Eine kritische Analyse des Jahresberichts 2011: Global Shift – How the West should respond to the rise of China
Die Transatlantic Academy in Washington D.C empfindet sich als ein Kompetenzzentrum, in dem europäische und amerikanische Experten gemeinsam Zukunftsthemen bearbeiten. Sie wurde von der ZEIT-Stiftung und dem German Marshall Fund of the United States geschaffen. Die Autoren Daniel Deudney (Associate Professor at John Hopkins University USA), James Goldgeier (Professor of Political Science at George Washington University USA), Hanns W. Maull (Professor für Außenpolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Trier), Steffen Kern (Direktor für Internationale Finanzmarkt Politik bei der Deutschen Bank) Soo Yeon Kim (ab 2011 Associate Professor of Political Science at National University of Singapor), Iskander Rehman (Science Po, Institute of Political Studies, Paris) analysieren die „Weltpolitik im Umbruch“ und fragen sich, auf welche Weise der „Westen“ auf den Aufstieg Chinas antworten sollte. 1. Entwicklung einer Strategie zur Bewältigung des tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik In ihrer deutschen Zusammenfassung stellen die Autoren fest, dass der Aufstieg neuer Mächte (China, Indien, Brasilien) „nur einen Aspekt eines umfassenden und tiefgreifenden Wandels der Weltpolitik darstellt“. In mindestens zweierlei Hinsicht unterscheide sich die Welt heute fundamental von früheren Epochen: „Erstens durch beispiellos dichte globale Verflechtungen und damit Verwundbarkeiten (‚Globalisierung’), und zweitens durch eine neue Qualität der Komplexität und Unberechenbarkeit der Weltpolitik, in der Veränderungen von großer Tragweite häufig, plötzlich und unerwartet eintreten (‚Turbulenz’).“ Da die „Diffusion von Macht und Einfluss“ (an neue Mächte und nichtstaatliche Akteure, d.Verf.) eine „Erosion der globalen Ordnung“ zur Folge habe und die „Interessen des Westens“ und der gesamten „Staatengemeinschaft“ bedrohten, seien, um den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen, neue „globale Lösungsansätze“ erforderlich. Mit ihrer Andeutung einer tiefgreifenden Bedrohung, der die „Interessen des Westens“ und darüber hinaus auch die gesamte „Staatengemeinschaft“ ausgeliefert sei, geraten die Autoren in die Nähe von Dominique Moïsi, der die Emotionen zum alles entscheidenden Moment des Weltgeschehens hochstilisiert hat (Moïsi, Dominique, „Kampf der Emotionen – Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, (Originaltitel: The Geopolitics of Emotion), München 2009. Moïsi gibt zu bedenken, Emotionen hätten nicht zu unterschätzende Auswirkungen für die Einstellung von Menschen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen und auf das Verhalten von Völkern untereinander. Emotionen spiegelten den Grad des Selbstvertrauens einer Gesellschaft wider. Im kollektiven Bewusstsein der Völker hänge von ihnen ab, wie gut ein Volk eine Herausforderung bewältigen und sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen könnte. Weder Politiker noch Historiker und auch nicht interessierte gewöhnliche Bürger könnten sie ignorieren (S. 53). In seinem Modell verknüpft er drei geopolitische Großräume mit jeweils einer vorherrschenden Emotion: Hoffnung bei den Asiaten, die Kultur der Demütigung in der arabischen Welt und Angst im traditionellen Westen (USA/Europa). Moïsi fasst die drei Emotionen in den folgenden griffigen Formeln zusammen: Hoffnung („Ich will es tun, ich kann es tun, und ich werde es tun.“), Demütigung („Ich werde es nie schaffen.“) und Angst („Lieber Himmel, die Welt ist zu einem gefährlichen Ort geworden; wie kann ich mich vor ihr schützen“) (S. 21). Mit seinem Experiment folgt er seiner durchaus nachvollziehbaren Einsicht, dass „im Zeitalter der Globalisierung (…) die Beziehung zum ‚Anderen’ (dem Fremden) mehr denn je von grundlegender Bedeutung“ ist (S. 40). Der in früheren Zeiten lediglich als Kuriosum bestaunte „Andere“ hätte „die westliche Welt“ zu keinem Zeitpunkt zur Hinterfragung ihrer „eigenen Identität“, ihrer „sozialen und politischen Modelle“, herausgefordert. Selbst in seiner Gestalt als „absolut Anderer“ des kommunistischen Systems sei er nur als die „andere Seite des Westens“ begriffen worden. Im Zeitalter der Globalisierung jedoch käme das „absolut Andere“ „nicht nur aus einer anderen, nicht-westlichen Kultur, sondern auch, in gewisser Weise, aus einem anderen Jahrhundert“ (S.40/41). Sowohl der Aufstieg Asiens wie der aufkeimende Fundamentalismus stellten für den Westen eine große Herausforderung dar, der er sich „mit tiefgreifenden Fragen nach seiner Identität“ zu stellen habe: „Wer sind wir? Was macht uns besonders und andersartig?“ Obwohl sich Moïsis Ansatz auf den ersten Blick ganz selbstkritisch gibt, steckt in ihm doch ein hohes Maß an Unbewusstheit: Offenbar war für Moïsi nicht klar, wie verletzend die Selbstbezogenheit des „Westens“ auf Menschen anderer Kulturen wirkte. Über die gravierenden Folgen westlicher Selbstbezogenheit in nicht-westlichen Regionen musste er sich, solange er sich vollkommen im Kokon eines anglo-amerikanisch bestimmten Weltbildes und Wissenschaftsbetriebes aufgehoben fühlte, in der Tat lange Zeit keine Rechenschaft ablegen. Dieser Kokon begrenzte seinen Blick bis über das Ende des Kalten Krieges hinaus. Die Autoren des Berichts „Global Shift“ haben sich wie Moïsi der schmerzvollen Aufgabe unterzogen, diesem Kokon zu entfliehen. Sie verfolgen jedoch andere Lösungsansätze als Moïsi, um, wie sie formulieren, die „Interessen des Westens“ in der sich wandelnden „Staatengemeinschaft“ zu wahren und den „drängenden Weltproblemen“ wirksam zu begegnen. Der Titel ihres Berichts – „Global Shift“ – bestätigt zwar nur, dass sich die Welt verändert. Der von ihnen vorgenommenen Lageanalyse und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen lässt sich jedoch entnehmen, dass sie sich ihrer Ansicht nach in eine ganz bestimmte Richtung ändert und sie einen Richtungswechsel bewirken möchten. Ob der Wechsel mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ihnen eine zutreffende Analyse der Probleme, die auf dem Hintergrund der vom „Westen“ geprägten Weltordnung entstanden sind, gelungen ist. Die Autoren empfehlen eine Strategie mit drei zentralen Komponenten:
In diesem Sinne formulieren die Autoren folgende Handlungsempfehlungen:
2. Zulängliche und unzulängliche Einsichten Gleich zu Beginn ihres Berichts formulieren die Autoren sehr ungenau: „At the end of the 20th century, Western dominance of the international order appeared complete“ (Global Shift, S.6). Was verstehen sie unter „Western dominance“? Wer im „Westen“ bestimmte die Weltordnung: die USA, Europa oder beide zusammen? Wenn letzteres zutraf, welchen Anteil hatte Europa daran und in welchem Ausmaß trugen die USA dazu bei? Was begreifen die Autoren als „Weltordnung“? „Ordnungen“ sind als endliche Strukturen ausgelegt, deshalb ist danach zu fragen, welche Arrangements nötig sind, um die Lebensdauer dieser Ordnung optimal auszufüllen? Welche ausgewählten Arrangements dienen zwar der Machterhaltung der dominierenden Kräfte, aber nicht der optimalen Entfaltung der Lebensdauer der Struktur? Mit ihrer Formulierung „Western dominance“ erwecken die Autoren den Eindruck, dass es eine „transatlantische Gemeinschaft“ der Machtgleichheit, Interessen- und Wertegemeinschaft zwischen den USA und Europa gegeben habe. Eine Begründung für diese Feststellung ist im Text nicht zu finden. Außerdem klammern sie die Sonderrolle Großbritanniens aus. Britische Regierungen betonten immer wieder ihr spezielles Verhältnis zu den USA. Zugleich war Großbritannien ein Mitglied der Europäischen Union und britische Regierungen unterstützten alle Bemühungen, den Standort der EU auf der Achse zwischen Staatenbund und Bundesstaat in Richtung Staatenbund zu verschieben. Den Autoren ist z.B. der Streit auf der NATO-Konferenz in Bukarest im Juli 2008 zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern der NATO keine Erwähnung wert. Gegen den damaligen Vorschlag der Bush-Administration, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die NATO zu öffnen, erwartete sie keinen Widerspruch. Ging sie doch davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, dagegen seine Stimme zu erheben? Aber selbst der britische Premierminister Brown erhob Einwände, obgleich er dann dennoch für den Vorschlag Bushs stimmte, während die französische und deutsche Regierung Bushs Ansinnen glatt ablehnten. Der Vorfall zeigte, dass die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit US-amerikanischer Arrangements zur optimalen Ausgestaltung der NATO zwar die Dominanz der USA im Bündnis im Blickfeld hatte, aber nicht die Erreichung einer optimalen Lebenserwartung der Organisation. Das Ausmaß der inzwischen eingetretenen Verschiebung der Gewichte zwischen den USA und Europa innerhalb der NATO wurde von Bush verkannt. Statt diesen gravierenden Vorfall zum Anlass für eine Hinterfragung des Begriffs „Westen“ zu nehmen, konzentrieren sich die Autoren auf ganz andere Verschiebungen innerhalb der Weltordnung. So konstatieren sie: „What is new is the quality of global interdependence and its complexity“ (S.7). Man sucht im Text vergebens nach einer Definition für die spezifische Qualität der globalen Interdependenz und der ihr inhärenten Komplexität. Vermutlich verbirgt sich dahinter die Global Governance Theorie, in der Nationalstaaten, die alleinigen Akteure der vergangenen Perioden auf dem internationalen Parkett, ergänzt und teilweise abgelöst werden durch außer- sowie überstaatliche Organisationen/Institutionen und global agierende Unternehmen und Finanzkapitale, die sich dem Postulat des Good Governance (Regierungen) bzw. Good Corporative Governance (Unternehmen) verpflichtet fühlen sollen. In der Vorstellung der Global Governance Theorie dominieren interdependente Beziehungen das Weltgeschehen. Hegemoniale Verhaltensweisen werden als irrelevant für die heutige Zeit betrachtet. In diese Richtung scheint auch der nächste Satz der Autoren zu verweisen: „As global problems grow, the diffusion of world power is undermining present arrangements of global governance, widening the gap between what is needed and what can be delivered“ (S.7/8). Offenbar sind die Autoren der Ansicht, dass sich in einer Zeit auftürmender Weltprobleme Macht heutzutage auf immer mehr Schultern verteilt und aufgrund dieser Entwicklung die bisherige vom „Westen“ bestimmte Weltordnung unterminiert wird und nicht mehr ausreichend adäquate Lösungen zur Verfügung stellen kann. Was sie jedoch wirklich darunter verstehen, offenbaren sie im folgenden Satz: “China is the only credible challenger to American hegemony, in Asia and beyond” (S.8) Im Gegensatz zu Global Governance Theoretikern existiert für sie eine US-bestimmte Hegemonie. Sie sehen die US Hegemonie nicht so sehr von der Mitwirkung von NGOs oder private public partnerships beeinträchtigt, sondern vor allem durch die zunehmende Interdependenz der Staaten untergraben und denken hierbei insbesondere an den Machtzuwachs Chinas. Wechselbeziehungen (Interdependenz) – sowohl symmetrischer wie asymmetrischer Form – bestehen zwischen Mächten, die sich bei aller Unterschiedlichkeit gegenseitig als gleichwertig und gleichrangig betrachten. Hegemoniale Verhältnisse hingegen gehen von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der beteiligten Mächte aus. Zwischen ihnen bestehen zwar auch Wechselbeziehungen, aber sie spiegeln stets den Rangunterschied zwischen Hegemon und Hegemonisierten. Indem die Autoren die Gefahr beschwören, dass in der Zukunft der “Beijing Consensus” den “Washington Consensus” der vergangenen Periode ablösen könnte (ebd.), drücken sie ihre Befürchtung aus, dass der US-Hegemonie in der wachsenden Weltgeltung Chinas ein ernst zu nehmender Widerpart erwachsen könnte. Im gleichen Atemzug unterstellen sie der chinesischen Führung hegemoniales Denken. Sie nehmen die kurze Geschichte der USA als Siedlergesellschaft zum Maßstab für das Denken und Handeln anderer, weitaus älterer Gesellschaften. So wie sich die USA zunächst von der Kolonialmacht Großbritannien befreiten, danach im Bürgerkrieg den nordamerikanischen Kontinent unter eine einheitliche Führung brachten, als nächsten Schritt ihre Herrschaft auf Mittel- und Südamerika ausdehnten, erst dann den Sprung über den Nordatlantik und den Pazifik auf die gegenüberliegenden Küstenregionen wagten und nach der Niederkämpfung der Sowjetunion schließlich den Versuch unternahmen, ihre Hegemonie weltweit auszudehnen, unterstellen sie nun der chinesischen Führung, dass sie von der Mitte Asiens aus schrittweise eine globale Hegemonie errichten wolle. Dass die geographische Lage Chinas eine ganz andere als die der USA ist, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Als Reich der Mitte war China stets von anderen Völkern umgeben und nicht, wie die USA vornehmlich von zwei Weltmeeren. Sie hatten sich der Eroberungen durch andere Völker zu erwehren und unternahmen selbst Eroberungsfeldzüge. Die Jahrtausende alte chinesische Geschichte ist voll von wechselnden Machtkonstellationen, Niedergängen und Wiedererlangung der Macht. Die chinesische Führung blickt auf eine lange Tradition von herrschaftlichem Gebaren und Verhaltensweisen beherrschter Regierungen zurück. Die chinesische Kultur kennt vielfältige Variationen der Machtausübung und Werteorientierung. Ihr ist bewusst, dass sie trotz der Dominanz des Hauptvolkes einen Vielvölkerstaat regiert und dass ein Streben nach Hegemonie mit enormen Risiken verbunden ist. Ihr ohne stichhaltige Beweise umstandslos hegemoniales Denken und Handeln zu unterstellen, nährt den Verdacht absichtlicher Unterstellung und kann als Übertragung eigenen Denkens und Handelns auf andere gedeutet werden, was im nächsten Satz der Autoren auch zum Vorschein kommt. So geben sie zu bedenken, dass Chinas Wachstum „raises the spector of a return to great power rivalry and ideological competition that appeared to end with the Soviet collapse“ (ebd.). Mit diesem Satz bezeugen die Autoren, dass sie die Anforderungen, die eine duale Hegemonie an die Kontrahenten stellt, bis heute nicht in ihr Denken aufgenommen haben. Deshalb erscheint es notwendig, die beiden bestimmenden Momente des Ost-West-Konflikts nochmals zu skizzieren. 3. Grundzüge einer dualen Hegemonie Nach dem Verlust des amerikanischen Atombombenmonopols und erst recht nach dem Verlust der atomaren Unverwundbarkeit entstand für beide auf Hegemonie ausgerichtete Mächte eine strategische Situation, in der geopolitische Stabilität ausschließlich mit und zugleich gegen den jeweils anderen errichtet bzw. erhalten werden konnte. Diese für eine duale Hegemonie ausschlaggebende Konstellation steht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer jeden Hegemonialmacht, die bei der Wahl der Mittel absolute Freiheit beansprucht − nur durch den eigenen Willen begrenzt. In Bezug auf die gemeinsam hergestellte geopolitische Stabilität waren beide Mächte in gleicher Weise gehindert, alle denkbaren Optionen in reale Politik umzusetzen: Die Durchsetzung des eigenen Willens begrenzte den Durchsetzungswillen des anderen. Als Resultat benötigten nun beide ein entsprechendes Potenzial an Kraftentfaltung, um den jeweils anderen daran zu hindern, bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten lediglich dem eigenen Willen zu folgen. Die „Freiheit“ beider hegemonialer Mächte bestand fortan in der Wahl zwischen den Optionen, die von der eigenen Kraftentfaltung ermöglicht wurden, und den Optionen, die durch die gegnerische Seite konterkariert und daher wirksam beschnitten werden konnten. Da beide Seiten zu keinem Zeitpunkt exakt einschätzen konnten, welcher Handlungsspielraum für einen selbst und dem Kontrahenten tatsächlich zur Verfügung stand, führte das hohe Maß an Unsicherheit und Vernichtungsrisiko durch atomare Waffen dazu, dass sie trotz härtester Konkurrenz zugleich ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der fragilen geopolitischen Stabilität und damit ihrer dualen Hegemonie entwickelten. Dieses Interesse trat insbesondere an geopolitischen Orten zutage, an denen unbedachte Schritte zu unkontrollierbaren Folgen führen konnten, wie z.B. zwischen West- und Ostberlin vor, während und nach dem Bau der Mauer im Jahre 1961, auf den Transitrouten durch die DDR, oder wenn nachgeordnete Mächte beabsichtigten, kurzzeitig in der etablierten Sicherheitsarchitektur des Ost-West-Konflikts auftretende ungeklärte Schwebezustände zum eigenen Vorteil zu nutzen (Emanzipationsbestrebungen vorwiegend der Westeuropäer im Gefolge des für die USA ungünstig ausgehenden Vietnamkrieges). Im Widerspruch zum immer vorhandenen gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der geopolitischen Stabilität (Sicherheitsarchitektur) handelten beide Mächte zugleich im Sinne der Theorie des Kräftegleichgewichts (balance of power), in der sich beide als völlig gegensätzliche Identitäten begriffen. Die USA betrachteten ihren sowjetischen Hegemoniepartner als Erzteufel und Erzrivalen, während sie sich selbst als obersten Verteidiger der Freiheit dekorierten. Die Sowjetunion trat als oberster Repräsentant der Arbeiterklasse auf und unterstellte den USA feindlichste Absichten gegen den Rest der Menschheit. Indem beide Seiten danach trachteten, den anderen mit allen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu schwächen, verschoben sie gedankenlos die Grenzlinie zwischen den für beide Seiten verfügbaren Handlungsoptionen zuungunsten des jeweils anderen und handelten im Sinne eines Nullsummenspiels. So kümmerten sie sich nicht um die für eine duale Hegemonie lebensnotwendige Erhaltung der geopolitischen Stabilität. Dies führte für die Sowjetunion kurz vor Ende des Ost-West-Konflikts dazu, dass ihre eigene Handlungsfreiheit auf ein Minimum gesunken war, während diejenige der USA ein Maximum erreichte: Sie verlor ihre sämtlichen Einflussgebiete und stand vor ihrer Desintegration, während sich die USA gerade umgekehrt mit der Frage auseinandersetzen mussten, ob ihre bisherige räumlich begrenzte Hegemonie auf globale Ausmaße ausgedehnt werden konnte und auf welche Widerstände sie hierbei stoßen würden.1 4. Das Streben nach globaler Hegemonie der USA Auf dem Hintergrund der engen Verbindung ökonomischer und militärischer Überlegenheit begannen die USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit der Globalisierung ihrer Hegemonie. Sie traten nach dem Ende des Kalten Krieges gegenüber Europa nicht mehr wie zuvor als wohlmeinender Hegemon auf, sondern forderten ultimativ die Anpassung der europäischen Volkswirtschaften an den US-amerikanischen Shareholderkapitalismus und verlangten damit die Übernahme des Werte- und Gesellschaftssystems der USA. Sie propagierten ihren Unilateralismus, als die Europäer ihre Ängste vor der Sowjetunion allmählich verloren und auf mehr Eigenständigkeit pochten. Während des Ost-West-Konflikts hatten sich die Westeuropäer aus Furcht vor der Sowjetunion an den westlichen Hegemon angelehnt. Nach dem Ende der Sowjetunion betrachteten die Europäer US-Aktivitäten jedoch zunehmend kritischer. Sie erinnerten sich daran, dass die USA im Namen der Befreiung vom Kolonialismus den europäischen Kolonialstaaten das ihnen bis dahin verbliebene Hinterland entzogen hatten und die ökonomischen Aktionsmöglichkeiten der europäischen Mutterländer immer stärker auf die USA konzentrierten. Das innerwestliche Dreieck mit den USA an der Spitze und Westeuropa und Japan an der Basis unterwarfen sie den ökonomischen Vorgaben aus den USA, was solange zu wenig Unmut führte, wie der Handel florierte und der Lebensstandard der Bevölkerung stieg. Die USA mussten − wenn auch erst einige Jahre später − akzeptieren, dass auf das Ende der dualen Hegemonie mit der Sowjetunion nicht die globale Hegemonie der USA folgte, wie sie noch unter den beiden Administrationen unter Clinton auf der Grundlage der Informationstechnologie und Menschenrechtsstrategie und unter der nachfolgenden von Bush Junior unter Androhung und Anwendung militärischer Gewalt angestrebt wurde. Die Finanzkapitalkrise nahm ihren Ausgang in den USA und hat als letzten Akt eine gigantische Staatsverschuldung der USA und einiger EU-Länder zur Folge. Wer, wie die USA, den Anteil des privaten Konsums an der Erstellung und dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts auf über 50 Prozent ansteigen lässt, seine Infrastruktur jahrzehntelang vernachlässigt, seinen Militärhaushalt ins Unermessliche anhebt, die Gefahr einer plutokratischen Ausrichtung der Gesellschaft nicht energisch bekämpft und einen hohen Anteil verarmter Bevölkerung klaglos akzeptiert,2 darf sich nicht wundern, wenn andere Volkswirtschaften den schnell steigenden Handelsaustausch mit Schwellenländern wie China und Indien bevorzugen und die USA mit ihrer steigenden Arbeitslosigkeit und zunehmenden Konsumschwäche meiden. Wer trotz dieser unübersehbaren Schwächen bis in die Gegenwart auf die Sperrminorität im Internationalen Währungsfonds (IWF) beharrt, die den USA ermöglicht, trotz höchster Verschuldung dem US-Dollar die Leitwährungsfunktion auf unbegrenzte Zeit zu garantieren und zugleich den Europäern empfiehlt, ihren Stimmenanteil zugunsten der Schwellenländer zu reduzieren (S.10), muss mit massiver Gegenwehr rechnen. Wir leben in einer Welt, die nicht mehr unter der Oberaufsicht einer US Hegemonie steht. Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte ist durch folgende Kriterien bestimmt:
5. „Global Shift“ – Eine „strategy for renewel“ Die USA haben über die Jahre hinweg vergeblich versucht, China in die Rolle der ehemaligen Sowjetunion zu drängen. Die chinesische Führungen verhielten sich immer geschickt genug, diese Position zu vermeiden und nicht militärisch, sondern ökonomisch zu agieren und zu reagieren. Die Vokabel “Beijing Consensus” stellt nun einen weiteren Versuch dar, China in die Angst einflößende Position zu rücken. Sie steht im engen Zusammenhang mit der Debatte über demokratische und autoritäre Regime und der Zielbestimmung, dass ein neuer weltweiter Kampf zwischen den freiheitlichen und autoritären Regimen zu führen sei. In der schon seit einigen Jahren stattfindenden Debatte, schreiben die Autoren, vertreten die einen die Meinung, dass der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas die Demokratisierung zeitverzögert folgen werde, während die anderen Seite die Kontinuität des autoritären Regimes Chinas propagierten. Die Debatte zwischen „integrationists and balancers sets the alternatives too starkly“, meinen die Autoren und behaupten, dass „China’s course will probably fall somewhere in between these two extremes“ (S.9). Der „Westen“ handele deshalb klug, wenn er eine Mischung von Engagement and Eindämmung verfolge. Denn man müsse deutlich machen, dass der Aufstieg Chinas (und anderer Schwellenländer) zwar als Teil wachsender Interdependenz und Komplexität aufgefasst werden könne, aber darüber hinaus auch „a resulting crisis of global governance“ (ebd.) darstelle. Diese Krise erfordere eine „strategy for renewel“ der westlichen Hegemonie (S.10). Was sie darunter real verstehen, bedarf einer Ergänzung aus dem englischen Haupttext des „Global Shift“. Darin sind – im Rückgriff auf den Kalten Krieg von 1945 bis 1990 – unter „division of labor“ folgende zwei bemerkenswerte Sätze zu lesen: „During the Cold War, the United States led, and Europe assisted and followed in our efforts to defend ourselves against a common threat, avoid war, and eventually overcome and resolve our differences with our opponents. The new circumstances require a recasting of the previous division of labor, the use of the separate capabilities and means of the individual transatlantic community members on problems based on a common vision and strategy.”(S.10). Unter der Ausblendung des hegemonialen Verhältnisses zwischen den USA und Europa in der Periode des Ost-West-Konflikts und der darauf folgenden Periode unter Clinton und Bush, die US-Hegemonie global auszudehnen, versuchen die Autoren ein neues einigendes Band zwischen den USA und Europa zu knüpfen und hierbei auf die Existenz gemeinsamer Werte zu rekurrieren, die es zu erhalten gelte. Dementsprechend formulieren sie im folgenden Satz: „Second, the members of the transatlantic community need to cultivate a new mindset about ourselves appropriate for a multipolar interdependent world.”(ebd.). Unter multipolar verstehen sie vor allem das Dreieck USA-Europa-China. Auf dem von ihnen geforderten Hintergrund einer engen Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa wird daraus unmittelbar ein Gegensatz zwischen „dem Westen“ und China. Die anderen BRIC-Staaten (Brasilien, Russland und Indien) erwähnen sie nicht. Die Autoren bleiben eine Antwort darauf schuldig, auf welchen Positionen sie diese globalen Mitspieler einordnen. Die ständigen Versuche der USA, Indien in eine Containmentpolitik gegen China einzubeziehen sowie die Re-Industrialisierung Russlands mit europäischem Know-how zu behindern und Brasiliens Bestreben zu mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in den Handelsverträgen Brasiliens mit den USA zu sabotieren, veranlassen sie zu keinerlei Reaktion. Fragen sich die Autoren ernsthaft, ob die USA tatsächlich bereit sein könnten, auf ihre Hegemonie zu verzichten? Wie ist ihr beschwichtigender Satz zu verstehen: “The United States, after years of hegemony, must recognize that it can no longer lead through domination or coercion but rather must now rely on the power of its example and its contributions to global problem-solving.” (S.10). Haben sich die Autoren gefragt, ob die USA künftig Europa als gleichberechtigten Partner anerkennen werden oder zielt ihr Bericht lediglich darauf ab, die Europäer ins gemeinsame Boot zu holen? Die alte Weisheit, dass ein Kamel eher durch ein Nadelöhr geht als dass ein Hegemon auf seine Ansprüche verzichtet, gilt es erst noch zu widerlegen. ________________ 1Kernelement der unter amerikanische Vorherrschaft gestellten Küstenregionen von Atlantik und Pazifik blieb das unbeschränkte Stationierungsrecht amerikanischer Truppen in Deutschland und Japan. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Jahre 1945 mussten beide Staaten ihre staatliche Souveränität an die Siegermächte übergeben und darauf vertrauen, dass ihnen die Souveränität schrittweise wieder zurückgegeben wurde. Die verbliebene Souveränitätseinschränkung durch die drei Westalliierten war in den Verhandlungen zum Viermächteabkommen und dem Grundlagenvertrag von 1972 zu berücksichtigen und kam erneut in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen im Jahre 1990 auf den Verhandlungstisch. Während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern. Die Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten. Die gleiche Rechtslage bezüglich zurückbehaltener Souveränität existiert in Japan. Das us-amerikanische Beharren auf ihre unkündbaren Rechte in Deutschland und Japan zeigt, dass die USA stets ökonomische und militärische Dominanz eng verknüpft haben. Letztere sicherte ihnen den freien Zugang zu unentbehrlichen Rohstoffen, die Öffnung von Volkswirtschaften für den Güter- und Kapitalverkehr und die Absicherung von Handelswegen. Ganz auf dieser Linie liegt, dass die USA unter der Bush-Administration zur Wahrung ihrer Interessen für die Zeit nach ihrem Abzug der Kampfgruppen aus dem Irak wie aus Afghanistan die Einrichtung von Militärbasen auf unbestimmte Dauer forderten. Die USA bestehen auch unter dem Präsidenten Obama gegenüber der Kabuler Regierung auf einer dauerhaften Präsenz ihrer Truppen in Afghanistan. Zugleich mahnt der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass keines der NATO-Länder aus nationalen Gründen allein mit dem Abzug von Truppen beginnen dürfe (Tagespiegel, 11.6.2011). Die USA sind offenbar weiterhin überzeugt, dass sie dank militärisch überlegener Technologie die Talibankämpfer schließlich zur Aufgabe zwingen und die Warlords mit finanziellen Zuwendungen zum Einlenken bringen können. Der enge Zusammenhang zwischen der angestrebten permanenten US-Truppenpräsenz und der weiteren Unterstützung terroristischer Gruppen durch nationalistisch gesinnte Talibanfraktionen wird geleugnet und der von Soldaten der übrigen in Afghanistan engagierten NATO-Staaten daraufhin zu erbringende Blutzoll wird in Kauf genommen. 2 Die USA sind – gemessen an der Gesamtbevölkerung – das Land mit dem weltweit höchsten prozentualen Anteil von Gefängnisinsassen. Sie beharren weiterhin in mehreren Bundesstaaten auf der Todesstrafe, ganz zu schweigen von den sogar im Bericht erwähnten Foltermethoden und der Nichtanerkennung des Weltstrafgerichtshofs im Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror. Ihr positives Selbstbild entspricht nicht dem Bild, das sie für andere vorzeigen. <img src="http://vg03.met.vgwort.de/na/8e83d534287444c19e7e0d7d65eb59f2" width="1" height="1" alt="" />
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AutorReinhard Hildebrandt ArchiveTextliste
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