Simone Lück-Hildebrandt
Das Individuum kann sich nur als Einzelnes, als „Selbst“, wahrnehmen, indem es sich auf ein Anderes, ein oder mehrere Individuen, bezieht. Dieses Andere zeigt ihm an, dass es als Einzelnes existiert. D.h. mit dem Bezug zum Anderen erfolgt zugleich der Rückbezug auf das „Selbst“. Je mehr „Andere“ diese „Aufgabe übernehmen“, desto facettenreicher stellt sich das „Selbst“ diesem Individuum dar. Das Andere bzw. die Anderen vollziehen als Individuum den gleichen Prozess wie das zuerst genannte Individuum. Die vielen Facetten des „Selbst“ können auch als die vielgestaltigen Identitäten des Individuums angesehen werden. Folgt man den Gedankengängen des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, so ist in diesem Prozess der Bezug auf den jeweils Anderen das Entscheidende, nicht die jeweiligen Einzelnen. Zwar könnte es ohne die Einzelnen auch keinen Bezug geben, aber dadurch, dass die ständige Bewegung der Bezugnahme die Einzelnen auch in ihrem „Selbst“ ständig verändern, sie also nie als „fixe“ Einzelne (Entitäten) existieren, sondern immer „pulsieren“, kommt dem Bezug eine höhere Bedeutung zu. Diese Überlegungen hat Jean-Luc Nancy in verschiedenen seiner Schriften niedergelegt, so z.B. in „Die Anbetung – Die Dekonstruktion des Christentums II“. In einer Liebesbeziehung findet der gleiche Prozess der wechselseitigen Bezugnahme – wie oben dargestellt – statt, aber mit folgendem entscheidenden Unterschied: das eine Individuum nimmt sich im Anderen auf besonders „gute“, „gelungene“ Weise als „Selbst“ wahr. Diese Wahrnehmung (im Anderen) scheint das, was in seiner Vorstellung als „Selbst“ bereits vorhanden ist, besonders gut wieder zu geben. Es fühlt sich im Anderen vollkommen aufgehoben. Das andere Individuum unterliegt in gleicher Weise diesem „außergewöhnlichen“ Prozess der Bezugnahme. Wodurch dieser „außergewöhnliche“ Prozess der Bezugnahme ausgelöst wird, ist wahrscheinlich vielfältigster Natur. Denkbar ist, dass es „Vergleichbares“ zwischen den beiden Individuen gibt oder zwischen den beiden Individuen schwingt, das sie prädestiniert, in diesen besonderen Beziehungsprozess einzutreten. In diesem Schwingen von Vergleichbarem entsteht auch der Wunsch nach Erfüllung von körperlicher Bezugnahme (Vereinigung), in der das Vergleichbare – aber auch das Unterschiedliche – quasi sensorisch erfahren wird. Dieses „Vergleichbare“ – ohne, dass man sagen kann, was es ist – bietet beiden Individuen zunächst einmal grundsätzlich zwei (?) mögliche Verhaltensweisen. In einem Fall erkennen beide – trotz Vergleichbarem – die Andersartigkeit des jeweils Anderen in allen seinen Lebensäußerungen an und stellen so die Bezugnahme oder die Anziehungskraft immer wieder aufs Neue her, so dass auch die Wahrnehmung des „Selbst“ auf einer immer höheren Stufe vollzogen werden kann. Im anderen Fall schließen beide von dem vermeintlich Vergleichbaren ausgehend darauf, dass der jeweils Andere dem eigenen „Selbst“ tatsächlich gleich sei, dass nur so die „außergewöhnliche“ Bezugnahme überhaupt realisiert werden könne. Verhält sich der Andere jedoch nicht entsprechend dieser (falschen?) Vorstellung, werden Erwartungen enttäuscht, d.h. das erste Individuum nimmt sein „Selbst“ im Anderen nicht in der erwarteten Weise wahr. Die Angst, dass das in beiden Vergleichbare entschwinden könnte, verleitet das eine Individuum dazu, das andere Individuum seinem „Selbst“ anzugleichen, d.h. den Kern des anderen Individuums, sein andersartiges „Selbst“, auszuhöhlen. Im umgekehrten Fall (der Andere findet sein „Selbst“ im ersten Individuum nicht in der erwarteten Weise wieder) findet der Prozess in gleicher Weise statt. Erschwerend kommt hinzu, dass
Theoretisch könnte man sich vorstellen, dass wenn sowohl in dem einen wie auch dem anderen Individuum beide Verhaltensweisen völlig ausgeglichen sind und somit auch die Beziehung zueinander ausgeglichen ist, die Liebe vollkommen sein müsste. Allerdings vermittelt eine solche Vorstellung auch etwas Erstarrtes. D.h. nur das Schwanken um diese Ausgeglichenheit oder vielleicht der „Kampf“ darum, erhält die Liebesbeziehung am Leben. Wird in diesem „Kampf“ der Andersartigkeit des Partners immer weniger Raum gegeben, um den Raum des vermeintlich Vergleichbaren zu erhöhen, gerät die Liebesbeziehung in eine Krise. Das eine Individuum kann sein „Selbst“ nur durch das Anderssein des anderen Individuums erfahren; sucht es nur das Vergleichbare im Anderen, verliert es sein „Selbst“. Ohne dieses „Selbst“ ist jedoch auch kein Bezug mehr zum Anderen möglich - und schon gar kein Liebesbezug. Wird umgekehrt das Andersartige des Partners gegenüber dem Vergleichbaren immer gewichtiger, bleibt das „Selbst“ des Individuums zwar erhalten, aber das, was beide zu diesem besonderen Beziehungsverhältnis prädestiniert hat – die Vergleichbarkeit (die es ermöglicht hat, dass sich das „Selbst“ besonders gut durch den Anderen reflektiert fühlt) – verschwindet. Aus der Liebesbeziehung ist eine Beziehung wie jede andere auch geworden. Durchlaufen beide Partner diesen Prozess in ungefähr der gleichen Weise, kommt es zur Trennung. Aber auch diese beiden Formen der „Auflösung“ der Liebesbeziehung werden sich kaum in Reinform vollziehen, sondern beide Verhaltensweisen werden wahrscheinlich immer in einem bestimmten „Mischungsverhältnis“ – auch zwischen den Partnern – auftreten. Da sich beide Entwicklungsmöglichkeiten – Aufbau und Erhalt der Liebesbeziehung wie auch die Auflösung – weitgehend unbewusst und damit unkontrolliert vollziehen (selbst wenn man die Prozesse an sich beschreiben kann), bleibt die Liebe etwas Geheimnisvolles. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/503ccb9165ed4f0abaa2358e3809f945" width="1" height="1" alt="" />
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Katrin Funke, Frank Hahn, Reinhard Hildebrandt
Die drei Autoren dieses Beitrags haben im Rahmen ihrer Forschungen zum Thema Sprache gemeinsam einen Text von Jacques Derrida gelesen, den sie im Folgenden versuchen zu kommentieren und zu „entschlüsseln“. Es handelt sich um Derridas Aufsatz „Babylonische Türme“, der selbst ein Kommentar zu Benjamins berühmten Text „Die Aufgabe des Übersetzers“ ist. Die folgenden Seiten sind also ein Kommentar des Kommentars zum Thema Sprachverwirrung, Übersetzung, Namensgebung, das so alt ist wie die Geschichte vom Turmbau zu Babel – und so neu wie jeder Tag der Begegnung unterschiedlicher Menschen in dieser vielfältigen Welt. 1. Mythos vom Turmbau zu Babel Weder die einzelnen Menschen noch die gesamte Menschheit sind sich über den Anfang ihrer Existenz bewusst. Ungefähr bis zum zweiten Lebensjahr hat der heranwachsende Mensch noch nicht die Fähigkeit erworben, seine sinnlichen Wahrnehmungen vom Kurzzeitgedächtnis in ein Langzeitgedächtnis zu überführen und dort zu speichern. Was er über die ersten zwei Jahre seines Lebens weiß, haben ihm andere erzählt. Auf welche Weise die Sinneseindrücke der ersten zwei Jahre jedoch seine Persönlichkeitsentwicklung mitgeprägt und als solche seine Verhaltensweisen und seinen Lebensentwurf mitbestimmen haben, ist den Erzählungen nicht zu entnehmen. Sie bleiben ihm daher unbekannt. Die gesamte Menschheit teilt mit dem einzelnen Menschen das gleiche Schicksal. Auch ihr fehlen das Wissen und die Erfahrung über ihren Anfang, über das ihr Vorausgehende, sowie über die evolutionsgeschichtlichen Prozesse am Übergang vom „Animalischen“ zum „zoon politikon“. Zu welchem Zeitpunkt die Reflexion und das Bewusstsein über Sprachfähigkeit einsetzte und die mündliche Überlieferung begann, was darin als bedeutend angesehen wurde oder auch nicht und welchen Stellenwert die sprachliche Reflexion in ihrer historischen Erfahrung als Menschheit eingenommen hat, bleibt ihr ebenso verschlossen. Dieser dunkle Teil ist allenfalls in den zahlreichen Mythen über den Ursprung der Menschheit zu erahnen. Noch lange Zeit nach ihrer Entstehung wurden sie nur mündlich überliefert, ehe sie schließlich eine schriftliche Niederlegung erfuhren. Dazu zählen die zahlreichen Mythen über den Anfang des Weltalls, über die Art der Schöpfung und die Gestalt des Schöpfers, dessen Allmacht oder Ohnmacht über Mensch und Natur. Ebenso zählen Mythen dazu, die sich eine Anzahl von Menschen über ihren gemeinsamen Ursprung zulegen, sobald sie sich als Teilbereiche der ganzen Menschheit bzw. als Gemeinschaften oder Gesellschaften von den übrigen abgesondert haben. Dies kann im Extrem sogar dazu führen, dass – wie im Beispiel Chinas – die Absonderung von den übrigen Teilbereichen der Menschheit ganz verleugnet wird. Der Mythos vom „Anfang ohne Anfang“ hat zur Folge, dass auch das Ende im „Unendlichen“ verschwindet und stattdessen der ständige Wechsel zwischen Stärke- und Schwächeperioden in den Vordergrund der Geschichtsbetrachtung und Philosophie (Ying und Yang) rückt. Der Mythos vom Turmbau zu Babel nimmt unter den zahlreichen Mythen zweifellos eine herausragende Position ein. Die Erzählung über die Verwirrung der Turmbaumeister und die Verwirrung der Sprachen in der Hauptstadt Babylons werden von Jacques Derrida in seiner Abhandlung über „Babylonische Türme – Wege, Umwege, Abwege“ sogar als „Mythos vom Ursprung des Mythos, als Metapher der Metapher, Erzählung der Erzählung, Übersetzung der Übersetzung“ bezeichnet (119). Dieser Mythos, hebt Jacques Derrida hervor, bringt das „Unangemessene“ und „Unausgeglichene“ im „Selbstverhältnis“ der einzelnen Sprachen und der Sprachen untereinander zum Ausdruck. Z.B. erfassen die verschiedenen Sprachen die einzelne sinnliche Wahrnehmung oftmals nur im Gewande eines allgemeinen sprachlichen Ausdrucks und jede Sprache eröffnet einen spezifischen Zugang zur Vielheit des sinnlich, abstrakt und poetisch zu Bezeichnenden, ohne auch nur annähernd den Anspruch auf Vollständigkeit in der Präsentation der Vielfalt der Bedeutungen erheben zu können. Daraus folgt die „Notwendigkeit des Gestaltens, die Notwendigkeit des Mythos, der Tropen (Austausch des eigentlichen Ausdrucks mit einem anderen: Wein/ Bacchus: d.V.), der Wendungen und der unangemessenen oder ungeeigneten Übersetzung“(119). Dieser Ersatz „für das von der Vielheit Untersagte“ hat wiederum die Notwendigkeit der Dekonstruktion bzw. „Selbstaushöhlung“ der Gebilde, Strukturen und Texte zur Folge, um der Vielheit gerecht zu werden (119). Der Turmbau zu Babel, notiert Derrida, veranschaulicht nicht nur die nicht reduzierbare Vielfalt der Sprachen, sondern er steht auch für das Unvollendbare, für etwas, „das nicht zu Ende zu bringen“ ist „im Bereich der Konstruktionen, die Architekten besorgen“ und im Bereich des „Systems und der Strukturen“(119). Konstruktionen bestimmen und umgrenzen den Raum, der konstruiert werden soll und können niemals ausschließen, dass der zuvor ausgegrenzte Raum keine Bedeutung mehr für das Konstrukt hat. Konstruktionen sind unabwendbar der Vielheit des Nicht- und Anders-Konstruierten ausgeliefert. Was die Sprache und die Übersetzung von einer in die andere anbelangt, stellt für Derrida die Vielfalt der Idiome nicht nur die Grenze einer „wahren“ Übersetzung (119), einer durchsichtigen und angemessenen Mit-Teilung dar, sondern vielmehr begrenzt sie auch die Ordnung einer Struktur, den Zusammenhang und die Stimmigkeit des Konstruktums: „Wir stoßen auf das Unvollendete und Unvollständige der Konstruktion. Die Übersetzung eines Systems ist dessen Dekonstruktion.“(120). Wenn also nach Derrida die Dekonstruktion des Systems seine Übersetzung ist, dann wird darauf angespielt, dass das gelesen, übersetzt und thematisiert wird, was das System verschweigt, verdrängt, ausschließt und nicht übersetzen will, soll, kann oder darf. Hierbei handelt es sich weniger um eine „reine“ Diskursanalyse als um die weitgehende und komplexe Frage nach der Bedingung eines Systems überhaupt, nach seiner Legitimation und Abgrenzung im Kontext weiterer Systeme. Schon Voltaire hatte darauf hingewiesen, dass in orientalischen Sprachen der Name (Ba)(Bel) für die jeweilige Hauptstadt reserviert war. Die Worte Ba = Vater, Bel = Gott, Babel = die Stadt Gottes, bezeichneten die heilige Stadt. Der Name Babel hat jedoch abseits vom Eigennamen auch die Bedeutung von Verwirrung angenommen, weil die Baumeister in ihrer Suche, einen Turm bis auf eine Höhe von 81000 Fuß hoch zu treiben, untereinander über die dafür geeignete Konstruktion so sehr in Wirrnis gerieten, dass ihre Verwirrung sogar eine umfassende Sprachverwirrung auslöste (120). 1 Im Mythos trat neben den Eigennamen – als Beziehung eines reinen Zeichenträgers auf ein einmalig Daseiendes – der Gattungsname, der sich auf die Allgemeinheit einer Bedeutung und eines Sinnes bezieht. Dieser Gattungsname, betonte Voltaire, „bedeutet“ (steht für etwas) bzw. er verweist nicht nur auf die zweifache Verwirrung (Verwirrung der Sprachen und Verwirrung der Baumeister), sondern weist auch zurück auf den Namen des Vaters. Babel trägt jetzt nicht mehr nur den Namen Gottvaters, sondern auch den Namen des Vaters, der Verwirrung heißt. Damit ist sie zugleich die Stadt der Verwirrung. Im Mythos hat Gott die Stadt als den „gemeinschaftlichen Raum“, in dem man sich nicht mehr versteht, mit seinem Patronym Gott und dem Namen Verwirrung gekennzeichnet (121). Gäbe es nur Eigennamen und keine Gattungsnamen, hält Derrida fest, könnte man sich nicht verstehen und nicht verständigen. Gleichfalls ist es unmöglich, sich zu verstehen und zu verständigen, wenn es keine Eigennamen gäbe (121). In der Sprache der ursprünglichen Erzählung gibt es ein Übersetzen, eine Art Übertragen, das unmittelbar und aufgrund einer Verwirrung ein semantisches Äquivalent erstattet, und zwar das des Eigennamens, das von sich aus nicht übersetzbar ist. 2 Ein Eigenname kann sich in eine Sprache eigentlich nur einfügen, wenn er sich darin übersetzen lässt, wenn man ihn in der Gestalt seines semantischen Äquivalents zu deuten vermag: pierre – Pierre. Während pierre im Französischen den Stein meint, ist Pierre ein französischer Eigenname, der als Eigenname übersetzbar und unübersetzbar zugleich ist. Um Pierre im Deutschen beispielsweise verstehen zu können, müssen wir daraus keinen „Peter“ machen. Er kann durch seine Großschreibung mühelos „übertragen“ werden, ohne dass jedoch automatisch auch sein Homonym pierre übersetzt würde. Indem Gott im Mythos vom Turmbau zu Babel dem umgrenzten Raum Babylon seinen Namen gegeben hat und alle Eigennamen ihren Ursprung in der Schöpfung haben, d.h. Gottes Namen als Sprache gegeben sind (es gibt Sprache, es gibt Eigennamen), folgert Derrida, ist im Mythos Gottvater auch der Ursprung der Sprache („die Macht oder die Kraft, das Vermögen der Namensgebung scheint rechtens Gottvater zu gehören“). In der Erzählung der Genesis verbleibend fährt Derrida fort: „Gerade dieser Gott ist es aber auch, der, indem er sich von seinem Zorn bewegen lässt (wie der Gott Böhmes und Hegels, der außer sich gerät, sich in seiner Endlichkeit bestimmt und Geschichte erzeugt), die Gabe der Sprachen tilgt oder doch zumindest die Sprachbegabung wirr macht. Gerade dieser Gott ist es, der Verwirrung stiftet im Schoße seiner Kinder und die Gabe vergiftet (Gift-gift).“(121). Hier ist anzumerken, dass Gott in der Vorstellung der Menschen oftmals mit Allmacht ausgestattet ist und als Allmächtiger auch über die Zeit verfügt, also unendlich ist. Wenn er sich in der Konstruktion Hegels als Weltgeist entäußert, wird er in diesem Entäußerungsakt zu einem endlichen Gott, der bis zu dem Zeitpunkt, an dem er wieder zu sich selbst zurückkehrt ist, in seiner Endlichkeit – seiner Geschichtlichkeit – verharrt und unabänderlich an sie gebunden ist. Indem er im Verlauf der Geschichte als endlich gewordener Weltgeist wieder zu sich selbst zurückkehrt, vereint er erneut Endlich- und Unendlichkeit in sich. Aber warum sollte sich Gott von seinem Zorn bewegen lassen und sich als endlicher Gott bestimmen, wenn er bereits als unendlicher Gott das Ende kennt. Als zeitlos über der Geschichte schwebend kennt er ja bereits das Ende und jeden Schritt, der dem Ende vorauseilt. Unabhängig davon wie allmächtig Gott vorgestellt wird und ob Gott sich in seinem Zorn seiner Unendlichkeit entäußert und Geschichte kreiert, erweist sich die Hegelsche Vorstellung als willkürliches philosophisches Konstrukt, in der jeder einzelne „Fortschritt“ in der Geschichte und das Ende vorherbestimmt ist. Der an seine Endlichkeit gebundene Hegel, für den die Zukunft ebenso wie für die gesamte Menschheit stets ungewiss blieb, konstruierte in der „Phänomenologie des Geistes“ die Schöpfung des Weltalls als einen im Voraus und bis zu seinem Ende bestimmten Prozess des Werdens. Das dem endlichen „Geist“ Hegels entsprungene Konstrukt tritt an die Stelle der Schöpfung, die trotz des Hegelschen maßlosen Anspruchs, mit seinem Meisterwerk das Ende der Philosophie eingeläutet zu haben, weiterhin in Ursprung und Ende dem Menschen unbekannt bleibt. Allein angemessen für die an die Endlichkeit gebundene Menschheit ist, im Laufe ihrer Erfahrungen danach zu fragen, was bereits bekannt ist, also als Wiederholung erscheint, was es an Veränderung zu entdecken und zu beachten gilt und in Zukunftsentwürfe zu integrieren ist. Eine mögliche Herangehensweise wäre, bei jeder neuen Erfahrung neue Details der Schöpfung wahrzunehmen, zu analysieren und die Resultate mit dem bisher Bekanntem zu verknüpfen. Die Frage nach der Schöpfung des Weltalls oder ob das Weltall überhaupt von jemandem geschöpft worden ist, beschäftigt die europäische Philosophie weitaus mehr als beispielsweise die chinesische. In China beginnt die Philosophie mit der Analyse der Natur. Die Frage nach der Schöpfung ist demgegenüber zweitrangig. Die Einheit zwischen Natur und Himmel gipfelt nicht in der Frage nach einem allmächtigen Gott bzw. der Schöpfung des Kreatürlichen durch ihn. Derrida verbleibt mit seinem Text im Rahmen der Genesis-Narration, ohne Glaubensfragen zu erörtern. Er erinnert an die Entfaltung semitischer Abstammungen, Generationen und Genealogien: „Vor dem Abbruch, Abbau oder der Dekonstruktion Babels war die semitische Großfamilie damit beschäftigt, sowohl ihr Reich zu errichten, das die ganze Welt umfassen, universal sein sollte, als auch ihre Sprache festzusetzen, eine Sprache, die sie ebenfalls dem Weltganzen aufzwingen wollte.“(121/122). Indem die Semiten versuchten, „sich einen Namen zu machen“(129), indem sie eine einzige, allumfassende Sprache stifteten und zugleich ein einzige, einzigartige Genealogie“ schaffen wollten, ging es den Semiten darum, die Welt zur Vernunft zu bringen: negativ betrachtet „koloniale Gewalt“ über andere Völker auszuüben, positiv gesehen, durch Verallgemeinerung ihres Idioms die menschliche Gemeinschaft in das Licht der „friedlichen Transparenz“ zu tauchen (129). „Der (geschichtliche) Augenblick dieses Entwurfs geht dem Abbruch oder der Dekonstruktion des Turms unmittelbar voraus.“(122). Der Hybris folgte die Verwirrung auf dem Fuße. Denn indem die semitische Großfamilie die ganze Welt beherrschen und ihr die eigene Sprache als universale Sprache aufzwingen wollte, unternahm sie zugleich den Versuch, das Ende der Geschichte zu verkünden und sich selbst als unendlich zu setzen bzw. gottgleich zu werden. (In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder Versuche gegeben, Imperien zu bilden und die Sprache des herrschenden Volkes allen anderen Völkern entweder gewaltsam aufzuzwingen oder mit sanften Druck aufzunötigen. Das hieß zugleich, den von der herrschenden Sprache erfassten Ausschnitt der Sprachvielfalt und der an diese Teilansicht des Ganzen gebundenen Vorstellung von Vernunft für sakrosankt zu erklären.) Menschen, die in das Handwerk des Schöpfers einzugreifen versuchen, erleiden Verwirrung, lehrt der Mythos von Babylon. Die Dekonstruktion des Turms war zugleich die Dekonstruktion der universellen Sprache, die Zerstreuung der genealogischen Abstammung, die Unterbrechung der (gradlinigen) Abfolge der Geschlechter. Es folgten die Notwendigkeit, die Unumgänglichkeit zur Übersetzung. Indem Gott seinen Namen vorgab, zerbrach er die rationale Transparenz, den Versuch kolonialer Gewaltausübung, den sprachlichen Imperialismus. Mit dem „Ausrufen seines übersetzbaren und unübersetzbaren Namens“ befreite er die „allumfassende, universale Vernunft (sie unterstand nicht länger dem Herrschaftsbereich einer einzelnen Nation)“. Zugleich beschränkte er die Vernunft in ihrer „Universalität“. Ihr stand fortan keine Sprache mehr zur Verfügung, in der sie sich vollkommen transparent und eindeutig artikulieren konnte und der Rückgriff auf die „reine Sprache“ blieb ihr verwehrt (129). 2. Die reine Sprache ist nicht die universelle Sprache Den Begriff der „reinen Sprache“ zitiert Derrida von Benjamin, auch verwendet er dessen Bezeichnung „Sprache der Wahrheit“, ohne jedoch diese Benennungen zu übernehmen oder ihnen sinngemäß zuzustimmen. Für Derrida haben wir es hier vielmehr mit einer Sprache zu tun, von der sich kein Sinn ablösen lässt, „um ihn als solchen – als Sinn in eine andere Sprache zu übertragen“, zu befördern, „zu übersetzen“. Sie (die Sprache) ist „übersetzbar“ (als sprachimmanente Übertragung: d.V.) und zugleich „unübersetzbar“ (in andere Sprachen: D.V.). Es gibt einzig den Buchstaben, das Wörtliche – das ist die Wahrheit der reinen Sprache“(162). Derrida scheint zunächst den Eindruck zu erwecken, die „reine Sprache“ Benjamins an die Stelle des Kantschen „Dings an sich“ zu setzen, aber dieser Schein trügt. Die Mehrdeutigkeit, die allen Sprachen eigen ist, erlaubt keinen eindeutigen Schluss von der Oberfläche zum Wesen und zurück zur Oberfläche (zur Erscheinungsweise des Wesens). Derrida äußert sich dazu im folgenden Zitat: „…Diese zentrale Präsenz ist aber niemals sie selbst gewesen, sie ist immer schon in ihrem Substitut über sich selbst hinausgetrieben worden. Das Substitut ersetzt nichts, das ihm irgendwie präexistiert hätte. Infolgedessen musste man sich wohl eingestehen, dass es kein Zentrum gibt, dass das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen Ort besitzt, dass es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt. Mit diesem Augenblick bemächtigt sich die Sprache des universellen Problemfeldes. Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird … Die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“ (Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1972, S.424). Wenn also aufgrund des unendlichen Austausches von Zeichen der Weg von der Erscheinungs-ebene (Oberfläche) zum vorgestellten Wesen nicht exakt bestimmt werden kann und umgekehrt auch der Weg von diesem gedachten Wesen zur seiner Erscheinung (an der Oberfläche) – aufgrund der mit der unendlichen Zeichenvielfalt verknüpften Vielzahl von Bedeutungen – nicht eindeutig ist, wird es sinnlos, weiterhin auf der überkommenen Denkfigur von Wesen und Erscheinung zu beharren. Daraus folgt, dass auch die „reine Sprache“ – wenn es sie denn gäbe – an einem anderen Ort als dem der Denkfigur des Wesens zugeordneten Platz angesiedelt werden muss. Für Derrida erscheint die „reine Sprache“ Benjamins nicht als solche, sondern ist verborgen in den Idiomen der vielfältigen Sprachen. Jede „Sache“, jedes „Ding“, stellt Derrida fest, „das mit sich selbst identisch ist, (zum Beispiel das Brot selber), wird in jeder Sprache“ auf „verschiedene Weise und in jedem Text einer jeden Sprache auf verschiedene Weise gemeint“ (160). Während das Brot im Französischen le pain ist, müssen wir gleichzeitig wahrnehmen, d.h. übersetzen, dass pain im Englischen der Schmerz bedeutet. Es ist also nicht möglich, den Signifikanten, also die Bezeichnung von etwas ein für alle Mal festzulegen oder gar zu kontrollieren. Genauso wenig wie es möglich ist, ein vermeintliches Signifikat, also ein zu Bezeichnendes eindeutig zu fixieren. Damit durchbricht Derrida die Dichotomien von:
Die „reine Sprache“ ist in der Vorstellung Derridas also nicht das Kantsche „Ding an sich“, das auf vielfältige Weise an der Oberfläche erscheint, sondern sie ist die in der (Viel) Stimmigkeit verdeckt enthaltene (Gleich)Stimmigkeit, die so lange „im nächtlich Innigen des Kerns“ verbleibt, wie die „Einheit der Stimmung“ nicht zustande gekommen ist. Deshalb betont Derrida, dass in jeder Sprache etwas gemeint ist, „was dasselbe ist, ohne dass eine Sprache in ihrer Absonderung von den anderen Sprachen daran zu reichen vermag. Die Sprachen können nur dann beanspruchen, es zu erreichen und es sich selbst als Versprochenes zu geben, wenn sie ihre Meinungen, wenn sie laut Derrida die „Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen gemeinsam entfalten“(159). Alle einzelnen Sprachen und alle gemeinsam zielen mit ihren Meinungen „auf eine Sprache, die weder eine Universalsprache im Leibnizschen Sinne ist noch gar die natürliche Sprache einer einzelnen, abgesonderten, für sich genommenen Sprache; sie zielen auf die Sprach-lichkeit der Sprache, auf die Sprachlichkeit als solche, sie zielen auf jene Einheit ohne Selbst-Identität, die bewirkt oder bedingt, dass es Sprachen gibt und dass jenes, was es gibt, eine Vielfalt von Sprachen ist“. „Worauf sie in der Übersetzung zielen, jede einzelne Sprache und alle Sprachen gemeinsam mit ihren Meinungen“, schlussfolgert Derrida, „ist die Sprache selber als babylonisches Ereignis“(159). Dies würde also bedeuten, dass das babylonische Ereignis Sprache als Ereignis meint, in dem Sinne, dass sie sich ereignet, gegeben wird. Damit ist eine Umkehrung des Verhältnisses zur Sprache implizit: die Sprache begegnet dem Menschen, er ist es, der angesprochen wird, der vom Text gelesen wird und zur Antwort, d.h. Übersetzung „genötigt“ wird. Die Vorstellung von einem autonomen Subjekt, welches sich der Sprache bloß aktiv „bedient“, wird umgekehrt auf eine passive Perspektive, aus welcher heraus, das Subjekt in erster Linie an die Sprache gebunden ist und diese ihm in jeder Hinsicht vorausgeht. 3. Übersetzung und Original Bevor wir uns der Frage widmen, was es mit der Sprache als „babylonisches Ereignis“ auf sich haben könnte, folgen wir zunächst Derridas Überlegungen, die explizit um das Thema der Übersetzung kreisen. Auch hier geht es um eine „Umkehrung des Verhältnisses“ oder wie schon gesagt einer Aufhebung der Dichotomie – und zwar zwischen Übersetzung und Original. „Der gängige Begriff der Übersetzung erweist sich als problematisch“, hält Derrida fest, „beinhaltet er doch die zielgerichtete Bewegung der Wiedergabe, Rückerstattung und Wiederherstellung: richtet man sich an diesem Begriff aus, besteht die Aufgabe darin, ein zunächst Gegebenes zurück- oder wiederzugeben, ein Gegebenes, das man für den Sinn hält. Alles verfinstert sich aber, versucht man, die Motive des Wiedergebens und des Reifens aufeinander abzustimmen, miteinander zu vereinen. Auf welchem Grund, in welchem Boden wird das Wachsen und Reifen stattfinden, wenn man nicht länger davon ausgehen kann, dass die Wiedergabe des gegebenen Sinns die Regel ist?“(133). Wir müssen diese Aussage Derridas in all ihren Konsequenzen lesen, wenn er sagt, dass die Wiedergabe des gegebenen Sinns nicht die Regel ist. Was ist hiermit konkret gemeint? Etwa dass der Sinn nicht von vorhinein gegeben ist? Dass die Übersetzung nicht einfach nur eine Restitution, eine bloße Übertragung ist? Oder aber, unabhängig vom Wesen des Sinns, dass die Bewegung der Übersetzung keine Struktur von Bild = Abbild meint? Und mit welcher Art von Übersetzung haben wir es dann zu tun, wenn weder der vermeintliche „Sinn“ unumstößlich ist noch die Übersetzung an sich eine zweifelsfreie, eindeutige Aufgabe wäre? Geht man wie Derrida von einem Reifungsprozess des Originals aus, fügt die Übersetzung dem Original nicht nur einen Zugewinn aus dem Erfahrungsschatz hinzu, der in der Zeit zwischen der Abfassung des Originals und der Übersetzung entstanden ist, sondern die Übersetzung in eine andere Sprache greift auch auf den spezifischen Anteil aus der Vielheit von Bedeutungen zurück, der in der zu übersetzenden Sprache in ganz besonderer Weise enthalten ist und in der Sprache des Originals fehlt oder unterrepräsentiert ist. Derrida geht sogar noch weiter und formuliert auf verwirrende Weise: „Als solche kann die Übersetzung nicht übersetzt werden“(149). Nur ein Kern könne sich dem Eingriff einer neuen Übersetzung aussetzen, ohne in ihr aufzugehen: denn ein Kern widersteht der Übersetzung, „die er liebend anzieht“. „Man erkennt das Original daran, dass es sich als solches immer wieder übersetzen lässt.“ Wenn ein Original sich immer wieder übersetzen lässt, bedeutet dies nicht dann auch, dass jeder Text ein Original ist? Dass jeder Text seiner Auslegung bedarf und niemals nur für „sich allein“ stehen kann? Dass von keinem(!) Text das letzte Wort gesprochen werden darf? Derrida bedient sich zur Erklärung des Beispiels einer Frucht. „So eng wie Frucht und Fruchthaut, Kern und Schale aneinander haften, so eng, gedrängt, zusammengezogen, an sich haftend ist die Einheit von Gehalt und Sprache im Original“(149). „Der wesentliche Kern ist nicht der Gehalt, sondern das Haften, das Gehalt und Sprache, Frucht und Schale zusammenhält“(150). Das Verhältnis von Gehalt und Sprache ist laut Derrida in der Übersetzung ein anderes. In der Übersetzung umgibt die Sprache den Gehalt wie ein Königsmantel, d.h. als „höhere Sprache als sie ist“. „Die Übersetzung verspricht ein Königreich (im Augenblick) der Versöhnung der Sprachen. Dieses Versprechen, dieses symbolische Ereignis, das zwei Sprachen so zusammenfügt, paart, vermählt, als wären sie die beiden Teile eines größeren Ganzen, bezieht sich auf eine „Sprache der Wahrheit“, es ruft nach ihr und bedarf ihrer. Die Sprache der Wahrheit ist freilich keine wahre Sprache, einem äußeren Inhalt angemessen; sie ist wahrhaft Sprache, deren Wahrheit sich nur auf sich selbst bezieht.“( 157/158). Derrida spricht hier in Anlehnung an Benjamin von der Versöhnung der Sprachen, vom Versprechen. Was meinen diese „messianischen“ Metaphern? Stützen sie sich auf die Annahme, dass gar ein messianisches Ereignis im Sinne einer Erlösung, eines „endgültigen“ Verstehens, eines befreienden letzten Wortes möglich wäre? Was aber wäre das? Wäre es wie nicht sprechen? Wäre alles gesagt / gedacht / verstanden? Wäre alles vernommen worden sein? Und wenn ja, in wessen Namen, in welcher Übersetzung? Oder aber impliziert die messianische Rede von der Versöhnung ihre eigene Möglichkeit? Die Unmöglichkeit der Dialektik, der letzten „Aufhebung“? Und wenn es die eine Übersetzung geben würde, so hätten wir dann nicht schon längst mit dem Übersetzen brechen können? Wäre dann nicht schon längst „Sinn“ und Übersetzung eins, selbstredend sozusagen? Derrida fährt an dieser Stelle fort, die Vorstellung von der Autonomie des Originals, seine Originalität, zu dekonstruieren. Der Text (Original) ist schon in seiner Entstehung (und d.h. in seiner Sprachlichkeit) nicht eigen, nicht allein, nicht autonom, sondern bedürftig (der Übersetzung), verwoben, verschuldet. Ein jeder Text steht im double bind, d.h. er steht im Kontext aller vorherigen und ihm folgenden Texte und Sprachen. Mehr noch, er verdankt seine Textur einer größeren, ihn umgebenden Textur (Sprachlichkeit), in die er eingewoben ist und von welcher er sich niemals lösen lassen wird. Das Gewebe eines jeden Textes ist markiert von Dissemination, von Kontamination mit dem anderen Text (der anderen Sprache). Von daher wird die Bezeichnung „Original“ hinfällig, verweist sie doch auf eine (ideengeschichtliche) Vorstellung von reinem Ursprung, Essenz, Individualität, also Unteilbarkeit mit sich selbst. Daher Derridas Satz: Il n’y pas de hors-texte (es gibt kein Außerhalb des Textes). 4. Leben, Fortleben und Verschuldung Aus diesen Überlegungen erhellt, warum Derrida eine Übersetzung nicht auf die Wiedergabe des Sinns reduziert. Die „Wahrheit“ jenseits möglicher Übertragung und Übersetzung besteht für ihn „nicht in einer darstellenden Entsprechung zwischen Original und Übersetzung, ebenso wenig wie in einer ursprünglichen Angemessenheit des Originals, das sich auf einen äußeren Gegenstand oder eine Bedeutung außerhalb seiner selbst bezieht“(153). „Anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, schreibt Derrida, muss sich die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Weise des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen“. Die Liebe „gibt nicht wieder, erstattet nicht, stellt nicht dar“. „Sie dehnt den Körper der Sprachen, legt und streckt ihn, sie bringt die Sprache zu einer symbolischen Ausdehnung.“ (146). Eine Übersetzung vermählt sich dem Original, wenn die beiden zusammengefügten Bruchstücke, die so verschieden sind wie möglich, sich ergänzen, um eine größere Sprache zu bilden. Dies geschieht im Zuge eines Überlebens, das beide verändert und verwandelt. Was Derrida darunter versteht und durchaus zu Missverständnissen führen kann, wird im folgenden Zitat deutlich. „Statt anzunehmen, dass wir immer wissen, was die Begriffe des ‚Lebens’ oder der ‚Familie’ bedeuten, wenn wir auf diese vertrauten, auf familiäre Begriffe zurückgreifen, um von Sprache und Übersetzung zu reden, müssen wir erwägen, dass uns erst ein Denken der Sprache und ihres ‚Überlebens’ im Übersetzen Zugang verschafft zu einem Denken, dass es uns erlaubt, die Bedeutung von ‚Leben’ und ‚Familie’ zu begreifen.“(133). Hat demnach also die Sprache den denkenden Menschen erst hervorgebracht, indem sie sich – ohne das Dazutun des Menschen – ereignet? Ist die Sprachfähigkeit des Menschen als Gabe (es gibt Sprache und wir haben an ihr teil) die Bedingung des Denkens? Oder hat sich vielmehr die Fähigkeit zur Sprache in der Evolutionsgeschichte der Menschheit erst allmählich verfeinert, ist Bedingung ihrer Erfahrung und befähigt den Menschen zu komplexen Denkleistungen? Offenbar gehören Sprachlichkeit und Menschheit unzertrennlich zusammen. Derrida verweist z.B. darauf, dass die Bedeutungen der Begriffe „Leben“ und „Familie“ sich nur dann dem Menschen erschließen, wenn er sie nicht als reine Denkleistung betrachtet, sondern das mit diesen Begriffen Gemeinte der Sprache und dem Überleben des Gemeinten in der Sprache entnimmt. Am Bespiel „Trauer“ können wir dies verdeutlichen: nicht das Wort (der Name) „Trauer“ kann das Gefühl der Trauer in einer andere Sprache übersetzen, während zugleich ein Gedicht oder eine poetische Wendung „Trauer“ fühlbar machen können, sie gleichsam „inszenieren“. Trauer ist gewissermaßen in der Sprache und ereignet sich auch hier. Und hierin liegt wohl ein ungeheures Potential der Sprache, nicht nur in poetischer Hinsicht. Sprache ist zwar nicht automatisch Handlung, aber es gibt keine Handlung, kein Gefühl, keine Reflexion, die von ihr wirklich zu trennen wären. Die höhere Sprache der Übersetzung teilt mit jeder anderen Sprache den Nachteil, nur ein Idiom zu sein. Wenn sie aber in dem Bestreben ausgeführt wurde, der „Sprache der Wahrheit“ näher zu kommen, ergänzt sie den Gehalt, postuliert Derrida. Die Übersetzung ist „zweck-mäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander“. Aus solcher Sicht versucht die Übersetzung nicht, dieses oder jenes auszudrücken, diesen oder jenen Inhalt zu vermitteln, diese oder jene Sinnlast mitteilend abzuladen, sie versucht vielmehr, die „Affinität zwischen den Sprachen bemerkbar zu machen, auszuzeichnen, ihre Markierung zu markieren;“ „sie versucht ihre eigene Möglichkeit auszustellen“ (143).
Dieses Verhältnis ist formal und in diesem Sinne spricht Benjamin von einem formalen Gesetz, einer Struktur die bindend ist, die einem in der Schuld-Stehen gleichkommt. Hierbei handelt es sich um eine Art von Schuld, die nicht in dem Sinne von Strafe im Zuge eines Schuldigwerdens zu verstehen ist, sondern um eine Verstrickung, genau genommen um eine textuelle Verwebung, deren Anfang, deren Ursprung sich der Exegese entzieht. Alles, was über diese textuelle Verwebung gesagt werden kann, ist, dass sie einen aporetischen Charakter aufweist, da sie zum einen die Möglichkeit von Sprachlichkeit überhaupt erst gibt (verstanden als Gabe), zum anderen jedoch damit nicht schon die Sprache(n) an sich vorgibt oder bestimmt. Denn wir können zu jeder Zeit dem Lebendigen, d.h. der Sprachlichkeit, keine Bedeutung zumessen, sie ignorieren oder sogar negieren. Oder aber, so wie es im Mythos von Babel der Fall ist, an die Stelle der Sprachlichkeit, des Lebendigen, die Verwirrung, bzw. Gott setzen. Doch wir sehen, dass auch die Setzung von Gott dem double bind der Sprache nicht entgehen kann, sondern anders gesagt Gott selbst der Sprachlichkeit bedarf, indem er verwirrt, macht er sich selbst unlesbar. Wir werden hierauf im Folgenden zurückkommen. Das Werk entfaltet eine vom Autor unabhängige Existenz, ähnlich wie die Sprache der Sprachlichkeit an sich nichts bedeutet, also gewissermaßen unabhängig von ihr ist. In Anlehnung an Hegel gibt es Leben dann, „wenn das ‚Überleben’ (der Geist, die Geschichte, das Werk) über das biologische Leben und den biologischen Tod hinausgeht“. Dem Philosophen entsteht „die Aufgabe, alles natürliche Leben aus dem der umfassenden Geschichte zu verstehen“(134). Aufgabe des Übersetzers ist es, das Überleben der Werke sicher zu stellen. Das ist mehr als Fortleben. Das Werk lebt nicht nur länger, sondern „mehr noch und besser, über die Verhältnisse seines Autors hinaus“(135). Damit besteht das Band der Schuld nicht zwischen dem, der gibt, und jenem, dem etwas gegeben wird, vielmehr zwischen den Texten (zwischen zwei Erzeugnissen oder zwei Schöpfungen). „Wenn die Struktur des Werkes in einem ‚Überleben’ besteht, ist man nicht einem vermeintlichen Subjekt etwas schuldig, das angeblich der Autor des Originals ist“ – „Im Schulden verstrickt ist vielmehr, was in der Immanenz des Originals das formale Gesetz darstellt“(138). Derrida sagt dazu: „Wenn nämlich die Struktur des Originals von der Forderung nach Übersetzung markiert wird, so heißt dies, dass es, indem es das Gesetz diktiert, auch gegenüber dem Übersetzer in ein Schuldverhältnis gerät. Das Original ist der erste Schuldner, der erste Bittsteller, es ist das, was zuerst fordert und verlangt, es fängt an mit einem Verfehlen eines Ermangelns, es beginnt damit, sich nach Übersetzung zu sehnen, um das Vermisste zu trauern und zu flehen. Dieses Verlangen, Ersuchen, Erfordern lässt sich folglich nicht allein dort ausmachen, wo die Baumeister oder Konstrukteure des Turms sich einen Namen machen und eine allumfassende, universale Sprache schaffen wollen, die sich selber übersetzt; das Erfordern, Ersuchen, Verlangen übt seinen Zwang ebenfalls auf jenen aus, der den Turm abbaut: auf den Dekonstrukteur“(140). Das Original unterliegt selbst dem in ihm enthaltenen formalen Gesetz des Wandels. „Gegeben ist es in der Veränderung; es gibt sich hin, indem es sich verändert, so dass die Gabe nicht die eines vorgegebenen Gegenstandes ist. Das Original lebt und überlebt in der Wandlung: Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte“ (138/139). Es ist die Nachreife eines lebendigen Organismus oder eines Samens (139, AÜ.S.12). 5. Der Eigenname Die Thematik von Leben, Überleben und Fortleben führt Derrida schließlich auf die Bedeutung des Eigennamens – denn „wo die Handlung des Lebendigen, der sterblich ist, weniger ins Gewicht zu fallen scheint als das Überleben des in Übersetzung begriffenen Textes (des übersetzten und des übersetzenden Textes), muss die Signatur des Eigennamens sich davon unterscheiden und darf sich nicht so leicht vom Vertrag oder von der Schuld zurückziehen“(139). Und weiter: „Die Frage der Eigennamen erweist sich hier als entscheidend und wesentlich“(139). Zunächst fragt Derrida nach dem sterblichen Autor des Textes und dem ebenfalls sterblichen Übersetzer. Der Eigenname überlebt beide, deswegen ist er wesentlich. Die Signatur des Eigennamens, so Derrida weiter, muss sich von der Handlung des Lebenden, der sterblich ist, unterscheiden, sie (die Signatur) dürfe sich nicht vom Vertrag und von der Schuld zurückziehen. Und dann erinnert Derrida noch, dass es seit und in und mit Babel um den Überlebenskampf des Namens geht. Was ist damit gemeint? Der Eigenname „ist mehr“ als der Autor; wenn wir nämlich nach einem Menschen fragen, wer er sei, was sein Merkmal sei, seine „Persönlichkeit“, dann mögen wir dieses und jenes aufzählen, aber „vollständig“ werden wir diesen Menschen nie beschreiben. Die ständigen Veränderungen seiner „Persönlichkeit“, die geheimen Winkel seiner Seele, und wer er hätte werden können, dies alles gehört zu ihm, wird aber von den Anderen selten oder nie erwähnt oder auch nur wahrgenommen. Im Eigennamen aber ist all dies „aufgehoben“. Der Name wurde dem Namensträger gegeben, es sind also schon Erwartungen Anderer in ihm an ihn geknüpft; und auch die Verpflichtung, dem gegebenen Namen gerecht zu werden. Der Name lebt aber auch nach dem Tode weiter, und so verbindet sich im Namen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit dem Namen wird man angesprochen und in die Mitte des Lebens gerufen, so fällt niemand der Namenlosigkeit zum Opfer, zugleich aber kann man sich seinem Namen bis ans Lebensende nicht entziehen, im Namen laufen alle Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, verpassten Möglichkeiten, Stolz und Freude an Erlebtes, aber auch alle Schuld und alles Verfehlen wie in einem einzigen Wort zusammen. Und genau deswegen steht der Eigenname für die Einzigkeit der Person, er ist nicht reduzierbar auf einige wenige Merkmale und also nicht übersetzbar. Der Eigenname trägt nicht nur ein ganzes individuelles Leben, sondern trägt dieses Leben über die Zeiten und Räume hinaus, er lebt noch nach dem Tod seines Trägers in den Erinnerungen der Überlebenden. Sie aber gehen schon mit dem Erinnern eine Verpflichtung ein, und zwar die des Übersetzens – denn wie anders können sie der Gefahr entgehen, sich des Namens der Anderen nur in ihrem Namen zu erinnern? Dies hieße, Gewalt anzuwenden gegenüber denen, die sich nicht mehr wehren können – die Schuld gegenüber dem Namen muss das Erinnern prägen, sei es das individuelle oder kollektive. Besonders deutlich zeigt sich die Problematik / Struktur des Eigennamens an den Namen jener Menschen, die durch die Shoah um ihr Leben gebracht wurden. Ihre Namen leben weiter oder präziser ausgedrückt, sie sind alles, was außer der Asche zurückgeblieben ist. Sie sind Eigennamen, die nun für eine Leerstelle stehen, sie überleben ihren Träger ewig, sie können auf ewig vernommen werden, da, wo die Sprache an sie erinnert, auf sie verweist, sie abstrakt „benennt“, ohne je konkret etwas über ihre „Wahrheit“, ihr „nächtlich Inneres“ (Benjamin) sagen oder übersetzen zu können. Und dennoch trägt jeder „Stolperstein“ einen bestimmten Eigennamen, erinnern die „Murs des noms“ (Die Mauern der Namen) in der ganzen Welt an diese unübersetzbaren Leerstellen, an diese Abwesenheit und damit an Leben und Über-Leben. Die Sprache stirbt nicht. Der erinnerte Eigenname kann die Inkommensurabilität seiner eigenen Geschichte nicht gerecht werden, sie nicht ausdrücken, sie nicht ansatzweise übersetzen. Und dennoch ist er mehr als eine bloße Abfolge oder Kombination von Buchstaben. In diesem Sinne ist der Übersetzer dem Eigennamen gegenüber verschuldet. Was bedeutet das? Der zu übersetzende Text ist mit einem Eigennamen signiert, der in jeder Übersetzung eine neue Nuance bekommt, ohne sich dagegen wehren zu können. Zum einen also gehört mir mein Name nicht, denn ich erlebe zuweilen, wie mein Name von Anderen geschändet oder fehl gedeutet wird. Zum anderen verfehle ich selbst oft die Verpflichtung, die mir im und mit meinem Namen gegeben ist. Mein Name gehört mir, und er gehört mir auch nicht, so wie die Sprache. Gerade deswegen verlangt er nach Übersetzung, d.h. hier Überleben und Fortleben. Wir werden zu unseren Lebzeiten bestenfalls nur zu einem Teil die Verpflichtung erfüllen, die uns mit dem Namen gegeben wurde. Deswegen bedarf der Name des Fortlebens, damit sich manches an ihm erfüllen mag, was zu Lebzeiten seines Trägers nicht gelingen mochte. In jedem Eigennamen spiegelt sich so die Tragik des Namens Gott wider – die Verwirrung, die Schwierigkeit und zugleich Aufgabe des Übersetzens. Dass selbst Gott diesem double bind nicht entkommt, kann nur darin münden, dass wir alle gegenseitig gegenüber den Namen verschuldet sind, d.h. verschuldet sind über den Lebtag hinaus. Derrida sagt: „Zahlungsunfähig nach beiden Seiten hin, findet die doppelte Verschuldung in einem Verhältnis zwischen Namen statt. Sie übersteigt a priori die Namensträger, begreift man diese als sterbliche Körper, die mit dem Überleben des Namens verschwinden. […] die Schuld verpflichtet oder (ver)bindet nicht lebendige Subjekte, sondern Namen am Rand der Sprache; streng genommen geht es bei dieser Schuld um den Zug, der ein zusammenbringendes und vertraglich verpflichtendes Verhältnis stiftet, zwischen dem besagten lebendigen Subjekt und seinem Namen, der sich am Rande der Sprache hält.“ Halten wir mit Derrida noch einmal fest: die Schuld verbindet nicht lebendige Subjekte, sondern Namen am Rand der Sprache. Das sprachliche Subjekt ist also nicht direkt von der Schuld „betroffen“, wohl aber ist es Träger eines Namens, d.h. es ist in der Sprache und somit schon immer antwortend, in der Schuld, antworten zu müssen, ohne gefragt worden zu sein. Für das Verhältnis der Übersetzung bedeutet dies, dass nicht nur die Signatur des Eigennamens des Anderen übersetzt werden muss, sondern zunächst auch der Eigenname an sich für einen jeden selbst zu übersetzen ist. Wer also bin ich, wenn ich in meinem Namen spreche? Kann ich in meinem Namen für oder über den Anderen sprechen, d.h. ihn übersetzen? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Bedeutet dies in Bezug auf die Übersetzung von Texten nicht, dass der Übersetzer einen Teil dieser vertraglichen Verpflichtung zwischen dem lebendigen Subjekt und seinem Namen übernimmt? Wenn so alle untereinander in ihrem und gegenüber ihrem Namen verschuldet sind, dann entsteht damit ein Geflecht der Verpflichtung allen schon gestorbenen und noch kommenden Geschlechtern gegenüber. Wie anders können wir es einlösen als in der über-setzenden Arbeit am Text, durch die er fortlebt, überlebt, wächst und nachreift – wodurch schließlich das Fortleben, Überleben und Nachreifen der in ihn eingeschriebenen Namen möglich wird. 6. Die Sprachlichkeit der Sprache Es folgt wiederum eine längere Passage der Kommentierung des Benjamin-Textes, in dem es um die „Art des Meinens“, die „Intention“ und schließlich die Affinität der Sprachen in dieser Intention und dieser Art des Meinens geht. Damit tastet sich Derrida an die „Sprachlichkeit“ heran, die vor jeder – einzelnen – Sprache und damit vor den Sprachen existiert. Die Rede ist von einer „Sprache“, die sich nicht auf einen Inhalt bezieht, die also nichts abbildet, nichts bezeichnet, also nicht Zeichen ist. Aber folgen wir ihm schrittweise, beginnend mit der Affinität der Sprachen: „Wo wäre indes die ursprüngliche Affinität zu suchen…In jeder Sprache wird etwas gemeint, was dasselbe ist, ohne dass eine Sprache in ihrer Absonderung von den anderen Sprachen daran zu reichen vermag. Die Sprachen können nur dann beanspruchen, es zu erreichen und es sich selber als Versprochenes zu geben, wenn sie ihre Meinungen, wenn sie die „Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen“ gemeinsam entfalten.“ Derrida behauptet also, dass jede Sprache „dasselbe meint“, wenngleich sie dieses als eine von den anderen abgesonderte Sprache niemals wirklich sagen kann. Nur dann werde dieses „Es“ tatsächlich „erreicht“ (d.h. benennbar), wenn alle Sprachen sich gemeinsam – einander ergänzend – dahin entfalten, dieses „Es“ auszusagen. Die spannende Frage, die sich hier erhebt, lautet natürlich: was meint Derrida mit diesem „Es“? Allzu leicht könnte man dazu verführt werden, dieses „Es“ zu mystifizieren oder zu verdinglichen – in jedem Fall hier einen Mythos, eine ursprüngliche Wahrheit, eine Transzendenz oder Ähnliches unterzuschieben, das sich nur aussagen ließe, wenn all die unterschiedlichen „Arten des Meinens“ aus allen Sprachen zusammengeführt werden. Wie soll dieses zusammenführen aber aussehen? Sollen wir uns dies als Addition vorstellen oder als Vermischung? Schon in dieser Frage erhellt die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens, die Art des Meinens aus allen Sprachen soz. „auf einmal“, in einem Akt zu denken oder auszusprechen. Derrida korrigiert deshalb seinen Begriff des gemeinsamen Entfaltens (der einander ergänzenden Intentionen) auch sogleich, indem er von Rückfaltung spricht. Und zwar fordert er diese Rückfaltung für alle Sprachen, wenn sie sich in ihren Intentionen ergänzen sollen. Rückfaltung aber worauf-hin? Auf die „reine Sprache“, wie Benjamin es sagen würde. Wie gesagt vermeidet Derrida diesen Ausdruck, für ihn gibt es keine „reine Sprache“, aber eine „Sprache der Wahrheit“. Er berührt Benjamins Diktum womöglich insofern, als dass er an dieser entscheidenden Stelle hervor-hebt, was wir oben bereits sagten: die gemeinsame Intention aller Sprachen geht nicht auf ein „über die Sprache Hinausgehendes, ein Transzendentes..“ sondern auf die Sprache als babylonisches Ereignis, auf die Sprachlichkeit der Sprache. Diese Sprachlichkeit nennt Derrida jene „Einheit ohne Selbst-Identität, die bedingt oder bewirkt, dass es Sprachen gibt…“(ebd.). Nochmals unterstrichen: gesucht wird keine „Universalsprache im Leibnizschen Sinn“, die gewissermaßen durch eine bestimmte Formalisierung und strukturelle Reduzierung die „Verständigung“ vereinfachte, sondern jenes Ereignis und jene Verfasstheit der Welt, welche überhaupt Sprache möglich – und nötig – macht. Das „babylonische Ereignis“ besagt somit weitaus mehr als den Mythos des Turmbaus zu Babel. Vielmehr meint es das ständig sich wiederholende Ereignis der Verwirrung, Übersetzung und Namensgebung. Dieser fort-laufende, nie sich erschöpfende Prozess des Sprechens und Hörens, Fragens und Antwortens – ohne je die eine Antwort zu erhalten (!) – müsste die Menschen schier in den Wahnsinn treiben, wenn dieser Prozess nicht lediglich die hörbare und sprechbare Seite der reinen Sprachlichkeit wäre, die immer schon in der Welt anwesend ist und in der die Welt überhaupt erst verfasst ist. Dies also war mit dem „Es“ gemeint, mit dem „Selben“, das alle Sprachen meinen, wenn sie sprechen. Sie wollen nicht etwas aussagen, sondern die Sprachlichkeit – anders gesagt: die verschiedenen Sprachen suchen danach, jenseits der Bedeutungen ihrer Worte die Sprachlichkeit als solche auszusagen. Wir stehen damit vor einem neuerlichen Fragezeichen: was besagt das Wort „Sprachlichkeit“? Zur Beantwortung dieser Frage führt Derrida den Leser nochmals über einige Klippen, indem er scheinbar sich mehrfach wiederholt und von der „Harmonie“, der „Einstimmigkeit“ oder dem „Akkord“ der Sprachen schreibt – immer wieder an das Motiv der Ergänzung aller Sprachen zu einem Ganzen anknüpfend, das nur in der Übersetzung der einen in die andere ermöglicht werde. Dann aber tauchen plötzlich Begriffe wie „Offenbarung“ und „religiöse Schlüsselsprache“ auf. Das „unendliche Aufleben“ der Sprachen, das sich in der Übersetzung ereigne, sei keine Offenbarung, sondern eine Ankündigung und Verkündigung, ein Verbünden und Versprechen. Tatsächlich ist nach jüdischem Verständnis bei der Offenbarung nichts „gesagt“ worden, sondern etwas ist undeutlich als Donnern oder Grollen vernommen worden. In diesem Donnern hat sich „etwas“ angekündigt, ist „etwas“ versprochen worden – z.B. die Sprachlichkeit und die Möglichkeit des Übersetzens. Aber: zugleich die Grenze der Übersetzbarkeit, wie sie in der religiösen Schlüsselsprache, im heiligen Text gezeichnet wird. Derrida sagt dazu: „Als heiliges Wachstum der Sprachen kündigt die Übersetzung das messianische Ziel, das messianische Ende an; das Zeichen dieses Endes ist allerdings darin gegenwärtig allein als Wissen um die Entfernung, um die Entfernung, die den Bezug zum Ende stiftet.“ Dies bedeutet gleichzeitig, dass das Wissen um Entfernung sich nicht auflöst, dass keine Dialektik (Aufhebung), kein System die Entfernung beheben kann. Die Entfernung zum Ursprung, zum letzten Wort, bleibt trotz aller möglichen Übersetzungen. Dass diese Grenze, diese Entfernung nicht als Verlust, sondern gerade als Chance und Bedingung der Möglichkeit von Freiheit gelesen und übersetzt werden kann, wird im Folgenden noch deutlich werden. Diese Entfernung könne man erahnen, und nur sie lasse uns in ein Verhältnis zur „Sprache der Wahrheit“ treten. Anders gesagt: die Ankündigung einer „Sprache der Wahrheit“, die Erfahrung der Grenze von Übersetzbarkeit, die wir im Übersetzen der heiligen Texte machen und die sich in jeder Übersetzung auch literarischer Texte widerspiegelt, geben uns mehr als „nur eine Übersetzung“. Sie geben uns die Erfahrung der Entfernung zwischen der „Sprache der Wahrheit“ (oder der Sprachlichkeit) und dem tatsächlich gesprochenen, geschriebenen und übersetzten Wort. Sie geben uns – wenn wir mit Rosenzweig, Cohen oder Adorno sprechen – die Erfahrung des unaufhebbaren Restes, des Übersinnlichen, des zusätzlichen Hauchs oder des unbestimmten Hofs, von denen jedes Wort umschwebt wird. Hier wird nichts mystifiziert – im Gegenteil: Derrida nennt es das Vorgefühl oder die Gestalt einer Ahnung des Abwesenden. Eine Mystifizierung dieses Abwesenden geschieht dann, wenn wir es benennen – mit Worten wie Gott, Transzendenz oder Jenseitigkeit. Mit diesen Worten glauben wir „es“ aufzuspießen und wie eine Trophäe mit nach Hause zu tragen. Derrida aber vermeidet jede Jagd nach Trophäen, indem er uns jenseits der Grenze der Übersetzbarkeit „nur“ die Sprachlichkeit erfahren lässt. Schlimm genug für Ontologen, Metaphysiker, Logiker, Idealisten und andere „Denker“, die ständig auf Trophäen-Jagd sind und dabei Ideen, Logos, Nous, Vernunft etc. mit zur Strecke bringen möchten. Vergesst diese Jagd nach den Gespenstern der griechischen Welt, so könnte man Derrida lesen! Wenn ihr nach der Sprachlichkeit fragt, türmen sich genug Fragen auf. Und so versucht Derrida selbst, die Frage, was denn Sprachlichkeit an sich sei, zu beantworten: im heiligen Text ließen sich Sinn und Wörtlichkeit nicht mehr auseinander halten. In diesem heiligen Text fehle jeder Sinn außerhalb der Wörtlichkeit – d.h. das Wort bezeichnet nicht etwas anderes, es ist kein Zeichen für, es bedeutet nicht. Vielmehr sei der heilige Text der absolute Text, „weil er in seinem Sich-Ereignen nichts mitteilt, nichts sagt, was außerhalb des Ereignisses sinnvoll wäre oder Sinn machte. Das Ereignis vermischt und deckt sich vollkommen mit einer Sprachhandlung – etwa mit der Prophezeiung.“(ebd.). Das Ereignis ist Sprachhandlung, ist Prophezeiung, unmittelbar. Hier also findet jede „Übersetzung“ ihre Grenze, da es nichts zu übersetzen gibt, nichts, das ein Sinn wäre, der sich vom Wort ablösen ließe. Buchstabe und Wort werden „frei gelassen“, sie werden nicht mehr in das Korsett eines Sinns oder einer Bedeutung gepresst. „Der Buchstabe übersetzt sich nun aus sich – in sich selbst…“ Und dennoch werden wir gerade diese „Worte ohne Sinn“, diese Ankündigungen und Prophezeiungen weiterhin zu übersetzen versuchen – zwar nicht im Sinne einer Übertragung des Sinns von einer Sprache in die andere, aber als Frage, die uns immer „am Rande des Abgrunds, des Wahns und des Schweigens“ (wie Derrida sagt) balancieren lässt. Noch etwas anderes lässt sich jedoch aus Derridas „Babylonischen Türmen“ lernen, auf das bereits Sprachdenker wie Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy aufmerksam gemacht haben: im und durch das Sprechen setzt sich der Mensch in Beziehung zu Mitmensch, Gott und Welt. Die Wirklichkeit wird bewirkt im Aufeinanderwirken und Zusammenwirken des Sprechenden und Hörenden, des Fragenden und Antwortenden. Dieses in Beziehung-Setzen, dieses Be-wirken dessen, was wir dann Wirklichkeit nennen, ereignet sich sprachlich. Die Worte, die dabei gesprochen werden, mögen zwar auch etwas bedeuten, in erster Linie aber liegt ihr Sinn im Ereignis des Sprechens, das zugleich ein Offenbaren, ein Sich-Ereignen und ein Bewirken des Wirklichen zu nennen wäre. Wenngleich auch dieses „Ereignis“ in entsprechender Entfernung vom heiligen oder absoluten Text stattfindet, so spiegelt sich die Sprachlichkeit oder Sprache der Wahrheit dennoch in diesem Ereignis des Sprechens wider. Alles „Nicht-Verstehen“, alle Relativität, Vorläufigkeit und Unentscheidbarkeit des Gesagten und des Sagens spielt sich vor dem Horizont dieser Sprache der Wahrheit ab, von der uns dennoch ein Abgrund trennt, der sich am ehesten im Schweigen sagen lässt. 7. Statt einer Zusammenfassung: Sprache ist Offenbarung – Offenbarung ist Sprache Versuchen wir, Derridas Kommentar von Benjamins Text, wenn nicht zusammenzufassen, so doch von den berührten Fragestellungen aus noch einmal der Bedeutung der Sprachlichkeit auf anderem Wege näher zu kommen. Wie wir gesehen haben ist das sogenannte Original nicht autonom seiner Übersetzung gegenüber, vielmehr bedarf es ihrer, erfüllt es sich erst mit ihr. Demnach ist die Übersetzung Teil des Originals, unmittelbar mit ihm verbunden. Fassen wir also zusammen, dann ist zunächst jeder Text ein Original, da kein Original irgendeinem Ursprung näher wäre, d.h. mit sich selbst identisch ist und für sich allein sprechen oder stehen könnte. Damit wird es obsolet, von Original zu sprechen. Weiterhin bedarf ein jeder Text, ein jedes Original seiner Übersetzung, gerade weil er/es nicht für sich selbst sprechen, bzw. stehen kann. Wäre das Zusammenfallen von Text und Übersetzung möglich, dann wäre es in einer Unmittelbarkeit, die sich nicht vernehmen ließe, in einer absoluten Stille, die keiner Vermittlung, keiner Zeichen bedarf. Die Übersetzung ist also dem Original, dem text inhärent. Beide implizieren sich gegenseitig, sind im double bind gebunden. Gebunden in einem formalen Gesetz, wie Benjamin sagt, d.h. in der „Ankündigung“, der „Verkündung“, dem „Versprechen“, der „Wahrheit der Sprache“ näher zu kommen. Sie ist das Gesetz, die Pflicht, das Soll, die Schuld, „von der man nicht mehr loskommt, die man nicht mehr begleichen kann“, wie Derrida sagt. Daraus folgt schließlich, dass Text und Exegese zusammengehören, wie zwei Seiten einer Medaille, dass sie nur scheinbar oder künstlich (in der Kunst) getrennt von einander sind. Die Struktur dieser Verschränkung lässt sich dann auch so deuten, dass ein Stillstand, in Form einer Dialektik oder Aufhebung, immer nur scheinbar, bzw. vorübergehend eintreten kann. Denn aus der Notwendigkeit der Übersetzung, der Exegese, der Erklärung heraus, müssen verhandelbare, fixierbare und verpflichtende Aussagen gemacht werden können, da ansonsten eine Verständigung, und sei sie noch so minimal, gar nicht möglich wäre. Der double bind der Sprache beschränkt und öffnet also zugleich. Er „verhindert“, dass das eine letzte Wort fällt, das in einer Sache gesprochen werden kann, ebenso wie er die unabschließbare Auslegung, Interpretation, Analyse befördert. Mit anderen Worten: die Konstruktion von Sinn und seine Dekonstruktion fallen zusammen. Dekonstruktion passiert nicht aktiv von außen an einem intakten Korpus (der Sprache), sondern aus dem Inneren der Sprache selbst – Faltung und Rückfaltung. So dass letztlich die Frage aufkommt, ob nicht den Bewegungen an sich, den Aporien von „Sinnentfaltung“ und Übersetzung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte als der Vorstellung eines letzten und wahren Sinns, der „Restitution des Sinns“. „Der Übersetzer ist verschuldet, er wird seiner selbst als Übersetzer bewusst, er erscheint sich selber als ein Übersetzer unter den Umständen einer Verschuldung; seine Aufgabe besteht in einem Wieder- oder Zurückgeben“, „der Restitution des Sinns. Er muss erstatten, was erst gegeben werden musste“ sagt Derrida. Wie können wir aber etwas erstatten, was erst gegeben werden musste? Wie können wir den zweiten vor dem ersten Schritt gehen? Wie können wir glauben, etwas zu übersetzen, was sich letztlich der Übersetzung entzieht? Sicherlich nicht, indem wir die „Aufgabe des Übersetzens“ (Benjamin) „aufgeben“ – sinnigerweise kann das Wort „Aufgabe“ genau in diesen beiden diametralen Bedeutungen gelesen werden. Denn dieser Aufgabe können wir uns gar nicht entziehen, wir sind ohne Unterlass gezwungen, Sinn/Bedeutung zu finden und zu stiften, gerade weil es keine Unmittelbarkeit von Sinn und Übersetzung gibt, die zusammenfielen und die Sprache aus ihrer Aporie erlösen würden. So schreibt Derrida dann auch: „Der Übersetzer muss erlösen und auflösen, indem er versucht, sich selber loszukaufen von seiner Schuld, die im Grunde die gleiche Schuld ist wie die des Originals – eine Schuld ohne Grund. Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers.“(145,AÜ,S.19). Die Übersetzung ist die Umdichtung. Und wir können ergänzen, sie kann nur Umdichtung sein und zwar in einem positiven Sinne, dass die Übersetzung eines unmittelbaren, einzigen Sinns weder möglich noch zulässig ist. Daraus folgt jedoch nicht zugleich, dass eine jede Übersetzung „beliebig“ erfolgen könnte oder sollte. Vielmehr ist gemeint, der Sprache Rechnung zu tragen, d.h. zu erkennen, wie die Sprache mit der Sprachlichkeit, Benjamin würde sagen das Leben mit dem Lebendigen auf das Innerste zusammenhängen. Und demnach ist auch eine (literarische) Übersetzung an ihren zu übersetzenden Text formal und inhaltlich gebunden. Die Umdichtung findet daher in einem gewissen Rahmen statt, der durch das jeweilige sprachliche Feld, die jeweiligen Sprachen gebunden und auch erweiterbar ist. Genauso verhält es sich auch mit der Übersetzung des heiligen Textes, mit der wir es hier zu tun haben. Denn die Erzählung vom Mythos zu Babel ist ein Text aus dem Buch Genesis. Hören wir Derrida: „Die reine und schlichte Übersetzung ist die des heiligen Textes, in der sich Sinn und Wörtlichkeit nicht mehr auseinander halten lassen und so ein einzigartiges, unübersetzbares, unübertragbares Ereignis verkörpern. […]. Doch aufgrund der Ununterscheidbarkeit zwischen Sinn und Wörtlichkeit kann sich das rein Übersetzbare als Unübersetzbares ankündigen, hingeben, darstellen, übersetzen lassen. Von dieser Grenze aus, die eine innere und zugleich äußere Grenze ist, nach innen und nach außen begrenzend, erhält der Übersetzer alle Zeichen der Entfernung, die ihn auf seinem unendlichen Weg leiten, am Rande des Abgrunds, des Wahns und des Schweigens“(161). Was wir also bisher über den (literarischen / poetischen) Text an sich gesagt haben, gilt insbesondere für den heiligen Text. Genauer gesagt, setzt der heilige Text die ganze aporetische Struktur von Sprache und Übersetzung in Szene. Indem Sinn und Wörtlichkeit zusammenfallen, also auf nichts außerhalb ihrer selbst verweisen und demnach gerade nicht transzendental zu lesen sind, sondern als das sprachliche Ereignis an sich, stellen sie eine Parabel der Unübersetzbarkeit dar. In der Offenbarung ihrer Erzählung, d.h. in der Narration (im Text) selbst sind sie unteilbar: Original und Übersetzung fallen zusammen. Der Text ist Ereignis oder wie Derrida sagt: „Es geht an dieser Stelle um genau das, was Babel heißt: um das von Gottes Namen auferlegte Gesetz. Indem es die Grenze anzeigt und entzieht, schreibt es das Übersetzen vor und verbietet oder untersagt es zugleich. Doch geht es hier nicht nur um das babylonische Verhältnis, es geht nicht nur um eine Szene oder Struktur. Es geht auch um Status und Ereignis des Babelschen Textes, um den Text der Genesis, heilig und in dieser Hinsicht einmalig. Dieser Text untersteht dem Gesetz, von dem er beispielhaft berichtet und den er beispielhaft übersetzt.“ (S.162). Mit anderen Worten: der heilige Text reflektiert sich selbst, er spricht von seiner eigenen Möglichkeit, setzt sich selbst in Szene. Babel handelt von dem „von Gottes Namen auferlegte(n) Gesetz“, nicht Gott hat das Gesetz gegeben, sondern von seinem Namen aus wurde es gegeben. Gott ist hier als der potenzierte Eigenname zu verstehen, als von der Sprache Gegebenes. Es gibt Gott in der Sprache, Sinn und Wörtlichkeit fallen auch in ihm, in seinem Eigennamen zusammen. Er geht nicht über seine Buchstäblichkeit hinaus, er ist innere und äußere Grenze zugleich und gerade durch diese Grenzziehung ist er unübersetzbar übersetzbar. Der Eigenname Gott bedarf der Übersetzung, einer Übersetzung, die doch niemals die Schuld zu tilgen vermag. Der Eigenname macht die Übersetzung erforderlich, d.h. der Mensch „muss“ Gott verstehen, ihn deuten, ihn übersetzen. Und damit ist Gott selbst in Gefahr, selbst im double bind gefangen. Er hat sich durch Babel, durch die Verwirrung, die er gestiftet hat, selbst in Gefahr gebracht, denn nun muss er übersetzt werden, kann nicht für sich allein stehen. Ziehen wir an dieser Stelle Sholems Betrachtungen mit ein, sehen wir, dass das babylonische Ereignis als Offenbarung gelesen werden kann: „Was eigentlich kann Gott offenbaren und worin besteht das sogenannte Wort Gottes, das den Empfängern der Offenbarung zukommt? Ihre Antwort (die der Kabbalisten K.F.) lautet: nichts anderes als sich selbst, wo er Sprache und Stimme wird. Dieser Punkt aber, an dem die göttliche Kraft sich in einem Ausdruck, sei er auch noch so innerlich und verborgen, niederschlägt, ist der Name Gottes. Er ist das, was in Schrift und Offenbarung, unter welchen Hieroglyphen immer, zum Ausdruck gelangt, zur Sprache kommt. […] Jene geheimen Signaturen [Rischumim], die Gott in die Dinge gelegt hat, sind freilich im selben Maße Verhüllungen seiner Offenbarung wie Offenbarung seiner Verhüllung. […] So ist also die Offenbarung eine solche des Namens oder der Namen Gottes, die etwa die verschiedenen Modi seines tätigen Seins sind. Die Sprache Gottes nämlich hat keine Grammatik. Sie besteht nur aus Namen.“3 Wenn also „die Offenbarung eine solche des Namens“ ist, dann können wir von einer sprachlichen Offenbarung ausgehen, von einer Offenbarung, die eigentlich Gabe, bzw. Ereignis ist. Am Anfang war das Wort, nicht weniger und nicht mehr. Sinn und Wörtlichkeit fallen zusammen. Das Wort ist das Ereignis. Sprache und Offenbarung fallen zusammen, sie sind nur scheinbar in Sinn und Übersetzung zu „teilen“. Derrida schließt seine Betrachtungen mit einem Zitat von Maurice de Gandillac: „Denn in irgendeinem Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber die heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung“(S. 163). De Gandillac spricht von einer virtuellen Übersetzung, die sich interlinear, also zwischen den Zeilen finden ließe. Damit wäre demnach weniger Sinn und Wörtlichkeit an sich gemeint als vielmehr das, was sich im Text ereignet, was noch mal auf einer anderen Weise nicht zu übersetzen ist. Und hierbei handelt es sich wohl nicht um die Restitution eines Sinns sondern um das Verhältnis zur Sprache an sich, um das in der Sprache Sein. Bleiben wir einen Moment bei dieser Idee der „Interlinearversion“ des heiligen Textes, dann können wir nochmals Sholem heranziehen: „Es wurde sogar ein altes Wort des Midrasch, wonach die präexistente Tora vor Gott mit schwarzem Feuer auf weißem Feuer geschrieben gewesen sei, esoterisch dahin gedeutet, das weiße Feuer sei die schriftliche Tora, in der die Form der Buchstaben noch gar nicht hervortritt, vielmehr solche Form erst durch die Kraft des schwarzen Feuers erhielte, welches die mündliche Tora ist. Das schwarze Feuer sei wie die Tinte auf dem Pergament der Tora-Rolle. Damit wäre also impliziert, dass, was wir auf Erden schriftliche Tora nennen, selber schon durch das Medium der mündlichen Tora gegangen ist und darin eine sinnliche Form angenommen hat. Nicht die Schwärze der von der Tinte umrissenen Schrift, die selbst schon eine Spezifikation ist, sondern die mystische Weiße der Buchstaben auf dem Pergament der Rolle, auf dem wir überhaupt nichts sehen, ist die eigentliche schriftliche Tora.“4 Diese Anschauung würde also einer kompletten Umkehrung gleichen und die Frage aufwerfen, was und wie außerhalb der Wörtlichkeit an sich, des Buchstabens an sich zu lesen wäre. Würde uns die Weiße des Papiers weniger erzählen können als ihre Schwärze, in Anbetracht dessen, dass die Schwärze unübersetzbar übersetzbar bleibt? __________________ 1 Der etymologische Ursprung des Wortes Babel ist indes nicht eindeutig herzuleiten. Die Bezeichnung Babel tritt im Genesis Text zwei Mal auf: ha ir we ha migdal babel (die Stadt und der Turm zu Babel) und in der verbalen Form von balal (verwirren und verwirrt). Mit der Stadtbezeichnung „Babel“ wird im hebräischen Text an zwei Stellen ein Wortspiel veranstaltet, das auf den ähnlichen Klang der Wurzeln bbl, also bet bet lamed, (im Namen „Babel“) und bll (im Verb „verwirren“) aufbaut: Gen 11,7: הָבָה נֵרְדָה וְנָבְלָה שָׁם שְׂפָתָם אֲשֶׁר לֹא יִשְׁמְעוּ איִשׁ שְׂפַת רֵעֵהוּ׃ Gen 11,7: hāvāh nērdāh wənāvlāh šām śəfātām ăšer lo yišməū īš śəfat rēēhū Gen 11,7: Wohlan, lasset uns hinabsteigen, und dort verwirren (wə-nāvlāh) ihre Sprache, daß sie nicht verstehen Einer die Sprache des Andern. (Verbalform: Kohortativ pl. < bll) Gen 11,9: עַל־כֵּן קָרָא שְׁמָהּ בָּבֶל כּיִ־שָׁם בָּלַל יְהֹוָה שְׂפַת כָּל־הָאָרֶץ Gen 11,9: al-kēn qārā šmāhh bāvel kī-šām bālal YHWH śəfat kāl-hā-ārez […] Gen 11,9: Darum nannte man ihren Namen Babel (bāvel), weil dort der Ewige verwirrte (bālal) die Sprache aller Erdbewohner, […] (Verbalform: Perfekt 3.Sg.masc. < bll) (Deutsch nach L.Zunz) Man muss dazu wissen, dass im Hebräischen das punktierte Bet wie B und das unpunktierte Bet wir V ausgesprochen werden. Der Name Babel lässt sich jedoch nicht nur auf die hebräische Verwendung zurückführen, sondern auf das Akkadische bāb-ilim, was „Tor der Götter“ bedeutet. Jedoch muss auch hier eingewendet werden, dass die Ur-Etymologie des akkadischen Namens nicht unstrittig ist, da die akkadische Bezeichnung auf einen älteren nichtsemitischen Namen zurückgehen könnte. 2 Jakobson zur innersprachlichen Übersetzung: Die intersprachliche Übersetzung deutet sprachliche Zeichen mittels einer anderen Sprache. Die intersemiotische Übersetzung ist eine Paraphrase, ein rewording, eine definierende Deutung (128). 3 Vgl. Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Suhrkamp, Frankfurt, 1970, S. 106. 4Ebd. S. 108. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/727bc57469354f0eb5fcba0f22cd87e2" width="1" height="1" alt="" /> Überlegungen zu Jean-Luc Nancys Begriff der Dekonstruktion
1. Jean-Luc Nancys Selbst-Zerspannung von Elementen Laut Nancy hat "die Geste der Dekonstruktion"(1) nur dann einen Sinn, wenn die untersuchte Sache "in und durch sich selbst eine gespaltene Integrität" besitzt, d.h. wenn eine "Bewegung seiner Distention, seiner Ausdehnung und Zerspannung, seiner Öffnung und seiner Auflösung" unterstellt werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung könne "die Dekonstruktion innerhalb der Bewegung einer Selbst-Distention jener Integrität versuchen, das Herz dieser Öffnungsbewegung zu finden" (Nancy 245). Es handele sich nicht um irgendeine zufällige Öffnung, sondern um die "Öffnung als wesentliche Eigentümlichkeit, (...) als "Selbst-Zerspannung", worunter Nancy einen "Selbstbezug als un-de-finiertem Heraustreten aus sich" selbst versteht (S.246). Für Nancy beziehen sich alle Elemente aufeinander. Solange jedes einzelne Element ausschließlich zu anderen Elementen Bezüge unterhält, resultieren daraus vielfältige, gleich große oder unterschiedliche Wechselbeziehungen zwischen den Elementen. Öffnen sich die Elemente auch zu sich selbst, erweitert sich das vorhandene Netz der Wechselbezüge entsprechend der hinzu kommenden Anzahl der Selbstbezüge und beide unterschiedlichen Bezüge formen ein immer komplexer werdendes eng verwobenes Netz von Selbst- und Wechselbezügen. Nancys erklärt jedoch nicht, ob seine Hypothese der "Selbst-Zerspannung" auf alle Sorten von Elementen zutrifft: lebendige, lebende und tote Elemente; denn aus welchem Grund und auf welche Weise der Selbstbezug von Elementen entsteht, beschreibt er nicht. Er reduziert alle unterschiedslos zu Elementen. Denkbar wäre folgender, von Nancy nicht ausgeführter Entwicklungprozess, in dem vorausgesetzt wird, dass ein einfaches Element erstmals Bezug zu sich selbst nimmt. Woher es diese Fähigkeit erlangt, erklärt Nancy nicht. Mit Beginn des Prozesses der Selbst-Zerspannung stehen sich der existierende, ausschließlich auf andere Elemente ausgerichtete Bezug eines Elements und der neu in ihm entstehende Bezug auf sich selbst völlig konträr gegenüber. Zusammen bilden beide Bezüge jedoch die Grundlage für eine neue Qualität von Elementen, die sich gegenüber den vorigen einfachen Elementen durch ihre gleichzeitige Wendung nach innen und außen unterscheiden. Selbstbezug und Bezug auf andere Elemente werden zu inhärenten Momenten der selbstbezüglichen Elemente. Bezieht sich ein selbstbezügliches Element im Netz der vielfältigen Bezüge auf ein noch ursprünglich einfachen Element, entstehen aus der wechselseitigen Öffnung der beiden zueinander zwei selbstbezügliche Elemente, wenn das letztere das bisher im einfachen Element eingeschlossene Potential des Selbstbezugs zum Leben erwecken kann. Dieser Verwandlungsprozess wird nicht ausgelöst, wenn es sich beim einfachen Element potentiell um ein totes oder nur lebendes Element handelt, die beide zur Entfaltung des Bezugs auf sich selbst nicht fähig sind (z.B. eine einfache Kreatur oder ein Stein). Beziehen sich jedoch bereits zwei selbstbezügliche Elemente aufeinander und kontaminieren sich gegenseitig, verändert sich zwar ihre grundlegende Qualität nicht mehr, aber in beiden steigt der Grad an Komplexität. Der Gesamtzusammenhang einzelner Bezugsgefüge kann im intensiveren Kontakt mit andersartig strukturierten zerbrechen, aber auch durch Zerspannung ihrer Elemente in ihnen selbst ausgelöst werden. Letzteres geschieht, wenn laut Nancy im Gefüge der notwendige Zusammenhalt zwischen dem Bezug der Elemente auf andere und dem Bezug auf sich selbst zerbricht. Ein Ich beispielsweise, das dem totalen Egoismus verfallen ist und nur noch auf sich selbst Bezug nimmt, verliert den notwendigen Gegenhalt seiner Existenz: den Bezug zu seinen Mitmenschen. Zerbricht eine für den Gesamtzusammenhang notwendige Menge an selbstbezüglichen Elementen den notwendigen Gegenhalt zu den anderen selbst-bezüglichen Elementen des gleichen Gefüges, bezieht sich nur noch auf sich selbst und nicht mehr auf die anderen, droht die Aufspaltung, der Zerfall und die Gefahr, von benachbarten Gebilden aufgesogen zu werden. Je mehr selbstbezügliche Elemente ihre Bezüge untereinander intensivieren, desto komplexere Gebilde entstehen. Selbstbezügliche Elemente beziehen sich zuerst auf andere unmittelbar für sie erreichbare bzw. in ihrer Nähe befindliche Elemente und erweitern ihre Bezüge zueinander bis hin zu einer nicht mehr überschaubareren Vielfalt. Der je spezifische Ausgangspunkt ihrer Bezüge zu anderen Elementen bestimmt für lange Zeit ihren Gesamtzusammenhang in der Vielfalt der Bezüge und ruft sowohl identifikationsstiftende wie abgrenzende Auswirkung zu anderen Bezugsgefügen hervor, ohne aber jemals den eigenen Ursprung aus der Vielzahl der ursprünglich einfachen Elemente abstreifen zu können. Die wechselvolle Menschheitsgeschichte mit ihren Entstehens- und Vergehensprozessen von Zirkulationssphären bezeugt auf eindrucksvolle Weise, welche gravierenden Folgen durch die Verleugnung ihres gemeinsamen Ursprungs entstehen. Epochenwechsel kündigen sich an, wenn etablierte Zirkulationssphären von Selbst-zerspannungsprozessen ergriffen werden, die nicht zu ihrem Zerfall führen, sondern in ihnen eine neue Qualität ihres Gesamtzusammenhalts hervorzurufen vermögen und dieser Prozess in mehreren benachbarten Sphären zum gleichen Zeitraum stattfindet. Qualitätsverändernde Selbstzerspannungen zeichnen sich dadurch aus, dass der Selbstbezug der Elemente eine umstürzende und strukturverändernde Veränderung in der Wechselseitigkeit der Bezüge der Elemente untereinander zur Folge hat. 2. Konstruktion versus Dekonstruktion Wenn sich laut Nancy das "Reale" lediglich in seiner "Vorderseite" öffnet, ohne dass wir darin das "Reale" erfassen und als reales Ganzes erfassen können, bleibt das "Reale" selbst für uns ohne Namen, ist unnennbar. Als Sprach-Wesen richten wir unsere Worte und unsere Theorien an diese Offenheit und wissen zugleich um die Unzugänglichkeit des "Realen" und damit um die Unzulänglichkeit unserer Worte und Theorien (S.8). Da wir das "Reale" gemäß Nancy in seiner Gänze nicht erkennen, können wir es uns nur auf eine vorläufige, aus der Sicht des Ganzen vielleicht gänzlich falschen Weise erschließen bzw. benennen. Wir konstruieren Realität bzw. wir konstruieren unsere Wirklichkeit. Insofern sich das "Reale" aber nur auf unzulängliche Weise dem "erwachenden Geist" (Nancy) öffnet, kann sich die Erzeugung von Wirklichkeit wie ein Fremdkörper zum "Realen" verhalten. Aus der wechselseitigen Durchdringung von in Realität umgesetzter Exposition (z.B. Technik) und dem weiterhin verborgen bleibenden "Realen" entsteht dann unter Umständen eine Missgestalt, die in ihrer fortschreitenden Entwicklung Krisen verursacht und zu nicht mehr beherrschbaren Zuständen führt. "Im Zentrum von konstruktivistischen Theorien steht die Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen. Nie wird in Zweifel gezogen, dass der Mensch die 'Welt intuitiv erfährt', aber gleichzeitig wird mit ebensolchem Nachdruck festgestellt, dass er sich ihrer nicht durch den Einsatz seiner wissenschaftlichen Rationalität versichern kann." (...) Hilfreiche und zugleich notwendige Instrumente sind Sprache und Theoriebildung. "Wissenschaftliche Konstruktionen setzen auf bescheidenster Ebene an: Bei der Bedürftigkeit und dem Überleben." (...). Dass sie intersubjektiv erfahrbar sein müssen, ist zwar eine der grundlegenden Erfordernisse, um Willkür in der Konstruktion von Realität auszuschalten, aber schützt nicht vor grundsätzlicher Missdeutung des "Realen". Konstruktionen zeichnen sich durch eine ihnen immanente logische Struktur aus. Das Erfordernis, widerspruchsfrei sein zu müssen, setzt voraus, dass das erkundete Stück "Reales" ebenfalls als widerspruchsfrei vorgestellt wird und zur Erreichung dieser Übereinstimmung der Versuch unternommen wird, es in Portionen aufzuteilen, die jenes Kriterium erfüllen mögen. Wenn die zuvor portionierten Konstruktionen von "Realem" später in einer Gesamtkonstruktion aufgehen sollen, kann jedoch die zuvor eventuell hinauskomplimentierte Widersprüchlichkeit durch die Hintertür wieder zurückkehren. Die mittels Sprache und Theorien zur Wirklichkeit verwandelte Vorderseite des "Realen" verhält sich nicht isoliert vom nur unzulänglich erkannten "Realem", sondern geht mit ihm vielfältige Bezüge ein, sobald die vom Menschen erschaffene Wirklichkeit Wirkungsmacht auf das "Reale" auszuüben vermag, kontaminiert letztes und verändert auf diese Weise dessen Ursprünglichkeit. Umgekehrt entströmt auch dem nur unzulänglich erfassbaren "Realen" energetische Kraft, von der die konstruierte Wirklichkeit erfasst wird. Sie unterwirft die konstruierte Wirklichkeit einem sie stetig verändernden Prozess, ohne dass dieser Vorgang vom Wirklichkeitsproduzenten Mensch rechtzeitig oder überhaupt erkannt wird. Daraus folgt, dass Konstruktionen nur unzulänglich dekonstruiert werden können. Sie gleichen eher einer Aufschichtung, der keine logische Abfolge immanent ist bzw. in der logisch aufgebaute Teilbereiche neben anderen existieren können, in denen die pure Willkür herrscht. Die Selbst-Zerspannung des "Realen" muss also nicht "gesetzmäßig", aus ihrem Zentrum heraus erfolgen. Nancy deutet dies mit "Geste der Dekonstruktion" an. 3. Die Destruktion als Umgekehrung der Konstruktion bei Nancy Nancy knüpft an das von Hegel nur unzulänglich ausformulierte Entwicklungsschema der "dialektischen Aufhebung" an, indem er untersucht, auf welche Weise z.B. die Epoche des Chistentums aus der Selbstaufhebung ihrer Vorgänger entstanden ist. Er fragt und untersucht, "inwiefern und warum die Antike das Christentum produziert hat; ... "(246). Das Christentum begreife sich ja selbst als "Wiederaufnahme und Aufhebung des Judentums, des Hellenismus und der Romanität" bzw. betrachte sich als "Integration des gesamten früheren Erbes" (S.246/247). Ihre Öffnung bezeichnet er als "Selbst-Zerspannung" bzw. als "Heraustreten aus sich" (S.246). Wenn das so sei, meint Nancy müsse auch der umgekehrte Weg möglich sein: die Destruktion des Christentums zurück zu seinen Vorgängern. "Dekonstruieren bedeutet" laut Nancy "abbauen, demontieren, auseinandernehmen, die Zusammenfügung lockern, ihnen Spielraum geben, um zwischen den Teilen dieser Zusammenfügung eine Möglichkeit spielen zu lassen, von der sie herkommt, die sie als Zusammenfügung jedoch zudeckt" (S.251). Dieser Aussage lässt Nancy folgende Hypothese folgen: "Die Geste der Dekonstruktion als weder kritische noch perpetuierende Geste, als Geste mithin, die von einem Bezug zur Geschichte und zur Tradition zeugt, den man weder bei Husserl noch bei Hegel oder Kant finden kann, ist eben nur im Innern des Christentums möglich, selbst wenn sie nicht ausdrücklich von diesem Innern her formuliert" ... (S.251). Er setzt sich in der auf diesen Satz bezogenen Anmerkung 10 sowohl von der von Marthin Luther vorgenommenen Untersuchung dieses Begriffs ("destructio cabbalae" und "destructio destructionis") und von der bei Heidegger zu findenden Auslegung der Dekonstruktion in Richtung auf Zerstörung/Abbau und von der bei Husserl als Abbau bezeichneten Deutung ab. Er halte sich daran, "was trotz allem das Wesentliche bleibt: die Geste einer Öffnung oder einer Neuöffnung auf das hin, was jeder Konstruktion vorausgegangen sein muss" (S.251/252). Denn "nur aus dem Innern dessen, was an sich konstituiert ist mittels und ausgehend von der Distention, der Ausdehnung einer Öffnung, kann es einen Sinn geben, der zu suchen und zu zergliedern wäre" (S.251/252). Nancy insistiert zurecht auf den Begriff der Öffnung, dem eine "Selbst-Zerspannung" zugrunde liegen muss, aber was sich, auf welche Weise, in welchem Umfang selbst zerspannt, ist aus der Öffnung nicht stringend ableitbar, worauf Nancy selbst hinweist, und was erst recht nicht im Nachhinein als Dekonstruktion stringent zu erschließen ist. Nancy zieht sich deshalb auch auf das Wort "Geste" zurück. Er beschreitet nicht den Weg Hegels von der Oberfläche (sinnliche Gewissheit") zum Wesen und zurück zum vollkommen zu sich selbst gekommenen Weltgeist. Die Geste der Dekonstruktion lässt viel Spielraum zu und überlässt es dem forschenden Sprachwesen Mensch, zu immer neuen Ergebnissen zu gelangen. In der Anmerkung 10 auf Seite 251 merkt er an: Der heute so verbreitete Gebrauch von 'Dekonstruktion' in einem abgeschliffenen und entstellten Sinn - so weit, dass sie zuweilen mit 'Kritik' oder mit 'Zerstörung' gleichgesetzt wird, was sich zu einem guten Teil dem Erfolg einer derridianischen Vulgata verdankt - ,empfiehlt im Übrigen, diesen Begriff sparsam zu verwenden ... ". 4. Jacques Derridas Konzeption des Begriffs Dekonstruktion Derrida äußerte sich in einem Interview zu seinem Verständnis von Dekonstruktion: "Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren oder Techniken eröffnen, aber im Grunde genommen ist sie keine Methode und keine wissenschafliche Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge des Gegenstandes in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll. Die Dekonstruktion hingegen befasst sich mit Texten, mit besonderen Situationen, mit der Gesamtheit der Philosophiegeschichte, innerhalb derer sich der Begriff der Methode konstituiert hat. Wenn die Dekonstruktion also die Geschichte der Metaphysik oder die des Methodenbegriffs befragt, dann kann sie nicht einfach selbst eine Methode darstellen. Die Dekonstruktion setzt die Umwandlung selbst des Begriffes des Textes und der Schrift voraus. [...]" (Falter-Interview 1987). Damit verwirft Derrida die Vorstellung, eine Konstruktion lasse sich auf ihren Ausgangspunkt zurückführen. Bezogen auf die Erstellung eines Textes ist festzustellen, dass bereits im Konstruieren des Textes bewusst wie unbewusst vielfältige Varianten zugunsten einer oder weniger außer Acht gelassen wurden. Die bei der Erstellung des Textes verfolgte Spur ist im vollendeten Text zwar unterschwellig enthalten, aber das bedeutet noch lange nicht, sie entdecken zu können, indem versucht wird, im Nachhinein diese oder jene möglicherweise verworfene Variante aufzuspüren und eventuelle Auswahlbegründungen zu erforschen; ganz abgesehen von der zusätzlichen Forderung, den eingetretenen Bedeutungswandel der sprachlichen Zeichen in die Dekonstruktionsarbeit einzubeziehen, nach Widersprüchen zwischen zwischen inhaltlicher Aussage und sprachlicher Form zu suchen und sich Rechenschaft darüber abzulegen, welche zwischenzeitlich eingetretenen Lebensumstände und Erfahrungen bei einem selbst Unterschiede in der Zumessung von Bedeutungen hervorrufen.(2) Den fertigen Text dekonstruieren zu wollen, läuft demnach darauf hinaus, einen neuen Text zu konstruieren, in dem wieder die benutzten Zeichen, der beabsichtigte Sinn und der Bedeutungswandel zu befragen sind und die vom Textinterpreten gelegte Spur im Nachinein nicht mehr auffindbar ist. Zusammenfassend kann an dieser Stelle der Bogen zur "Geste der Dekonstruktion" von Jean-Luc Nancy geschlagen werden. Die Lockerung der "Zusammenfügung", die das Christentum darstellt, kann vielleicht Spuren der Elemente zutage treten lassen, die es konstituiert haben; indem man aber versucht, diese Spuren zu benennen, begibt man sich unweigerlich wieder auf den Weg einer neuen Konstruktion. Insofern birgt die Dekonstruktion eine Neu-Konstruktion in sich. Dieses Dilemma lässt sich nicht beseitigen. 5. Literaturverzeichnis Nancy, Jean-Luc, Die Anbetung -Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich 2012. Nancy, Jean-Luc, Dekonstruktion des Christentums, Zürich-Berlin, 2008 (Nancy: Zeugnis eines ersten Fragens). Bänsch, Alexandra, "Wie hältst du's mit der Wirklichkeit?" - Kleine Einübung in die konstruktivistischen Diskussionen, Berlin 1997; Zitat aus: https://www2.hu-berlin.de/skan/gemenskap/inhalt/.../ahe_08.html. Fleischer, Christoph, Dekonstruktion nach Jacques Derrida, Werl 2011 | Der schwache Glaube, (http://www.der-schwache -glaube.de/?p=314). ___________________ (1) Das Wort Geste lässt sich im Deutschen auch z.B. mit dem Wort Bewegung übersetzen; der Interpretationsrahmen im Französischen ist noch breiter, hier findet man z.B. für le geste die Synonyme acte (Handlung) und attitude (Haltung). (2) Zusätzlich zu befragen ist: "Welche Ausgrenzungs- und Etablierungsmechanismen, welche Strategien des Glaubwürdigmachens, welche hierarchischen Strukturen eines Signifikantengefüges erlauben, das entsprechende materielle Gefüge als sinnhaften Bedeutungsträger zu verstehen und auf eine bestimmte Bedeutung oder 'Aussageabsicht' zu reduzieren? An welche Konstitutionsbedingungen sind die entsprechenden Sinn- und Geltungsansprüche gebunden? Dies kann insbesondere auch Konflikthaftigkeit, Aggressivität, verdeckte Gehalte und Intentionen sichtbar machen." (https://de.wikipedia.org/wiki/Dekonstruktion) <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/87447d55ae894e03ba3112b0a2bf966a" width="1" height="1" alt="" /> Simone Lück-Hildebrandt
1. Langage - langue - parole Wenn nach Jean-Luc Nancy alle Existierenden in einem unendlichen Prozess des aufeinander Verweisens eingebunden sind, hat die Sprache an diesem Prozess einen wesentlichen Anteil, vielleicht ist sie sogar konstituierend für ihn. In einer solchen Aussage wird der Begriff ‚Sprache‘ jedoch als eine Einheit, als etwas Ganzes, benutzt, was bei näherer Betrachtung so nicht aufrecht erhalten werden kann. Ferdinand de Saussure war sich der Komplexität dessen, was Sprache ausmacht, sehr wohl bewusst. Seine Auffächerung des Begriffs ‚Sprache‘ in langage, langue und parole ermöglichte es ihm, sich seinem Untersuchungsgegenstand – der langue – über eine ganz bewusste Hypothesenbildung, dem point de vue, zu nähern. „Die Sprache als Gesamtphänomen (langage) erscheint Saussure nicht geeignet,um als Objekt der Wissenschaft zu fungieren, weil damit zu viele heterogene Aspekte erfasst werden, die nicht als Ganzes klassifiziert werden können. Da sich das Objekt der Wissenschaft nicht von selbst ergibt, muss es konstruiert werden. ... Der Ausschluss der anderen Aspekte der Sprache (langage) erfolgt durch den point de vue, den Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Betrachtung. Durch diesen Standpunkt und von diesem Standpunkt aus wird der Gegenstand der Wissenschaft konstruiert.“ ( Anja Koeder, Von Ferdinand de Saussure zu einer formalen diachronischen Semantik, Konstanz 1999: 8) D.h. langue entspricht nicht einem objektiv überprüfbaren Phänomen der Wirklichkeit – das können wir sowieso nicht erkennen (andernfalls könnten wir auch die langage analysieren) – sondern es ist ein Konstrukt, mit dem wir uns „behelfen“, um Wissen über das, was Sprache ausmacht, zu erlangen. Als Konstrukt muss man sich langue jedoch nicht nur als etwas Herauspräpariertes vorstellen, das wie unter einem Mikroskop betrachtet wird, sondern es ist zugleich in jedem Einzelnen von uns im Moment des Sprechens (parole) wirksam. „Die langue ist als ein kognitives Konstrukt zu begreifen, von dem das Kommunikations-mittel parole zu unterscheiden ist. Allein durch die langue kommt keine Kommunikation zu Stande. Von dem Subjekt der parole wird hinsichtlich des kognitiven Konstrukts langue erwartet, dass es den Fluss seines Erlebens zu unterbrechen und die Stücke, die durch solche Unterbrechungen entstehen, reflektiv zu betrachten fähig ist. Das Individuum bildet die von außen kommenden Reize nicht mehr oder minder passiv-rezeptiv ab, sondern aktiv-konstruktiv mit vorhandenen kognitiven Strukturen, sprachlichem wie nicht-sprachlichem Vor- und Weltwissen etc..“ (Koeder:9) Die langue ist also ein „Schatz“ (Saussure spricht auch von trésor), der in uns „schlummert“ und nur über die parole aktiviert werden kann. Mit dieser Aktivierung wird der ständige Fluss der von außen kommenden Sinnesreize „unterbrochen“ und in Stücke zerlegt, die wir reflektiv betrachten, d.h. aktiv konstruieren können. Diese aktive Konstruktion trifft auf die uns unmittelbar umgebenden Existierenden wie auch auf die zu untersuchenden Wissensgebiete zu. Zu fragen wäre an dieser Stelle: 1. Gibt es einen Unterschied zwischen dem kognitiven Konstrukt langue und den kognitiven Strukturen? 2. Lassen sich diese kognitiven Strukturen überhaupt in sprachliches und nicht sprachliches Vor- und Weltwissen unterscheiden, d.h. sind nicht die kognitiven Strukturen grundsätzlich sprachlicher Natur im Sinne von langue? Langue und parole sind aber bei Saussure noch in Beziehung zu weiteren Begriffen einzuordnen: Langage als der umfassendste Begriff des Phänomens (ohne dass es wirklich Untersuchungsgegenstand ist) beinhaltet
Die faculté du langage ist noch weiter aufzufächern: „Ferdinand de Saussure unterscheidet zwischen: (i) der Fähigkeit, Laute zu äußern (faculté de proférer des sons; CLG/E I, Nr. 187); (ii) der Fähigkeit, Zeichen niederzuschreiben (faculté d'écrire; ebd.); (iii) der Fähigkeit, Zeichen zu assoziieren und zu koordinieren: faculté d'association et de coordination.35; (iv) der Fähigkeit, die assoziierten und koordinierten Zeichen regelmäßig zu artikulieren (faculté d'évoquer les signes d'un langage régulier; CLG/E I, Nr. 187). (i) hat dabei den Rang der allgemeinen biologischen Fähigkeit, (ii) - (iv) stehen in Zusammenhang mit der langue, d.h. es ist mehr nötig als allein die biologischen/organischen Voraussetzungen. Die faculté ist im Gegensatz zu der langue rein individuell charakterisiert, sie ist nicht an die Gemeinschaft gebunden.“ (Koeder: 11) Wenn allerdings in der Sprech- und Sprachfähigkeit des Individuums Aspekte der langue enthalten sind, ist auch der Bezug zur Sprachgemeinschaft daraus nicht zu eliminieren. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit Saussures Theorie kommt Koeder dann auch zu der Feststellung, dass Sprechen (parole) in erster Linie im Diskurs, in der Kommunikation mit anderen der Sprachgemeinschaft, wirksam wird und damit auf das als sozial charakterisierte System langue zurückgegriffen werden muss. So lässt sich auch unmittelbar von der parole zum System langue hin abstrahieren. Diese Möglichkeit ist vor allem für die Betrachtung von Sprachwandel von Bedeutung. Noch einmal anders formuliert: Da jedes zur parole befähigte Individuum sich mit anderen in gleicher Weise befähigten Individuen virtuell oder real in einer ununterbrochenen Kommunikation befindet (virtuell = Kommunikation mit sich selbst), wird ebenfalls ununterbrochen das „System langue“ aktiviert und damit ständig aufs Neue konstituiert – konstituiert innerhalb des Individuums sowie zwischen den Individuen. Dieser ständig ablaufende gesamte Prozess ist meiner Ansicht nach das, was Saussure als langage betrachtet. Hier lässt sich auch eine Verbindung zum ständigen Verweisen bei Nancy herstellen. „Durch das Sprechen wird die langue beständig im Sprecher und im Hörer reinstalliert, und genau dies entspricht dem Bild der reziproken Determination (oder Artikulation) der Werte (valeurs), welche die eigentliche Bedeutung ergibt. Die langue offeriert die Zeichen, in der parole werden diese Zeichen durch den Sprecher appliziert und kombiniert. Der Sprecher benutzt seine Fähigkeiten zur Analogiebildung, zu syntaktischen Kreationen, neuen Motivationen, präzisen, vagen oder ambigen Referenzen. Durch die Transmission werden die bereits kombinierten Zeichen getrennt oder aufgelöst. Der Hörer assoziiert die signifiants, die er hört, mit den signifiés aus seiner Erinnerung und identifiziert die Referenz. Die individuellen Freiheiten werden abgeschätzt, zurückgewiesen oder angenommen. Die Werte zwischen den Zeichen werden neu gesetzt, neu verteilt. Dies alles passiert in unzähligen und kontinuierlichen Akten der parole zwischen allen Mitgliedern einer Gemeinschaft (Sprachgemeinschaft, soziales Milieu, Dialekt), die Veränderungen entwickeln sich täglich, wie auch ein Fluss beständig dahinfließt. Die langue ändert sich langsam, ändert auch langsam die Dinge der Alterierung der signifiant und ihre Rückwirkung auf das Zeichen.“ (Koeder: 173) Zum einen belegt dieses Zitat meine Überlegungen, zum anderen werden hier weitere Aspekte der Analyse aufgenommen, nämlich der Begriff des Wertes und der Hinweis auf die Veränderung von Sprache. Diese weitere Aufschlüsselung in der Analyse von Sprache muss noch genauer dargestellt werden. 2. Langue als Zeichensystem Nach Saussure ist das kognitive Konstrukt langue ein System aus Zeichen, wobei ein Zeichen sich in signifiant und signifié – Bezeichnendes und Bezeichnetes – unterteilt. In seinen ersten Schriften hat er diese Unterteilung auch image acoustique und concept – Lautbild und Konzept – genannt. Interessant ist dabei, dass er nicht von ‚Laut‘ sondern von ‚Lautbild‘ spricht. Daraus ist zu schließen, dass Saussure erkannt hat, dass sich im menschlichen Gehirn – je nach Sprachgemeinschaft – eine bestimmte kognitive Struktur zur Lautgebung herausgebildet hat, nach der dann der einzelne Laut bzw. die Lautkombination in der parole – entsprechend zum Konzept – produziert wird. Demnach ist auch das einzelne Konzept in eine bestimmte kognitive Struktur eingebettet. Nach Saussure ist der Bezug zwischen signifiant und signifié arbiträr, d.h. es gibt weder eine außersprachliche noch eine ideengeleitete Notwendigkeit von dem dieser Bezug abhängen könnte. Damit lehnt er auch zunächst jeglichen direkten außersprachlichen Einfluss auf die Sprache ab. „Im Abschnitt über den point-de-vue in dieser Arbeit ist gezeigt worden, dass eine Saussure'sche Motivation die Ablehnung einer nomenklaturistischen Sprachauffassung ist, der er unter anderem den Mangel zuschreibt, zuerst die Existenz des Objekts und dann die Existenz des Zeichens anzunehmen. Für Ferdinand de Saussure praeexistiert gar nichts, weder Ideen oder Konzepte noch Laute oder Lautkombinationen. Psychologiquement, que sont nos idées, abstraction faite de la langue? Elles n'existent probablement pas. Ou sous une forme qu'on peut appeler amorphe. Es gibt keine von vorneherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt. Die lautliche Masse ist eben so wenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes; sie ist nicht eine Hohlform, in der sich das Denken einschmiegt, sondern ein plastischer Stoff, der seinerseits in gesonderte Teile zerlegt wird, um Bezeichnungen zu liefern, welche das Denken nötig hat. ... Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle, vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, dass deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt.“ (Koeder: 57/58) D.h. frei nach Saussure könnte man sich vorstellen, dass sich im menschlichen Gehirn über die sinnlichen Eindrücke eine „amorphe Denkmasse“ bildet, demgegenüber besteht die ebenfalls „amorphe Lautmasse“, zu der der Mensch fähig ist, aber erst über das Zusammenspiel zwischen „Lautmasse“ und „Denkmasse“ entstehen gegeneinander abgegrenzte Einheiten (signifiant /signifié), die das Zeichen (signe) und schließlich die Sprache ausmachen. Das aufeinander Verweisen findet also nicht nur zwischen den kommunizierenden Individuen statt, sondern auch zwischen signifiant und signifié. Die Beziehung zwischen signifiant und signifé
Hier scheint mir wieder die Festlegung durch die Sprachgemeinschaft entscheidend zu sein; würde eine bestimmte Ordnung von den (arbiträr festgelegten) Veränderungen „überbordet“, wäre die gesamte Kommunikation zwischen den Individuen einer Sprachgemeinschaft in Frage gestellt. Als Beispiel bietet sich der Wandel von dem mittelhochdeutschen Wort „Dritteil“ zum neudeutschen Wort „Drittel“ an. Sowohl die lautliche als auch die grammatikalische Form hat sich verändert, das Konzept ist das gleiche geblieben. Wäre die Veränderung tiefgreifender gewesen (also auch im Bereich des Konzepts), wäre eine Verständigung nicht mehr gegeben. Aufgrund dieser Tatsache trägt langue ein als synchron charakterisiertes System die Offenheit immer in sich; Kontinuität und Wandel bedingen einander. Mit dem Wandel verändert sich auch die Wertigkeit der Zeichen untereinander. Wert, valeur, ist ein Begriff, der auf verschiedenen Ebenen „stattfindet“:
Dieser am Beispiel „die Denke“ dargestellte Prozess öffnet zugleich auf eine weitere Verästelung des aufeinander Verweisens: auf jeder der oben beschriebenen Ebenen kommt eine weiteres Element hinzu, das auf die anderen Elemente verweist und umgekehrt. Bei der Verwendung dieses Wortes gehen auch die Sprachteilnehmer eine neue Beziehung ein. „Zur Erinnerung: Valeur ist von Saussure bereits auf der Ebene von la langue angelegt, wird jedoch erst in der Einzelsprache langue wirksam. Valeur existiert primär auf der abstrakten Ebene (virtuelle Gegebenheit) und ist im trésor interieur der Sprecher einer Sprachgemeinschaft irgendwie als Irgendetwas vorhanden, wobei das Gegenstück zu valeur in der Realität (= Realisierung im Sprachgebrauch) letztendlich die signification, dies in der Interpretation als Verstehen innerhalb sozialkommunikativen Sprechens - erfolgreiche Kommunikation - darstellt. Auf diese Weise kann man das Saussure'sche Beispiel erklären, dass ein Nomen des Sanskrit im Plural wohl dieselbe signification wie das entsprechende Nomen des Latein oder des Deutschen hat, jedoch nicht den identischen valeur, weil das Kasussystem des Sanskrit zwischen Singular, Dual und Plural unterscheidet, das Kasussystem des Latein und des Deutschen jedoch nicht.“ (Koeder: 178) An diesem Beispiel wird deutlich, dass die einzelnen Sprachen ganz unterschiedlich „auf die außersprachliche Wirklichkeit zugreifen“, sie anders „portionieren“; dabei geht es nicht nur um Objekte oder Individuen (insgesamt Existierende) sondern auch um Prozesse oder Handlungen. Dieser unterschiedliche „Zugriff“ auf die Realität hat Rückwirkungen auf die jeweiligen Sprachteilnehmer, die diesen „Zugriff“ weiter ausgestalten und somit das „sprachliche Netz“ auf ganz bestimmte Weise ausdiffe-renzieren. Dabei ist sowohl das sprachliche Netz wie auch die Realität nie etwas Abgeschlossenes, beides ist zueinander offen. Das gilt für verschiedene Sprachen im Vergleich zueinander wie auch in Bezug auf eine einzelne Sprache. Philip Hogh kritisiert in seiner Dissertation „Kommunikation und Ausdruck“ (2015) den Ansatz der frühen sprachanalytischen Philosophie, „die Sprache als eine autonome Form zu bestimmen und sie in ihrer philosophischen Analyse von der nichtsprachlichen Realität abzulösen. Zwar beziehen sich sprachliche Sätze demzufolge auf die nichtsprachliche Realität, aber für die Beantwortung der Fragen, warum sie überhaupt eine Bedeutung haben und wie die Konstitution dieser Bedeutung richtig zu bestimmen sei, musste die konkrete nichtsprachliche Realität nicht in die Sprachanalyse einbezogen werden“. (Hogh: 11) Dieses Verfahren sieht er auch bei Saussure als gegeben an, der langue und parole unterscheidet. „Die sich differentiell konstituierenden sprachlichen Werte sind in ihrem Gehalt zu keinem Zeitpunkt von etwas Nichtsprachlichem bestimmt, aber sie sind doch für die in Raum und Zeit stattfindende sprachliche Praxis gültig. Die Sprache wird so zu einem sich selbst konstituierenden, geschlossenen System, dessen Gültigkeit dem Sprechen der Sprecherinnen vorausgesetzt ist.“ (Hogh: 12) Dieser Sichtweise stellt Hogh den sprachphilosophischen Ansatz Adornos entgegen: „Dieser Idee der Sprachkritik liegt jedoch ein Sprachbegriff zugrunde, der die Sprache als eine geschichtliche Praxis versteht, in der sich das reale Leben der Menschen sedimentiert, nicht als eine autonome Form, die von diesem Leben unberührt bliebe. »Durch Sprache gewinnt Geschichte Anteil an Wahrheit, und die Worte sind nie bloß Zeichen des unter ihnen Gedachten, sondern in die Worte bricht Geschichte ein.« (Ebd., 366)“ (Hogh: 12/13) Bei der Gegenüberstellung zwischen dem, was Koeder zu Saussure herausgearbeitet hat, und dem, was Hogh als einen zentralen Punkt bei Adorno darstellt, wird deutlich, dass der Unterschied zwischen Saussure und Adorno gar nicht so groß ist. So könnte z.B. ohne parole das System langue gar nicht wirksam werden, nur über die parole kommt es zu Veränderungsprozessen innerhalb des Systems langue. Andererseits kommt die Vorstellung Adornos von der Sprache, „in der sich das reale Leben der Menschen sedimentiert“ der Saussurschen langue durchaus nahe: ohne eine gewisse Strukturiertheit (so etwas wie Sedimentgestein), auf die alle Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft Zugriff haben, wäre Kommunikation nicht denkbar. Langue ist für Saussure grundsätzlich als etwas Gesellschaftliches (fait social) zu definieren, insofern kann sie nicht als in sich geschlossenes System verstanden werden. Die Problematik ergibt sich vielmehr daraus, dass
In den Analysen zu Saussures Arbeiten gibt es Ansätze, die aufgrund von Saussures Ablehnung einer nomenklaturistischen Sprachauffassung ihm unterstellen, dass er keinerlei Bezug zwischen signifié und Ding herstellt. Koeder stellt dagegen heraus: „Seine Argumentation ist die, dass eine Sache ihrer Bezeichnung nicht eine Bedeutung oktroiert. Obwohl aus den materiellen und kulturellen Eigenschaften eines Dinges oder eines Sachverhaltes wesentliche Elemente in die Bedeutung einer Bezeichnung einfließen können, ist die Bedeutung einer Bezeichnung eines Dinges nicht allein davon abhängig, sondern wesentlich auch vom zeichensprachlichen Umfeld.“ (Koeder: 146) Die Bezeichnung „Apfel“ erhält ihre Bedeutung nicht allein von dem Gegenstand „Apfel“, sondern vor allem durch den Gegensatz zur Bezeichnung „Birne“, „Pflaume“ etc. Weiterhin wird die Bedeutung durch ganz bestimmte syntaktische Beziehungen konstituiert: Der Apfel wird gegessen / geschnitten / gepresst / gebacken etc. aber nicht: gefahren. Saussure verdeutlicht die Rolle der „außersprachlichen Realität“: "Andererseits >konnten uns Historiker und Linguisten lehren˂, dass >die Sprache, dieses besondere System˂ von unabhängigen Symbolen, das die Sprache ist, nicht ist, ohne die Begebenheiten zu kennen [ ]". (Koeder: 147) Im Französischen ist „Begebenheit“ mit „vicissitudes“ ausgedrückt, was in etwa „Wechselfälle des Lebens“ bedeutet. Man könnte vielleicht auch vom „Fluss des Lebens“ sprechen, ohne den Sprache gar nicht existieren kann, d.h. im Umkehrschluss, dass in der Sprache die „außersprachliche Wirklichkeit“ in irgendeiner Weise reflektiert wird. Im weiteren Verlauf spricht Koeder davon, dass in dem Zeichen, genauer im signifié, der „Schatten des Objekts“ reflektiert wird. Dabei ist es noch fraglich, ob die Reflektion allein dem signifié zuzuordnen ist. Eine m.E. wichtige Textstelle bei Saussure besagt: „... la loi du signe n'est pas de désigner un objet mais de choisir, dans la matière qui se présente aux signes, l'objet à désigner (je paraphrase d'ailleurs ici une expression de CLG/E 3312.1): le signe est un principe de division et les divisions possibles sont en fonction des signes disponibles (chien et loup, ou seulement chien.)" (Zit. von Saussure, Koeder: 149) D.h. das Gesetz des Zeichens ist es nicht, ein Objekt zu bezeichnen (dann wäre das Objekt schon vorher gegeben), sondern aus der Materie, wie sie sich den Zeichen präsentiert, das zu bezeichnende Objekt auszuwählen; das Zeichen ist ein Prinzip der Einteilung (der Wirklichkeit) und die möglichen Einteilungen sind abhängig von den zur Verfügung stehenden Zeichen. Als Beispiel werden die Zeichen für Hund und Wolf angeführt, die eine bestimmte Einteilung der Wirklichkeit hervorrufen. Gäbe es im Gegensatz dazu nur das Zeichen Hund, wäre die Wirklichkeit in anderer Weise eingeteilt. Allerdings taucht in diesem Zitat ein anderes Problem auf: Es scheint nahezulegen, dass die Zeichen vor und unabhängig von der „außersprachlichen Wirklichkeit“ existierten. Angesichts der bisherigen Darstellung wäre eine solche Zuspitzung allerdings falsch. Eher muss man sich ein „unmittelbares Aufeinandertreffen“ von Zeichen und Materie in dem Augenblick vorstellen, in dem die parole durch den Sprecher (und auch den Zuhörer) realisiert wird. Insofern darf bei der Frage nach der Bedeutung das signifiant nicht ausgeklammert werden. Andererseits zeigt Saussure Beispiele auf, bei dem sich die assoziativen Beziehungen zwischen den Zeichen lediglich auf das signifié beziehen: enseignement, instruction, apprentissage (Lehre/Unterricht, Unterweisung, Ausbildung). Dies wird als Beweis genommen, dass allein im signifié eine Art Normbedeutung angesiedelt sei, die allen Teilnehmern einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung steht. Ohne weiter auf diese besondere Problematik einzugehen, sollen zunächst die Begriffe sens, valeur und signification geklärt werden. Aus den verschiedenen Interpretationsansätzen zu Saussure lässt sich laut Koeder folgendes festhalten: „Die konzeptuelle Komponente des Zeichens, signifié, das fest an die lautliche Komponente des Zeichens gebunden ist, enthält neben der Referenz auf ein außersprachliches Objekt ein endliches Bedeutungspotential. Dieses Bedeutungspotential ist von der jeweiligen Einzelsprache (langue) und der Gemeinschaft, die sich der Sprache bedient (langue als fait social) abhängig. Endlich ist dieses Bedeutungspotential durch die gegenseitige Abgrenzung der Zeichen, die sich gegenseitig Wert (valeur) zuweisen.“ (Koeder: 158) Es gibt ein lexikologisches Bedeutungspotential, d.h. durch die Einbettung eines Zeichens in verschiedene „Assoziationsketten“ (z.B. Unterricht/unterrichten/unterrichtet oder Unterricht/Lehre/ Ausbildung/Erziehung) wird deren Werthaltigkeit im Vergleich zu den anderen Zeichen ermittelt und dadurch mit sens (Sinn bzw. Bedeutung) aufgeladen – und umgekehrt. Daneben gibt es auch ein syntaktisches Bedeutungspotential, auch hier ist das Zeichen eingebettet in die chaîne de parole, den Sprechfluss; über die anderen zugeordneten Zeichen wird die Werthaltigkeit des einzelnen Zeichens ermittelt sowie umgekehrt das einzelne Zeichen die Werthaltigkeit der anderen Zeichen bestimmt. (Ich sitze auf der Bank. / Ich deponiere mein Geld auf der Bank.) Der Begriff „Bedeutungspotential“ wäre dann mit sens gleichzusetzen und käme dem einzelnen Zeichen zu, d.h. das einzelne Zeichen enthält potentiell all die Anknüpfungspunkte zu den anderen möglichen Zeichen. Während valeur, Wert, immer nur als Beziehung zu anderen Zeichen wirksam wird. Erst im tatsächlich stattfindenden Sprechen (in der parole bzw. discours) ergibt sich die signification. „Wunderli interpretiert: "Entscheidend ist hier ohne Zweifel, dass die signification ausdrücklich auf der Ebene des discours angesiedelt wird, d.h. auf derjenigen Ebene, auf der langue (mit oder ohne lautliche Manifestation) aktiviert wird, und dass sie als signification de pensée erscheint: sie bezieht sich auf die pensée, die als solche ein außersprachliches Phänomen ist. Es steht somit fest, dass signification bei Saussure die konkrete Rederealisierung des Zeicheninhalts und seinen referentiellen Bezug bezeichnen kann (...).“ (Koeder: 167) „Gebrauch durch das Individuum heißt: Zeichen, deren Einzelkomponenten in Relation zueinander stehen (valeur), und die in indirekter (assoziativer) Relation zu anderen Zeichen stehen (valeur) werden in direkte (syntagmatische) Relation mit anderen Zeichen in der chaîne de la parole gebracht (valeur), woraus sich eine Bedeutung ergibt, die von anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft verstanden werden kann (signification).“ (Koeder: 172) Insgesamt lässt sich aus dem Dargestellten schlussfolgern, dass Sprache (langue und parole) sich als ständiger Prozess des Verweisens konstituiert – Verweise zwischen Sprache und „außersprach-licher Realität“, Verweise zwischen signifiant und signifié, vielfältigste Verweise zwischen den Zeichen und auch zwischen parole und langue. Nur aus der Tatsache, dass an diesem Prozess ständig Sprecher und Zuhörer beteiligt sind, die an diesem Prozess entsprechend ihres individuellen Erfahrungshintergrundes „weiterhäkeln“, ist Sprachwandel zu erklären. „Die Werte zwischen den Zeichen werden neu gesetzt, neu verteilt. Dies alles passiert in unzähligen und kontinuierlichen Akten der parole zwischen allen Mitgliedern einer Gemeinschaft (Sprachgemeinschaft, soziales Milieu, Dialekt), die Veränderungen entwickeln sich täglich, wie auch ein Fluss beständig dahinfließt. Die langue ändert sich langsam, ändert auch langsam die Dinge der Alterierung der signifiant und ihre Rückwirkung auf das Zeichen.“ (Koeder: 173) „Valeur ist nicht wie das signifié eine Zeichenkomponente, valeur ist nicht wie sens das Produkt zweier Elemente und valeur ist nicht so unmittelbar fassbar wie es signification im Diskurs ist. Valeur hat, wie ich es sehe, einen ähnlichen Status wie die faculté du langage, es handelt sich bei valeur um die bedeutungskonstituierende Funktion in der Saussure'schen Theorie. Damit wäre auch die hier vertretene Position deutlich herausgestellt: Saussure konnte die Linguistik nur aus dem Grund neu begründen, weil er sich mit dem Problem der Bedeutung anders als seine Zeitgenossen auseinandergesetzt hat. Valeur ist als Funktion zu interpretieren, und darin besteht der große Unterschied der Bedeutungskonzeption Saussures zu denen seiner Zeitgenossen.“ (Koeder: 182/183). _______________________ [1] Nancy fügt noch an: Die Schöpfung sei nicht als "anfängliches Ereignis zu denken, und auch nicht als ein einziges Ereignis. Die Schöpfung hat unaufhörlich statt ..."(S.29). "Einerseits kann die »Natur« selbst - denn der Mensch stammt aus ihr - eine »Denaturierung« hervorbringen, und kein Gesetz und kein »natürlicher« oder »providentieller« [vorsorgender d.Verf.] Plan können angerufen werden, um den Lauf der Schöpfung zu steuern, die fähig ist, sich gegen sich selbst zu wenden; andererseits kann die Technik mit gutem Recht als Erneuerung der Schöpfung und ihrer Abwesenheit eines zugewiesenen Zwecks angesehen werden"(S.29). <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/25a8afcc22e84c5384ffa666d0b1dd86" width="1" height="1" alt="" /> Der Philosoph Jean-Luc Nancy verlässt in seinem Buch "Die Anbetung - Dekonstruktion des Christentums (2)", Zürich 2012, die traditionellen Pfade der Philosophie. Er beginnt seine Analyse mit den vielfältigen Bezügen alles Existierenden untereinander. Die innere Verarbeitung der vielfältigen äußeren Einflüsse zur Bewahrung der Konstanz verändert das einzelne Existierende. Je nach der Eigenart der Verarbeitung und der daraus resultierenden inneren Veränderung ergeben sich neue Bezüge zu anderen Existierenden und bisher bestehende werden unterbrochen bzw. beendet. Die Gesamtheit der Bezüge befindet sich in ständiger Bewegung und hat den gegenseitigen Verweis der Existierenden aufeinander zum Inhalt. Die Sprache ist das Subjekt dieser nicht aufhörenden Bewegung des ständigen Verweisens. Der Begriff ‚Sprache‘ darf jedoch nicht als eine Einheit, als etwas Ganzes, betrachtet werden. Der Komplexität dessen, was Sprache ausmacht, war sich Ferdinand de Saussure bewusst. Seine Auffächerung des Begriffs ‚Sprache‘ in langage, langue und parole ermöglichte es ihm, sich seinem Untersuchungsgegenstand – der langue – über eine ganz bewusste Hypothesenbildung, dem point de vue, zu nähern. 1. Der "erwachende Geist" Jean-Luc Nancy lehnt sich in gewisser Weise an die methodische Vorgehensweise Hegels in der "Phänomenologie des Geistes" an. Hegel setzt an der Oberfläche der sinnlichen Gewissheit an, verlässt diese Ebene auf der Hinwendung zum darunter verborgenen Wesen, das er als sich vollkommen entäußerten Weltgeist definiert, um von dort in fortschreitender Vermittlung (jeweils von These und Antithese zur Synthese) zum reinkarnierten Weltgeist zu gelangen. Jean-Luc Nancy lehnt zwar das Hegelsche System ab, aber auch er führt den von ihm vermenschlichten, zum "erwachenden Geist aller Subjekte" bzw. auf das "Leben" selbst" reduzierten Weltgeist Hegels wie eine "sehr feine Spitze" in die "undurchdringliche Materie" ("Welt, Körper, unsere gemeinsame Gegenwart") ein und schiebt jene auseinander (S.7). Anders als Hegel vermeidet er jedoch, die Materie vollkommen durchdringen zu wollen. Er konzentriert sich auf die vielfältigen Bezüge der Existierenden, ihre Offenheit unter- und zueinander. Der "erwachende Geist", meint er, stelle sich der "Ungleichheit mit sich selbst", indem er sich in das andere seiner selbst - in das "Inkommensurable bzw. das Unmessbare, das Unvergleichbare" - vertiefe und das "Homogene" von der "Heterogenität" her öffne (S.7). Bevor sich der "erwachende Geist" in die "undurchdringliche Materie" ("Welt, Körper, unsere gemeinsame Gegenwart") versenkt, muss er, sofern er ihr entstammt, zuvor aus ihr emporgestiegen sein. Was zeichnet den "erwachenden Geist" (das Leben) aus, der es ihm ermöglicht, aus der Homogenität in die Heterogenität entfliehen zu können? Nancy greift hier zur folgenden Konstruktion: Das "Leben" in der Gestalt des "Ich" bezieht sich zur Entfaltung und Erhaltung seiner Konstante auf sich selbst, ohne damit den Bezug zu anderen "Ichs", Körpern, der gemeinsamen Gegenwart, der Welt und den Welten aufzugeben. Das "Ich" ist laut Nancy "ein Bezug zur Welt, zu den anderen zu »dir«, zu »uns»", "auf den gesamten Rest" (S.121). An anderer Stelle sagt er, dass das »Ich» nicht der alleinige Bezug zu mir ist, "punktuell und abgetrennt (absolut, im strengen Sinne), sondern ich bin die Gesamtheit der Bezüge, gemäß denen allein ich mich auf mich beziehen kann, angefangen natürlich mit der Sprache (angefangen - oder lieber ohne Reihenfolge, alle zusammen: Sprache und Blick, Geste, Berühren, das ganze Empfinden der anderen Seienden, der anderen »Ichs« und der anderen, die keine »Ichs« sind oder davon kein Zeugnis geben)".(S.146). In der Gesamtheit der Bezüge ermöglicht der Bezug auf die anderen Existierenden den Rückbezug des "Ichs" auf sich selbst und umgekehrt setzt die Erhaltung des "Selbst" den Bezug zu den anderen Existierenden voraus. Indem sich das "Ich" auf sich selbst bezieht, verhält es sich heterogen zur homogenen Komponente seiner Existenz, was jedoch noch nichts über die Kraft aussagt, die es ihm ermöglicht, die Materie, deren Teil es ist und stets bleibt, zu durchdringen bzw. auseinander schieben zu können. Für Nancy entsteht diese Kraft aus der Verknüpfung von sensorischer Wahrnehmung, Sprechen und Denken des "Sprachwesens Mensch", seiner darin enthaltenen "Fähigkeit aufzunehmen, um weiter zu begehren".(S.135). 2. Das sich aussetzende Existierende - der unendliche Verweis Das Existierende setze sich aus und tue nur das, sagt Nancy: "Es nimmt Abstand von sich selbst, doch dieser Abstand ist keine Differenz, die seine finale Heraufkunft aufschiebt, sondern eine Nähe, deren feine Öffnung es mit der Gesamtheit der Seienden in Kontakt bringt und so mit dem Unendlichen der Offenheit, die sie alle teilt und sie alle vereint."(S.112). "Die Welt des Daseins oder der Existenzen", konkretisiert Nancy, "ist genau der Gesamtzusammenhang der Bezüge, die niemals »eine» Welt ausmachen, und weniger noch eine Welt von Objekten gegenüber Subjekten, sondern - wenn man in dieser Begrifflichkeit bleiben will - eine Welt, die selbst »Subjekt« ist: genau Subjekt der Bezüge, deren allgemeine Verknüpfung und Anschluss sie ist."(S.111/112). Keine der existierenden "heterogenen Register" könne sich laut Nancy "Totalität" anmaßen (S.125). Er fügt ergänzend hinzu: "Subjekt der Bezüge, das heißt letztlich Subjekt, das selbst - wie jedes Subjekt - Bezug ist und nur das: ein Sein zu - zu sich/zum anderen/zum Selben/zu nichts/, ein Sein, dessen ganzes Sein am zu hängt."(S.112). Daraus folgt für ihn, dass das "Ich" nicht "in" der Welt ist, "sondern vielmehr ich bin die Welt und die Welt ist ich,...". (S.111). Mit dieser Aussage wendet sich Nancy gegen die bisher vorherrschende Sichtweise, das Subjekt in den Mittelpunkt zu rücken und alles andere als Objekt zu begreifen. Die aus seiner Sicht wechselseitige Öffnung fixiert Nancy als das Gemeinsame aller Existenz: "Das Gemeinsame verbindet nicht und spaltet nicht, es versammelt nicht und trennt nicht, es ist weder Substanz noch Subjekt. Das Gemeinsame heißt, wir sind - und 'sind' hat hier seinen vollen ontologischen Gehalt - im gegenseitigen Verweisen aufeinander."(S.10). Der unendliche Verweis wird damit für Nancy die Ausgangslage seiner Erläuterungen, und das "Element dieses Verweisens" ist für ihn die Sprache (S.10). Sie mache "die Menschlichkeit des Menschen" aus (S.11). "Diese richtet uns aneinander und richtet uns alle zusammen an das, was sie wesentlich aufkommen lässt: das Unendliche eines Sinnes, den keine Bedeutung füllt und der, ..., mit den Menschen die Gesamtheit der Welt mit all ihren Seienden umhüllt, sozusagen einwickelt."(S.10). Der Sinn entwickle sich in enger Verknüpfung mit dem Fortschreiten des unendlichen Verweises: "Der Sinn der Welt ist nichts Garantiertes und auch nicht von vornherein Verlorenes: Er spielt sich ganz und gar im gemeinsamen Verweisen ab, das uns in gewisser Weise vorgeschlagen ist, eine Proposition. Er ist nicht darin 'Sinn', dass er Referenzen, Axiome oder Semiologien [Zeichensysteme, d.Verf.] von außerhalb der Welt bezöge. Er spielt sich darin ab, dass die Seienden - die Sprechenden und die anderen - darin die Möglichkeit einer Öffnung zirkulieren lassen, eine Atmung, eine Anrede, die eigentlich das Welt-Sein der Welt ist." (S.11). Die sich darin abzeichnende Entwicklung des Menschen zum Individuum, als das er erstmals "in Gänze dem Menschen" ausgesetzt ist und nicht mehr - wie vordem - den scheinbar Sicherheiten stiftenden und gleichermaßen Ängste verursachenden "Göttern", "Reichen", "Heiligkeiten", bezeichnet Nancy als das Besondere der "Wende zur europäischen Zivilisation" (S.12). 3. Das Unnennbare Was ist für Nancy das "Unnennbare"? Es ist, meint Nancy, "keine verborgene Seite der Welt, auch kein 'Ding an sich' noch ein Sein oder Seiendes", es existiert gar nicht (für uns): Vom Unnennbaren her und zu ihm hin "öffnet sich jedes Dasein", stellt er fest (S.8/9). In Wahrheit sei das Unnennbare noch nicht einmal als die Kehrseite des Daseins zu bezeichnen: Es ist, präzisiert er, "die Vorderseite selbst des Realen, es ist das Reale, uns als solches zugekehrt, uns offen, und an seine Offenheit richten wir uns ... Worte werden an das gerichtet, um dessen Unzugänglichkeit diese Worte wissen" (S.8). Wenn für Nancy "das Unnennbare"
Unmittelbar einsehbar ist, dass die sensorische Wahrnehmung nur auf eine uns zugewandte offene Vorderseite des "Realen" trifft. Das Ganze des "Realen" bleibt uns als "unnennbar" verborgen. Da wir das "Reale" gemäß Nancy in seiner Gänze nicht erkennen, können wir es uns nur auf eine vorläufige, aus der Sicht des Ganzen vielleicht gänzlich falschen Weise erschließen bzw. benennen. In der Formulierung, mit dem Unzugänglichen "intim werden" nähert sich Nancy dieser Problematik. Er sagt: "Die Welt ist die Exposition dessen, was unter der Berührung des Sinnes existiert, der in ihr das Unendliche eines 'Draußen' öffnet." (S.8/9). Kritisch einzuwenden ist hier, dass Nancy mit der Wortwahl "Exposition" noch in der reinen Anschaung zu bleiben scheint. Zu ergänzen wäre, dass sich durch die "Exposition" des "Realen" dem Menschen die Möglichkeit bietet, durch Verausgabung von geistiger und praktischer Arbeitskraft reale Welten zu schaffen bzw. zu gestalten. Insofern sich das "Reale" nur auf unzulängliche Weise dem "erwachenden Geist" öffnet, kann sich die Erzeugung von Wirklichkeit wie ein Fremdkörper zum "Realen" verhalten. Aus der wechselseitigen Durchdringung von in Realität umgesetzter Exposition und dem weiterhin verborgen bleibenden "Realen" entsteht dann unter Umständen eine Missgestalt, die in ihrer fortschreitenden Entwicklung Krisen verursacht und zu nicht mehr beherrschbaren Zuständen führt. Nancy bestimmt das "Reale" auch als das "Draußen", als "das Unendliche im Endlichen. Die Endlichkeit als Offenheit auf das Unendliche." (S.9). Dialektisch betrachtet hat die Endlichkeit die Unendlichkeit an sich selbst bzw. die Unendlichkeit erfüllt sich im Endlichen: eines bedingt das andere, beides zusammen ist das "Absolute"! (S.10). Festzuhalten bleibt jedoch, dass Nancy das andere - im Gegensatz zu Heidegger (der im umfassenden Sein alles existierende Seiende aufhebt) - auf die Öffnung des Endlichen zur offenen "Vorderseite" des für den Menschen unnennbarem Unendlichen beschränkt. Er versucht nicht, das Unendliche mit unzulänglichen Worten zu beschreiben, geschweige denn begrifflich zu bestimmen. 4. Der Vorrang des Gebrauchs der Sprache vor Kategorien wie Freiheit und Gleichheit Als "Sprachwesen" wüssten wir, meint er, "dass die Sprache sich und uns an dieses Außerhalb der homogenen Kommunikation und Signifikation richtet". "Sie ist nur dazu da, sie tut nur das: Sie spricht das Unnennbare an, sie ruft es, sie ruft es auf, interpelliert diese strikte Kehrseite aller möglichen Benennung." (S.8). "Wir haben Ahnung von dieser ausgezeichneten Möglichkeit, die die Möglichkeit der Sprache selbst ist, ... und damit die Möglichkeit der Welt selbst". Nancy erhebt die Sprache zum Gleichmacher aller Menschen. Ihren Gebrauch platziert er noch vor die Kategorien von Freiheit und Gleichheit, die der Zeit des machtdurchsetzten gesellschaftlichen Zusammenlebendens der Menschen entstammten. Nach der Auslöschung der Götter, der Mysterien, des Jenseits, der "Weltensphären, Zeitzyklen, Weisheiten", in denen Opfer, nur indem sie ihr Leben vergossen, "die eine Welt mit der anderen" verbanden (S.13), sei die Zeit angebrochen, in der der Gebrauch der Sprache wieder vorrangig als eine an ein "Außerhalb gewandte Anrede" verstanden werde. Implizit unterstellt Nancy einen frühen Zeitraum in der Menschwerdung der Menschen, in dem "ihre ersten Worte ... Worte der bewundernden Verehrung, der Anbetung [waren]. Der Anrede und der Anbetung."(S.13). "Das erste Wort, oder wenn man lieber will, der erste Satz", postuliert er, "sendet sich von vornherein jenseits eines Zuhörers und einer Botschaft: Es öffnet eine grundlegende Irreduzibilität auf die Vermittlung zwischen Sprechenden und zeigt von selbst, dass es von vorher kommt und weiter geht und dass es, ob es will oder nicht, ein Überschreiten der Bezeichnung, der Bedeutung und der Vermittlung in Gang setzt."(S.13). Wenn sich das erste Wort nicht auf das der Schöpfungsgeschichte - "Im Anfang war das Wort" - bezieht, sondern auf die sich über Jahrtausende hinweg erstreckende Werdung des Menschen zum Sprachwesen, ist es der Vermittlung zwischen Sprechenden zuzurechnen und als solche - entgegen der Meinung Nancys - aus den vorsprachlichen Lauten ableitbar. Wobei Nancy zuzustimmen ist, dass sich auch schon die Laute auf einen Bereich jenseits des Zuhörers richteten, aus dem jener die für ihn plausible Bedeutung interpretierte und auf deren Grundlage er seine Antwort in Gestalt eines Lauts oder mehrerer auswählte. Nancy lässt in seiner Betonung des Menschen als Sprachwesen außer Acht, dass bereits in Gemeinschaften vor und im Übergang von der instinktgeleiteten Kreatur zum sprechenden Menschen Machtunterschiede existierten. Ihre ersten Worten der bewundernden Verehrung, der Anbetung, waren bereits von den Machtunterschieden in den Beziehungen zwischen den Erzeugern der Nachkommenschaft, zwischen ihnen und den von ihnen in die Welt gesetzten Nachkommen, den Anführern der Gemeinschaften und den übrigen Mitgliedern sowie den außerhalb der engen Beziehungen einer Gemeinschaft existierenden Kreaturen infiziert. Diese Machtunterschiede überdauern, was Nancy durchaus bewusst ist. In einer Anmerkung zum Kapitel über die Ökonomie spricht er das Eigentum an: "Kein Zufall, wenn das Denken Lockes, dann Rousseaus und Marx' auf so bedeutende Weise um das Eigentum und die Aneignung kreisen. Marx wird an der äußersten Spitze seines Denkens versuchen, ein »Individualeigentum« aufzuzeigen, das weder privat noch kollektiv wäre und unter dem man vermutlich, jenseits des Eigentums von Gütern und durch diese hindurch, ein Eigentum verstehen muss, mit dem das »Individuum« - hier verstanden als Person in einer Gemeinschaft - sich sein wahrhaftes Sein aneignen würde."(S.128). Diese Formen der Machtinfizierung bleiben bis in die Gegenwart erhalten und werden nicht durch die Auslöschung der Götter beendet. Was zu einem Ende gelangt, ist laut Nancy ihre Rechtfertigung im Namen "höherer Reiche". Nach der Emanzipation des Menschen von diesen "höheren Reichen", erklärt Nancy, seien wir fortan "ohne Deckung" an unsere "strikte Menschlichkeit" gebunden. Ausschließlich das "Wort" sei an die Stelle der vormals für Menschen unhintergehbaren Anordnungen getreten. Das "Wort" öffne "im Lebenden" - ... - eine "Alterität", nämlich
5. Kein Sinn des Sinns Nancy sagt: "... unsere Welt geht nur aus ihrer eigenen Zufälligkeit hervor. ... Sie hat statt, sie ist da, sie könnte nicht da sein oder nicht sein, sie leitet sich aus nichts her und stammt von nichts ab" (S.19). Nancy wendet sich gegen jede Behauptung, dass die Welt aus einer Notwendigkeit hervorgegangen sei. Dem ist zuzustimmen, aber genau so irreführend ist die gegensätzliche Behauptung Nancys, dass sie der Zufälligkeit "entspringe". Richtig ist: wir wissen es nicht! Nancy definiert das "Zufällige" mehr in Richtung von "Umstand und Bewegung", weniger von "Natur oder Zustand" (S.21). Für ihn entspricht das Zufällige "wesentlich einer diskontinuierlichen und flüchtigen Zeit". Das "Flüchtige", "Entfliehende" ist auf das "Stabile", "Konstante", "Dauerhafte" bruchstückartig, unzusammenhängend bezogen. Beide Momente ergeben sich aus den vielfältigen Bezügen der Existierenden untereinander, in der der kontinuierliche Bezug jedes Einzelnen auf sich selbst zwar als Bewahrung seiner Konstanz erscheint, aber er macht zugleich die Integration der vielfältigen Einflüsse, die auf jeden Einzelnen unabwendbar einwirken, erforderlich. Die innere Verarbeitung der vielfältigen äußeren Einflüsse zur Bewahrung der Konstanz verändert das einzelne Existierende, was sich wiederum auf seine Bezüge zu anderen Existierenden unabwendbar auswirkt und von jenen als veränderter Bezug wahrgenommen wird und zur Erhaltung der eigenen Konstanz verarbeitet werden muss. Je nach der Eigenart der Verarbeitung und der daraus resultierenden inneren Veränderung ergeben sich neue Bezüge zu anderen Existierenden und bisher bestehende werden unterbrochen oder gar beendet, so dass auch die Beziehungen der Existierenden zueinander sich in ständiger Veränderung befinden. Daraus folgt: Was als flüchtig, entfliehend erscheint, ist in der Vielfalt der Bezüge der Existierenden untereinander eine notwendige Folge der Veränderungen jedes einzelnen Existierenden im Gesamtzusammenhang aller Bezüge. Da die Existenzen laut Nancy durch "ihre gemeinsame Projektion" [auf der Ebene der Bezüge] verbunden sind, "die Welt macht, die eine Welt macht und eine Welt differenzierter Welten", entsteht ein "Zusammenhang oder ein Netz von Sinnmöglichkeiten", wobei Nancy den Sinn als "Verweis" definiert und darunter den "Bezug, die Beziehung, die Anrede, die Aufnahme - die Empfindungsfähigkeit, die Empfindung" versteht (S.22). Genauso wenig wie es einen letzten Verweis für das Netz der Verweise gäbe, ebenso wenig existiert für Nancy ein letzter Sinn, auf den alle Sinne verweisen. Die "Welt als Stätte des unendlichen gegenseitigen Verweises" bezeichnet Nancy als unsere wahre Ewigkeit und die "Anbetung" spreche von diesem Unendlichen. Sie sei zu ihr offen wie jene auch zur "Anbetung" geöffnet sei (S.22). An der Welt des unendlichen Verweises nimmt für Nancy der Mensch "über all seine sinnlichen Zugänge - sensorische, empfindungsmäßige, sinnhafte - teil (S.23). Die sinnlichen Zugänge riefen in ihm "das Denken" hervor, das den "supplementären Zugang" [den ergänzenden.d.Verf.] zur sensorischen Wahrnehmung bilden würde (S.23). Es sei der "wesentliche Bezug zur Exzedenz an sich, zum Überschießen, zum Hinaus, zur absoluten Exzedenz, nämlich der Exzedenz dessen, was man genauso das 'Sein' nennen kann wie "die Welt" oder "der Sinn"(S.24). Der Mensch sei das Sein des Sinns: "Er ist ganz und gar Verweis"(S.124). Nancy bemüht hier auch den Begriff "Transzendenz": "Er bezeichnet nicht den Zustand eines mehr oder weniger »höchsten» »Wesens« oder »Seins«, sondern die Bewegung, durch die ein Seiendes [existant] aus der schlichten Gleichheit mit sich selbst heraustritt. Das heißt nichts anderes als: ex-istieren im vollen Sinne des Wortes" (S.32). Die Welt "erheische" sogar Verehrung. Sie lade zur "Anbetung" ein. Durch die "Anbetung" wende sich das Denken "zum Unendlichen hin" (S.24). Das "Reale des Nichts" werde in "das Unendliche" getragen. Was Nancy darunter versteht, erläutert er im Folgenden: "Streng genommen gehen ein richtig verstandener Schöpfer und sein Schöpfungsakt ineinander über, und dieser ... Schöpfungsakt wiederum geht über in ein zufälliges Bersten des Nichts. ... Ein Abstand kommt plötzlich auf [survient], spielt im homogenen, undifferenzierten Nichts. ... Dieser Abstand öffnet die Welt"(S.25).[1] "... die Spannung des Abstands, sein Pulsieren oder sein Impuls, sein Antrieb, sein Trieb" gehören zum homogenen, undifferenzierten Nichts (S.25). Der Bruch öffne zwar die Identität durch die Differenz und das Innen durch das Außen, aber in sich selbst sei er nichts, nichts als Abstand, Öffnung (S.26). Die Anbetung richte sich an sie. Sie sei "diese Haltung selbst", weder Grund noch Ursprung. Mit Bezug auf Kant begreift Nancy die Anbetung als Kraft, die den Menschen gleichermaßen in eine "vernichtende" wie in eine "seelenerhebende" Stimmung versetze, vergleichbar mit einem "bewundernden Staunen", das sogar mit der "modernen wissenschaftlichen Durchdringung gewachsen" sei, "da die Wissenschaft zugleich jede Art von »zureichendem Grund« dieser Welt endlos zurückweichen lässt". (S.27). Sogar "der schlichte Gruß", das "simple »Salut!« " habe an der Anbetung teil (S.30). Bereits das adressierte Sprechen, die Anrede, beinhalte "Anerkennung, Bejahung der Existenz des anderen"(S.30). Abschließend stellt Nancy fest: "»Die Anbetung« würde nichts anderes bedeuten als dies: die Aufmerksamkeit auf das Bewegte des Sinnes, auf die Möglichkeit einer nie gewesenen Anrede, die weder philosophisch ist noch religiös noch theoretisch noch praktisch noch politisch noch verliebt - sondern aufmerksam".(S.33). "Die Anrede richtet sich an das, was über jede Anrede hinausgeht. Oder auch: adressiert sich, ohne zu versuchen zu erreichen und selbst ohne Intention"(S.34). "Sie allein, diese Welt, unsere Welt, gibt das Maß des Inkommensurablen. Ihre Kontingenz, ihre Zufälligkeit, ihr Irren sind nur die zerbrechlichen, an das Regime des zureichenden Grundes gebundene Namen für einen Grund, der nicht unzureichend ist (...)."(S.34). "Diese Sachen, die die Welt sind und '(aus)machen", schreibt Nancy, "sind nichts anderes als die Bezüge aller Seienden untereinander, zwischen ihnen - diese Bezüge, die wir unaufhörlich diversifizieren, komplexer machen, multiplizieren und modifizeiren und modulieren in der endlosen Wiederaufnahme eines Gesanges, der weder Melodie noch Worte hat."(S.111). 6. Das exzessive Sprechen 6.1 Für Nancy kehrt "jenseits des Schweigens" die Sprache zu sich selbst zurück und das Schweigen ist für ihn die "Sinnreserve", "die über die Worte hinausgeht"(S.107). Welche Wechselbeziehung existiert zwischen Sprechen und Schweigen? Unmittelbar einsichtig ist, dass ununterbrochenes Sprechen - ohne eingeschobene Schweige-momente zwischen den Worten und Sätzen - dem Sprechenden atemtechnisch gar nicht möglich ist und dem Zuhörer des Sprechenden jegliches Verstehen erschwert, wenn nicht sogar völlig verwehrt. Sprechen und Schweigen bedingen sich also gegenseitig: a) In einer Kommunikationssituation spricht einer – der andere schweigt und hört zu; er benutzt dennoch die Sprache, um zu verstehen, d.h. er hört, empfängt und entschlüsselt auf seinem Erfahrungshintergrund die ihn erreichenden Zeichen. b) Im Sprechen selber reiht sich nicht ein Wort ohne Unterbrechung an das andere, sondern die kleine Lücke, die die Worte voneinander trennt, macht das Schweigen aus. Dies ist jedoch keine Leerstelle, sondern die Herstellung des syntaktischen Bezugs von einem zum anderen Wort. c) Auch in der Kommunikation mit sich selbst schweigt der Denkende/Sprechende auf der Suche nach Worten, nach den „richtigen“ Worten. „Das Schweigen ... als Sinnreserve, die über die Worte hinausgeht und reich an ihrem Geheimnis, an ihrer Intimität ist."(S.107). d) Schweigen kann auch in den verschiedensten Kommunikations- situationen eine Aussage darstellen, die von den Teilnehmern auf ganz unterschiedliche Weise interpretiert werden kann. Die Interpretationsbreite ist beim Schweigen gewöhnlich noch größer als bei einer Aussage. Sprechen und Schweigen sind also zwei aufeinander bezogene Momente des Sprachgeschehens, die sich notwendigerweise wechselseitig ablösen müssen. Insofern ist Schweigen "die Rückkehr zur Sprache" und umgekehrt Sprechen Rückkehr zum Schweigen. Letzteres wird von Nancy als "Sinnreserve" des sinnvollen Sprechens bestimmt. Nancy nennt es das "beredte Schweigen". Ein erster Aspekt des "beredten Schweigens" besteht darin, dass jede zusätzliche Schweigesekunde den Sprechenden dazu befähigt, im Nachhall seiner Worte zu überprüfen, ob in der Abfolge von Worten zwischen dem beabsichtigten und dem realisierten Sinn eine Abweichung entstanden ist. 6.2 Dazu im Gegensatz begreift Nancy die "Stummheit". Sie "figuriert (...) die zurückgehaltene, gehemmte Kehrseite des beredten Schweigens" (S.107). In ihr ist jegliche Sinnbezogenheit ausgelöscht. Bedeutet das, dass Stummheit die Abwesenheit von Sprechen/Schweigen ist? Nancy formuliert hier m.E. nicht präzise genug. Geht man z.B. vom Ausdruck „stumm vor Schmerz“ aus, dann könnte es sich um eine dramatische Situation handeln, bei der die Teilnehmenden voll und ganz von diesem Ereignis rein gefühlsmäßig erfasst werden, so dass jegliche Suche nach Sinn – d.h. dieses Ereignis in Worte zu fassen – ausgeschaltet ist. Dabei geht es nicht um den Sinn, sondern um die Suche nach dem Sinn. Die Suche – und damit die Sprache – ist ausgeschaltet. „Jenseits des Schweigens zur Sprache zurückzukehren bedeutet, noch einmal ganz nah an die Sprache heranzugehen, an das, was in ihr weder eigentlich erklärt noch nennt und doch bei der Annäherung eines Unnennbaren nicht schwindet“ (S.107). Ersetzt man „jenseits des Schweigens“ durch „jenseits der Stummheit“ zur Sprache zurückkehren, dann könnte dies bedeuten, dass die Suche nach Erklärung, nach Sinn wieder aufgenommen wird, jedoch ohne Gewissheit, hierin erfolgreich zu sein. Im Gegenteil: wäre die Suche erfolgreich – gäbe es eine Erklärung oder einen Sinn – würde die Sprache überflüssig werden. „Nah an die Sprache herangehen“ bedeutet trotz der Ungewissheit, ob eine Sache, eine Situation etc. jemals adäquat in Worte gefasst werden kann, weiter zu sprechen, sich weiter auf die Suche zu machen – nicht in Stummheit zu erstarren. Gegen diese Stummheit und Erstarrung „anzusprechen“, heißt auch Vertrauen zu entwickeln. Dieses Vertrauen ist der eigentliche Daseinsgrund (raison d’être) von Sprache – Grund und Vernunft zugleich (im Französischen sind beide Bedeutungen mit dem Wort ‚raison‘ abgedeckt). Dieses Vertrauen ermöglicht Bedeutung und einen letzten Sinn, obwohl es zugleich keine Aussicht auf eine gesicherte Bedeutung („jenseits jeder Zuversicht“) und einen letzten Sinn („jenseits aller Zeichen“) gibt. 6.3 Was wird in der Sprache weder eigentlich erklärt noch genannt und schwindet dennoch bei der Annäherung eines Unnennbaren nicht? (S.107) Wenn sich das Unnennbare mit seiner Vorderseite dem Sprachwesen Mensch zuwendet, präsentiert es sich in einer Weise, die weder die Struktur des Ganzen offenbart, noch gelingt es der Sprache, ein Einszueins-Verhältnis zwischen sich als Zeichensystem und dem Bezeichneten herzustellen. 6.3.1 Bei aller inzwischen erreichten naturwissenschaftlichen Erkenntnis verbleibt das Innerste des einzelnen Daseins - seine jenseits der subatomaren Struktur und der erstaunlichen Wandlungsfähigkeit von Neutrinos befindliche Existenz - bisher ebenso unerforscht wie die Gesamtheit des Daseienden und die ihm immanente Struktur. Beides verliert sich im (un)endlich Kleinen bzw. (un)endlich Großem. Die Sprache als unhintergehbarer Teil jeder Denkoperation ist zwar von sich aus bestrebt, dem Regress ins (un)endlich Kleine bzw. (un)endlich Große zu folgen und offen zu bleiben für alles Weitere, aber in der Begriffsbildung bricht das forschende Sprachwesen (Mensch) spätestens dann ab, wenn der Begriff nur noch mit einem nicht mehr adäquaten Inhalt gefüllt werden kann und begrifflich gefasste Inhaltsleere droht. 6.3.2 Die Sprache zeigt sich unfähig, ein Einszueins-Verhältnis zwischen sich als Zeichensystem und dem Bezeichneten herzustellen. Sie spricht nur "im paradoxen Vertrauen in ihre eigene Ungewissheit", "in ihre eigene Inadäquatheit" (S.107). Nancy definiert als "raison" der Sprache: "Dieses Vertrauen - das am wahrhaftigsten die raison selbst der Sprache ist, in jedem Sinne des Wortes »raison«, ihr Grund und ihre Vernunft - geht von vornherein jenseits jeder Zuversicht in die Bedeutung und in einen letzten Sinn jenseits aller Zeichen" (S.107). Das heißt: das sich öffnende Spektrum an Bedeutungen des Bezeichneten geht über jede gesetzte Grenze hinaus und strebt damit jenseits der Vielfalt der schon zugewiesenen Sinne nach einem letzten Sinn. Nancy versucht diese im folgenden Satz zu verdeutlichen. Die Sprache höre nicht auf, "ihre Bedeutungen in Bewegung zu bringen, sie spielen und zittern zu lassen, ...", sie also zu vervielfältigen. Sie sei in der ständigen "Annäherung, im Bewegten" (S.107). Worunter zu verstehen ist, dass sie dies nur als Teil des Sprachwesens Mensch tun kann. Der Mensch ist über alle Zeiten hinweg der fixe Ort der Sprache, der es ihr ermöglicht, zugleich nicht-örtlich zu sein. Nancy fragt: "Woher kommt sie?" und antwortet: "Von diesem Nicht-Ort, der inmitten der Welt offen ist und von dem aus es sich öffnet und sich bewegt, es ankommt und dieses Kommen unaufhörlich erneut spielt, dieses Nahen und dieses Bewegte, dieses Zittrige, in dem alles ankommt: die Welt, das Leben, der Sinn, die Sache, zufällig, ungewiss, vibrierend, schwankend" (S.107/108). Sprache als "exzessives Sprechen" existiert nicht ohne den sprechenden Menschen; ist nicht von ihm zu lösen und weit entfernt von der Sprache als Gegenstand forschender Analyse, in der sie in eine Objektposition versetzt wird. Jeder neue Erdenbürger übt sich in die bereits vor ihm existierende Sprache ein, wird mit ihr zum Sprachwesen, zum "Sprechenden" und reiht sich ein in den Strom des unendlichen Verweises, in das "Wuchern der Diskurse", in das "Sprießen der Fiktionen", in die Üppigkeit der literarischen Erfindungen" (S.108). Unterstellt man mit Nancy dem Menschen, dass er - im Namen der "Gesamtheit der Seienden der Welt" - eben "von der Welt Rechenschaft ablegen soll" (S.108), ist er das Geschöpf, dem von der Schöpfung zu diesem Zweck Stimme gegeben wurde, so dass er als Sprechender Zeugnis von ihr ablegen kann. Ganz zum Schluss seiner Ausführungen relativiert Nancy die Bedeutung des Subjekts gegenüber der Sprache und bezieht sich auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse. Im Verhältnis Subjekt-Sprache zitiert er Freud: "Das Subjekt erzählt sich selbst, durch seine Erzählung tritt es ein, kommt es herauf [advient]. Es ist keine Erdichtung, denn nicht das »sprechende Subjekt« ist hier am Werk, sondern jenes, welches das Wort zur Welt bringt, welches durch die Sprache zur Welt kommt - die Sprache oder das, was man besser die Signifikanz nennen sollte, die Offenheit einer Möglichkeit von Sinn."(S.159). 6.3.3 Das Paradoxon von Vertrauen in eine Bedeutung und von Abwesenheit jeglicher Gewissheit ist die Antriebskraft, die Energie, die Sprache ausmacht. Gäbe es z.B. zwischen Kommunikationsteilnehmern keine ansatzweise Übereinstimmung bezüglich der Bedeutung einer Aussage, würde die Sprache nicht funktionieren. Zugleich ist diese Übereinstimmung jedoch nur eine Schnittmenge all jener verschiedenen Bedeutungen, die jeder Kommunikationsteilnehmer dieser einen Aussage – je nach Erfahrungshintergrund und Verständnis der Kommunikationssituation – zumisst. Dieser Umstand webt das Netz der Bedeutungen dieser einen Aussage weiter, indem die Kommunikationsteilnehmer z.B. darüber gegenüber anderen Sprachteilnehmern berichten. Das gleiche gilt auch für den „vereinzelten Sprechenden“, wenn er eine Aussage für sich wieder aufnimmt. Zeit ist vergangen, neue Erfahrungen sind gemacht worden, mit denen die gemachte Aussage weiter aufgeladen wird. Aber nicht die Sprechenden tun dies kraft eines ihnen innewohnenden Geistes, sondern die Sprache selbst bewirkt dies. Sie weiß sich als Sprache, d.h. sie ist insofern Subjekt. Jedoch nicht Subjekt als etwas Einzelnes, sondern als nicht aufhörende Bewegung. Für Nancy ist „es“ bzw. „alles“ der Versuch, einen neutralen Ausdruck zu finden für das, was letztlich nicht benannt werden kann – „die Welt, das Leben, der Sinn, die Sache“(S.108) –, weil all diese Worte vortäuschen, etwas nicht Fixierbares mit einem Ausdruck zu umfassen und damit festzuhalten. Das Zeugnis verbleibt immer eines, das von der beschränkten Erkenntnisfähigkeit des Menschen über die Vorderseite des Realen Auskunft gibt, das dem Realen seine Sichtweise in der Hoffnung auferlegt, es adäquat erfassen zu können, aber trotz aller Um- und Verwandlung des vorgefundenen Ursprünglichen in die verschiedensten Formen von Technik im fragilen Aufschichten verharrt. Nancy nennt das aus unzähligem Übereinanderstapeln von gelungenen, misslungenen oder bar jeder Konstruktionen entstandene Gebilde "Struktion" (S.115), das jederzeit zusammenbrechen kann und sich stets in der Schwebe zwischen vollendeter Form und Chaos befindet. 7. Der Unterschied zwischen Sprechen und Sprache Problematisch ist, dass Nancy einmal „Sprache“ und ein anderes Mal „Sprechen“ als Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. „Sprache“ ist auch ein Begriff der etwas Abgeschlossenes, ein System, vortäuscht; Sprechen dagegen „denkt“ die Sprechenden immer mit. Im Begriff „Sprechen“ ist sehr viel stärker die ständige Bewegung enthalten. Insofern wendet sich das Sprechen an etwas, das über es hinausgeht: a) Es ist keine eins zu eins Widerspiegelung der vermeintlichen Realität, die wir ja als solche gar nicht erkennen können. b) Es geht vom Sprechenden über zum Hörenden und von diesem als Sprechenden wieder zu einem anderen Hörenden usw. Zusammengefasst bedeutet das, dass Sprechen der Zugang zu diesem „Darüberhinaus“, zu diesem „Exzess“ (S.108) darstellt. In diesem Prozess ist der Mensch als Sprechender eine Art Durchgangsstation, durch die die Öffnung auf die „Gesamtheit der Seienden der Welt“ (S.108) und das Draußen – das, was nicht ergründet werden kann – gewährleistet ist. Betrachtet man den Menschen unter dieser Perspektive, ist es das Sprechen, das sein Dasein begründet. Nur er als Sprechender kann „von der Welt Rechenschaft ablegen“(S.108). „Rechenschaft ablegen“ heißt jedoch nicht erklären, einen Grund angeben. Es kann kein Grund für das Grundlose, das Zufällige, angegeben werden und dennoch ist das Sprechen darüber nicht ohne Vernunft. D.h. die Vernunft, die dem Sprechen innewohnt (ansonsten könnte es nicht mit den anderen Sprechenden geteilt werden), treibt immer wieder zur Suche nach einem letzten Grund an. Im Vertrauen auf die dem Sprechen innewohnende Vernunft wird weiter gesprochen – exzessives Sprechen. Exzessives Sprechen produziert sich in der Literatur, der Wissenschaft, der Politik „grenzenlos“, d.h. z.B. ein Roman, scheinbar abgeschlossen, begrenzt, produziert bei der Rezeption eine Fülle von weiterem Sprechen, das immer wieder über sich hinauswächst, also ohne Grenze ist. In der aktuellen Debatte um die Flüchtlinge machte zunächst das Wort der „Willkommenskultur“ die Runde, das den Blick vor allem auf die Hierlebenden richtete. Es trägt jedoch bereits den „Keim“ des danach auftretenden Wortes der „Ankommenskultur“ in sich, das stärker den Blick auf die Ankommenden richtet. D.h. hier hat ein Übergang von einem zum anderen stattgefunden, es gibt keine Grenze. Zugleich zeigen die beiden Wortschöpfungen auch, dass sie nicht unabhängig von den Vorgängen in der uns umgebenden Wirklichkeit entstanden sind. Nach Nancy ist das exzessive Sprechen auch unendlich. Zunächst: Was ist der Unterschied zwischen grenzenlos und unendlich? „Grenzenlos“ geht von einem Einzelnen zu einem Einzelnen zu einem Einzelnen usw. aus, ohne an ein Ende, besser an eine Grenze zu kommen. „Unendlich“ umfasst alle diese Einzelnen, ohne sie je wirklich umfassen zu können. Unendlich sprechen geht von einem fortwährenden Fluss von Worten, Zeichen, Sätzen, Texten aus, die alle zusammen betrachtet für sich als einzelne keine Bedeutung mehr haben. Deshalb gibt es auch nichts mehr zu vernehmen und zu verstehen. Übrig bleibt nur die Stimme. Aber immerhin „bleibt sie auf der Schwelle zur Sprache“ (S.109). Diesen Umstand betrachtet Nancy als die Anbetung. Grenzenloses Sprechen und unendliches Sprechen bedingen einander: „Mündlichkeit der Rede und Mündlichkeit der Anbetung“ (S.109). Vom Unendlichen, vom „Draußen“ herkommend und dahin zurückkehrend wird Sprache als etwas Existierendes betrachtet, das dem Menschen vorgegeben ist und ihn als einzelnen überdauert. Sie ist es, die dem Menschen den Mund öffnet und ihn überhaupt zum Menschen macht. Das sei – nach Nancy – das Göttliche. Zugleich muss gesehen werden, dass das Unendliche, das Draußen, das Göttliche nicht ohne das Innere, das Endliche, das Menschliche existiert. Dem, was den Menschen übersteigt allein den Vorrang einzuräumen, bedeutet ihn wieder in eine Abhängigkeit zu bringen, wie er sich vorher in der Abhängigkeit von einem göttlichen Prinzip befunden hat. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/f96b72e4c3a0430294834f004f92b6d3" width="1" height="1" alt="" /> |
Autor
Reinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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