicht die konkret versammelten Individuen zum Ausgangspunkt der Staatsgewalt erklärt werden, mutieren die eigentlichen „Träger der Macht“ zu fleisch- und blutentleerten Elementen dieser Totalität, denen jegliche Handlungs- und Sanktionsfähigkeit abgeht. In den Begriffen „politisch ideelle Einheit“ und „konkret geistige Ganzheit“ rangiert das reale Volk nur noch als begriffliche Schimäre. Sie als Quelle der Staatsgewalt zu bezeichnen bedeutet, dass der konkreten Gewalt des Staates ein abstrakter Volksbegriff als Ausgangspunkt seiner Macht gegenübergestellt wird. Indem der Staat sich nur noch auf dieses Abstraktum „Volk“ bezieht und diesen handlungsunfähigen „Träger der Macht“ zu seinem Reverenzobjekt erklärt, ist erkennbar, dass er sich nur noch auf sich selbst bezieht, nur noch sich selbst gegenüber verantwortlich zeichnet. Als auf sich selbst bezogener, sich selbst repräsentierender Staat steht ihm frei, seine allumfassende Gewaltbefugnis freiwillig in Selbstverpflichtung einzuschränken, was er im Abs. II Satz 2 des GG auch macht: „Sie (die Staatsgewalt – d.Verf.) wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt.“ Die beiden Funktionseinheiten „Wähler“ und „Abstimmende“ sind nach Auffassung der Grundgesetzkommentatoren von der „ideellen Einheit“ und „geistigen Ganzheit“ des Volkes „scharf zu unterscheiden“, gerade so wie die Materie vom über ihr schwebenden Geist. Tatsächlich aus Fleisch und Blut bestehend, fehlen ihnen die „Legitimationsfaktoren“, die dem vergeistigten Volksbegriff zugeschrieben werden. Die den lebendigen Individuen zugemessene „Staatsgewalt“ ist daher stark eingeschränkt. Volksabstimmungen sind auf Bundesebene überhaupt nicht und auf Länderebene nur im Fall der Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29, 118 GG) vorgesehen. Auf den darunter angesiedelten Ebenen wird dem zur Abstimmung berechtigten Personenkreis etwas mehr Handlungsraum zugebilligt.1 Als Wahlvolk darf die deutsche Bevölkerung in bestimmten Zeitabständen zwar ihre Repräsentanten wählen, aber verantwortlich sind die von ihr Gewählten laut Art. 38 Abs. I GG nur dem handlungsunfähigen, entindividualisierten Begriff „Volk als Ganzes“. Sie sind „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Mit anderen Worten: im Repräsentationsverhältnis mit dem handlungsunfähigen Volksbegriff „Volk als Ganzes“ repräsentieren sie sich ausschließlich selbst und sind nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Ob sie die Belange der konkreten Individuen, von denen sie gewählt worden sind, berücksichtigen oder auf deren Vorstellungen nicht eingehen, wird für sie zur „Gewissens“frage. Aufgrund der von ihnen beanspruchten Deutungshoheit und Definitionsmacht ist es ihnen überlassen, die zur Berücksichtigung anstehenden Anforderungen in sofort entscheidbare, aufschiebbare oder nicht entscheidungsfähige Fragestellungen aufzuteilen. Die Kommentatoren bezeichnen diese Deutungs- und Definitionsmacht als Herrschaftsausübung der gewählten Mandatsträger und erblicken darin ein Merkmal des parlamentarischen Repräsentationsprinzips. 2.2 Das Prinzip der Repräsentativ-Demokratie Für die Kommentatoren des Bonner Grundgesetzes fußt das Prinzip der „Repräsentativ-Demokratie“ – wie sie selbst ausdrücklich betonen – auf dem „althergebrachten System der ‚Dreiteilung der Gewalten’ (‚Gesetzgebung’, ‚Vollziehende Gewalt’ und ‚Rechtsprechung’), deren Träger ihre Macht … vom ‚Volke’ herleiten (…), diesem als nicht etwa ‚polar oder kontradiktorisch gegenüberstehen’“ (ebd.S.8). Aber ohne nochmals auf die Herleitungsproblematik einzugehen, die sie in ihrem Sinne offenbar bereits für geklärt betrachten, schränken sie anschließend die Machtbefugnisse der Repräsentanten des Wahlvolkes weiter ein. Sie betonen zwar den „Vorrang des Gesetzgebers“ (Gesetzesstaat), aber weisen zugleich auf den „unverkennbaren Machtzuwachs der Rechtsprechung“ hin (ebd.S.8). Das Bonner Grundgesetz habe in Art. 20 Abs. II Satz 2 „die in drei verschiedenen Funktionen materiell differenzierte Staatsgewalt in ein kompliziertes Dependenzsystem eingebaut, das insbesondere dem Gedanken der Gewaltenbalancierung, der Schutzformel zur Sicherung gegen missbräuchliche Ausübung der Staatsgewalt durch die Träger der einzelnen Gewalten, Rechnung tragen soll“ (ebd.S.8). Art. 20 Abs. III lautet: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Das Prinzip der Dreiteilung der Gewalten wird durch Art. 79 Abs. III jeglicher Verfassungsänderung entzogen. Künftige Gesetzgeber sind in ihrer Gesetzeskompetenz an die „verfassungsmäßige Ordnung“ gebunden und können sich nur innerhalb dieser Grenzen frei bewegen (ebd.S.9). Aus der Formulierung, dass Exekutive und Rechtsprechung außerdem nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das Recht gebunden sind, ergibt sich eine weitere Einschränkung des Gesetzgebers. Zwar betonen die Kommentatoren die grundsätzliche Identifizierung von „Gesetz“ und „Recht“ und meinen, das „Gesetz“ habe gewissermaßen die Vermutung für sich, zugleich „Recht“ zu sein, aber wenn z.B. oberste Richter zur Auffassung gelangen sollten, dass ein Gesetz nicht oder nicht mehr dem „Rechtsempfinden“ entspricht, würden sie an den Gesetzgeber die Forderung richten müssen, das Gesetz „rechtskonform“ zu gestalten (ebd.S.10). In der Interpretation des Art. 38 GG verdeutlichen die Grundgesetzkommentatoren schließlich, was sie unter Machtaufbau von unten nach oben bzw. Entfaltung von Herrschaft verstehen. Gemäß Abs. I Satz 2 sind die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Von wahlberechtigten deutschen Staatsbürgern gewählt, werden sie zu Repräsentanten des handlungsunfähigen „ganzen Volkes“. Repräsentation wird jetzt von den Grundgesetzkommentatoren überraschenderweise als Herrschaft begriffen. „Da die repräsentative Demokratie„, führen sie aus, „nur als parlamentarische Demokratie vorstellbar ist, …, entscheidet die Struktur des Parlamentarismus der konkreten Verfassung zugleich darüber, wie das Grundverhältnis der Herrschenden zu den Beherrschten, die Repräsentation, verfassungsrechtlich zu denken ist.“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bd.6, Art. 38, S.9). Von der anfänglichen „Herrschaft des Volkes über sich selber“ hat sie der Weg zunächst zur freiwilligen Über- und Unterordnung akzeptierenden „Identität von Regierenden und Regierten“ geführt, um schließlich bei der Aussage zu enden, dass Repräsentation im Parlamentarismus gleichbedeutend mit Herrschaft über das beherrschte Volk sei. In ihrer Argumentation über den Machtaufbau, angefangen von der Herrschaft des Volkes über sich selbst bis hin zur Staatsgewalt „als organisatorisch und rechtsordnungsmäßig höchster Gewalt“, haben sie zu erkennen gegeben, dass sie sich stärker an Thomas Hobbes als an Jean-Jacques Rousseau orientieren. Zur Erinnerung: Bei Hobbes denkt und handelt der absolute Souverän für die Beherrschten und ist seinen Untertanen weder rechtlich noch politisch Rechenschaft pflichtig. Hobbes verwandelt die Herrschaft des Volkes über sich selbst ebenfalls zur Herrschaft der Staatsgewalt über das Volk. Ihre Argumentation, behaupten die Kommentatoren, die sie als „geschlossene staatsrechtliche Erklärung des Parlaments, der Wahlen und der Stellung des Abgeordneten und der Fraktionen“ betrachten, werde vom „Gesichtspunkt“ der „parlamentarischen Repräsentation als Idee und als Institution“ geleitet (ebd.S.9). Was sie darunter verstehen, erklären sie detailliert im Kapitel „Entwicklung der parlamentarischen Repräsentation“ (ebd.S.9f). 2.3. Entwicklung der parlamentarischen Repräsentation als Ideengeschichte Nicht die Analyse des Verhältnisses von Repräsentanten und Repräsentierten sowie das Ausmaß der Selbstpräsentation der Repräsentierenden in einem Repräsentationsverhältnis wird von den Kommentatoren des Bonner Grundgesetzes an den Anfang ihrer Darstellung gestellt, sondern die Idee bzw. Vorstellung der „Volksvertretung“ in England (ebd. Art. 38, S.10). Sie zitieren die Schrift „De Republica Anglorum“ des Staatssekretärs Elizabeth’ I., Sir Thomas Smith: „Alles, was je das Volk von Rom in Zenturiat- oder Tributkomitien tun mochte, dasselbe kann durch das Parlament von England getan werden, das das ganze Reich repräsentiert und dessen Herrschaftsgewalt innehat … Denn von jedem Engländer wird angenommen, dass er dort anwesend ist, in Person oder durch Vertretung oder Anwälte … Und die Zustimmung des Parlaments gilt als die Zustimmung von jedermann.“ (ebd. S.11). Wie später die Idee der Volksvertretung in Frankreich Fuß gefasst hat, stellen sie anschließend an Zitaten aus den Schriften des Abbé Sieyès dar. Seine „Theorie der parlamentarischen Repräsentation“ sei revolutionär gegenüber dem ständischen System („niemals wird eine von Ständen durchschnittene Nation etwas mit einer einheitlichen Nation gemeinsam haben“) und wende sich gegen Rousseau („die Gesetzgebung hört … auf, demokratisch zu sein, und wird stellvertretend“). Die Nation handele nicht durch den natürlichen Willen ihrer Mitglieder, sondern durch die im Parlament als der Nationalrepräsentation gebildete „volonté commune représentative“ (ebd.S.11). Die einem Zensus genügenden ‚Aktivbürger’, von denen die Abgeordneten gewählt werden, seien nur ein Teil der Nation, „deren Willen einheitlich und unteilbar ist und allein in der Nationalversammlung gebildet wird“. Folgerichtig könne es kein „Auftragsverhältnis zwischen dem Wahlbezirk und den Abgeordneten“ geben (ebd.S.12). Das „freie Mandat“ sei zugleich „revolutionär“ gegen das Ständesystem und „defensiv gegen den Demokratismus Rousseaus“. Das freie Mandat charakterisiere „unter Zuhilfenahme der Rousseauschen volonté générale der einen und unteilbaren Nation die staatsrechtliche Verwirklichung der staatsbürgerlichen Gesellschaft in der parlamentarischen Repräsentation durch unabhängige Repräsentanten“ (ebd.S.15). Mit Ernst Fraenkel vertreten die Kommentatoren die Auffassung, dass die „repräsentationslose Demokratie Rousseaus“ vom „freien Mandat“ „verworfen“ werde (ebd.S. 15/16). In der Analyse des „Honoratiorenparlaments“ kehren die Kommentatoren auf den Aspekt der Herrschaftsausübung zurück. Es sei „die Verkörperung des dominierenden Interesses von Bildung und Besitz“ und da seine Abgeordneten „eine gemeinsame gesellschaftliche Basis besitzen, vermögen sich die parlamentarischen Auseinandersetzungen auf eine die rationale Überzeugung des Gegners anstrebende Diskussion, also einen Kampf der Meinungen und nicht der Interessen, zu verkürzen.“ (ebd.S.17). Das Honoratiorenparlament, zitieren sie Karl Löwenstein, sei „die kollektive Interessenvertretung der herrschenden Klasse“ gewesen (ebd.S.17). Mit der Emanzipation der Unterschichten habe sich die „liberale Nationalrepräsentation“ jedoch zur „egalitären Volksvertretung“ gewandelt. Seine Folge sei eine „Revolutionierung der Methode der Kreation der Herrschenden, der Organisation der Herrschaft und des Herrschaftszweckes“ (ebd.S.18). Die Wandlung des Parlamentarismus bezeichnen sie als „Epiphänomen“ (notwendige Begleiterscheinung) der sich wandelnden Herrschaftsformen. Der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gehen also bereits Veränderungen in der gesellschaftlichen Machtverteilung voraus. Es ist deshalb unzulässig, vom Resultat der Entstehung einer „egalitären Volksvertretung“ auf eine allgemeine Nivellierung der Machtunterschiede zu schließen, sondern umgekehrt nach der vorgängigen Veränderung der gesellschaftlichen Machtverteilung zu fanden, die sich der „egalitären Volksvertretung“ als adäquates Versatzstück ihrer weit darüber hinausreichenden Machtausübung bedient. Die Grundgesetzkommentatoren führen hier die Parteien ein, die nach der Erkenntnis von Friedrich Naumann „notwendige Zwischenkörper zwischen der Wählermasse und der angestrebten regierungsfähigen Majorität“ sind (ebd.S.18). Mit Ernst Forsthoff kommen sie zu dem Schluss, dass jetzt nicht mehr die Meinungen von Individuen gegeneinander antreten, sondern die Interessen von Gruppen: „Die politische Willensbildung in der Demokratie“, fassen sie zusammen, „beruht nicht auf dem rationalistischen Glauben an eine durch Diskussion zu findende vorgegebene politische Richtigkeit, sondern auf der Erwartung, dass die praktische Wahrheit in einem rationalen Prozess der Auseinandersetzung der Interessen geschaffen werden kann (…). An die Stelle der „ideologischen Prämisse eines außergesellschaftlichen Gemeinwohls“ trete die „praktische Vernunft“ des „gruppierten Interesses“ (ebd.S.19). Dass mehrere „Vernünfte“ und „Wahrheiten“ nebeneinander existieren, ist inzwischen ein Allgemeinplatz geworden, aber dass ein Abgleich von Gruppeninteressen bereits deshalb das Etikett „praktische Vernunft“ umgehängt bekommt, weil er in einem rational verlaufenden Prozess ausgehandelt wird, läuft Gefahr, so gegensätzliche Begriffe wie Vernunft und Kungelei unzulässigerweise auf eine Stufe zu stellen. Wenn Parteien und nicht einzelne Honoratioren gegeneinander antreten und um die Gunst der Wähler werben, untergräbt die Parteilinie aller Wahrscheinlichkeit nach die „Integrität und Tüchtigkeit“ der zunehmend an Weisungen orientierten Abgeordneten. Der darin zum Ausdruck kommenden „Entmachtung des Parlaments“ entspricht die Fraktionierung des Parlaments. Max Weber hatte bereits den Unterschied des Honoratiorenparlaments mit dem von Parteien kontrollierten auf die griffige Formel gebracht, dass der unabhängige Abgeordnete der gebildeten und besitzenden Klasse der „Herr“ des Wählers gewesen sei, während der demokratische Abgeordnete zum „Diener“ der Führer der bürokratischen und deshalb plebiszitären Parteimaschine geworden sei (ebd.S.22). Mit Verweis auf Max Weber kommentieren die Grundgesetzkommentatoren das Phänomen der „Massendemokratisierung“: „Die Bedeutung der aktiven Massendemokratisierung ist: dass der politische Führer nicht mehr auf Grund der Anerkennung seiner Bewährung im Kreise einer Honoratiorenschicht zum Kandidaten proklamiert, dann kraft seines Hervortretens im Parlament zum Führer wird; sondern dass er das Vertrauen und den Glauben der Massen an sich und also seine Macht mit massendemagogischen Mitteln gewinnt. Dem Wesen der Sache nach bedeutet dies eine cäsaristische Wendung der Führerauslese“ (ebd. S.20). Die dem Parlament vorgängige gesellschaftliche Machtverteilung bestimmt demnach weiterhin darüber, welchen machtpolitischen Stellenwert das Parlament in der Gesamtgesellschaft einnimmt und wer als Führer „ausgelesen“ und dem Wahlvolk vorgezeigt wird. Nachdem also die Autoren des Grundgesetzkommentars in einem ersten Schritt den Art. 20 Abs. II Satz 1 in der Weise interpretiert haben, – dass die Staatsgewalt als höchste Gewalt statt vom realen Volk von einer „nicht-organisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ „ausgeht“, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll; – erklären sie im zweiten Schritt die nach Zensuswahlrecht gewählten Abgeordneten der Bildungs- und besitzenden Klasse zu Herren über das reale Volk, verantwortlich nur diesem handlungsunfähigen, entindividualisierten „Volk als Ganzes“ und damit letztlich nur sich selbst verpflichtet; – sprechen sie im dritten Schritt den nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählten Abgeordneten in der nunmehr „egalitären Volksvertretung“ den Herrenstatus des vorherigen Honoratiorenparlaments ab und entdecken in dieser Veränderung eine inzwischen eingetretene Neuverteilung der gesellschaftlichen Macht – deren „Epiphänomene“ das neue Wahlrecht und die „egalitäre Volksvertretung“ seien –, ohne dass sie zugleich in genügender Klarheit die von der Mitgliederbasis abgeschotteten inneren Machtzirkel der Parteien als die neuen Herren des weiterhin beherrschten Volks benennen, die sich mittels ihrer Parlamentsfraktionen privilegierten Zugang zu den beiden anderen Staatsgewalten Exekutive und Judikative verschaffen und als solche weiterhin nur dem „Volk als Ganzes“ (und damit sich selbst) verantwortlich sind. In der Interpretation dieser Entwicklung, der sich die Grundgesetzkommentatoren im vierten Schritt zuwenden, stellen sie sich der Aufgabe, die „Idee der Repräsentation und ihre staatsrechtliche Verwirklichung“ neu zu durchdenken. 2.4 Zur „Idee der Repräsentation und ihrer staatsrechtlichen Verwirklichung“ Den Ausdruck „repräsentative Demokratie“ beziehen die Autoren jetzt konsequenterweise nicht mehr wie zuvor ausschließlich auf das „Volk als Ganzes“, von dem laut Art. 20 Abs. II Satz 1 alle Staatsgewalt ausgeht, sondern auch auf das Wahlvolk des Satz 2: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Die damit in Zusammenhang stehende Aussage, das Parlament „repräsentiere“ das Volk bzw. das Parlament sei die „Volksvertretung“, bedürfe jedoch der notwendigen Ergänzung, da damit ein politischer und nicht ein rechtlicher Sachverhalt ausgedrückt werde (ebd.S.21). Die letzte Bemerkung erhält in ihrer weiteren Erläuterung erhebliche Bedeutung. Mit ihrem Schwenk vom „Volk“ als „konkret geistige Ganzheit“ bzw. „politisch ideelle Einheit“ zum realen Volk der Wähler bauen sie einen auf den ersten Blick unverständlichen Gegensatz zu Carl Schmitt, Gerhard Leibholz und Edmund Burke auf. Jene Autoren hatten im Anschluss an Max Weber das liberale Prinzip der Repräsentation dem demokratischen Prinzip der Identität gegenübergestellt. Für Carl Schmitt war Repräsentation „sichtbare Vergegenwärtigung eines unsichtbaren Seins“ (ebd.S.22). Wie bereits mehrfach beschrieben, wurden für Carl Schmitt nicht die „empirisch einzelnen des Staatsvolks“ repräsentiert, sondern die „politische Einheit des Staatsvolks“. In weitgehender Übereinstimmung mit Edmund Burke hatte er Repräsentation nicht als ein „rechtstechnisches Zurechnungsverhältnis“ begriffen, sondern als „gesteigerte Art Sein“, etwas „Existenzielles“. Carl Schmitt wollte damit zum Ausdruck bringen, dass das Parlament (als eines der drei Staatsorgane) dem repräsentierten Volk in einem Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnis gegenübersteht. Als Herr nimmt das Parlament, indem es sich auf den handlungsunfähigen Begriff „politische Einheit des Staatsvolks“ bezieht (aus der zuvor – wie bereits mehrfach beschrieben – das reale Volk eliminiert worden ist) ausschließlich auf sich selbst Bezug. Die vorgestellte „Einheit des Staatsvolks“ ist es selbst in anderer Form. Bei Carl Schmitt identifiziert sich das Parlament als drittes Staatsorgan ebenso wie die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung ausschließlich mit der Idee des „Volkes als Ganzes“, denn bezöge es sich auf das reale Volk, setzte es sich mit dem beherrschten Volk gleich und wäre nichts anderes als das reale Volk. Vom Staat „als organisatorisch und rechtsordnungsmäßig höchste Gewalt“ könnte keine Rede mehr sein. Carl Schmitt handelte konsequent im Sinne seiner Herrschafts-Beherrschungs-Analyse, wenn er nach dem Auftreten fest organisierter Parteien den Abgeordneten und dem Parlament den herrschaftlichen Charakter absprach. Sie würden, argumentierte er, zu Elementen der unmittelbaren Demokratie, „in der das Volk als herrschend selbst anwesend ist und so Herrscher und Beherrschte identisch sind“ (ebd.S.22). Wie Gerhard Leibholz vertrat er damit die Auffassung, dass der Parteienstaat plebiszitär ausgerichtet sei. Leibholz, ähnlich argumentierend, stellte sich die Parteien als „verallgemeinerte citoyens“ vor. Der „Volkswille“, werde durch sie „gebildet und dem natürlichen Volk zugerechnet“ (ebd. S.23). Damit folge die politische Willensbildung dem Prinzip der Identität und nicht dem der Repräsentation („Die Wahlen sind nicht repräsentationsbegründende Berufung unabhängiger Abgeordneter, sondern plebiszitärregistrierende Sachentscheidungen für Parteiprogramme.“). Das Parlament werde zum „plebiszitären Hilfsorgan“, die Abgeordneten zu „abhängigen Mandataren ihrer Partei“. Während Carl Schmitt und Gerhard Leibholz vorgeworfen werden konnte, dass sie die mit der Emanzipation der Unterschichten verknüpfte „Revolutionierung der Methode der Kreation der Herrschenden, der Organisation der Herrschaft und des Herrschaftszweckes“ vernachlässigten und einseitig die Nivellierung des Parlaments betonten, bemühen sich die Kommentatoren des Grundgesetzes gerade umgekehrt darum, das Repräsentationsprinzip von der Schmitt’schen Herrschaftsanalyse zu befreien und auf neue Weise beide Kategorien zu verschmelzen. Wiederum Max Weber zitierend verstehen sie – wie Weber – unter Repräsentation „primär den Tatbestand, dass das Handeln bestimmter Verbandszugehöriger (Vertreter) den übrigen zugerechnet wird oder von ihnen gegen sich als ‚legitim’ geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird“; dabei vorübergehend vernachlässigend, was sie zuvor über das freie Mandat geschrieben haben (ebd.S.24). Vertreter sind weder identisch mit Herrschenden noch mit Mandatsträgern, die dem imperativen Mandat verpflichtet sind. Max Weber bezieht sich lediglich auf die notwendige Repräsentation einer Gruppe von Repräsentierten, die am Ort der Repräsentation nicht anwesend sein können. Sofern technische Gründe die ständige Rückkoppelung der Vertreter zu den Repräsentierten ermöglichen, verschiebt sich auf der Skala zwischen „Für andere entscheiden“ und „imperativem Mandat“ der Status der Vertreter bzw. er wird den Gegebenheiten angepasst. Von der Erklärung Max Webers, behaupten die Kommentatoren, könne auch bei der „demokratischen parlamentarischen Repräsentation“ ausgegangen werden. Die mit dem Herrschaftsgedanken verbundenen Repräsentationstheorien bezeichnen sie als „qualitative“ Methoden und werfen ihnen vor, dass deren „Werthaftigkeit“ unlösbar mit dem vorgegebenen „Wesensbegriff“ Repräsentation verbunden sei, dem die „Objektivierbarkeit“ fehle und dessen Verwendung davor bewahren solle, dem zu favorisierenden „egalitären Demokratismus“ zu folgen (ebd. S.24). Richtig in Schwung gekommen starten sie jetzt einen Generalangriff auf die Vertreter des „qualitativen Repräsentationsbegriffs“. „Die Staatsidee der Demokratie“, kritisieren sie jene Theorien, „wird auf eine jakobinische Utopie des herrschaftslosen Staates verkürzt, wenn man ihr nur eine plebiszitäre Wirklichkeit zubilligt und den Begriff der Repräsentation in eigentümlicher Verabsolutierung eines historischen Idealtyps für die Herrschaft von Bildung und Besitz reserviert.“(ebd.S.24). Die Führer der regierenden Partei und ihr Verwaltungsstab seien zwar gegenüber den Parteimitgliedern und dem Staatsvolk „herrschaftliche Gebilde“ (Max Weber), aber nicht mit dem „Volk“ identisch, sondern nur „Sprachrohr“ (Fraenkel) des organisierten Volkes (ebd.S.25). Art 20 Abs. II Satz 1 sage nicht, dass alle Staatsgewalt vom organisierten Volk und schon gar nicht von ihren Parteiführern ausgehe. Auch Leibholz stelle ja bereits nicht in Abrede, „dass der Parteienstaat nach einem ‚ehernen Gesetz’ von einer politischen, von den Wählern und Parteibürgern vertrauensmäßig getragenen, kontrollierten und schließlich auch abrufbaren Elite geführt werden muss“ (ebd.S.25). Stattdessen propagieren die Grundgesetzkommentatoren in Anlehnung an Fraenkel einen „quantitativen“ Repräsentationsbegriff, „wonach die Repräsentanten kraft egalitärer Berufung und Legitimierung für die empirischen Angehörigen des Staatsvolks handeln“ (ebd.S.24). „Die „Herrschenden“, schreiben sie, „können in der repräsentativen Demokratie nur durch den staatsrechtlichen Vorgang der periodischen Wahl legitimiert werden (…), einen Vorgang, dessen maßgeblich die qualitative Repräsentationsvorstellung, da sie das natürliche Staatsvolk nicht als handlungsfähig zulässt, nicht zu erklären vermag.“ Hervorzuheben ist hier der Unterschied zwischen der Legitimation durch das Wahlvolk und der Herrschaft über das handlungsunfähige „Volk als Ganzes“, für das der Herr aus vollständig eigener Verantwortung handelt. Spätestens jetzt findet die anfängliche Überraschung eine Erklärung, warum die Autoren den Ausdruck „repräsentative Demokratie“ nicht mehr wie zuvor nur mit dem entindividualisierten Volksbegriff, dieser übersinnlichen „konkret geistigen Ganzheit“ bzw. „politisch ideellen Einheit“ verknüpfen, sondern auch mit dem Wahlvolk des Art. 20 Abs. II Satz 2 („Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“) verbinden. Aus der Sicht der Autoren beziehen sich die Herrschenden als Herrschende weiterhin nur auf sich selbst und tragen nur sich selbst gegenüber Verantwortung. Legitimieren lassen sie sich jedoch von dem durch sie beherrschten Volk durch Wahlen. Das zur Abgabe seiner Stimme aufgerufene Wahlvolk kann aber nur die gerade im Amt befindlichen Repräsentanten bestätigen oder abwählen, nicht jedoch das sie zu Beherrschten degradierende Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnis aufkündigen. Ein solcher Versuch würde von den Herrschenden als grundgesetzwidrig betrachtet und wäre Anlass genug, den übergesetzlichen Notstand auszurufen und gegen die revolutionären Umtriebe der Beherrschten einzuschreiten. Mit Fraenkel betonen sie, dass Demokratie „egalitär kontrollierte und legitimierte Repräsentation“ sei und dekretieren: „Die Demokratie kann und will die Differenzierung des Staatsverbandes in Herrschende und Beherrschte nicht aufheben, sondern die Herrschenden in Form des im Rahmen der egalitären (auf Gleichheit und Mehrheitsentscheidungen beruhenden) Repräsentation wirksamen Legitimierungs- und Kontrollmechanismus in Abhängigkeit bringen.“ (ebd.S.25). Nicht das Maß „realplebiszitärer Unmittelbarkeit“ sei entscheidend, pflichten sie Konrad Hesse bei, sondern die „Abwesenheit nichtegalitärer Legitimationsgründe und die ungehinderte Kontrolle und Beeinflussung der herrschenden Parteien durch die Wahlen und die öffentliche Meinung der Presse und der organisierten Interessen“ (ebd.S.25). Ihre vollmundig vorgetragene „ungehinderte Kontrolle und Beeinflussung” unterliegt jedoch einigen nennenswerten Einschränkungen: sie findet in Form von Wahlen nur in bestimmten Zeitabständen statt, hat es inzwischen bei veröffentlichten Meinung mit einer Presse, die sich durch Infotainment und Konzentration auf wenige kapitalkräftige Eigentümer negativ auszeichnet, zu tun und muss ertragen, dass organisierte Interessen nicht selten zu Kompromissentscheidungen führen, die zwar dem Kriterium der unterstellten „praktischen Vernunft“ genügen, aber zugleich jeglicher Logik widersprechen können. Als nächstes taxieren sie das hinnehmbare Maß „realplebiszitärer Unmittelbarkeit“. Wenn die Führer der regierenden Partei(en) und ihr Verwaltungsstab gegenüber den Parteimitgliedern und dem Staatsvolk funktionierende „herrschaftliche Gebilde“ (Max Weber) sind und „der Parteienstaat nach einem ‚ehernen Gesetz’ von einer politischen, von den Wählern und Parteibürgern vertrauensmäßig getragenen, kontrollierten und schließlich auch abrufbaren Elite geführt werden muss“ (Leibholz), endet die reale Herrschaft der Parteiführer nicht unmittelbar vor ihren Parlamentsfraktionen und lässt sich auch nicht durch deren formal bestehende Autonomie in Frage stellen. Herrscher betrachten ihre Herrschaft als unteilbar und handeln gegenüber den Beherrschten nicht als Regierende, die in einem auf gegenseitige Achtung beruhenden Über- und Unterordnungsverhältnis auch die Seite der Regierten einnehmen können, weil beide Seiten die gleichen Ziele von unterschiedlichen Perspektiven aus anstreben. Nach Fraenkel sind die Führer der regierenden Partei und ihr Verwaltungsstab zwar nur „Sprachrohr“ des organisierten Volkes, aber gegenüber den Parteimitgliedern bleiben sie zugleich „herrschaftliche Gebilde“ (Max Weber). Ihre Herrschaft endet also nicht vor den Türen der Parlamentsfraktion. Ihre Herrschaftsformen passen sich den Gegebenheiten an. Wenn beispielsweise ein Abgeordneter über die Parteiliste ins Parlament eingezogen ist, droht bei unbotmäßigem Verhalten seine Nichtberücksichtigung auf der für die nächste Wahl aufzustellenden Liste. Hat er ein direktes Mandat errungen, muss er bei unfolgsamem Verhalten für die nächste Wahl mit der Aufstellung eines Gegenkandidaten, einem Disziplinarverfahren oder sogar mit dem Hinauswurf aus der Partei rechnen. Die jeweiligen Parteiführer werden außerdem schon im Vorhinein sehr genau darauf achten, wem ein Parlamentsmitgliedschaft anvertraut werden soll und mit welchen Einflussmöglichkeiten Abgeordnete unter Druck gesetzt werden können, falls sie – auf Autonomie pochend – den Versuch unternehmen, das freie Mandat des Art. 38 GG in Anspruch zu nehmen. Die von den Grundgesetzkommentatoren bevorzugte verdrechselte Konstruktion, „nicht schlechthin die Parteien die Repräsentanten, sondern vielmehr die im Parlament als Fraktionen erscheinenden Parteien“ seien die eigentlichen Repräsentanten, kann den Makel der „realplebiszitären Unmittelbarkeit“ weder abschütteln noch auf ein Mindestmaß reduzieren, bleibt formal und wird auch nicht stichhaltiger, wenn man sie beschwörend und gebetsmühlenartig in Worten wie den folgenden wiederholt: „Auch die Repräsentation des Parteienstaats ist eine – nur eben demokratische und nicht liberale – parlamentarische Repräsentation“ (ebd. S.25). „Das demokratische Parlament ist verfassungsrechtlich und kraft seiner unersetzlichen Funktion als nach dem Mehrheitsprinzip öffentlich entscheidendes und das Staatsvolk integrierendes Führungsorgan die institutionelle Repräsentation der staatsbürgerlichen Gesellschaft.“ (ebd.S.25). 2.5 Der nicht unwesentliche Unterschied zwischen politischem und rechtlichem Sachverhalt „Ein Rechtsverhältnis der Repräsentation zwischen dem Volk und dem Parlament besteht nicht, weil das Volk nur im Staat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichtenzukommen könnten;…“ (ebd.S.26). „Diese Auffassung” postulieren die Kommentatoren des Grundgesetzes, „… ist nicht eine Missachtung der politischen Tatsachen (…), sondern eine Folge der Unterscheidung zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.S.26). Aus den „ideologischen Vorstellungen über den eigentlichen ‚Träger’ der Staatsgewalt ein Rechtsverhältnis zwischen Volk und Parlament zu konstruieren“, wäre ihrer Ansicht nach „abzulehnen“. Mit anderen Worten: Der eigentliche „Träger“ der Staatsgewalt waren immer die Herrschenden, wie man sie auch im einzelnen benennt. Diese ideologische Idee verwerfen die Grundgesetzkommentatoren nicht, sondern stehen eisern hinter ihr. Deshalb gilt: „Der Wille des Parlaments ist rechtlich dem Staat und nur politisch-ideologisch dem Volk zuzurechnen; denn das Parlament ist staatsrechtlich Organ des Staates, nicht Organ der staatsbürgerlichen Gesellschaft (…); das gleiche gilt auch für den einzelnen Abgeordneten (ebd.S.27). Und weiter: „Die Wahlen sind nicht ein Vorgang der Willensbildung des Staates, sondern der für die Willlensbildung des Staates eine Voraussetzung bildender Akt, in dem der permanente Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes gipfelt.“(ebd.S.27). Das Bundesverfassungsgericht „sieht in den Parlamentswahlen den für die Willensbildung in der repräsentativen Demokratie entscheidenden Akt, der periodisch wiederkehrend stattfinden muss, um dem Volk die Möglichkeit zu geben, seinen Willen kundzutun.“ (BVerGE 20, 56 [113]. Daran halten muss sich das herrschaftliche Organ „Staat“ nicht, klug wäre es dennoch, wenn man nicht im beherrschten Volk revolutionäre Umtriebe befördern möchte. Für die Öffnung des Staates für zivilgesellschaftliche Belange wäre es notwendig, seine „heilige Ordnung (Hierarchie) aufzusprengen und sein herrschaftliches Gebaren durch eine kooperative Version zu ersetzen. Bereits Hegels Analyse des Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnisses wäre eine Hilfe, die Abhängigkeit des herrschaftlichen Bewusstseins vom knechtischen Bewusstsein und umgekehrt zu verdeutlichen und angemessen in der juristischen Analyse zu berücksichtigen. Das für eine gut funktionierende Staatsverwaltung notwendige kooperative Über- und Unterordnungsverhältnis würde dann nicht mehr als ein unappetitliches und für beide Seiten frustrierendes Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis betrachtet, in dem nur noch der harsche Befehlston auf der einen Seite und die schmeichel-leckerische Unterwerfung auf der anderen Seite zählt. ___________ 1 Als Grund für den im Vergleich zur Weimarer Verfassung „verkümmerten (…) Bereich des realen Volkswillens“ weisen die Grundgesetzkommentatoren auf die „Weimarer Erfahrungen“ hin (ebd.,S.7). Warum jedoch vor allem der unmittelbare Volkswillen beschnitten wurde, stößt auf Unverständnis. Gewählte Repräsentanten hatten ebenfalls Anteil an der fortschreitenden Funktionsunfähigkeit der Weimarer Republik und wurden schließlich durch ihr Abstimmungsverhalten Wegbereiter der nationalsozialistischen Diktatur. 2. Der Hamburger Verein „Mehr Demokratie“ wurde 2004 gegründet, nachdem der CDU-Senat der Hansestadt sich über einen Volksentscheid zur Privatisierung städtischer Kliniken hinweggesetzt hatte. Im Volksentscheid hatten sich 75 Prozent der Abstimmungsberechtigten gegen die Privatisierung ausgesprochen (50 Prozent waren nötig). „Mehr Demokratie“ forderte, bei Abstimmungen zur Verfassungsänderung das Quorum von 50 auf 35 Prozent zu senken. Es beteiligten sich jedoch in der Abstimmung zur Quorumsabsenkung weniger als 50 Prozent der abstimmungsberichtigten Hamburger Bevölkerung (Tagesspiegel, 12./15. 10. 2007). Literatur: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd.5 Art.20 Grundgesetz, Seiten 1-10, Bd.6 Art.38 Grundgesetz, Seiten 9-28). <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/933a74bdf23f46eb8d528d3de5d963a1" width="1" height="1" alt="" /> |
AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
|