Simone Lück-Hildebrandt
Das Individuum kann sich nur als Einzelnes, als „Selbst“, wahrnehmen, indem es sich auf ein Anderes, ein oder mehrere Individuen, bezieht. Dieses Andere zeigt ihm an, dass es als Einzelnes existiert. D.h. mit dem Bezug zum Anderen erfolgt zugleich der Rückbezug auf das „Selbst“. Je mehr „Andere“ diese „Aufgabe übernehmen“, desto facettenreicher stellt sich das „Selbst“ diesem Individuum dar. Das Andere bzw. die Anderen vollziehen als Individuum den gleichen Prozess wie das zuerst genannte Individuum. Die vielen Facetten des „Selbst“ können auch als die vielgestaltigen Identitäten des Individuums angesehen werden. Folgt man den Gedankengängen des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, so ist in diesem Prozess der Bezug auf den jeweils Anderen das Entscheidende, nicht die jeweiligen Einzelnen. Zwar könnte es ohne die Einzelnen auch keinen Bezug geben, aber dadurch, dass die ständige Bewegung der Bezugnahme die Einzelnen auch in ihrem „Selbst“ ständig verändern, sie also nie als „fixe“ Einzelne (Entitäten) existieren, sondern immer „pulsieren“, kommt dem Bezug eine höhere Bedeutung zu. Diese Überlegungen hat Jean-Luc Nancy in verschiedenen seiner Schriften niedergelegt, so z.B. in „Die Anbetung – Die Dekonstruktion des Christentums II“. In einer Liebesbeziehung findet der gleiche Prozess der wechselseitigen Bezugnahme – wie oben dargestellt – statt, aber mit folgendem entscheidenden Unterschied: das eine Individuum nimmt sich im Anderen auf besonders „gute“, „gelungene“ Weise als „Selbst“ wahr. Diese Wahrnehmung (im Anderen) scheint das, was in seiner Vorstellung als „Selbst“ bereits vorhanden ist, besonders gut wieder zu geben. Es fühlt sich im Anderen vollkommen aufgehoben. Das andere Individuum unterliegt in gleicher Weise diesem „außergewöhnlichen“ Prozess der Bezugnahme. Wodurch dieser „außergewöhnliche“ Prozess der Bezugnahme ausgelöst wird, ist wahrscheinlich vielfältigster Natur. Denkbar ist, dass es „Vergleichbares“ zwischen den beiden Individuen gibt oder zwischen den beiden Individuen schwingt, das sie prädestiniert, in diesen besonderen Beziehungsprozess einzutreten. In diesem Schwingen von Vergleichbarem entsteht auch der Wunsch nach Erfüllung von körperlicher Bezugnahme (Vereinigung), in der das Vergleichbare – aber auch das Unterschiedliche – quasi sensorisch erfahren wird. Dieses „Vergleichbare“ – ohne, dass man sagen kann, was es ist – bietet beiden Individuen zunächst einmal grundsätzlich zwei (?) mögliche Verhaltensweisen. In einem Fall erkennen beide – trotz Vergleichbarem – die Andersartigkeit des jeweils Anderen in allen seinen Lebensäußerungen an und stellen so die Bezugnahme oder die Anziehungskraft immer wieder aufs Neue her, so dass auch die Wahrnehmung des „Selbst“ auf einer immer höheren Stufe vollzogen werden kann. Im anderen Fall schließen beide von dem vermeintlich Vergleichbaren ausgehend darauf, dass der jeweils Andere dem eigenen „Selbst“ tatsächlich gleich sei, dass nur so die „außergewöhnliche“ Bezugnahme überhaupt realisiert werden könne. Verhält sich der Andere jedoch nicht entsprechend dieser (falschen?) Vorstellung, werden Erwartungen enttäuscht, d.h. das erste Individuum nimmt sein „Selbst“ im Anderen nicht in der erwarteten Weise wahr. Die Angst, dass das in beiden Vergleichbare entschwinden könnte, verleitet das eine Individuum dazu, das andere Individuum seinem „Selbst“ anzugleichen, d.h. den Kern des anderen Individuums, sein andersartiges „Selbst“, auszuhöhlen. Im umgekehrten Fall (der Andere findet sein „Selbst“ im ersten Individuum nicht in der erwarteten Weise wieder) findet der Prozess in gleicher Weise statt. Erschwerend kommt hinzu, dass
Theoretisch könnte man sich vorstellen, dass wenn sowohl in dem einen wie auch dem anderen Individuum beide Verhaltensweisen völlig ausgeglichen sind und somit auch die Beziehung zueinander ausgeglichen ist, die Liebe vollkommen sein müsste. Allerdings vermittelt eine solche Vorstellung auch etwas Erstarrtes. D.h. nur das Schwanken um diese Ausgeglichenheit oder vielleicht der „Kampf“ darum, erhält die Liebesbeziehung am Leben. Wird in diesem „Kampf“ der Andersartigkeit des Partners immer weniger Raum gegeben, um den Raum des vermeintlich Vergleichbaren zu erhöhen, gerät die Liebesbeziehung in eine Krise. Das eine Individuum kann sein „Selbst“ nur durch das Anderssein des anderen Individuums erfahren; sucht es nur das Vergleichbare im Anderen, verliert es sein „Selbst“. Ohne dieses „Selbst“ ist jedoch auch kein Bezug mehr zum Anderen möglich - und schon gar kein Liebesbezug. Wird umgekehrt das Andersartige des Partners gegenüber dem Vergleichbaren immer gewichtiger, bleibt das „Selbst“ des Individuums zwar erhalten, aber das, was beide zu diesem besonderen Beziehungsverhältnis prädestiniert hat – die Vergleichbarkeit (die es ermöglicht hat, dass sich das „Selbst“ besonders gut durch den Anderen reflektiert fühlt) – verschwindet. Aus der Liebesbeziehung ist eine Beziehung wie jede andere auch geworden. Durchlaufen beide Partner diesen Prozess in ungefähr der gleichen Weise, kommt es zur Trennung. Aber auch diese beiden Formen der „Auflösung“ der Liebesbeziehung werden sich kaum in Reinform vollziehen, sondern beide Verhaltensweisen werden wahrscheinlich immer in einem bestimmten „Mischungsverhältnis“ – auch zwischen den Partnern – auftreten. Da sich beide Entwicklungsmöglichkeiten – Aufbau und Erhalt der Liebesbeziehung wie auch die Auflösung – weitgehend unbewusst und damit unkontrolliert vollziehen (selbst wenn man die Prozesse an sich beschreiben kann), bleibt die Liebe etwas Geheimnisvolles. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/503ccb9165ed4f0abaa2358e3809f945" width="1" height="1" alt="" />
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Reinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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