Simone Lück-Hildebrandt
1. Langage - langue - parole Wenn nach Jean-Luc Nancy alle Existierenden in einem unendlichen Prozess des aufeinander Verweisens eingebunden sind, hat die Sprache an diesem Prozess einen wesentlichen Anteil, vielleicht ist sie sogar konstituierend für ihn. In einer solchen Aussage wird der Begriff ‚Sprache‘ jedoch als eine Einheit, als etwas Ganzes, benutzt, was bei näherer Betrachtung so nicht aufrecht erhalten werden kann. Ferdinand de Saussure war sich der Komplexität dessen, was Sprache ausmacht, sehr wohl bewusst. Seine Auffächerung des Begriffs ‚Sprache‘ in langage, langue und parole ermöglichte es ihm, sich seinem Untersuchungsgegenstand – der langue – über eine ganz bewusste Hypothesenbildung, dem point de vue, zu nähern. „Die Sprache als Gesamtphänomen (langage) erscheint Saussure nicht geeignet,um als Objekt der Wissenschaft zu fungieren, weil damit zu viele heterogene Aspekte erfasst werden, die nicht als Ganzes klassifiziert werden können. Da sich das Objekt der Wissenschaft nicht von selbst ergibt, muss es konstruiert werden. ... Der Ausschluss der anderen Aspekte der Sprache (langage) erfolgt durch den point de vue, den Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Betrachtung. Durch diesen Standpunkt und von diesem Standpunkt aus wird der Gegenstand der Wissenschaft konstruiert.“ ( Anja Koeder, Von Ferdinand de Saussure zu einer formalen diachronischen Semantik, Konstanz 1999: 8) D.h. langue entspricht nicht einem objektiv überprüfbaren Phänomen der Wirklichkeit – das können wir sowieso nicht erkennen (andernfalls könnten wir auch die langage analysieren) – sondern es ist ein Konstrukt, mit dem wir uns „behelfen“, um Wissen über das, was Sprache ausmacht, zu erlangen. Als Konstrukt muss man sich langue jedoch nicht nur als etwas Herauspräpariertes vorstellen, das wie unter einem Mikroskop betrachtet wird, sondern es ist zugleich in jedem Einzelnen von uns im Moment des Sprechens (parole) wirksam. „Die langue ist als ein kognitives Konstrukt zu begreifen, von dem das Kommunikations-mittel parole zu unterscheiden ist. Allein durch die langue kommt keine Kommunikation zu Stande. Von dem Subjekt der parole wird hinsichtlich des kognitiven Konstrukts langue erwartet, dass es den Fluss seines Erlebens zu unterbrechen und die Stücke, die durch solche Unterbrechungen entstehen, reflektiv zu betrachten fähig ist. Das Individuum bildet die von außen kommenden Reize nicht mehr oder minder passiv-rezeptiv ab, sondern aktiv-konstruktiv mit vorhandenen kognitiven Strukturen, sprachlichem wie nicht-sprachlichem Vor- und Weltwissen etc..“ (Koeder:9) Die langue ist also ein „Schatz“ (Saussure spricht auch von trésor), der in uns „schlummert“ und nur über die parole aktiviert werden kann. Mit dieser Aktivierung wird der ständige Fluss der von außen kommenden Sinnesreize „unterbrochen“ und in Stücke zerlegt, die wir reflektiv betrachten, d.h. aktiv konstruieren können. Diese aktive Konstruktion trifft auf die uns unmittelbar umgebenden Existierenden wie auch auf die zu untersuchenden Wissensgebiete zu. Zu fragen wäre an dieser Stelle: 1. Gibt es einen Unterschied zwischen dem kognitiven Konstrukt langue und den kognitiven Strukturen? 2. Lassen sich diese kognitiven Strukturen überhaupt in sprachliches und nicht sprachliches Vor- und Weltwissen unterscheiden, d.h. sind nicht die kognitiven Strukturen grundsätzlich sprachlicher Natur im Sinne von langue? Langue und parole sind aber bei Saussure noch in Beziehung zu weiteren Begriffen einzuordnen: Langage als der umfassendste Begriff des Phänomens (ohne dass es wirklich Untersuchungsgegenstand ist) beinhaltet
Die faculté du langage ist noch weiter aufzufächern: „Ferdinand de Saussure unterscheidet zwischen: (i) der Fähigkeit, Laute zu äußern (faculté de proférer des sons; CLG/E I, Nr. 187); (ii) der Fähigkeit, Zeichen niederzuschreiben (faculté d'écrire; ebd.); (iii) der Fähigkeit, Zeichen zu assoziieren und zu koordinieren: faculté d'association et de coordination.35; (iv) der Fähigkeit, die assoziierten und koordinierten Zeichen regelmäßig zu artikulieren (faculté d'évoquer les signes d'un langage régulier; CLG/E I, Nr. 187). (i) hat dabei den Rang der allgemeinen biologischen Fähigkeit, (ii) - (iv) stehen in Zusammenhang mit der langue, d.h. es ist mehr nötig als allein die biologischen/organischen Voraussetzungen. Die faculté ist im Gegensatz zu der langue rein individuell charakterisiert, sie ist nicht an die Gemeinschaft gebunden.“ (Koeder: 11) Wenn allerdings in der Sprech- und Sprachfähigkeit des Individuums Aspekte der langue enthalten sind, ist auch der Bezug zur Sprachgemeinschaft daraus nicht zu eliminieren. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit Saussures Theorie kommt Koeder dann auch zu der Feststellung, dass Sprechen (parole) in erster Linie im Diskurs, in der Kommunikation mit anderen der Sprachgemeinschaft, wirksam wird und damit auf das als sozial charakterisierte System langue zurückgegriffen werden muss. So lässt sich auch unmittelbar von der parole zum System langue hin abstrahieren. Diese Möglichkeit ist vor allem für die Betrachtung von Sprachwandel von Bedeutung. Noch einmal anders formuliert: Da jedes zur parole befähigte Individuum sich mit anderen in gleicher Weise befähigten Individuen virtuell oder real in einer ununterbrochenen Kommunikation befindet (virtuell = Kommunikation mit sich selbst), wird ebenfalls ununterbrochen das „System langue“ aktiviert und damit ständig aufs Neue konstituiert – konstituiert innerhalb des Individuums sowie zwischen den Individuen. Dieser ständig ablaufende gesamte Prozess ist meiner Ansicht nach das, was Saussure als langage betrachtet. Hier lässt sich auch eine Verbindung zum ständigen Verweisen bei Nancy herstellen. „Durch das Sprechen wird die langue beständig im Sprecher und im Hörer reinstalliert, und genau dies entspricht dem Bild der reziproken Determination (oder Artikulation) der Werte (valeurs), welche die eigentliche Bedeutung ergibt. Die langue offeriert die Zeichen, in der parole werden diese Zeichen durch den Sprecher appliziert und kombiniert. Der Sprecher benutzt seine Fähigkeiten zur Analogiebildung, zu syntaktischen Kreationen, neuen Motivationen, präzisen, vagen oder ambigen Referenzen. Durch die Transmission werden die bereits kombinierten Zeichen getrennt oder aufgelöst. Der Hörer assoziiert die signifiants, die er hört, mit den signifiés aus seiner Erinnerung und identifiziert die Referenz. Die individuellen Freiheiten werden abgeschätzt, zurückgewiesen oder angenommen. Die Werte zwischen den Zeichen werden neu gesetzt, neu verteilt. Dies alles passiert in unzähligen und kontinuierlichen Akten der parole zwischen allen Mitgliedern einer Gemeinschaft (Sprachgemeinschaft, soziales Milieu, Dialekt), die Veränderungen entwickeln sich täglich, wie auch ein Fluss beständig dahinfließt. Die langue ändert sich langsam, ändert auch langsam die Dinge der Alterierung der signifiant und ihre Rückwirkung auf das Zeichen.“ (Koeder: 173) Zum einen belegt dieses Zitat meine Überlegungen, zum anderen werden hier weitere Aspekte der Analyse aufgenommen, nämlich der Begriff des Wertes und der Hinweis auf die Veränderung von Sprache. Diese weitere Aufschlüsselung in der Analyse von Sprache muss noch genauer dargestellt werden. 2. Langue als Zeichensystem Nach Saussure ist das kognitive Konstrukt langue ein System aus Zeichen, wobei ein Zeichen sich in signifiant und signifié – Bezeichnendes und Bezeichnetes – unterteilt. In seinen ersten Schriften hat er diese Unterteilung auch image acoustique und concept – Lautbild und Konzept – genannt. Interessant ist dabei, dass er nicht von ‚Laut‘ sondern von ‚Lautbild‘ spricht. Daraus ist zu schließen, dass Saussure erkannt hat, dass sich im menschlichen Gehirn – je nach Sprachgemeinschaft – eine bestimmte kognitive Struktur zur Lautgebung herausgebildet hat, nach der dann der einzelne Laut bzw. die Lautkombination in der parole – entsprechend zum Konzept – produziert wird. Demnach ist auch das einzelne Konzept in eine bestimmte kognitive Struktur eingebettet. Nach Saussure ist der Bezug zwischen signifiant und signifié arbiträr, d.h. es gibt weder eine außersprachliche noch eine ideengeleitete Notwendigkeit von dem dieser Bezug abhängen könnte. Damit lehnt er auch zunächst jeglichen direkten außersprachlichen Einfluss auf die Sprache ab. „Im Abschnitt über den point-de-vue in dieser Arbeit ist gezeigt worden, dass eine Saussure'sche Motivation die Ablehnung einer nomenklaturistischen Sprachauffassung ist, der er unter anderem den Mangel zuschreibt, zuerst die Existenz des Objekts und dann die Existenz des Zeichens anzunehmen. Für Ferdinand de Saussure praeexistiert gar nichts, weder Ideen oder Konzepte noch Laute oder Lautkombinationen. Psychologiquement, que sont nos idées, abstraction faite de la langue? Elles n'existent probablement pas. Ou sous une forme qu'on peut appeler amorphe. Es gibt keine von vorneherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt. Die lautliche Masse ist eben so wenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes; sie ist nicht eine Hohlform, in der sich das Denken einschmiegt, sondern ein plastischer Stoff, der seinerseits in gesonderte Teile zerlegt wird, um Bezeichnungen zu liefern, welche das Denken nötig hat. ... Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle, vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, dass deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt.“ (Koeder: 57/58) D.h. frei nach Saussure könnte man sich vorstellen, dass sich im menschlichen Gehirn über die sinnlichen Eindrücke eine „amorphe Denkmasse“ bildet, demgegenüber besteht die ebenfalls „amorphe Lautmasse“, zu der der Mensch fähig ist, aber erst über das Zusammenspiel zwischen „Lautmasse“ und „Denkmasse“ entstehen gegeneinander abgegrenzte Einheiten (signifiant /signifié), die das Zeichen (signe) und schließlich die Sprache ausmachen. Das aufeinander Verweisen findet also nicht nur zwischen den kommunizierenden Individuen statt, sondern auch zwischen signifiant und signifié. Die Beziehung zwischen signifiant und signifé
Hier scheint mir wieder die Festlegung durch die Sprachgemeinschaft entscheidend zu sein; würde eine bestimmte Ordnung von den (arbiträr festgelegten) Veränderungen „überbordet“, wäre die gesamte Kommunikation zwischen den Individuen einer Sprachgemeinschaft in Frage gestellt. Als Beispiel bietet sich der Wandel von dem mittelhochdeutschen Wort „Dritteil“ zum neudeutschen Wort „Drittel“ an. Sowohl die lautliche als auch die grammatikalische Form hat sich verändert, das Konzept ist das gleiche geblieben. Wäre die Veränderung tiefgreifender gewesen (also auch im Bereich des Konzepts), wäre eine Verständigung nicht mehr gegeben. Aufgrund dieser Tatsache trägt langue ein als synchron charakterisiertes System die Offenheit immer in sich; Kontinuität und Wandel bedingen einander. Mit dem Wandel verändert sich auch die Wertigkeit der Zeichen untereinander. Wert, valeur, ist ein Begriff, der auf verschiedenen Ebenen „stattfindet“:
Dieser am Beispiel „die Denke“ dargestellte Prozess öffnet zugleich auf eine weitere Verästelung des aufeinander Verweisens: auf jeder der oben beschriebenen Ebenen kommt eine weiteres Element hinzu, das auf die anderen Elemente verweist und umgekehrt. Bei der Verwendung dieses Wortes gehen auch die Sprachteilnehmer eine neue Beziehung ein. „Zur Erinnerung: Valeur ist von Saussure bereits auf der Ebene von la langue angelegt, wird jedoch erst in der Einzelsprache langue wirksam. Valeur existiert primär auf der abstrakten Ebene (virtuelle Gegebenheit) und ist im trésor interieur der Sprecher einer Sprachgemeinschaft irgendwie als Irgendetwas vorhanden, wobei das Gegenstück zu valeur in der Realität (= Realisierung im Sprachgebrauch) letztendlich die signification, dies in der Interpretation als Verstehen innerhalb sozialkommunikativen Sprechens - erfolgreiche Kommunikation - darstellt. Auf diese Weise kann man das Saussure'sche Beispiel erklären, dass ein Nomen des Sanskrit im Plural wohl dieselbe signification wie das entsprechende Nomen des Latein oder des Deutschen hat, jedoch nicht den identischen valeur, weil das Kasussystem des Sanskrit zwischen Singular, Dual und Plural unterscheidet, das Kasussystem des Latein und des Deutschen jedoch nicht.“ (Koeder: 178) An diesem Beispiel wird deutlich, dass die einzelnen Sprachen ganz unterschiedlich „auf die außersprachliche Wirklichkeit zugreifen“, sie anders „portionieren“; dabei geht es nicht nur um Objekte oder Individuen (insgesamt Existierende) sondern auch um Prozesse oder Handlungen. Dieser unterschiedliche „Zugriff“ auf die Realität hat Rückwirkungen auf die jeweiligen Sprachteilnehmer, die diesen „Zugriff“ weiter ausgestalten und somit das „sprachliche Netz“ auf ganz bestimmte Weise ausdiffe-renzieren. Dabei ist sowohl das sprachliche Netz wie auch die Realität nie etwas Abgeschlossenes, beides ist zueinander offen. Das gilt für verschiedene Sprachen im Vergleich zueinander wie auch in Bezug auf eine einzelne Sprache. Philip Hogh kritisiert in seiner Dissertation „Kommunikation und Ausdruck“ (2015) den Ansatz der frühen sprachanalytischen Philosophie, „die Sprache als eine autonome Form zu bestimmen und sie in ihrer philosophischen Analyse von der nichtsprachlichen Realität abzulösen. Zwar beziehen sich sprachliche Sätze demzufolge auf die nichtsprachliche Realität, aber für die Beantwortung der Fragen, warum sie überhaupt eine Bedeutung haben und wie die Konstitution dieser Bedeutung richtig zu bestimmen sei, musste die konkrete nichtsprachliche Realität nicht in die Sprachanalyse einbezogen werden“. (Hogh: 11) Dieses Verfahren sieht er auch bei Saussure als gegeben an, der langue und parole unterscheidet. „Die sich differentiell konstituierenden sprachlichen Werte sind in ihrem Gehalt zu keinem Zeitpunkt von etwas Nichtsprachlichem bestimmt, aber sie sind doch für die in Raum und Zeit stattfindende sprachliche Praxis gültig. Die Sprache wird so zu einem sich selbst konstituierenden, geschlossenen System, dessen Gültigkeit dem Sprechen der Sprecherinnen vorausgesetzt ist.“ (Hogh: 12) Dieser Sichtweise stellt Hogh den sprachphilosophischen Ansatz Adornos entgegen: „Dieser Idee der Sprachkritik liegt jedoch ein Sprachbegriff zugrunde, der die Sprache als eine geschichtliche Praxis versteht, in der sich das reale Leben der Menschen sedimentiert, nicht als eine autonome Form, die von diesem Leben unberührt bliebe. »Durch Sprache gewinnt Geschichte Anteil an Wahrheit, und die Worte sind nie bloß Zeichen des unter ihnen Gedachten, sondern in die Worte bricht Geschichte ein.« (Ebd., 366)“ (Hogh: 12/13) Bei der Gegenüberstellung zwischen dem, was Koeder zu Saussure herausgearbeitet hat, und dem, was Hogh als einen zentralen Punkt bei Adorno darstellt, wird deutlich, dass der Unterschied zwischen Saussure und Adorno gar nicht so groß ist. So könnte z.B. ohne parole das System langue gar nicht wirksam werden, nur über die parole kommt es zu Veränderungsprozessen innerhalb des Systems langue. Andererseits kommt die Vorstellung Adornos von der Sprache, „in der sich das reale Leben der Menschen sedimentiert“ der Saussurschen langue durchaus nahe: ohne eine gewisse Strukturiertheit (so etwas wie Sedimentgestein), auf die alle Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft Zugriff haben, wäre Kommunikation nicht denkbar. Langue ist für Saussure grundsätzlich als etwas Gesellschaftliches (fait social) zu definieren, insofern kann sie nicht als in sich geschlossenes System verstanden werden. Die Problematik ergibt sich vielmehr daraus, dass
In den Analysen zu Saussures Arbeiten gibt es Ansätze, die aufgrund von Saussures Ablehnung einer nomenklaturistischen Sprachauffassung ihm unterstellen, dass er keinerlei Bezug zwischen signifié und Ding herstellt. Koeder stellt dagegen heraus: „Seine Argumentation ist die, dass eine Sache ihrer Bezeichnung nicht eine Bedeutung oktroiert. Obwohl aus den materiellen und kulturellen Eigenschaften eines Dinges oder eines Sachverhaltes wesentliche Elemente in die Bedeutung einer Bezeichnung einfließen können, ist die Bedeutung einer Bezeichnung eines Dinges nicht allein davon abhängig, sondern wesentlich auch vom zeichensprachlichen Umfeld.“ (Koeder: 146) Die Bezeichnung „Apfel“ erhält ihre Bedeutung nicht allein von dem Gegenstand „Apfel“, sondern vor allem durch den Gegensatz zur Bezeichnung „Birne“, „Pflaume“ etc. Weiterhin wird die Bedeutung durch ganz bestimmte syntaktische Beziehungen konstituiert: Der Apfel wird gegessen / geschnitten / gepresst / gebacken etc. aber nicht: gefahren. Saussure verdeutlicht die Rolle der „außersprachlichen Realität“: "Andererseits >konnten uns Historiker und Linguisten lehren˂, dass >die Sprache, dieses besondere System˂ von unabhängigen Symbolen, das die Sprache ist, nicht ist, ohne die Begebenheiten zu kennen [ ]". (Koeder: 147) Im Französischen ist „Begebenheit“ mit „vicissitudes“ ausgedrückt, was in etwa „Wechselfälle des Lebens“ bedeutet. Man könnte vielleicht auch vom „Fluss des Lebens“ sprechen, ohne den Sprache gar nicht existieren kann, d.h. im Umkehrschluss, dass in der Sprache die „außersprachliche Wirklichkeit“ in irgendeiner Weise reflektiert wird. Im weiteren Verlauf spricht Koeder davon, dass in dem Zeichen, genauer im signifié, der „Schatten des Objekts“ reflektiert wird. Dabei ist es noch fraglich, ob die Reflektion allein dem signifié zuzuordnen ist. Eine m.E. wichtige Textstelle bei Saussure besagt: „... la loi du signe n'est pas de désigner un objet mais de choisir, dans la matière qui se présente aux signes, l'objet à désigner (je paraphrase d'ailleurs ici une expression de CLG/E 3312.1): le signe est un principe de division et les divisions possibles sont en fonction des signes disponibles (chien et loup, ou seulement chien.)" (Zit. von Saussure, Koeder: 149) D.h. das Gesetz des Zeichens ist es nicht, ein Objekt zu bezeichnen (dann wäre das Objekt schon vorher gegeben), sondern aus der Materie, wie sie sich den Zeichen präsentiert, das zu bezeichnende Objekt auszuwählen; das Zeichen ist ein Prinzip der Einteilung (der Wirklichkeit) und die möglichen Einteilungen sind abhängig von den zur Verfügung stehenden Zeichen. Als Beispiel werden die Zeichen für Hund und Wolf angeführt, die eine bestimmte Einteilung der Wirklichkeit hervorrufen. Gäbe es im Gegensatz dazu nur das Zeichen Hund, wäre die Wirklichkeit in anderer Weise eingeteilt. Allerdings taucht in diesem Zitat ein anderes Problem auf: Es scheint nahezulegen, dass die Zeichen vor und unabhängig von der „außersprachlichen Wirklichkeit“ existierten. Angesichts der bisherigen Darstellung wäre eine solche Zuspitzung allerdings falsch. Eher muss man sich ein „unmittelbares Aufeinandertreffen“ von Zeichen und Materie in dem Augenblick vorstellen, in dem die parole durch den Sprecher (und auch den Zuhörer) realisiert wird. Insofern darf bei der Frage nach der Bedeutung das signifiant nicht ausgeklammert werden. Andererseits zeigt Saussure Beispiele auf, bei dem sich die assoziativen Beziehungen zwischen den Zeichen lediglich auf das signifié beziehen: enseignement, instruction, apprentissage (Lehre/Unterricht, Unterweisung, Ausbildung). Dies wird als Beweis genommen, dass allein im signifié eine Art Normbedeutung angesiedelt sei, die allen Teilnehmern einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung steht. Ohne weiter auf diese besondere Problematik einzugehen, sollen zunächst die Begriffe sens, valeur und signification geklärt werden. Aus den verschiedenen Interpretationsansätzen zu Saussure lässt sich laut Koeder folgendes festhalten: „Die konzeptuelle Komponente des Zeichens, signifié, das fest an die lautliche Komponente des Zeichens gebunden ist, enthält neben der Referenz auf ein außersprachliches Objekt ein endliches Bedeutungspotential. Dieses Bedeutungspotential ist von der jeweiligen Einzelsprache (langue) und der Gemeinschaft, die sich der Sprache bedient (langue als fait social) abhängig. Endlich ist dieses Bedeutungspotential durch die gegenseitige Abgrenzung der Zeichen, die sich gegenseitig Wert (valeur) zuweisen.“ (Koeder: 158) Es gibt ein lexikologisches Bedeutungspotential, d.h. durch die Einbettung eines Zeichens in verschiedene „Assoziationsketten“ (z.B. Unterricht/unterrichten/unterrichtet oder Unterricht/Lehre/ Ausbildung/Erziehung) wird deren Werthaltigkeit im Vergleich zu den anderen Zeichen ermittelt und dadurch mit sens (Sinn bzw. Bedeutung) aufgeladen – und umgekehrt. Daneben gibt es auch ein syntaktisches Bedeutungspotential, auch hier ist das Zeichen eingebettet in die chaîne de parole, den Sprechfluss; über die anderen zugeordneten Zeichen wird die Werthaltigkeit des einzelnen Zeichens ermittelt sowie umgekehrt das einzelne Zeichen die Werthaltigkeit der anderen Zeichen bestimmt. (Ich sitze auf der Bank. / Ich deponiere mein Geld auf der Bank.) Der Begriff „Bedeutungspotential“ wäre dann mit sens gleichzusetzen und käme dem einzelnen Zeichen zu, d.h. das einzelne Zeichen enthält potentiell all die Anknüpfungspunkte zu den anderen möglichen Zeichen. Während valeur, Wert, immer nur als Beziehung zu anderen Zeichen wirksam wird. Erst im tatsächlich stattfindenden Sprechen (in der parole bzw. discours) ergibt sich die signification. „Wunderli interpretiert: "Entscheidend ist hier ohne Zweifel, dass die signification ausdrücklich auf der Ebene des discours angesiedelt wird, d.h. auf derjenigen Ebene, auf der langue (mit oder ohne lautliche Manifestation) aktiviert wird, und dass sie als signification de pensée erscheint: sie bezieht sich auf die pensée, die als solche ein außersprachliches Phänomen ist. Es steht somit fest, dass signification bei Saussure die konkrete Rederealisierung des Zeicheninhalts und seinen referentiellen Bezug bezeichnen kann (...).“ (Koeder: 167) „Gebrauch durch das Individuum heißt: Zeichen, deren Einzelkomponenten in Relation zueinander stehen (valeur), und die in indirekter (assoziativer) Relation zu anderen Zeichen stehen (valeur) werden in direkte (syntagmatische) Relation mit anderen Zeichen in der chaîne de la parole gebracht (valeur), woraus sich eine Bedeutung ergibt, die von anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft verstanden werden kann (signification).“ (Koeder: 172) Insgesamt lässt sich aus dem Dargestellten schlussfolgern, dass Sprache (langue und parole) sich als ständiger Prozess des Verweisens konstituiert – Verweise zwischen Sprache und „außersprach-licher Realität“, Verweise zwischen signifiant und signifié, vielfältigste Verweise zwischen den Zeichen und auch zwischen parole und langue. Nur aus der Tatsache, dass an diesem Prozess ständig Sprecher und Zuhörer beteiligt sind, die an diesem Prozess entsprechend ihres individuellen Erfahrungshintergrundes „weiterhäkeln“, ist Sprachwandel zu erklären. „Die Werte zwischen den Zeichen werden neu gesetzt, neu verteilt. Dies alles passiert in unzähligen und kontinuierlichen Akten der parole zwischen allen Mitgliedern einer Gemeinschaft (Sprachgemeinschaft, soziales Milieu, Dialekt), die Veränderungen entwickeln sich täglich, wie auch ein Fluss beständig dahinfließt. Die langue ändert sich langsam, ändert auch langsam die Dinge der Alterierung der signifiant und ihre Rückwirkung auf das Zeichen.“ (Koeder: 173) „Valeur ist nicht wie das signifié eine Zeichenkomponente, valeur ist nicht wie sens das Produkt zweier Elemente und valeur ist nicht so unmittelbar fassbar wie es signification im Diskurs ist. Valeur hat, wie ich es sehe, einen ähnlichen Status wie die faculté du langage, es handelt sich bei valeur um die bedeutungskonstituierende Funktion in der Saussure'schen Theorie. Damit wäre auch die hier vertretene Position deutlich herausgestellt: Saussure konnte die Linguistik nur aus dem Grund neu begründen, weil er sich mit dem Problem der Bedeutung anders als seine Zeitgenossen auseinandergesetzt hat. Valeur ist als Funktion zu interpretieren, und darin besteht der große Unterschied der Bedeutungskonzeption Saussures zu denen seiner Zeitgenossen.“ (Koeder: 182/183). _______________________ [1] Nancy fügt noch an: Die Schöpfung sei nicht als "anfängliches Ereignis zu denken, und auch nicht als ein einziges Ereignis. Die Schöpfung hat unaufhörlich statt ..."(S.29). "Einerseits kann die »Natur« selbst - denn der Mensch stammt aus ihr - eine »Denaturierung« hervorbringen, und kein Gesetz und kein »natürlicher« oder »providentieller« [vorsorgender d.Verf.] Plan können angerufen werden, um den Lauf der Schöpfung zu steuern, die fähig ist, sich gegen sich selbst zu wenden; andererseits kann die Technik mit gutem Recht als Erneuerung der Schöpfung und ihrer Abwesenheit eines zugewiesenen Zwecks angesehen werden"(S.29). <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/25a8afcc22e84c5384ffa666d0b1dd86" width="1" height="1" alt="" />
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Reinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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