Antwort auf den Beitrag von Botschafter a.D. Hans-Georg Wieck „Deutschland und Russland im europäischen Gefüge“, der bei Solon-line zuerst erschienen ist.
Gleich zu Beginn seines Textes erwähnt Wieck das „gemeinsame Haus Europa“, zu dem beide Staaten gehören und das sie auf je spezifische Weise mit ihrem „politischen Gewicht“ und ihrer „zivilisatorischen Leistung“ beeinflussen. Seine starke Betonung des europäischen Dachs, unter dem beide leben, sollte man im Gedächtnis behalten, wenn man seinen weiteren Ausführungen folgt und dabei manchmal den Eindruck bekommt, Wieck siedele beide Länder auf sehr unterschiedlichen Kontinenten an. Da beide Staaten den übrigen Einflussfaktoren (Europäischer Union, Nato, Europa-Rat und OSZE, Nachbarländer) auf je besondere Weise unterliegen, unterstellt er beiden Staaten ein je spezifisches Interesse an der Ausgestaltung Europas. Er selbst will mit seinem Beitrag Grundlagen legen für eine neue europäische Strategie und scheut nicht davor zurück, Differenzen offen zu benennen und Konflikte auszutragen. Zuvor vertieft er sich jedoch in die Geschichte Russlands und Deutschlands und den Bestrebungen beider Länder, eine zentrale Rolle im „Konzert der Mächte Europas“ zu spielen. Der wilhelminischen Machtelite wirft er vor, die Abwehrreaktionen der Nachbarländer Deutschlands vor den enorm gestiegenen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und sozialen Leistungen des ab 1871 vereinten Deutschlands nicht nur unterschätzt, sondern auf törichte Weise die Situation eines Zweifrontenkrieges herbeigeführt zu haben. Statt „ehrlicher Makler“ zu bleiben sei Deutschland unter Wilhelm II. zur „Partei“ geworden. Die siegreichen europäischen Mächte hätten es nach dem I. Weltkrieg versäumt, als Abwehr gegen eine aufkeimende sowjetische Bedrohung einen Brückenschlag zum geschlagenen Deutschland anzustreben und Hitlers Gefolgsleute wären nur taktische Allianzen mit anderen Mächten eingegangen und hätten in maßloser Überschätzung des deutschen Kriegspotentials den II. Weltkrieg angezettelt, an dessen Ende die USA und die Sowjetunion zu den Europa neu ordnenden Mächten emporstiegen. Als Konsequenz aus dem Desaster der europäischen Hegemonialkriege sei die Europäischen Union entstanden. Wieck nennt drei Gründe für die Wiedervereinigung Deutschlands und betrachtet sie offenbar als gleichwertig, gleichgewichtig und der gleichen Wurzel entstammend:
Gorbatschows Überlegungen zur Kurskorrektur resultierten aus der Vorstellung, dass die USA und die Sowjetunion eine duale Hegemonie bilden. Zum Merkmal einer dualen Hegemonie zählt das auf beiden Seiten vorherrschende Bewusstsein, existentiell aufeinander angewiesen zu sein und deshalb jede Strategie vermeiden zu müssen, die zur Auflösung des hegemonialen Verhältnisses führt. Gorbatschows Berater und er selbst konnten sich offenbar weder vorstellen, dass die amerikanische Führung unter Reagan das Ziel anstrebte, unter Inkaufnahme des Risikos einer erheblichen Zerstörung des eigenen Territoriums den Untergang der anderen Seite herbeizuführen, noch durch eine die Ressourcen der anderen Seite überfordernden massiven Aufrüstung deren Abdankung als Hegemonialmacht zu erwirken. Immerhin mussten die USA in ihr strategisches Kalkül einbeziehen, dass
Der Schachspielermentalität der sowjetischen Führung war die Pokermentalität der USA fremd. Ganz im Sinne der Spieltheorie spekulierten die USA darauf, dass im Falle der Gefahr eines drohenden atomaren Entwaffnungsschlages, dem die Sowjetunion keine adäquate Abwehr entgegen zu setzen vermochte, die sowjetische Seite einem für die Sowjetunion nachteiligen Kompromiss zustimmen würde, eingeschlossen sogar das Ende der eigenen Hegemonie. Mit anderen Worten: Gorbatschow unterschätzte das vorherrschende Bewusstsein in der amerikanischen Führung, im Ost-West-Konflikt kompromisslos auf Sieg zu setzen und sich über die nachteiligen Folgen für die eigene künftige Hegemonialstellung vorerst keine Gedanken zu machen. Die „Kurskorrektur“ Gorbatschows entsprang also aus einem völlig anderen Verständnis von Entfaltungsmöglichkeiten der Politik in einer dualen hegemonialen Machtposition als die amerikanische Antwort, die auf die sowjetische Kurskorrektur folgte. Reagan sah in der Gorbatschowschen Kurskorrektur nichts anderes als die sowjetische Einsicht über eine sich abzeichnende Niederlage und interpretierte sie als grandiosen Sieg der USA im Ost-West-Konflikt bzw. als den Beginn einer globalen Hegemonie der USA. Wieck drückt dieses amerikanische Verständnis auf seine Weise aus, indem er betont, dass mit dem Vertrag über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) und der Charta von Paris vom November 1990 (Vereinbarung über die Transformation Ost- und Südosteuropas in pluralistische Demokratien) die Grundlage für das auf Übereinstimmung der Werte beruhende „Gemeinsame Haus“ Europa gelegt worden sei. Anders formuliert: Wenn ihr so werdet wie wir, sind wir bereit, mit euch ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen, andernfalls nicht (vgl. One-World-Theorien). Beim erwähnten zweiten Grund für die Vereinigung Deutschlands – die von der alten Bundesrepublik Deutschland erworbene Vertrauensstellung in Europa als Folge ihrer „Entspannungspolitik“ – hebt Wieck einseitig den menschenrechtlichen Aspekt hervor, der zum Vertragsabschluss von Helsinki führte. Der andere Teil dieser Strategie findet bei ihm keine Erwähnung. Dieser Teil entstammt der bitteren Erkenntnis über die passiven Reaktionen der USA und der west- wie östlichen Nachbarländer zum Mauerbau im Jahre 1961. Die Begründer der Entspannungsstrategie mussten erkennen, dass niemand in West und Ost den Deutschen dabei helfen würde, die Teilung zu überwinden. Niemand würde sich in der „deutschen Frage“ deutscher als die Deutschen gerieren und die Deutschen müssten selbst dafür sorgen, dass für die noch unabsehbare Dauer der Teilung der Zusammenhalt aller Deutschen bewahrt blieb. Aus dieser Einsicht erfolgte die Anerkennung der sowjetischen Einflusssphäre in Osteuropa, ohne die eine Entspannung nicht möglich schien; was nicht bedeutete, dass die Hoffnung auf Wiedervereinigung aufgegeben wurde. In Wiecks Analyse der ergriffenen und verschenkten Chancen nach 1990 spiegeln sich die Untiefen seiner Analyse wider. So heruntergekommen das System der Planwirtschaft nach siebzig Jahren inzwischen auch war, zerbrach die Sowjetunion im Dezember 1991 dennoch nicht am weit verbreiteten Unverständnis über Gorbatschows Reformvorhaben, genannt Glasnost und Perestroika. Vielmehr erzeugte die von Gorbatschow betriebene Ablösung der bis dahin tonangebenden militärischen Kaste, die mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf neue Militärtechnologie und steigende Rüstungsausgaben die sowjetischen Ressourcen überforderte, deren tiefe Abneigung und Feindschaft bis hin zur offenen Revolte gegenüber Gorbatschow. In der erbitterten Auseinandersetzung um die Erhaltung der eigenen Machtposition erhielten zuvor von Moskau unterdrückte Nationalbewegungen die Chance der eigenen Machtentfaltung. Unter Präsident Jelzin bekamen Personen das Sagen, die ohne viel Rücksicht auf Verluste und unter Missachtung der gewachsenen russischen Tradition aus der übrig gebliebenen Konkursmasse (Russland) im Eilschritt eine westliche Demokratie mit einem kapitalistischem Wirtschaftssystem formen wollten. Unterstützt wurden sie von Kräften des Westens, die ebenfalls der naiven Anschauung anhingen, aus der Konkursmasse des „realsozialistischen“ Wirtschafts- und Gesellschaftssystems könne man durch gründliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf schnellstem Wege eine parlamentarische Demokratie mit einer funktionierenden neoliberal ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaftsordnung erschaffen. Das Ergebnis ihres „Bemühens“ war alsbald in der Entstehung reicher Oligarchen bei gleichzeitiger Verarmung großer Teile der russischen Bevölkerung und – im Nebeneffekt – in einer enormen Verschuldung Russlands bei westlichen Banken und dem drohenden Ausverkauf russischer Erdöl- und Gasvorkommen an westliche Konzerne zu besichtigen. Gründlicher konnte man den Gedanken der Demokratie und die Hoffnung auf seine Verwirklichung der Bevölkerung Russlands nicht austreiben als es durch Jelzins Entourage und seine vorwiegend US-amerikanischen Berater geschehen ist. Wieck stellt diese Entwicklung bestenfalls verkürzt dar und überbetont statt dessen die Denkweise von Teilen der alten Machtelite, des Geheimdienstes und neu heranwachsender Machthaber im Staatsapparat, in deren Träumen ein imperiales Russland wiederbelebt wird. Dankenswerterweise weist er aber auch selbst auf die unter russischen Politikern erhebliche Ängste produzierende Einkreisungspolitik der Bush-Administration hin und erwähnt ebenfalls die vom US-Senat verweigerte Zustimmung des Teststoppabkommen als Auslöser russischer Alpträume. Der Konflikt mit Georgien erscheint bei ihm jedoch nur als ausgreifendes imperiales Gehabe der russischen Führung, nicht jedoch auch als deren angstbesetzte Reaktion auf stets lauernde Destabilisierungserscheinungen im nördlichen Kaukasus, die von Kräften südlich des Kaukasuskamms angezettelt werden könnten. Wieck unterschlägt die erwiesenermaßen von Georgien ausgehende Rückeroberungsinitiative in Abchasien und Süd-Ossetien, die ohne die stillschweigende Duldung der Bush-Administration nicht möglich gewesen wäre. Als ehemaliger deutscher Botschafter in Russland müsste Wieck eigentlich darüber informiert sein, dass die zahlreichen Konflikte zwischen den verschiedenen Kaukasusvölkern nur sehr schwer unter Kontrolle zu halten sind. Die Alternative, allen Klein- und Kleinstvölkern, die teilweise das gleiche Territorium bewohnen, in die Unabhängigkeit zu entlassen, würde zu chaotischen Zuständen führen, an deren Ausweitung letztlich niemand ein Interesse haben kann. In Kapitel 3.3 entfaltet Wieck seine Kernaussage. Danach hat sich das Russlands Putins und Medwedjews „in der gegenwärtigen Phase der so genannten souveränen Demokratie von der gemeinsamen Werteordnung gelöst und richtet seine Bemühungen darauf, die Bildung eines demokratischen Gegenentwurfs im Lande zu verhindern. Der Schröder’sche Entwurf einer deutschen Russlandpolitik ist mit den gemeinsamen Kerninteressen der Europäischen Union und denen des Nordatlantischen Bündnisses nicht vereinbar.“ Wieck wirft Schröder und anderen politischen Kräften sogar vor, indem sie die „russische Karte“ spielten, betrieben sie eine Politik, „die Moskau in den Stand versetzen kann, auf Augenhöhe mit Washington zu verhandeln“. Schröder habe mit seiner Politik beabsichtigt, „sich durch deutsch-russische Verabredungen dem Einfluss der USA und Großbritanniens zu entziehen und einen eurasischen Block im Gegensatz zum atlantischen Block aufzubauen“. Wiecks Credo lautet: „Die Priorität der deutschen Außenpolitik muss sich auf die Kohäsion der Europäischen Union und auf eine funktionierende Zusammenarbeit mit den USA konzentrieren.“ Erst wenn in den russisch-deutschen Beziehungen „zivilgesellschaftliche Verknüpfungen“ entstünden, könnten „eurorelevante Verbindungen und gemeinsame Wertvorstellungen wachsen“. Bis zu diesem fernen Zeitpunkt hält er es nur für möglich, mit Russland wie in den vergangenen Zeiten des Kalten Krieges bestenfalls eng begrenzte wirtschaftliche Beziehungen zu unterhalten. Angesichts der massiven Grenzziehung, die Wieck gegenüber Russland vornimmt, liegt als erstes die Frage nahe, welche nicht öffentlich zugänglichen Informationen zu der Aussage nötigen, Deutschland dürfe sich nicht dem Einfluss der USA und Großbritanniens entziehen? In diesem Zusammenhang ist ein Artikel von Egon Bahr über „Drei Briefe und ein Staatsgeheimnis“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 14. Mai 2009 von großem Interesse. Darin beschreibt Bahr das ungläubige Erstaunen des 1969 gerade sein neues Amt als Bundeskanzler antretenden Willy Brandt über die Vorlage dreier Briefe an die Botschafter der USA, Großbritanniens und Frankreichs in ihrer Eigenschaft als Hohe Kommissare für Deutschland. Mit seiner Unterschrift unter diese Briefe sollte Brandt seine Zustimmung geben zu dem, „was die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 an verbindlichen Vorbehalten gemacht hatten. Als Inhaber der unkündbaren Siegerrechte für Deutschland als Ganzes und Berlin hatten sie diejenigen Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft gesetzt, die sie als Einschränkung ihrer Verfügungshoheit verstanden“. Brandt, schreibt Bahr, „war empört, dass man von ihm verlangte, ‚einen solchen Unterwerfungsbrief’ zu unterschreiben“. Brandt unterschrieb schließlich wie alle Bundeskanzler vor und wahrscheinlich auch nach ihm, obwohl, wie Bahr sehr ironisch bemerkt, „deutsche Trompeten die gewonnene Souveränität (1955) verkündeten“. In einschlägigen Geschichtsbüchern wurde lange Zeit mit Blick auf die Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses der Beginn der wieder gewonnenen bundesdeutschen Souveränität in das Jahr 1955 verlegt und wahrscheinlich von unzähligen Geschichtslehrern nachgebetet. Diese Souveränitätseinschränkung durch die drei Westalliierten war in den Verhandlungen zum Viermächteabkommen und dem Grundlagenvertrag von 1972 zu berücksichtigen und kam erneut in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen im Jahre 1990 auf den Verhandlungstisch. In jenen Verhandlungen musste die Sowjetunion zwar auf alle ihre „Rechte für Deutschland als Ganzes“ verzichten, aber von den Westmächten entschied nur der französische Präsident Mitterand, dass Frankreich seine Truppen aus Deutschland zurückziehen werde und keine Sonderrechte mehr beanspruche. Kolportiert wird, er habe gesagt, man gehe lieber jetzt als so lange zu warten bis man von den Deutschen hinausgeworfen werde. Da Frankreich nicht der Nato angehörte, konnte die weitere Stationierung seiner Truppen nicht als Folge der Vereinbarungen der Nato plakatiert werden, was den beiden anderen Westmächten ohne weiteres möglich war. Egon Bahr bezeichnet in seinem Artikel die Lagerung von amerikanischen Atombomben auf bundesdeutschem Territorium als „Relikt der Lebenslüge“. Diese nuklearen Waffen würden im Falle eines Krieges von deutschen Flugzeugen zu ihren Zielen transportiert. Über den Einsatz dieser Nuklearwaffen entscheidet aber allein der amerikanische Präsident. Deutsche Piloten würden faktisch amerikanischem Befehl unterstellt. Stellt man die alleinige US-amerikanische Verfügung über die Atomwaffen in den Gesamtzusammenhang der Stationierung US-amerikanischen Militärs auf deutschem Territorium, einschließlich der Existenz des US-amerikanischen Hauptquartiers in Stuttgart, liegt weiterhin folgende Vermutung nahe: Im Deckmantel der Nato und unter dem Titel deutschen Rechts sind weiterhin unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit in Kraft – z.B. ein generelles Truppenstationierungsrecht einschließlich der Hoheit über Truppenbewegungen zu und zwischen den einzelnen Stationierungsorten sowie der Hoheit über elektronische Kommunikationsnetze, darüber hinaus noch weiterreichende Rechte im Falle eines drohendes Krieges bzw. für den Kriegszustand selbst. Sollte sich Wiecks Äußerung, Deutschland dürfe sich nicht dem Einfluss der USA und Großbritanniens entziehen, auf unkündbare originäre Rechte der Siegermächte von 1945 beziehen, müsste er sich vorhalten lassen, dass die deutsche Seite endlich – wie es Egon Bahr andeutet – damit beginnen muss, solche Bindungen offen zu diskutieren, damit sie später nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt ans Tageslicht kommen, großen Schaden anrichten und sogar zum Austritt aus der Nato führen könnten. Von den USA und Großbritannien kann man nicht erwarten, dass sie von sich aus über „Unkündbares“ reden. Wiecks Forderung geht jedoch sehr viel weiter. Er erklärt die „funktionierende Zusammenarbeit mit den USA“ zur Priorität jeder Bundesregierung und erwähnt dabei insbesondere die Nato. Das hochherrschaftliche Gebaren der Bush-Administration gegenüber den Verbündeten muss ihn sehr geschmerzt haben. Während dieser Jahre war der von Wieck besonders geschätzte „Nato-Konsultationsprozess“ unterbrochen, weil die US-amerikanische Seite unilateral entschied und noch nicht einmal für nötig hielt, die übrigen Nato-Mitglieder zu „konsultieren“. Im „NATO-Konsultationsprozess“ hatten alle Mitglieder die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Strategien und Taktiken zu informieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu gelangen. Das Wort Konsultation erweckt den Eindruck, dass im Ausschuss alle Nato-Mitglieder auf gleicher Ebene angesiedelt waren. Wieck weist aber selbst auf die hervorgehobene Position der USA, indem er betont, dass die Bush-Administration sich „ohne Not“ vom Konsultationsprozess verabschiedet habe. Im Notfall konnten die USA also auch schon vor Bush unilateral entscheiden. Sie hatte lediglich die übrigen Mitglieder zu konsultieren, was sie gegenüber den Europäern klugerweise als wohlmeinend auftretende Hegemonie auch taten. Wenn aus dieser amerikanischen Verhaltensweise bei den Konsultierten der Eindruck entstand, sie seien gleichwertige Partner der USA, war das ihr – und offensichtlich bis zum heutigen Tage auch Wiecks – Problem, denn Wieck bestreitet immer noch die hegemoniale Position der USA und weist statt dessen einseitig auf hegemoniale Absichten Russlands hin, vor denen man sich in Acht zu nehmen habe. Nun könnte Wieck im Einklang mit vielen Transatlantikern die Meinung vertreten, dass hegemoniales Gebaren von Demokratien grundsätzlich nichts Verabscheuungswürdiges sei, während man vor hegemonialen Tendenzen von Nichtdemokratien immer auf der Hut sein müsse. Solche Gedankengänge haben während des gesamten Ost-West-Konflikts die Köpfe des herrschaftlichen wie abhängigen Bewusstseins durchdrungen und führten beispielsweise bei Bewohnern West-Berlins zu der tiefen Überzeugung, dass sie an vorderster Front die Freiheit gegen die Unfreiheit verteidigten. Dabei kam ihnen nie in den Sinn, dass ihr Frontstadtbewusstsein von den Siegermächten des II. Weltkrieges auch dazu benutzt werden könnte, das geteilte Deutschland unter ihrer dauerhaften Kontrolle zu halten. Spätestens nach den verheerenden Ergebnissen der acht Jahre während der Bush-Administration und der bis zum heutigen Tage durch den ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney und die vorherige Außenministerin Condoleezza Rice gerechtfertigten Folter müsste doch endlich auch für Wieck erkennbar sein, dass die vereinfachenden Denkweisen des Kalten Krieges hegemonialen Zwecken dienten und in der heutigen weltpolitischen Konstellation keinen Platz mehr haben. Vehement wendet sich Wieck auch gegen den Aufbau eines eurasischen Blocks im Gegensatz zum atlantischen Block. Angesichts der Weltwirtschaftskrise und des gewaltigen Einbruchs in der einseitig auf die USA ausgerichteten exportorientierten Volkswirtschaft Japans gegenüber der zwar ebenfalls von starken Rückgängen geplagten, aber wenigstens in die Europäische Union eingebetteten exportorientierten Volkswirtschaft Deutschlands vor einem eurasischen Block zu warnen, zeugt von wenig Rücksicht auf die heutigen Welthandelsströme. Wenn man in der Vergangenheit schon nichts gegen die Globalisierungsstrategie der USA unternommen hat, unter der die Sozialstaatssysteme Kontinentaleuropas zu zerbrechen drohten, muss man jetzt wenigstens deren Ergebnis akzeptieren. Die asiatischen Volkswirtschaften sind zu unentbehrlichen Handelspartnern der Europäer geworden. Die gewachsenen eurasischen Verflechtungen sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, indem man deren Aufrechterhaltung als Blockdenken diffamiert. In einem Punkt ist Wieck völlig zuzustimmen. Er betont, wie wichtig die Einbettung Deutschlands in die Europäische Union ist. Die Kohäsion der Europäischen Union darf durch keine wie auch immer geartete Strategie in Frage gestellt werden, denn immer noch gilt die Feststellung Willy Brandts, dass Deutschland als Nation zu groß ist für seine Nachbarländer. Diese bleibende Erkenntnis haben deutsche Unternehmen schon kräftig vernachlässigt, als sie in ihrem Shareholderdenken die Lohnstückkosten durch Verlagerung der Produktion in die ost- und südosteuropäischen Länder senkten und bei den Westeuropäern den Eindruck erzeugten, Deutschland strebe nach dem Ende des Ost-West-Konflikts noch nachträglich das Ziel des I. Weltkrieges an, Osteuropa und den Balkan unter seine alles beherrschenden Fittiche zu nehmen. Wieck findet volle Übereinstimmung in seiner Ansicht, dass der russischen Seite eine Schwächung der EU durch Bevorzugung des einen oder anderen EU-Mitglieds nicht gelingen darf. Ihm ist auch in der Ausgestaltung einer genuinen europäischen Strategie zuzustimmen. Bisher ist eine solche Strategie nur in ersten Ansätzen vorhanden. Sie zu entwickeln und durch aussagekräftige Symbole wie beispielsweise die adäquate Ausgestaltung des Humboldtforums (weit über die einfallslose Rekonstruktion der Schlossfassade hinaus) zusätzlich abzufedern, ist eine Herausforderung, der man sich unbedingt auf deutscher Seite zu stellen hat. Das Humboldtforum ist mehr als das Schloss. Zu ihm gehört die gesamte Museumsinsel, die über ihre museale Prägung hinaus zu einem Ort der Begegnung der Kulturen der Welt werden muss. In den Museen und in den Räumlichkeiten des Schlosses muss Raum geschaffen werden für Theater- und Musikvorstellungen sowie Lesungen, wie es bereits ansatzweise in einigen Museen geschehen ist. Darüber hinaus ist ein Bild der Kulturen zu vermitteln, das nicht wie im 19. Jahrhundert aus eurozentristischer Sicht die Verschiedenheit der Kulturen zur Schau stellt, sondern das den Eigenwert jeder Kultur erfasst und danach fragt, welchen spezifischen Beitrag jede Kultur für alle anderen zu leisten vermag. Darin liegt die Aufgabe des „gemeinsamen Hauses Europa“ in einer zusammenwachsenden Welt. Diese Forderung tragen Vertreter anderer Kulturen auch an die Europäer heran. Greifen wir sie endlich weltoffen auf. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/6be77f445dcf4733985782be0c725495" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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