Der Philosoph Jean-Luc Nancy verlässt in seinem Buch "Die Anbetung - Dekonstruktion des Christentums (2)", Zürich 2012, die traditionellen Pfade der Philosophie. Er beginnt seine Analyse mit den vielfältigen Bezügen alles Existierenden untereinander. Die innere Verarbeitung der vielfältigen äußeren Einflüsse zur Bewahrung der Konstanz verändert das einzelne Existierende. Je nach der Eigenart der Verarbeitung und der daraus resultierenden inneren Veränderung ergeben sich neue Bezüge zu anderen Existierenden und bisher bestehende werden unterbrochen bzw. beendet. Die Gesamtheit der Bezüge befindet sich in ständiger Bewegung und hat den gegenseitigen Verweis der Existierenden aufeinander zum Inhalt. Die Sprache ist das Subjekt dieser nicht aufhörenden Bewegung des ständigen Verweisens. Der Begriff ‚Sprache‘ darf jedoch nicht als eine Einheit, als etwas Ganzes, betrachtet werden. Der Komplexität dessen, was Sprache ausmacht, war sich Ferdinand de Saussure bewusst. Seine Auffächerung des Begriffs ‚Sprache‘ in langage, langue und parole ermöglichte es ihm, sich seinem Untersuchungsgegenstand – der langue – über eine ganz bewusste Hypothesenbildung, dem point de vue, zu nähern. 1. Der "erwachende Geist" Jean-Luc Nancy lehnt sich in gewisser Weise an die methodische Vorgehensweise Hegels in der "Phänomenologie des Geistes" an. Hegel setzt an der Oberfläche der sinnlichen Gewissheit an, verlässt diese Ebene auf der Hinwendung zum darunter verborgenen Wesen, das er als sich vollkommen entäußerten Weltgeist definiert, um von dort in fortschreitender Vermittlung (jeweils von These und Antithese zur Synthese) zum reinkarnierten Weltgeist zu gelangen. Jean-Luc Nancy lehnt zwar das Hegelsche System ab, aber auch er führt den von ihm vermenschlichten, zum "erwachenden Geist aller Subjekte" bzw. auf das "Leben" selbst" reduzierten Weltgeist Hegels wie eine "sehr feine Spitze" in die "undurchdringliche Materie" ("Welt, Körper, unsere gemeinsame Gegenwart") ein und schiebt jene auseinander (S.7). Anders als Hegel vermeidet er jedoch, die Materie vollkommen durchdringen zu wollen. Er konzentriert sich auf die vielfältigen Bezüge der Existierenden, ihre Offenheit unter- und zueinander. Der "erwachende Geist", meint er, stelle sich der "Ungleichheit mit sich selbst", indem er sich in das andere seiner selbst - in das "Inkommensurable bzw. das Unmessbare, das Unvergleichbare" - vertiefe und das "Homogene" von der "Heterogenität" her öffne (S.7). Bevor sich der "erwachende Geist" in die "undurchdringliche Materie" ("Welt, Körper, unsere gemeinsame Gegenwart") versenkt, muss er, sofern er ihr entstammt, zuvor aus ihr emporgestiegen sein. Was zeichnet den "erwachenden Geist" (das Leben) aus, der es ihm ermöglicht, aus der Homogenität in die Heterogenität entfliehen zu können? Nancy greift hier zur folgenden Konstruktion: Das "Leben" in der Gestalt des "Ich" bezieht sich zur Entfaltung und Erhaltung seiner Konstante auf sich selbst, ohne damit den Bezug zu anderen "Ichs", Körpern, der gemeinsamen Gegenwart, der Welt und den Welten aufzugeben. Das "Ich" ist laut Nancy "ein Bezug zur Welt, zu den anderen zu »dir«, zu »uns»", "auf den gesamten Rest" (S.121). An anderer Stelle sagt er, dass das »Ich» nicht der alleinige Bezug zu mir ist, "punktuell und abgetrennt (absolut, im strengen Sinne), sondern ich bin die Gesamtheit der Bezüge, gemäß denen allein ich mich auf mich beziehen kann, angefangen natürlich mit der Sprache (angefangen - oder lieber ohne Reihenfolge, alle zusammen: Sprache und Blick, Geste, Berühren, das ganze Empfinden der anderen Seienden, der anderen »Ichs« und der anderen, die keine »Ichs« sind oder davon kein Zeugnis geben)".(S.146). In der Gesamtheit der Bezüge ermöglicht der Bezug auf die anderen Existierenden den Rückbezug des "Ichs" auf sich selbst und umgekehrt setzt die Erhaltung des "Selbst" den Bezug zu den anderen Existierenden voraus. Indem sich das "Ich" auf sich selbst bezieht, verhält es sich heterogen zur homogenen Komponente seiner Existenz, was jedoch noch nichts über die Kraft aussagt, die es ihm ermöglicht, die Materie, deren Teil es ist und stets bleibt, zu durchdringen bzw. auseinander schieben zu können. Für Nancy entsteht diese Kraft aus der Verknüpfung von sensorischer Wahrnehmung, Sprechen und Denken des "Sprachwesens Mensch", seiner darin enthaltenen "Fähigkeit aufzunehmen, um weiter zu begehren".(S.135). 2. Das sich aussetzende Existierende - der unendliche Verweis Das Existierende setze sich aus und tue nur das, sagt Nancy: "Es nimmt Abstand von sich selbst, doch dieser Abstand ist keine Differenz, die seine finale Heraufkunft aufschiebt, sondern eine Nähe, deren feine Öffnung es mit der Gesamtheit der Seienden in Kontakt bringt und so mit dem Unendlichen der Offenheit, die sie alle teilt und sie alle vereint."(S.112). "Die Welt des Daseins oder der Existenzen", konkretisiert Nancy, "ist genau der Gesamtzusammenhang der Bezüge, die niemals »eine» Welt ausmachen, und weniger noch eine Welt von Objekten gegenüber Subjekten, sondern - wenn man in dieser Begrifflichkeit bleiben will - eine Welt, die selbst »Subjekt« ist: genau Subjekt der Bezüge, deren allgemeine Verknüpfung und Anschluss sie ist."(S.111/112). Keine der existierenden "heterogenen Register" könne sich laut Nancy "Totalität" anmaßen (S.125). Er fügt ergänzend hinzu: "Subjekt der Bezüge, das heißt letztlich Subjekt, das selbst - wie jedes Subjekt - Bezug ist und nur das: ein Sein zu - zu sich/zum anderen/zum Selben/zu nichts/, ein Sein, dessen ganzes Sein am zu hängt."(S.112). Daraus folgt für ihn, dass das "Ich" nicht "in" der Welt ist, "sondern vielmehr ich bin die Welt und die Welt ist ich,...". (S.111). Mit dieser Aussage wendet sich Nancy gegen die bisher vorherrschende Sichtweise, das Subjekt in den Mittelpunkt zu rücken und alles andere als Objekt zu begreifen. Die aus seiner Sicht wechselseitige Öffnung fixiert Nancy als das Gemeinsame aller Existenz: "Das Gemeinsame verbindet nicht und spaltet nicht, es versammelt nicht und trennt nicht, es ist weder Substanz noch Subjekt. Das Gemeinsame heißt, wir sind - und 'sind' hat hier seinen vollen ontologischen Gehalt - im gegenseitigen Verweisen aufeinander."(S.10). Der unendliche Verweis wird damit für Nancy die Ausgangslage seiner Erläuterungen, und das "Element dieses Verweisens" ist für ihn die Sprache (S.10). Sie mache "die Menschlichkeit des Menschen" aus (S.11). "Diese richtet uns aneinander und richtet uns alle zusammen an das, was sie wesentlich aufkommen lässt: das Unendliche eines Sinnes, den keine Bedeutung füllt und der, ..., mit den Menschen die Gesamtheit der Welt mit all ihren Seienden umhüllt, sozusagen einwickelt."(S.10). Der Sinn entwickle sich in enger Verknüpfung mit dem Fortschreiten des unendlichen Verweises: "Der Sinn der Welt ist nichts Garantiertes und auch nicht von vornherein Verlorenes: Er spielt sich ganz und gar im gemeinsamen Verweisen ab, das uns in gewisser Weise vorgeschlagen ist, eine Proposition. Er ist nicht darin 'Sinn', dass er Referenzen, Axiome oder Semiologien [Zeichensysteme, d.Verf.] von außerhalb der Welt bezöge. Er spielt sich darin ab, dass die Seienden - die Sprechenden und die anderen - darin die Möglichkeit einer Öffnung zirkulieren lassen, eine Atmung, eine Anrede, die eigentlich das Welt-Sein der Welt ist." (S.11). Die sich darin abzeichnende Entwicklung des Menschen zum Individuum, als das er erstmals "in Gänze dem Menschen" ausgesetzt ist und nicht mehr - wie vordem - den scheinbar Sicherheiten stiftenden und gleichermaßen Ängste verursachenden "Göttern", "Reichen", "Heiligkeiten", bezeichnet Nancy als das Besondere der "Wende zur europäischen Zivilisation" (S.12). 3. Das Unnennbare Was ist für Nancy das "Unnennbare"? Es ist, meint Nancy, "keine verborgene Seite der Welt, auch kein 'Ding an sich' noch ein Sein oder Seiendes", es existiert gar nicht (für uns): Vom Unnennbaren her und zu ihm hin "öffnet sich jedes Dasein", stellt er fest (S.8/9). In Wahrheit sei das Unnennbare noch nicht einmal als die Kehrseite des Daseins zu bezeichnen: Es ist, präzisiert er, "die Vorderseite selbst des Realen, es ist das Reale, uns als solches zugekehrt, uns offen, und an seine Offenheit richten wir uns ... Worte werden an das gerichtet, um dessen Unzugänglichkeit diese Worte wissen" (S.8). Wenn für Nancy "das Unnennbare"
Unmittelbar einsehbar ist, dass die sensorische Wahrnehmung nur auf eine uns zugewandte offene Vorderseite des "Realen" trifft. Das Ganze des "Realen" bleibt uns als "unnennbar" verborgen. Da wir das "Reale" gemäß Nancy in seiner Gänze nicht erkennen, können wir es uns nur auf eine vorläufige, aus der Sicht des Ganzen vielleicht gänzlich falschen Weise erschließen bzw. benennen. In der Formulierung, mit dem Unzugänglichen "intim werden" nähert sich Nancy dieser Problematik. Er sagt: "Die Welt ist die Exposition dessen, was unter der Berührung des Sinnes existiert, der in ihr das Unendliche eines 'Draußen' öffnet." (S.8/9). Kritisch einzuwenden ist hier, dass Nancy mit der Wortwahl "Exposition" noch in der reinen Anschaung zu bleiben scheint. Zu ergänzen wäre, dass sich durch die "Exposition" des "Realen" dem Menschen die Möglichkeit bietet, durch Verausgabung von geistiger und praktischer Arbeitskraft reale Welten zu schaffen bzw. zu gestalten. Insofern sich das "Reale" nur auf unzulängliche Weise dem "erwachenden Geist" öffnet, kann sich die Erzeugung von Wirklichkeit wie ein Fremdkörper zum "Realen" verhalten. Aus der wechselseitigen Durchdringung von in Realität umgesetzter Exposition und dem weiterhin verborgen bleibenden "Realen" entsteht dann unter Umständen eine Missgestalt, die in ihrer fortschreitenden Entwicklung Krisen verursacht und zu nicht mehr beherrschbaren Zuständen führt. Nancy bestimmt das "Reale" auch als das "Draußen", als "das Unendliche im Endlichen. Die Endlichkeit als Offenheit auf das Unendliche." (S.9). Dialektisch betrachtet hat die Endlichkeit die Unendlichkeit an sich selbst bzw. die Unendlichkeit erfüllt sich im Endlichen: eines bedingt das andere, beides zusammen ist das "Absolute"! (S.10). Festzuhalten bleibt jedoch, dass Nancy das andere - im Gegensatz zu Heidegger (der im umfassenden Sein alles existierende Seiende aufhebt) - auf die Öffnung des Endlichen zur offenen "Vorderseite" des für den Menschen unnennbarem Unendlichen beschränkt. Er versucht nicht, das Unendliche mit unzulänglichen Worten zu beschreiben, geschweige denn begrifflich zu bestimmen. 4. Der Vorrang des Gebrauchs der Sprache vor Kategorien wie Freiheit und Gleichheit Als "Sprachwesen" wüssten wir, meint er, "dass die Sprache sich und uns an dieses Außerhalb der homogenen Kommunikation und Signifikation richtet". "Sie ist nur dazu da, sie tut nur das: Sie spricht das Unnennbare an, sie ruft es, sie ruft es auf, interpelliert diese strikte Kehrseite aller möglichen Benennung." (S.8). "Wir haben Ahnung von dieser ausgezeichneten Möglichkeit, die die Möglichkeit der Sprache selbst ist, ... und damit die Möglichkeit der Welt selbst". Nancy erhebt die Sprache zum Gleichmacher aller Menschen. Ihren Gebrauch platziert er noch vor die Kategorien von Freiheit und Gleichheit, die der Zeit des machtdurchsetzten gesellschaftlichen Zusammenlebendens der Menschen entstammten. Nach der Auslöschung der Götter, der Mysterien, des Jenseits, der "Weltensphären, Zeitzyklen, Weisheiten", in denen Opfer, nur indem sie ihr Leben vergossen, "die eine Welt mit der anderen" verbanden (S.13), sei die Zeit angebrochen, in der der Gebrauch der Sprache wieder vorrangig als eine an ein "Außerhalb gewandte Anrede" verstanden werde. Implizit unterstellt Nancy einen frühen Zeitraum in der Menschwerdung der Menschen, in dem "ihre ersten Worte ... Worte der bewundernden Verehrung, der Anbetung [waren]. Der Anrede und der Anbetung."(S.13). "Das erste Wort, oder wenn man lieber will, der erste Satz", postuliert er, "sendet sich von vornherein jenseits eines Zuhörers und einer Botschaft: Es öffnet eine grundlegende Irreduzibilität auf die Vermittlung zwischen Sprechenden und zeigt von selbst, dass es von vorher kommt und weiter geht und dass es, ob es will oder nicht, ein Überschreiten der Bezeichnung, der Bedeutung und der Vermittlung in Gang setzt."(S.13). Wenn sich das erste Wort nicht auf das der Schöpfungsgeschichte - "Im Anfang war das Wort" - bezieht, sondern auf die sich über Jahrtausende hinweg erstreckende Werdung des Menschen zum Sprachwesen, ist es der Vermittlung zwischen Sprechenden zuzurechnen und als solche - entgegen der Meinung Nancys - aus den vorsprachlichen Lauten ableitbar. Wobei Nancy zuzustimmen ist, dass sich auch schon die Laute auf einen Bereich jenseits des Zuhörers richteten, aus dem jener die für ihn plausible Bedeutung interpretierte und auf deren Grundlage er seine Antwort in Gestalt eines Lauts oder mehrerer auswählte. Nancy lässt in seiner Betonung des Menschen als Sprachwesen außer Acht, dass bereits in Gemeinschaften vor und im Übergang von der instinktgeleiteten Kreatur zum sprechenden Menschen Machtunterschiede existierten. Ihre ersten Worten der bewundernden Verehrung, der Anbetung, waren bereits von den Machtunterschieden in den Beziehungen zwischen den Erzeugern der Nachkommenschaft, zwischen ihnen und den von ihnen in die Welt gesetzten Nachkommen, den Anführern der Gemeinschaften und den übrigen Mitgliedern sowie den außerhalb der engen Beziehungen einer Gemeinschaft existierenden Kreaturen infiziert. Diese Machtunterschiede überdauern, was Nancy durchaus bewusst ist. In einer Anmerkung zum Kapitel über die Ökonomie spricht er das Eigentum an: "Kein Zufall, wenn das Denken Lockes, dann Rousseaus und Marx' auf so bedeutende Weise um das Eigentum und die Aneignung kreisen. Marx wird an der äußersten Spitze seines Denkens versuchen, ein »Individualeigentum« aufzuzeigen, das weder privat noch kollektiv wäre und unter dem man vermutlich, jenseits des Eigentums von Gütern und durch diese hindurch, ein Eigentum verstehen muss, mit dem das »Individuum« - hier verstanden als Person in einer Gemeinschaft - sich sein wahrhaftes Sein aneignen würde."(S.128). Diese Formen der Machtinfizierung bleiben bis in die Gegenwart erhalten und werden nicht durch die Auslöschung der Götter beendet. Was zu einem Ende gelangt, ist laut Nancy ihre Rechtfertigung im Namen "höherer Reiche". Nach der Emanzipation des Menschen von diesen "höheren Reichen", erklärt Nancy, seien wir fortan "ohne Deckung" an unsere "strikte Menschlichkeit" gebunden. Ausschließlich das "Wort" sei an die Stelle der vormals für Menschen unhintergehbaren Anordnungen getreten. Das "Wort" öffne "im Lebenden" - ... - eine "Alterität", nämlich
5. Kein Sinn des Sinns Nancy sagt: "... unsere Welt geht nur aus ihrer eigenen Zufälligkeit hervor. ... Sie hat statt, sie ist da, sie könnte nicht da sein oder nicht sein, sie leitet sich aus nichts her und stammt von nichts ab" (S.19). Nancy wendet sich gegen jede Behauptung, dass die Welt aus einer Notwendigkeit hervorgegangen sei. Dem ist zuzustimmen, aber genau so irreführend ist die gegensätzliche Behauptung Nancys, dass sie der Zufälligkeit "entspringe". Richtig ist: wir wissen es nicht! Nancy definiert das "Zufällige" mehr in Richtung von "Umstand und Bewegung", weniger von "Natur oder Zustand" (S.21). Für ihn entspricht das Zufällige "wesentlich einer diskontinuierlichen und flüchtigen Zeit". Das "Flüchtige", "Entfliehende" ist auf das "Stabile", "Konstante", "Dauerhafte" bruchstückartig, unzusammenhängend bezogen. Beide Momente ergeben sich aus den vielfältigen Bezügen der Existierenden untereinander, in der der kontinuierliche Bezug jedes Einzelnen auf sich selbst zwar als Bewahrung seiner Konstanz erscheint, aber er macht zugleich die Integration der vielfältigen Einflüsse, die auf jeden Einzelnen unabwendbar einwirken, erforderlich. Die innere Verarbeitung der vielfältigen äußeren Einflüsse zur Bewahrung der Konstanz verändert das einzelne Existierende, was sich wiederum auf seine Bezüge zu anderen Existierenden unabwendbar auswirkt und von jenen als veränderter Bezug wahrgenommen wird und zur Erhaltung der eigenen Konstanz verarbeitet werden muss. Je nach der Eigenart der Verarbeitung und der daraus resultierenden inneren Veränderung ergeben sich neue Bezüge zu anderen Existierenden und bisher bestehende werden unterbrochen oder gar beendet, so dass auch die Beziehungen der Existierenden zueinander sich in ständiger Veränderung befinden. Daraus folgt: Was als flüchtig, entfliehend erscheint, ist in der Vielfalt der Bezüge der Existierenden untereinander eine notwendige Folge der Veränderungen jedes einzelnen Existierenden im Gesamtzusammenhang aller Bezüge. Da die Existenzen laut Nancy durch "ihre gemeinsame Projektion" [auf der Ebene der Bezüge] verbunden sind, "die Welt macht, die eine Welt macht und eine Welt differenzierter Welten", entsteht ein "Zusammenhang oder ein Netz von Sinnmöglichkeiten", wobei Nancy den Sinn als "Verweis" definiert und darunter den "Bezug, die Beziehung, die Anrede, die Aufnahme - die Empfindungsfähigkeit, die Empfindung" versteht (S.22). Genauso wenig wie es einen letzten Verweis für das Netz der Verweise gäbe, ebenso wenig existiert für Nancy ein letzter Sinn, auf den alle Sinne verweisen. Die "Welt als Stätte des unendlichen gegenseitigen Verweises" bezeichnet Nancy als unsere wahre Ewigkeit und die "Anbetung" spreche von diesem Unendlichen. Sie sei zu ihr offen wie jene auch zur "Anbetung" geöffnet sei (S.22). An der Welt des unendlichen Verweises nimmt für Nancy der Mensch "über all seine sinnlichen Zugänge - sensorische, empfindungsmäßige, sinnhafte - teil (S.23). Die sinnlichen Zugänge riefen in ihm "das Denken" hervor, das den "supplementären Zugang" [den ergänzenden.d.Verf.] zur sensorischen Wahrnehmung bilden würde (S.23). Es sei der "wesentliche Bezug zur Exzedenz an sich, zum Überschießen, zum Hinaus, zur absoluten Exzedenz, nämlich der Exzedenz dessen, was man genauso das 'Sein' nennen kann wie "die Welt" oder "der Sinn"(S.24). Der Mensch sei das Sein des Sinns: "Er ist ganz und gar Verweis"(S.124). Nancy bemüht hier auch den Begriff "Transzendenz": "Er bezeichnet nicht den Zustand eines mehr oder weniger »höchsten» »Wesens« oder »Seins«, sondern die Bewegung, durch die ein Seiendes [existant] aus der schlichten Gleichheit mit sich selbst heraustritt. Das heißt nichts anderes als: ex-istieren im vollen Sinne des Wortes" (S.32). Die Welt "erheische" sogar Verehrung. Sie lade zur "Anbetung" ein. Durch die "Anbetung" wende sich das Denken "zum Unendlichen hin" (S.24). Das "Reale des Nichts" werde in "das Unendliche" getragen. Was Nancy darunter versteht, erläutert er im Folgenden: "Streng genommen gehen ein richtig verstandener Schöpfer und sein Schöpfungsakt ineinander über, und dieser ... Schöpfungsakt wiederum geht über in ein zufälliges Bersten des Nichts. ... Ein Abstand kommt plötzlich auf [survient], spielt im homogenen, undifferenzierten Nichts. ... Dieser Abstand öffnet die Welt"(S.25).[1] "... die Spannung des Abstands, sein Pulsieren oder sein Impuls, sein Antrieb, sein Trieb" gehören zum homogenen, undifferenzierten Nichts (S.25). Der Bruch öffne zwar die Identität durch die Differenz und das Innen durch das Außen, aber in sich selbst sei er nichts, nichts als Abstand, Öffnung (S.26). Die Anbetung richte sich an sie. Sie sei "diese Haltung selbst", weder Grund noch Ursprung. Mit Bezug auf Kant begreift Nancy die Anbetung als Kraft, die den Menschen gleichermaßen in eine "vernichtende" wie in eine "seelenerhebende" Stimmung versetze, vergleichbar mit einem "bewundernden Staunen", das sogar mit der "modernen wissenschaftlichen Durchdringung gewachsen" sei, "da die Wissenschaft zugleich jede Art von »zureichendem Grund« dieser Welt endlos zurückweichen lässt". (S.27). Sogar "der schlichte Gruß", das "simple »Salut!« " habe an der Anbetung teil (S.30). Bereits das adressierte Sprechen, die Anrede, beinhalte "Anerkennung, Bejahung der Existenz des anderen"(S.30). Abschließend stellt Nancy fest: "»Die Anbetung« würde nichts anderes bedeuten als dies: die Aufmerksamkeit auf das Bewegte des Sinnes, auf die Möglichkeit einer nie gewesenen Anrede, die weder philosophisch ist noch religiös noch theoretisch noch praktisch noch politisch noch verliebt - sondern aufmerksam".(S.33). "Die Anrede richtet sich an das, was über jede Anrede hinausgeht. Oder auch: adressiert sich, ohne zu versuchen zu erreichen und selbst ohne Intention"(S.34). "Sie allein, diese Welt, unsere Welt, gibt das Maß des Inkommensurablen. Ihre Kontingenz, ihre Zufälligkeit, ihr Irren sind nur die zerbrechlichen, an das Regime des zureichenden Grundes gebundene Namen für einen Grund, der nicht unzureichend ist (...)."(S.34). "Diese Sachen, die die Welt sind und '(aus)machen", schreibt Nancy, "sind nichts anderes als die Bezüge aller Seienden untereinander, zwischen ihnen - diese Bezüge, die wir unaufhörlich diversifizieren, komplexer machen, multiplizieren und modifizeiren und modulieren in der endlosen Wiederaufnahme eines Gesanges, der weder Melodie noch Worte hat."(S.111). 6. Das exzessive Sprechen 6.1 Für Nancy kehrt "jenseits des Schweigens" die Sprache zu sich selbst zurück und das Schweigen ist für ihn die "Sinnreserve", "die über die Worte hinausgeht"(S.107). Welche Wechselbeziehung existiert zwischen Sprechen und Schweigen? Unmittelbar einsichtig ist, dass ununterbrochenes Sprechen - ohne eingeschobene Schweige-momente zwischen den Worten und Sätzen - dem Sprechenden atemtechnisch gar nicht möglich ist und dem Zuhörer des Sprechenden jegliches Verstehen erschwert, wenn nicht sogar völlig verwehrt. Sprechen und Schweigen bedingen sich also gegenseitig: a) In einer Kommunikationssituation spricht einer – der andere schweigt und hört zu; er benutzt dennoch die Sprache, um zu verstehen, d.h. er hört, empfängt und entschlüsselt auf seinem Erfahrungshintergrund die ihn erreichenden Zeichen. b) Im Sprechen selber reiht sich nicht ein Wort ohne Unterbrechung an das andere, sondern die kleine Lücke, die die Worte voneinander trennt, macht das Schweigen aus. Dies ist jedoch keine Leerstelle, sondern die Herstellung des syntaktischen Bezugs von einem zum anderen Wort. c) Auch in der Kommunikation mit sich selbst schweigt der Denkende/Sprechende auf der Suche nach Worten, nach den „richtigen“ Worten. „Das Schweigen ... als Sinnreserve, die über die Worte hinausgeht und reich an ihrem Geheimnis, an ihrer Intimität ist."(S.107). d) Schweigen kann auch in den verschiedensten Kommunikations- situationen eine Aussage darstellen, die von den Teilnehmern auf ganz unterschiedliche Weise interpretiert werden kann. Die Interpretationsbreite ist beim Schweigen gewöhnlich noch größer als bei einer Aussage. Sprechen und Schweigen sind also zwei aufeinander bezogene Momente des Sprachgeschehens, die sich notwendigerweise wechselseitig ablösen müssen. Insofern ist Schweigen "die Rückkehr zur Sprache" und umgekehrt Sprechen Rückkehr zum Schweigen. Letzteres wird von Nancy als "Sinnreserve" des sinnvollen Sprechens bestimmt. Nancy nennt es das "beredte Schweigen". Ein erster Aspekt des "beredten Schweigens" besteht darin, dass jede zusätzliche Schweigesekunde den Sprechenden dazu befähigt, im Nachhall seiner Worte zu überprüfen, ob in der Abfolge von Worten zwischen dem beabsichtigten und dem realisierten Sinn eine Abweichung entstanden ist. 6.2 Dazu im Gegensatz begreift Nancy die "Stummheit". Sie "figuriert (...) die zurückgehaltene, gehemmte Kehrseite des beredten Schweigens" (S.107). In ihr ist jegliche Sinnbezogenheit ausgelöscht. Bedeutet das, dass Stummheit die Abwesenheit von Sprechen/Schweigen ist? Nancy formuliert hier m.E. nicht präzise genug. Geht man z.B. vom Ausdruck „stumm vor Schmerz“ aus, dann könnte es sich um eine dramatische Situation handeln, bei der die Teilnehmenden voll und ganz von diesem Ereignis rein gefühlsmäßig erfasst werden, so dass jegliche Suche nach Sinn – d.h. dieses Ereignis in Worte zu fassen – ausgeschaltet ist. Dabei geht es nicht um den Sinn, sondern um die Suche nach dem Sinn. Die Suche – und damit die Sprache – ist ausgeschaltet. „Jenseits des Schweigens zur Sprache zurückzukehren bedeutet, noch einmal ganz nah an die Sprache heranzugehen, an das, was in ihr weder eigentlich erklärt noch nennt und doch bei der Annäherung eines Unnennbaren nicht schwindet“ (S.107). Ersetzt man „jenseits des Schweigens“ durch „jenseits der Stummheit“ zur Sprache zurückkehren, dann könnte dies bedeuten, dass die Suche nach Erklärung, nach Sinn wieder aufgenommen wird, jedoch ohne Gewissheit, hierin erfolgreich zu sein. Im Gegenteil: wäre die Suche erfolgreich – gäbe es eine Erklärung oder einen Sinn – würde die Sprache überflüssig werden. „Nah an die Sprache herangehen“ bedeutet trotz der Ungewissheit, ob eine Sache, eine Situation etc. jemals adäquat in Worte gefasst werden kann, weiter zu sprechen, sich weiter auf die Suche zu machen – nicht in Stummheit zu erstarren. Gegen diese Stummheit und Erstarrung „anzusprechen“, heißt auch Vertrauen zu entwickeln. Dieses Vertrauen ist der eigentliche Daseinsgrund (raison d’être) von Sprache – Grund und Vernunft zugleich (im Französischen sind beide Bedeutungen mit dem Wort ‚raison‘ abgedeckt). Dieses Vertrauen ermöglicht Bedeutung und einen letzten Sinn, obwohl es zugleich keine Aussicht auf eine gesicherte Bedeutung („jenseits jeder Zuversicht“) und einen letzten Sinn („jenseits aller Zeichen“) gibt. 6.3 Was wird in der Sprache weder eigentlich erklärt noch genannt und schwindet dennoch bei der Annäherung eines Unnennbaren nicht? (S.107) Wenn sich das Unnennbare mit seiner Vorderseite dem Sprachwesen Mensch zuwendet, präsentiert es sich in einer Weise, die weder die Struktur des Ganzen offenbart, noch gelingt es der Sprache, ein Einszueins-Verhältnis zwischen sich als Zeichensystem und dem Bezeichneten herzustellen. 6.3.1 Bei aller inzwischen erreichten naturwissenschaftlichen Erkenntnis verbleibt das Innerste des einzelnen Daseins - seine jenseits der subatomaren Struktur und der erstaunlichen Wandlungsfähigkeit von Neutrinos befindliche Existenz - bisher ebenso unerforscht wie die Gesamtheit des Daseienden und die ihm immanente Struktur. Beides verliert sich im (un)endlich Kleinen bzw. (un)endlich Großem. Die Sprache als unhintergehbarer Teil jeder Denkoperation ist zwar von sich aus bestrebt, dem Regress ins (un)endlich Kleine bzw. (un)endlich Große zu folgen und offen zu bleiben für alles Weitere, aber in der Begriffsbildung bricht das forschende Sprachwesen (Mensch) spätestens dann ab, wenn der Begriff nur noch mit einem nicht mehr adäquaten Inhalt gefüllt werden kann und begrifflich gefasste Inhaltsleere droht. 6.3.2 Die Sprache zeigt sich unfähig, ein Einszueins-Verhältnis zwischen sich als Zeichensystem und dem Bezeichneten herzustellen. Sie spricht nur "im paradoxen Vertrauen in ihre eigene Ungewissheit", "in ihre eigene Inadäquatheit" (S.107). Nancy definiert als "raison" der Sprache: "Dieses Vertrauen - das am wahrhaftigsten die raison selbst der Sprache ist, in jedem Sinne des Wortes »raison«, ihr Grund und ihre Vernunft - geht von vornherein jenseits jeder Zuversicht in die Bedeutung und in einen letzten Sinn jenseits aller Zeichen" (S.107). Das heißt: das sich öffnende Spektrum an Bedeutungen des Bezeichneten geht über jede gesetzte Grenze hinaus und strebt damit jenseits der Vielfalt der schon zugewiesenen Sinne nach einem letzten Sinn. Nancy versucht diese im folgenden Satz zu verdeutlichen. Die Sprache höre nicht auf, "ihre Bedeutungen in Bewegung zu bringen, sie spielen und zittern zu lassen, ...", sie also zu vervielfältigen. Sie sei in der ständigen "Annäherung, im Bewegten" (S.107). Worunter zu verstehen ist, dass sie dies nur als Teil des Sprachwesens Mensch tun kann. Der Mensch ist über alle Zeiten hinweg der fixe Ort der Sprache, der es ihr ermöglicht, zugleich nicht-örtlich zu sein. Nancy fragt: "Woher kommt sie?" und antwortet: "Von diesem Nicht-Ort, der inmitten der Welt offen ist und von dem aus es sich öffnet und sich bewegt, es ankommt und dieses Kommen unaufhörlich erneut spielt, dieses Nahen und dieses Bewegte, dieses Zittrige, in dem alles ankommt: die Welt, das Leben, der Sinn, die Sache, zufällig, ungewiss, vibrierend, schwankend" (S.107/108). Sprache als "exzessives Sprechen" existiert nicht ohne den sprechenden Menschen; ist nicht von ihm zu lösen und weit entfernt von der Sprache als Gegenstand forschender Analyse, in der sie in eine Objektposition versetzt wird. Jeder neue Erdenbürger übt sich in die bereits vor ihm existierende Sprache ein, wird mit ihr zum Sprachwesen, zum "Sprechenden" und reiht sich ein in den Strom des unendlichen Verweises, in das "Wuchern der Diskurse", in das "Sprießen der Fiktionen", in die Üppigkeit der literarischen Erfindungen" (S.108). Unterstellt man mit Nancy dem Menschen, dass er - im Namen der "Gesamtheit der Seienden der Welt" - eben "von der Welt Rechenschaft ablegen soll" (S.108), ist er das Geschöpf, dem von der Schöpfung zu diesem Zweck Stimme gegeben wurde, so dass er als Sprechender Zeugnis von ihr ablegen kann. Ganz zum Schluss seiner Ausführungen relativiert Nancy die Bedeutung des Subjekts gegenüber der Sprache und bezieht sich auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse. Im Verhältnis Subjekt-Sprache zitiert er Freud: "Das Subjekt erzählt sich selbst, durch seine Erzählung tritt es ein, kommt es herauf [advient]. Es ist keine Erdichtung, denn nicht das »sprechende Subjekt« ist hier am Werk, sondern jenes, welches das Wort zur Welt bringt, welches durch die Sprache zur Welt kommt - die Sprache oder das, was man besser die Signifikanz nennen sollte, die Offenheit einer Möglichkeit von Sinn."(S.159). 6.3.3 Das Paradoxon von Vertrauen in eine Bedeutung und von Abwesenheit jeglicher Gewissheit ist die Antriebskraft, die Energie, die Sprache ausmacht. Gäbe es z.B. zwischen Kommunikationsteilnehmern keine ansatzweise Übereinstimmung bezüglich der Bedeutung einer Aussage, würde die Sprache nicht funktionieren. Zugleich ist diese Übereinstimmung jedoch nur eine Schnittmenge all jener verschiedenen Bedeutungen, die jeder Kommunikationsteilnehmer dieser einen Aussage – je nach Erfahrungshintergrund und Verständnis der Kommunikationssituation – zumisst. Dieser Umstand webt das Netz der Bedeutungen dieser einen Aussage weiter, indem die Kommunikationsteilnehmer z.B. darüber gegenüber anderen Sprachteilnehmern berichten. Das gleiche gilt auch für den „vereinzelten Sprechenden“, wenn er eine Aussage für sich wieder aufnimmt. Zeit ist vergangen, neue Erfahrungen sind gemacht worden, mit denen die gemachte Aussage weiter aufgeladen wird. Aber nicht die Sprechenden tun dies kraft eines ihnen innewohnenden Geistes, sondern die Sprache selbst bewirkt dies. Sie weiß sich als Sprache, d.h. sie ist insofern Subjekt. Jedoch nicht Subjekt als etwas Einzelnes, sondern als nicht aufhörende Bewegung. Für Nancy ist „es“ bzw. „alles“ der Versuch, einen neutralen Ausdruck zu finden für das, was letztlich nicht benannt werden kann – „die Welt, das Leben, der Sinn, die Sache“(S.108) –, weil all diese Worte vortäuschen, etwas nicht Fixierbares mit einem Ausdruck zu umfassen und damit festzuhalten. Das Zeugnis verbleibt immer eines, das von der beschränkten Erkenntnisfähigkeit des Menschen über die Vorderseite des Realen Auskunft gibt, das dem Realen seine Sichtweise in der Hoffnung auferlegt, es adäquat erfassen zu können, aber trotz aller Um- und Verwandlung des vorgefundenen Ursprünglichen in die verschiedensten Formen von Technik im fragilen Aufschichten verharrt. Nancy nennt das aus unzähligem Übereinanderstapeln von gelungenen, misslungenen oder bar jeder Konstruktionen entstandene Gebilde "Struktion" (S.115), das jederzeit zusammenbrechen kann und sich stets in der Schwebe zwischen vollendeter Form und Chaos befindet. 7. Der Unterschied zwischen Sprechen und Sprache Problematisch ist, dass Nancy einmal „Sprache“ und ein anderes Mal „Sprechen“ als Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. „Sprache“ ist auch ein Begriff der etwas Abgeschlossenes, ein System, vortäuscht; Sprechen dagegen „denkt“ die Sprechenden immer mit. Im Begriff „Sprechen“ ist sehr viel stärker die ständige Bewegung enthalten. Insofern wendet sich das Sprechen an etwas, das über es hinausgeht: a) Es ist keine eins zu eins Widerspiegelung der vermeintlichen Realität, die wir ja als solche gar nicht erkennen können. b) Es geht vom Sprechenden über zum Hörenden und von diesem als Sprechenden wieder zu einem anderen Hörenden usw. Zusammengefasst bedeutet das, dass Sprechen der Zugang zu diesem „Darüberhinaus“, zu diesem „Exzess“ (S.108) darstellt. In diesem Prozess ist der Mensch als Sprechender eine Art Durchgangsstation, durch die die Öffnung auf die „Gesamtheit der Seienden der Welt“ (S.108) und das Draußen – das, was nicht ergründet werden kann – gewährleistet ist. Betrachtet man den Menschen unter dieser Perspektive, ist es das Sprechen, das sein Dasein begründet. Nur er als Sprechender kann „von der Welt Rechenschaft ablegen“(S.108). „Rechenschaft ablegen“ heißt jedoch nicht erklären, einen Grund angeben. Es kann kein Grund für das Grundlose, das Zufällige, angegeben werden und dennoch ist das Sprechen darüber nicht ohne Vernunft. D.h. die Vernunft, die dem Sprechen innewohnt (ansonsten könnte es nicht mit den anderen Sprechenden geteilt werden), treibt immer wieder zur Suche nach einem letzten Grund an. Im Vertrauen auf die dem Sprechen innewohnende Vernunft wird weiter gesprochen – exzessives Sprechen. Exzessives Sprechen produziert sich in der Literatur, der Wissenschaft, der Politik „grenzenlos“, d.h. z.B. ein Roman, scheinbar abgeschlossen, begrenzt, produziert bei der Rezeption eine Fülle von weiterem Sprechen, das immer wieder über sich hinauswächst, also ohne Grenze ist. In der aktuellen Debatte um die Flüchtlinge machte zunächst das Wort der „Willkommenskultur“ die Runde, das den Blick vor allem auf die Hierlebenden richtete. Es trägt jedoch bereits den „Keim“ des danach auftretenden Wortes der „Ankommenskultur“ in sich, das stärker den Blick auf die Ankommenden richtet. D.h. hier hat ein Übergang von einem zum anderen stattgefunden, es gibt keine Grenze. Zugleich zeigen die beiden Wortschöpfungen auch, dass sie nicht unabhängig von den Vorgängen in der uns umgebenden Wirklichkeit entstanden sind. Nach Nancy ist das exzessive Sprechen auch unendlich. Zunächst: Was ist der Unterschied zwischen grenzenlos und unendlich? „Grenzenlos“ geht von einem Einzelnen zu einem Einzelnen zu einem Einzelnen usw. aus, ohne an ein Ende, besser an eine Grenze zu kommen. „Unendlich“ umfasst alle diese Einzelnen, ohne sie je wirklich umfassen zu können. Unendlich sprechen geht von einem fortwährenden Fluss von Worten, Zeichen, Sätzen, Texten aus, die alle zusammen betrachtet für sich als einzelne keine Bedeutung mehr haben. Deshalb gibt es auch nichts mehr zu vernehmen und zu verstehen. Übrig bleibt nur die Stimme. Aber immerhin „bleibt sie auf der Schwelle zur Sprache“ (S.109). Diesen Umstand betrachtet Nancy als die Anbetung. Grenzenloses Sprechen und unendliches Sprechen bedingen einander: „Mündlichkeit der Rede und Mündlichkeit der Anbetung“ (S.109). Vom Unendlichen, vom „Draußen“ herkommend und dahin zurückkehrend wird Sprache als etwas Existierendes betrachtet, das dem Menschen vorgegeben ist und ihn als einzelnen überdauert. Sie ist es, die dem Menschen den Mund öffnet und ihn überhaupt zum Menschen macht. Das sei – nach Nancy – das Göttliche. Zugleich muss gesehen werden, dass das Unendliche, das Draußen, das Göttliche nicht ohne das Innere, das Endliche, das Menschliche existiert. Dem, was den Menschen übersteigt allein den Vorrang einzuräumen, bedeutet ihn wieder in eine Abhängigkeit zu bringen, wie er sich vorher in der Abhängigkeit von einem göttlichen Prinzip befunden hat. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/f96b72e4c3a0430294834f004f92b6d3" width="1" height="1" alt="" />
1 Kommentar
4/7/2016 06:17:58 am
Hallo Herr Hildebrandt,
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Reinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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